ABTEILUNG PRESSE UND INFORMATION

PRESSEMITTEILUNG NR. 46/97

9. Juli 1997

Schlußanträge von Generalanwalt Carl Otto Lenz in der Rechtssache C-265/95
Kommission / Französische Republik

Generalanwalt: Frankreich verstößt durch die Duldung von Übergriffen seiner Bauern gegen Obst- und Gemüsetransporte aus anderen Mitgliedstaaten gegen den EG-Vertrag.


I. Der Entscheidungsvorschlag

Der Generalanwalt schlägt dem Gerichtshof vor, festzustellen, daß die Französische Republik dadurch gegen ihre Verpflichtungen aus dem EG-Vertrag verstoßen hat, daß sie nicht alle erforderlichen und angemessenen Maßnahmen ergriffen hat, damit der freie Warenverkehr mit Obst und Gemüse nicht durch Ausschreitungen von Privatpersonen behindert wird.

II. Zum Sachverhalt

In dem vorliegenden Vertragsverletzungsverfahren geht es um die Behinderungen des freien Warenverkehrs mit Obst und Gemüse durch Privatpersonen in Frankreich.

Seit mehr als einem Jahrzehnt gehen bei der Kommission regelmäßig Beschwerden über Übergriffe ein, die Protestbewegungen französischer Landwirte gegen landwirtschaftliche Erzeugnisse aus anderen Mitgliedstaaten verübt haben (Plünderung und Vernichtung von Ladungen und Transportfahrzeugen, Bedrohung von Lastwagenfahrern, Bedrohung und Erpressung von französischen Händlern von Obst und Gemüse aus anderen Mitgliedstaaten). Die Kommission wirft den französischen Behörden vor, sie seien untätig geblieben oder wären den Vorfällen nicht mit dem nötigen Nachdruck begegnet.

Die Französische Republik beantwortete die Ermahnungen der Kommission (erstes Aufforderungsschreiben vom 8.5.1985) stets mit der Versicherung, daß sie zur Gewährleistung der Freiheit des Handelsverkehrs entschieden reagieren wolle. Dennoch kam es regelmäßig erneut zu Vernichtungs- und Plünderungsakten.

1993 gelangte die Kommission zu der Auffassung, daß dieses immer wieder auftretende Problem eine neue Dimension erhalten hatte, denn es stellte sich heraus, daß die gewaltsamen Aktionen auf Initiative einiger Gruppen wie der "Coordination rurale" den früheren Charakter punktueller und impulsiver Akte verloren hatten und nunmehr zu einem ausgefeilten Plan zur Kontrolle des Angebots aus anderen Mitgliedstaaten eingeführter Waren gehörten (Versuch, den Markt durch Drohungen zu regulieren). Davon betroffen waren Obst- und Gemüseladungen aus anderen Mitgliedstaaten, insbes. spanische Erdbeeren, die für den französischen Markt und für andere Mitgliedstaaten bestimmt waren.

1995 hat die Kommission schließlich Klage vor dem Gerichtshof erhoben mit dem Antrag auf Feststellung, daß die Französische Republik dadurch gegen ihre Verpflichtungen aus dem EG-Vertrag verstoßen hat, daß sie nicht alle erforderlichen und angemessenen Maßnahmen ergriffen hat, damit der freie Warenverkehr mit Obst und Gemüse nicht durch Ausschreitungen von Privatpersonen behindert wird.

III. Die Schlußanträge.

  1. Zur Verantwortlichkeit eines Mitgliedstaats für die Beeinträchtigung der Freiheit des Warenverkehrs durch Privatpersonen

    Nach Ansicht des Generalanwalts sind die Mitgliedstaaten verpflichtet, alle geeigneten Maßnahmen zum Schutz der Freiheit des Warenverkehrs zu ergreifen. Dies gelte auch insbesondere für den Schutz dieser Freiheit vor Angriffen von Privatpersonen. Allerdings könnte ein hundertprozentiger Schutz nicht verlangt werden; es sei aber erforderlich, daß der Mitgliedstaat die zur Herbeiführung dieses Zieles erforderlichen Schritte unternehme.

    Plünderung und Zerstörung von Waren aus anderen Mitgliedstaaten seien eine der schwerwiegendsten Formen von "Einfuhrbeschränkungen". Das gleiche gelte für die Bedrohung von Lastwagenfahrern, für die Bedrohung von Händlern in Frankreich, die Waren aus anderen Mitgliedstaaten anböten sowie für das generell erzeugte Klima der Unsicherheit und Ungewißheit.

