Die Schadensersatzbeschränkungen in den §§ 611a und b BGB sowie § 61b ArbGG verstoßen gegen die EWG-Richtlinie zur Geschlechtergleichbehandlung beim Beschäftigungszugang
Herr Draehmpaehl bewarb sich im November 1994 auf eine im "Hamburger Abendblatt" erschienene Stellenanzeige der Firma Urania, die wie folgt lautete:
"Für unseren Vertrieb suchen wir eine versierte Assistentin der Vertriebsleitung. Wenn Sie mit den Chaoten eines vertriebsorientierten Unternehmens zurechtkommen können, diesen Kaffee kochen wollen, wenig Lob erhalten und viel arbeiten können, sind Sie bei uns richtig. Bei uns muß einer den Computer bedienen können und für die anderen mitdenken. Wenn Sie sich dieser Herausforderung wirklich stellen wollen, erwarten wir Ihre aussagefähigen Bewerbungsunterlagen. Aber sagen Sie nicht, wir hätten Sie nicht gewarnt ..."
Die Firma beantwortete das Schreiben von Herrn D. nicht und sandte ihm auch nicht seine Bewerbungsunterlagen zurück.
Unter Berufung darauf, daß er der für diese Stelle bestqualifizierte Bewerber gewesen und bei der Einstellung aufgrund des Geschlechts diskriminiert worden sei, erhob Herr D. beim Arbeitsgericht Hamburg Klage auf Schadensersatz. In einem Parallelverfahren vor einer anderen Kammer des vorlegenden Gerichts verlangt ein weiterer männlicher Mitbewerber wegen eines vergleichbaren Sachverhalts ebenfalls Schadensersatz von der Firma.
Herr D. stützt sich für seine Klage auf die §§ 611a und 611b BGB. Mit ihnen wurde die Richtlinie 76/207/EWG "zur Verwirklichung des Grundsatzes der Gleichbehandlung von Männern und Frauen hinsichtlich des Zugangs zur Beschäftigung, zur Berufsbildung und zum beruflichen Aufstieg sowie in bezug auf die Arbeitsbedingungen" in deutsches Recht umgesetzt.
Die Richtlinie hat nach ihrem Artikel 1 u.a. zum Ziel, daß in den Mitgliedstaaten der Grundsatz der Gleichbehandlung von Männern und Frauen hinsichtlich des Zugangs zur Beschäftigung verwirklicht wird.
Zu diesem Zweck bestimmt Artikel 2 Absatz 1 der Richtlinie, daß der Grundsatz der Gleichbehandlung von Männern und Frauen beinhaltet, "daß keine unmittelbare oder mittelbare Diskriminierung auf Grund des Geschlechts... erfolgen darf".
Nach Artikel 3 Absatz 1 der Richtlinie beinhaltet die Anwendung dieses Grundsatzes, daß bei den Bedingungen des Zugangs Ä einschließlich der Auswahlkriterien - zu den Beschäftigungen oder Arbeitsplätzen keine Diskriminierung aufgrund des Geschlechts erfolgt.
Nach § 611a Absatz 1 BGB darf der Arbeitgeber "einen Arbeitnehmer bei einer Vereinbarung oder einer Maßnahme, insbesondere bei der Begründung des Arbeitsverhältnisses, ... nicht wegen seines Geschlechts benachteiligen..."
Gemäß § 611a Absatz 2 BGB kann, wenn der Arbeitgeber bei der Begründung eines Arbeitsverhältnisses einen Verstoß gegen das Benachteiligungsverbot des Absatzes 1 zu vertreten hat, der benachteiligte Bewerber eine angemessene Entschädigung in Geld in Höhe von höchstens drei Monatsverdiensten verlangen.
Nach § 611b BGB darf der Arbeitgeber einen Arbeitsplatz grundsätzlich nicht nur für Arbeitnehmer eines bestimmten Geschlechts ausschreiben.
Nach § 61b Absatz 2 des Arbeitsgerichtsgesetzes (ArbGG) ist, wenn mehrere Bewerber wegen Benachteiligung bei der Begründung eines Arbeitsverhältnisses eine Entschädigung nach § 611a Absatz 2 BGB gerichtlich geltend machen, "auf Antrag des Arbeitgebers die Summe dieser Entschädigungen auf sechs Monatsverdienste ... zu begrenzen..."
