Abteilung Presse und Information


PRESSEMITTEILUNG N. 11/02

5. Februar 2002

Urteil des Gerichtshofes in der Rechtssache C-255/99


Pflegschaftssache der minderjährigen Anna Humer

KINDER GESCHIEDENER ELTERN KÖNNEN VON DEM MITGLIEDSTAAT, IN DEM DER SÄUMIGE UNTERHALTSPFLICHTIGE ELTERNTEIL SEINEN WOHNSITZ HAT, AUCH DANN VORSCHÜSSE AUF UNTERHALTSZAHLUNGEN ERHALTEN, WENN SIE NICHT IN DIESEM STAAT WOHNEN

Der Gerichtshof stellt fest, dass das Kind eines Arbeitnehmers als Familienangehöriger unmittelbar Ansprüche auf Familienleistungen erheben kann

Anna Humer, geboren am 10. September 1987, ist die eheliche Tochter österreichischer Staatsangehöriger. Ihre Eltern wurden am 9. März 1989 geschieden; seither liegt die Kindesobsorge bei der Mutter. Diese zog 1992 zusammen mit ihrer Tochter nach Frankreich, wo sie nunmehr ihren gewöhnlichen Aufenthalt hat und als Angestellte tätig ist. Der Vater ist in Österreich geblieben.

Am 2. November 1993 verpflichtete sich der Vater in einem gerichtlichen Vergleich zu monatlichen Unterhaltszahlungen von 4 800 ATS für seine Tochter. Er war damals als kaufmännischer Angestellter beschäftigt und ging dieser Erwerbstätigkeit mindestens bis 31. Januar 1998 nach; danach war er arbeitslos.

Am 24. Juli 1998 beantragte Anna Humer vom österreichischen Staat die Gewährung von Unterhaltsvorschüssen in Höhe von monatlich 4 800 ATS für die Dauer von drei Jahren. Sie machte geltend, dass ihr Vater trotz "wiederholter Exekutionsführung" seit Monaten mit den Unterhaltszahlungen in Rückstand sei.

Das erstinstanzliche Gericht wies den Antrag auf Untervorhaltsvorschuss mit der Begründung ab, der gewöhnliche Aufenthalt des Kindes und der sorgeberechtigten Mutter liege nicht in Österreich, wie das nach den österreichischen Vorschriften vorausgesetzt werde. Im Rekursverfahren obsiegte Anna Humer. Der österreichische Staat legte Revisionsrekurs beim Obersten Gerichtshof ein; dieser rief den Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften an, um zu klären, ob die österreichischen Vorschriften im Einklang mit dem Gemeinschaftsrecht stehen.

Der Gerichtshof prüft, ob der im österreichischen Recht vorgesehene Vorschuss auf Unterhaltszahlungen eine Familienleistung im Sinne der Gemeinschaftsverordnung über die soziale Sicherheit der Wanderarbeitnehmer und ihrer Familienangehörigen ist.

Er verweist dabei auf sein Urteil in der Rechtssache Offermanns (C-85/99), in dem er entschieden habe, dass der Ausdruck "Ausgleich von Familienlasten" in der Verordnung so zu verstehen sei, dass er einen staatlichen Beitrag zum Familienbudget erfasse, der die Kosten des Unterhalts von Kindern verringern solle. Nach der Begründung des österreichischen Gesetzgebers solle die Regelung den Unterhalt minderjähriger Kinder in den Fällen sicherstellen, in denen Mütter allein mit ihren Kindern dastünden und sie neben der Aufgabe, sie aufzuziehen, auch noch die Schwierigkeit hätten, den Unterhalt vom Vater zu bekommen. Nach dem Urteil Offermanns stelle die Linderung einer solchen Lage den Grund dafür dar, dass der Staat für säumige Unterhaltspflichtige einspringen und Unterhaltsbeträge vorschussweise auszahlen solle.

Der Gerichtshof stellt daher fest, dass der Unterhaltsvorschuss eine Familienleistung ist.

Der Gerichtshof ist außerdem der Auffassung, dass ein Kind, das zumindest einen Elternteil hat, der berufstätiger oder arbeitsloser Arbeitnehmer ist, als Familienangehöriger eines Arbeitnehmers auch dann in den persönlichen Geltungsbereich der Gemeinschaftsverordnung fällt, wenn es nach einer Scheidung nicht mehr mit diesem Elternteil zusammenwohnt.

In den verbundenen Rechtssachen Hoever und Zachow (C-245/94 und C-312/94) hatte der Gerichtshof entschieden, dass der Ehegatte eines Arbeitnehmers Unterhaltsvorschüsse beanspruchen kann, die insbesondere dazu dienen, dem Ausfall des unterhaltspflichtigen Elternteils zu begegnen. Dieser Grundsatz gilt für alle Familienangehörigen einschließlich der minderjährigen Kinder, so dass diese einen unmittelbaren Anspruch haben.

Im Übrigen wäre das Freizügigkeitsrecht mit der Möglichkeit, in einem anderen Mitgliedstaat zu leben, beeinträchtigt, wenn die Gewährung oder die Höhe von Familienleistungen vom Wohnsitz abhängig wäre.

Die Gewährung einer Familienleistung darf folglich nicht deshalb versagt werden, weil der Berechtigte in einem anderen Mitgliedstaat lebt, wenn die Voraussetzungen im Übrigen erfüllt sind.

Zur Verwendung durch die Medien bestimmtes nichtamtliches Dokument,
das den Gerichtshof nicht bindet.

Dieses Dokument liegt in deutscher, englischer und französischer Sprache vor.

Wegen des vollständigen Wortlauts des Urteils konsultieren Sie bitte heute ab ungefähr 15.00 Uhr unsere Homepage im Internet www.curia.eu.int 

Für weitere Auskünfte wenden Sie sich bitte an Frau Isabelle Phalippou
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