Der Vollzug des Beschlusses des Europäischen Parlaments vom 18. November 1999 über die Änderung seiner Geschäftsordnung wird teilweise ausgesetzt. Bis zur Entscheidung in der Hauptsache wird dem Europäischen Parlament aufgegeben, den Bediensteten des OLAF nur mit Zustimmung der antragstellenden Abgeordneten Zugang zu deren Räumen zu gewähren.
Am 28. April 1999 erließ die Kommission den Beschluß zur Errichtung des Europäischen Amtes für Betrugsbekämpfung, OLAF. Das OLAF wird mit der Durchführung von Verwaltungsuntersuchungen beauftragt, die zur Bekämpfung von Betrug, Korruption und sonstigen rechtswidrigen Handlungen zum Nachteil der finanziellen Interessen der Europäischen Gemeinschaften dienen.
Am 25. Mai 1999 erließen das Europäische Parlament und der Rat eine Verordnung über die Untersuchungen des OLAF. Nach dieser Verordnung kann das OLAF u. a. innerhalb der Organe Untersuchungen durchführen, wobei die Organe darüber in Kenntnis zu setzen sind, wenn die Bediensteten des OLAF eine Untersuchung in ihren Räumlichkeiten durchführen und wenn sie Dokumente einsehen oder Informationen anfordern, die sich im Besitz der Organe befinden.
Eine Interinstitutionelle Vereinbarung zwischen dem Parlament, dem Rat und der Kommission sieht vor, daß jedes Organ eine gemeinsame Regelung annimmt, die die erforderlichen Bestimmungen zur Erleichterung eines reibungslosen Ablaufs der internen Untersuchungen des Amtes bei ihm enthält.
Am 18. November 1999 erließ das Parlament einen Beschluß über die Änderung seiner Geschäftsordnung, der die Anwendung der in der Interinstitutionellen Vereinbarung vorgesehenen Regelung ermöglicht.
Willi Rothley und 70 weitere Abgeordnete des Europäischen Parlaments halten diesen Beschluß für rechtswidrig und beantragen seine Nichtigerklärung. Ferner beantragen sie die Aussetzung seines Vollzugs und/oder den Erlaß anderer einstweiliger Anordnungen, die den Schutz der Mitglieder des Parlaments sicherstellen.
Der Präsident des Gerichts prüft das Vorliegen der Voraussetzungen für den Erlaß einstweiliger Anordnungen, nachdem er zunächst festgestellt hat, daß der streitige Beschluß Rechtswirkungen entfalten könne, die über den Rahmen der rein internen Organisation der Arbeit des Parlaments hinausgingen. Es sei nämlich nicht auszuschließen, daß die dadurch ermöglichten Untersuchungen die allen Abgeordneten nach dem Protokoll über die Vorrechte und Befreiungen der Europäischen Gemeinschaften vom 8. April 1965 zustehende Immunität beeinträchtigen könnten. Ferner sei nicht auszuschließen, daß der streitige Beschluß die Antragsteller individuell und unmittelbar betreffe. Der Antrag auf einstweilige Anordnung sei unter diesen Umständen für zulässig zu erklären.
Im Rahmen seiner Prüfung nimmt der Präsident des Gerichts eine vorläufige Beurteilung des Umfangs der Immunität der Mitglieder des Parlaments vor. Seines Erachtens sollen die Bestimmungen des Protokolls die Unabhängigkeit der Parlamentarier bei der Ausübung ihres Amtes und die Funktionsfähigkeit des Parlaments garantieren. Ferner sollten sie verhindern, daß während der Dauer der Sitzungsperiode des Parlaments auf die Abgeordneten Druck (in Form von Drohungen mit Festnahme oder gerichtlicher Verfolgung) ausgeübt werden könne. Am Ende seiner Auslegung der relevanten Bestimmungen kommt der Präsident des Gerichts zu dem Ergebnis, es lasse sich nicht ausschließen, daß das Protokoll die Mitglieder des Parlaments vor bestimmten Eingriffen von Gemeinschaftsorganen oder -einrichtungen wie des OLAF schütze, wenn diese die Vorstufe für die Verfolgung vor einem nationalen Gericht darstellen und die interne Funktionsfähigkeit des Parlaments beeinträchtigen könnten.
Der Präsident des Gerichts prüft sodann, ob der streitige Beschluß Bestimmungen enthält, die sicherstellen, daß die Immunität der Abgeordneten nicht beeinträchtigt wird, und stellt fest, daß der Beschluß des Parlaments keine spezielle Garantie in bezug auf die Wahrung der Rechte der Abgeordneten enthalte, wenn das OLAF von seinen Untersuchungsbefugnissen Gebrauch mache. Dessen Bedienstete könnten insbesondere die Räume der Abgeordneten im Parlament in deren Abwesenheit oder ohne deren Zustimmung betreten, um sich dort bestimmte Informationen zu verschaffen.
Die Voraussetzung der Dringlichkeit liege vor, da die Abgeordneten einen schweren und nicht wiedergutzumachenden Schaden erleiden könnten, wenn keine einstweilige Anordnung ergehe.
Schließlich nimmt der Präsident des Gerichts eine Abwägung zwischen dem Interesse der antragstellenden Abgeordneten am Erlaß der beantragten einstweiligen Anordnungen und dem Interesse des vom Rat und von der Kommission unterstützten Parlaments an der Aufrechterhaltung des streitigen Beschlusses vor. Hierzu vertritt er die Ansicht, die Verhinderung und Bekämpfung von Betrügereien und sonstigen gegen die finanziellen Interessen der Gemeinschaft gerichteten rechtswidrigen Handlungen liege zwar unbestreitbar im Interesse der Gemeinschaft, doch liege es ebenfalls im Interesse der Gemeinschaft, daß die Mitglieder des Parlaments ihre Tätigkeit in der Gewißheit ausüben könnten, daß ihre Unabhängigkeit nicht angetastet werde.
Um den vorläufigen Schutz der Interessen der Antragsteller sicherzustellen und zugleich die Interessen der Gemeinschaft bestmöglich zu wahren, ordnet der Präsident des Gerichts deshalb zum einen die Aussetzung des Vollzugs der Bestimmungen des Beschlusses des Parlaments an, die die Antragsteller zur Zusammenarbeit mit dem OLAF und zu Mitteilungen an den Präsidenten des Parlaments oder an das Amt verpflichten, und gibt dem Parlament zum anderen auf, betroffene Mitglieder unverzüglich über bevorstehende Maßnahmen des Amtes gegen sie zu informieren und den Bediensteten des Amtes nur mit Zustimmung der betroffenen Mitglieder Zugang zu deren Räumen zu gewähren.
Hinweis: Dieser Beschluß greift der Entscheidung, die das Gericht in der Hauptsache treffen wird, in keiner Weise vor. Das Gericht wird das Urteil in dieser Rechtssache zu einem späteren Zeitpunkt erlassen.
Zur Verwendung durch die Medien bestimmtes nichtamtliches Dokument, das das Gericht nicht bindet. Dieses Dokument liegt in französischer, englischer und deutscher Sprache vor. Der Volltext des Beschlusses ist auf deutsch und französisch verfügbar.
Mit Fragen wenden Sie sich bitte an Frau Dr. Ulrike Städtler, Tel.: (00352) 4303-3255, Fax: (00352) 4303-2734.