Das Arbeitsgericht Hamburg ist der Ansicht, daß der Kläger des Ausgangsverfahrens von der Firma Urania aufgrund seines Geschlechts diskriminiert worden sei, da deren Stellenausschreibung nicht geschlechtsneutral formuliert gewesen sei und augenscheinlich Frauen habe ansprechen sollen. Die Firma sei daher grundsätzlich verpflichtet, den Kläger des Ausgangsverfahrens zu entschädigen.
Dem Arbeitsgericht stellen sich jedoch insbesondere folgende Probleme:
Deshalb hat das Arbeitsgericht Hamburg das Verfahren ausgesetzt und dem Gerichtshof dahingehende Fragen zur Auslegung der EWG-Richtlinie vorgelegt. Die Antworten des Gerichtshofes von heute sind für das nationale Gericht verbindlich und sollen ihm dabei helfen, jetzt in dem bei ihm anhängigen Rechtsstreit zu entscheiden.
Der Gerichtshof wiederholt seine Rechtsprechung, daß die Richtlinie die Haftung des Urhebers einer Diskriminierung nicht vom Nachweis eines Verschuldens oder vom Fehlen eines Rechtfertigungsgrundes abhängig macht.
Im Zentrum der Begründung des Gerichtshofes steht folgende Aussage: Die Richtlinie schreibt den Mitgliedstaaten zwar keine bestimmte Sanktion vor; diese sind jedoch nach der Richtlinie verpflichtet, Maßnahmen zu ergreifen, die hinreichend wirksam sind, um das Ziel der Richtlinie zu erreichen, und dafür Sorge zu tragen, daß sich die Betroffenen vor den nationalen Gerichten tatsächlich auf diese Maßnahmen berufen können.
Wenn sich ein Mitgliedstaat dafür entscheidet, den Verstoß gegen das Diskriminierungsverbot mit der Sanktion einer Entschädigung zu belegen, setzt die Richtlinie außerdem voraus,
a . Zur Höchstgrenze von drei Monatsgehältern als Schadensersatz für einen diskriminierten Beweber
Der Gerichtshof stellt klar, daß ein Schadensersatz von bis zu drei Monatsgehältern dem Arbeitgeber keine erhebliche, spürbare und abschreckende finanzielle Belastung auferlege. Der Schadensersatz müsse auf jeden Fall in einem angemessenen Verhältnis zum erlittenen Schaden stehen.
Im übrigen sei im sonstigen deutschen Zivil- und Arbeitsrecht keine solche spezielle Schadensersatzhöchstgrenze vorgesehen. Bei der Wahl der Lösung, die das Ziel der Richtlinie verwirklichen solle, müßten die Mitgliedstaaten darauf achten, daß Verstöße gegen das Gemeinschaftsrecht nach ähnlichen sachlichen und verfahrensrechtlichen Regeln geahndet würden wie nach Art und Schwere gleichartige Verstöße gegen das nationale Recht.
Was die Angemessenheit des Schadensersatztes angehe, so könne dieser allerdings berücksichtigen, daß bestimmte Bewerber auch bei diskriminierungsfreier Auswahl die zu besetzende Position wegen der besseren Qualifikationen des eingestellten Bewerbers nicht erhalten hätten. Da solche Bewerber nur einen Schaden erlitten hätten, der sich aus ihrem Ausschluß von dem Einstellungsverfahren ergebe, könnten sie nicht geltend machen, ihr Schaden sei ebenso hoch wie der von Bewerbern, die bei diskriminierungsfreier Auswahl die zu besetzende Position erhalten hätten. So dürfe ein Mitgliedstaat eine gesetzliche Vermutung aufstellen, wonach der Schaden, den ein Bewerber der ersten Gruppe erleide, eine Höchstgrenze von drei Monatsgehältern nicht übersteigen könne.