    Die französische Regierung verwies auf den verschärften Wettbewerb französischer Erdbeeren mit spanischen Erdbeeren (dramatischer Anstieg der spanischen Ausfuhren, Wechselkursentwicklung, angebliches spanisches Preisdumping u.a.), der zu gravierenden wirtschaftlichen Schwierigkeiten der südfranzösischen Bauern geführt habe.

  2. Zu den zur Entlastung vorgetragenen Umständen

    Nach Auffassung des Generalanwalts können diese Umstände die angeführten Behinderungen des freien Warenverkehrs nicht rechtfertigen. Im übrigen beträfen die Kommissionsvorwürfe nicht nur spanische Erdbeeren, sondern auch andere Produkte aus Spanien und aus anderen Mitgliedstaaten sowie Waren, die für andere Mitgliedstaaten bestimmt gewesen seien.

    Falls die Importe von Obst und Gemüse aus anderen Mitgliedstaaten tatsächlich zu einer Gefährdung der wirtschaftlichen Existenz bestimmter Bauern in Frankreich führten, hätten die zuständigen Organe der Gemeinschaft eingreifen müssen. Frankreich könne gegen Maßnahmen anderer Mitgliedstaaten sowohl im Rahmen des Rates, als auch mit Hilfe der Kommission, als auch schließlich mit gerichtlichen Schritten (EuGH) vorgehen, um die Beseitigung dieser eventuellen Verstöße zu erreichen. Auf keinen Fall sei ein Mitgliedstaat berechtigt, zur Selbsthilfe zu greifen oder eigenmächtiges Vorgehen von Privatpersonen zu dulden. In der Europäischen Gemeinschaft müßten Meinungsverschiedenheiten und Streitigkeiten mit den Mitteln des Rechts beigelegt werden. Würde man es zulassen, daß zur Durchsetzung bestimmter wirtschaftlicher und politischer Ziele Gewalt angewendet werden könnte, würde die Herrschaft des Rechts durch die Herrschaft der Gewalt abgelöst. Dies würde das Ende der Gemeinschaft bedeuten.

  3. Zur Verantwortlichkeit der Französischen Republik für die festgestellten Vorgänge

    Nach Ansicht des Generalanwalts ist Frankreich seiner Verpflichtung zur Gewährleistung der Freiheit des Warenverkehrs nicht nachgekommen.

    Die französische Regierung habe nicht alle erforderlichen und angemessenen Maßnahmen ergriffen, um den Ausschreitungen vorzubeugen oder sie unmittelbar zu bekämpfen (Präventivmaßnahmen). Ausreichende Polizeikräfte zum Schutz der gefährdeten Lieferungen hätten entweder nicht zur Verfügung gestanden oder nicht eingegriffen (siehe Schlußanträge, Randnummern 51-67).

    Auch die Verfolgung der Täter sei von den französischen Behörden nicht mit dem erforderlichen Nachdruck betrieben worden, obwohl Beweismittel (Videoaufnahmen, Rundschreiben) zur Verfügung gestanden hätten (siehe Schlußanträge, Randnummern 68-76).

IV. Zur Funktion des Generalanwalts am Gerichtshof der EG

Jede Rechtssache durchläuft am Gerichtshof zunächst ein schriftliches, dann ein mündliches Verfahren. Im vorliegenden Fall fand die mündliche Verhandlung am 10. Juni 1997 statt.

Anschließend verfaßt zunächst ein Generalanwalt in völliger Unparteilichkeit und Unabhängigkeit ein Rechtsgutachten (die sog. Schlußanträge) zusammen mit einem Vorschlag für eine Entscheidung des Gerichtshofes. Erst dann treten die Richter in die Urteilsberatung ein. Das Rechtsgutachten ist für die Richter unverbindlich.

Ausschließlich zur Verwendung durch die Medien bestimmt - nichtamtliches Dokument, das den Gerichtshof nicht bindet - verfügbar in deutsch, französisch und spanisch.

Wegen einer Kopie der Schlußanträge wenden Sie sich bitte an Frau Delia Nynabb - Tel.: (00352) 4303-3365, wegen zusätzlicher Information an Frau Dr. Ulrike Städtler - Tel.: (00352) 4303-3255 Fax: (00352) 4303-2500