PRESSEMITTEILUNG N. 45/01
Die Staatsangehörigen dieser Länder können sich vor den nationalen Gerichten unmittelbar
auf das Niederlassungsrecht berufen, das in den zwischen der Europäischen Union und
Polen, der Tschechischen Republik und Bulgarien geschlossenen Europa-Abkommen
vorgesehen ist.
Die Mitgliedstaaten behalten jedoch nach diesen Abkommen das Recht, die Einreise und den
Aufenthalt der Staatsangehörigen dieser Länder zu regeln.
Die Europa-Abkommen sollen einen Rahmen für den Beitritt der Vertragsstaaten zur
Europäischen Union schaffen. Sie enthalten deshalb Regelungen über die Freizügigkeit der
Arbeitnehmer, das Niederlassungsrecht und die Dienstleistungen.
Namentlich enthalten sie Bestimmungen, die eine Diskriminierung von Staatsangehörigen
der Vertragsstaaten aufgrund der Nationalität verbieten, die Selbständige, Gründer von
Unternehmen oder deren Leiter sind. Diese sind ebenso günstig zu behandeln wie die
Unternehmen und Staatsangehörigen der Mitgliedstaaten.
Das Vereinigte Königreich hat sein Zuwanderungsrecht im Anschluss an das Inkrafttreten der
Europa-Abkommen angepasst (Immigration Rules von 1994). In diesen Bestimmungen finden
sich Vorschriften für die Aufenthaltsgenehmigung im Vereinigten Königreich für diejenigen, die
dort nach Maßgabe dieser Abkommen tätig werden wollen.
Die drei Rechtsstreitigkeiten betreffen Verfahren polnischer, tschechischer und bulgarischer
Staatsangehöriger gegen das Vereinigte Königreich.
Herr und Frau Gloszczuk sind polnische Staatsangehörige. Sie erhielten 1989 bzw. 1991, also
vor dem Inkrafttreten des Europa-Abkommens, Einreisegenehmigungen als Touristen. Ihre
Einreisevisen sahen ausdrücklich vor, dass sie weder eine Arbeit annehmen noch kaufmännisch
oder als Selbständige tätig sein durften. Sie haben das Vereinigte Königreich nach Ablauf ihrer
Visen nicht verlassen, was rechtswidrig war. Nach der Geburt eines Kindes im Jahre 1993
bemühten sich die Eheleute Gloszczuk um eine Aufenthaltsgenehmigung. Herr Gloszczuk
behauptet, sich 1995 als Bauunternehmer niedergelassen zu haben. Die Anträge wurden vom
Secretary of State abgelehnt, da das Europa-Abkommen nur auf Personen Anwendung finde, die
sich rechtmäßig im Inland aufhielten.
Herr Barkoci und Herr Malik beantragten 1997 im Vereinigten Königreich politisches Asyl. Sie
stellten sich als Angehörige der Sinti und Roma aus der Tschechischen Republik dar. Ihre
Anträge wurden abgelehnt. 1998 stellten sie Anträge auf Niederlassung im Vereinigten
Königreich nach dem Europa-Abkommen, und zwar Herr Barkoci als selbständiger Gärtner und
Herr Malik als Reinigungsunternehmer. Die Zuwanderungsbehörden behandelten diese Anträge
als solche auf erstmalige Einreise, obwohl die Antragsteller bereits auf britischem Gebiet waren.
Die Behörden waren weder davon überzeugt, dass die Projekte der beiden Gewinn bringen
würden, noch davon, dass diese selbständig ausgeübt würden, und lehnten die Anträge ab.
Frau Kondova ist eine Studentin der Tiermedizin aus Bulgarien. Sie erhielt 1993 ein
Einreisevisum für eine einmalige Einreise in das Vereinigte Königreich von bis zu drei Monaten
als landwirtschaftliche Arbeitnehmerin. Ein Asylantrag wurde abgelehnt; sie blieb aber trotzdem
nach Ablauf ihres Einreisevisums im Vereinigten Königreich. Sie gesteht zu, sie habe die
britischen Zuwanderungsbehörden bereits bei ihrer Einreise irreführen wollen, da sie einen
Asylantrag habe stellen wollen. Sie nahm später eine Tätigkeit als selbständige Reinigungskraft
auf und beantragte 1996, aufgrund des Europa-Abkommens im Vereinigten Königreich bleiben
zu dürfen, obwohl sie rechtswidrig eingereist war. Aufgrund einer Ehe mit einem
Staatsangehörigen von Mauritius, der ein unbeschränktes Aufenthaltsrecht hatte, berief sie sich
auf dessen finanzielle Unterstützung. Da ihre angeblichen Rechte aus dem Europa-Abkommen
nicht sofort anerkannt wurden, macht sie auch Schadensersatz geltend.