Der Arbeitgeber, der über sämtliche eingereichten Bewerbungsunterlagen verfüge, habe zu beweisen, daß der Bewerber die zu besetzende Position auch dann nicht erhalten hätte, wenn keine Diskriminierung stattgefunden hätte.
b. Zur Höchtsgrenze für den Schadensersatz bei mehreren diskriminierten Bewerbern
Hierzu führt der Gerichtshof aus, offensichtlich könne eine Bestimmung wie § 61b Absatz 2 ArbGG, die für den von mehreren Bewerbern geltend gemachten Schadensersatz eine Höchstgrenze von kumulativ sechs Monatsgehältern für alle bei der Einstellung aufgrund des Geschlechts diskriminierten Bewerber vorgibt, dazu führen, daß geringere Entschädigungen gewährt und die geschädigten Bewerber von der Geltendmachung ihrer Rechte abgehalten würden. Eine solche Auswirkung entspräche nicht den in der Richtlinie aufgestellten Erfordernissen eines tatsächlichen und wirksamen Rechtsschutzes und einer wirklich abschreckenden Wirkung gegenüber dem Arbeitgeber.
Im übrigen gebe es auch hier im sonstigen deutschen Zivil- und Arbeitsrecht keine solche kumulative Schadensersatzhöchstgrenze. Die Modalitäten und Voraussetzungen eines auf das Gemeinschaftsrecht gestützten Entschädigungsanspruchs dürften aber nicht ungünstiger sein als die, die im Rahmen der vergleichbaren innerstaatlichen Regelung vorgesehen seien.
Der Gerichtshof antwortet dem deutschen Gericht:
1. Entscheidet sich ein Mitgliedstaat dafür, den Verstoß gegen das Diskriminierungsverbot im Rahmen einer zivilrechtlichen Haftungsregelung mit einer Sanktion zu belegen, so stehen die Richtlinie 76/207/EWG des Rates vom 9. Februar 1976 zur Verwirklichung des Grundsatzes der Gleichbehandlung von Männern und Frauen hinsichtlich des Zugangs zur Beschäftigung, zur Berufsbildung und zum beruflichen Aufstieg sowie in bezug auf die Arbeitsbedingungen und insbesondere ihre Artikel 2 Absatz 1 und 3 Absatz 1 einer innerstaatlichen gesetzlichen Regelung entgegen, die für einen Anspruch auf Schadensersatz wegen Diskriminierung aufgrund des Geschlechts bei der Einstellung die Voraussetzung des Verschuldens aufstellt.
2. Die Richtlinie 76/207 steht einer innerstaatlichen gesetzlichen Regelung nicht entgegen, die für den Schadensersatz, den ein Bewerber verlangen kann, eine Höchstgrenze von drei Monatsgehältern vorgibt, wenn der Arbeitgeber beweisen kann, daß der Bewerber die zu besetzende Position wegen der besseren Qualifikation des eingestellten Bewerbers auch bei diskriminierungsfreier Auswahl nicht erhalten hätte. Die Richtlinie steht jedoch einer innerstaatlichen gesetzlichen Regelung entgegen, die für den Schadensersatz, den ein Bewerber verlangen kann, der bei der Einstellung aufgrund des Geschlechts diskriminiert worden ist, im Gegensatz zu sonstigen innerstaatlichen zivil- und arbeitsrechtlichen Regelungen eine Höchstgrenze von drei Monatsgehältern vorgibt, falls dieser Bewerber bei diskriminierungsfreier Auswahl die zu besetzende Position erhalten hätte.
3. Die Richtlinie 76/207 steht einer innerstaatlichen gesetzlichen Regelung entgegen, die für den von mehreren Bewerbern geltend gemachten Schadensersatz, den Bewerber verlangen können, die bei der Einstellung aufgrund des Geschlechts diskriminiert worden sind, im Gegensatz zu sonstigen innerstaatlichen zivil- und arbeitsrechtlichen Regelungen eine Höchstgrenze von kumulativ sechs Monatsgehältern vorgibt.
Ausschließlich zur Verwendung durch die Medien bestimmt Ä nichtamtliches Dokument, das den Gerichtshof nicht bindet Ä verfügbar in deutsch.
Wegen einer Kopie des Urteils wenden Sie sich bitte an Frau Delia Nynabb - Tel.: (00352) 4303-3365, wegen zusätzlicher Information an Frau Dr. Ulrike Städtler - Tel.: (00352) 4303-3255