PRESSEMITTEILUNG N. 11/02
KINDER GESCHIEDENER ELTERN KÖNNEN VON DEM MITGLIEDSTAAT, IN DEM
DER SÄUMIGE UNTERHALTSPFLICHTIGE ELTERNTEIL SEINEN WOHNSITZ HAT, AUCH
DANN VORSCHÜSSE AUF UNTERHALTSZAHLUNGEN ERHALTEN, WENN SIE NICHT IN DIESEM
STAAT WOHNEN
Am 2. November 1993 verpflichtete sich der Vater in einem gerichtlichen Vergleich
zu monatlichen Unterhaltszahlungen von 4 800 ATS für seine Tochter.
Er war damals als kaufmännischer Angestellter beschäftigt und ging
dieser Erwerbstätigkeit mindestens bis 31. Januar 1998 nach; danach war
er arbeitslos.
Am 24. Juli 1998 beantragte Anna Humer vom österreichischen Staat die
Gewährung von Unterhaltsvorschüssen in Höhe von monatlich 4 800
ATS für die Dauer von drei Jahren. Sie machte geltend, dass ihr Vater trotz
"wiederholter Exekutionsführung" seit Monaten mit den Unterhaltszahlungen
in Rückstand sei.
Das erstinstanzliche Gericht wies den Antrag auf Untervorhaltsvorschuss mit
der Begründung ab, der gewöhnliche Aufenthalt des Kindes und der sorgeberechtigten
Mutter liege nicht in Österreich, wie das nach den österreichischen
Vorschriften vorausgesetzt werde. Im Rekursverfahren obsiegte Anna Humer. Der
österreichische Staat legte Revisionsrekurs beim Obersten Gerichtshof ein;
dieser rief den Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften an, um zu klären,
ob die österreichischen Vorschriften im Einklang mit dem Gemeinschaftsrecht
stehen.
Der Gerichtshof prüft, ob der im österreichischen Recht vorgesehene
Vorschuss auf Unterhaltszahlungen eine Familienleistung im Sinne der Gemeinschaftsverordnung
über die soziale Sicherheit der Wanderarbeitnehmer und ihrer Familienangehörigen
ist.
Er verweist dabei auf sein Urteil in der Rechtssache Offermanns (C-85/99),
in dem er entschieden habe, dass der Ausdruck "Ausgleich von Familienlasten"
in der Verordnung so zu verstehen sei, dass er einen staatlichen Beitrag zum
Familienbudget erfasse, der die Kosten des Unterhalts von Kindern verringern
solle. Nach der Begründung des österreichischen Gesetzgebers solle
die Regelung den Unterhalt minderjähriger Kinder in den Fällen sicherstellen,
in denen Mütter allein mit ihren Kindern dastünden und sie neben der
Aufgabe, sie aufzuziehen, auch noch die Schwierigkeit hätten, den Unterhalt
vom Vater zu bekommen. Nach dem Urteil Offermanns stelle die Linderung einer
solchen Lage den Grund dafür dar, dass der Staat für säumige
Unterhaltspflichtige einspringen und Unterhaltsbeträge vorschussweise auszahlen
solle.
Der Gerichtshof stellt daher fest, dass der Unterhaltsvorschuss eine Familienleistung
ist.
Der Gerichtshof ist außerdem der Auffassung, dass ein Kind, das zumindest
einen Elternteil hat, der berufstätiger oder arbeitsloser Arbeitnehmer
ist, als Familienangehöriger eines Arbeitnehmers auch dann in den persönlichen
Geltungsbereich der Gemeinschaftsverordnung fällt, wenn es nach einer
Scheidung nicht mehr mit diesem Elternteil zusammenwohnt.
In den verbundenen Rechtssachen Hoever und Zachow (C-245/94 und C-312/94)
hatte der Gerichtshof entschieden, dass der Ehegatte eines Arbeitnehmers Unterhaltsvorschüsse
beanspruchen kann, die insbesondere dazu dienen, dem Ausfall des unterhaltspflichtigen
Elternteils zu begegnen. Dieser Grundsatz gilt für alle Familienangehörigen
einschließlich der minderjährigen Kinder, so dass diese einen
unmittelbaren Anspruch haben.
Im Übrigen wäre das Freizügigkeitsrecht mit der Möglichkeit,
in einem anderen Mitgliedstaat zu leben, beeinträchtigt, wenn die Gewährung
oder die Höhe von Familienleistungen vom Wohnsitz abhängig wäre.
Die Gewährung einer Familienleistung darf folglich nicht deshalb versagt
werden, weil der Berechtigte in einem anderen Mitgliedstaat lebt, wenn die Voraussetzungen
im Übrigen erfüllt sind.
das den Gerichtshof nicht bindet. Dieses Dokument liegt in deutscher, englischer und französischer
Sprache vor. Wegen des vollständigen Wortlauts des Urteils konsultieren Sie
bitte heute ab ungefähr 15.00 Uhr unsere Homepage im Internet
www.curia.eu.int Für weitere Auskünfte wenden Sie sich bitte an Frau Isabelle
Phalippou |