Der High Court of Justice, der mit den drei Rechtssachen befasst ist, befragt den Gerichtshof der
EG über die unmittelbare Anwendbarkeit und den Umfang des in den Europa-Abkommen
vorgesehenen Niederlassungsrechts.
Der Gerichtshof erinnert zunächst an den Zweck der Europa-Abkommen, den Handel und
harmonische Wirtschaftsbeziehungen zu fördern, um den Wohlstand der Vertragsstaaten zu
entwickeln und ihren späteren Beitritt zu erleichtern.
Die Mitgliedstaaten könnten weiter in den Grenzen der Europa-Abkommen ihr nationales
Zuwanderungs-, Aufenthalts- und Niederlassungsrecht anwenden.
Jedoch sei das Verbot der Diskriminierung von Staatsangehörigen der Vertragsstaaten, die in
den Mitgliedstaaten der Union selbständige Erwerbstätigkeiten ausüben oder Unternehmen
gründen oder leiten wollten, die sie tatsächlich kontrollierten, unmittelbar anwendbar. Dieser
Grundsatz sei hinreichend genau und unbedingt, um von den nationalen Gerichten in
Streitigkeiten über die Rechtsstellung Privater angewandt werden zu können.
Daher räumten die Europa-Abkommen den Staatsangehörigen der Vertragsstaaten ein
Niederlassungsrecht ein, also ein Recht, gewerbliche, kaufmännische, freiberufliche und
handwerkliche Tätigkeiten als selbständige Erwerbstätigkeit auszuüben.
Der Gerichtshof verweist auf seine Rechtsprechung, nach der der EG-Vertrag als Nebenrechte
des Niederlassungsrechts der Staatsangehörigen der Mitgliedstaaten ein Einreise- und ein
Aufenthaltsrecht voraussetzt.
Das Einreise- und das Aufenthaltsrecht von Staatsangehörigen der Vertragsstaaten seien
jedoch nicht schrankenlos gewährleistet; ihre Ausübung könne durch das Recht der
Mitgliedstaaten beschränkt werden. Nationales Zuwanderungsrecht dürfe jedoch die Vorteile,
die sie aus dem Niederlassungsrecht nach den Abkommen zögen, nicht zunichte machen oder
verringern.
In seiner Entscheidung über die Vereinbarkeit eines nationalen Zuwanderungsrecht mit den drei
betroffenen Europa-Abkommen entwickelt der Gerichtshof folgende Grundsätze:
- Ein Mitgliedstaat darf einem Angehörigen eines Vertragsstaat die Einreise und den Aufenthalt
zum Zwecke der Niederlassung weder aufgrund seiner Staatsangehörigkeit oder seines
Wohnsitzlandes noch wegen einer allgemeinen Begrenzung der Einwanderung noch auch
deshalb versagen, weil die Situation auf dem Arbeitsmarkt entgegen stehe.
- Es muss jedoch festgestellt werden, ob die im Aufnahmemitgliedstaat beabsichtigte Tätigkeit
der von den Europa-Abkommen Begünstigten wirklich eine selbständige und nicht etwa eine
abhängige Tätigkeit ist. Eine nationale Regelung, die die Natur der beabsichtigten Tätigkeit
vorab überprüft (Bewertung hinreichender finanzieller Mittel und vernünftiger Erfolgschancen
durch detaillierte Untersuchungen) ist daher mit den Europa-Abkommen vereinbar.
- Staatsangehörige der Vertragsstaaten, die falsche Erklärungen abgeben und die einschlägigen
Kontrollen dadurch unterlaufen, dass sie behaupten, sich in den Mitgliedstaat als Touristen zu
begeben, obwohl sie eine Erwerbstätigkeit aufnehmen wollen, fallen nicht in den Schutzbereich
der Europa-Abkommen. Die Mitgliedstaaten können daher solche Anträge ablehnen und
verlangen, dass ein formgerechter Einreiseantrag bei den zuständigen Stellen im
Herkunftsstaat oder einem anderen Staat gestellt wird, sofern das eine spätere Prüfung der
Sachlage nicht ausschließt.
- Jedoch darf das Vorgehen der nationalen Behörden den Wesensgehalt des Einreise-, des
Aufenthalts- und des Niederlassungsrechts dieser Staatsangehörigen nicht beeinträchtigen;
außerdem stehen ihnen die Grundrechte (das Recht auf Achtung des Familienlebens und die
Eigentumsgarantie) zu, die sich aus der Europäischen Konvention zum Schutz der
Menschenrechte und Grundfreiheiten ergeben.
Zur Verwendung durch die Medien bestimmtes nichtamtliches Dokument, das den Gerichtshof nicht bindet.
Dieses Dokument ist in allen Amtssprachen verfügbar.
Wegen des vollständigen Wortlauts der Urteile konsultieren Sie bitte heute ab ungefähr
15.00 Uhr unsere Homepage im Internet www.curia.eu.int
Für weitere Auskünfte wenden Sie sich bitte an Frau Isabelle Phalippou, |