Abteilung Presse und Information

PRESSEMITTEILUNG NR. 55/98

15. September 1998

Urteil des Gerichts in den verbundenen Rechtssachen T-374/94, T-375/94, T-384/94 und T-388/94

European Night Services Ltd (ENS) u. a./Kommission der Europäischen Gemeinschaften

DAS GERICHT ERKLÄRT DIE ENTSCHEIDUNG DER KOMMISSION ÜBER DIE NACHTZUGVERBINDUNGEN DURCH DEN KANALTUNNEL FÜR NICHTIG


Das Gericht wendet bei der Entscheidung in einer Rechtssache, die ein gemeinsames Unternehmen betrifft, erstmals die Richtlinie des Rates zur Entwicklung der Eisenbahnunternehmen der Gemeinschaft an. Es ist der Ansicht, daß die Kommission die Frage der Definition des relevanten Marktes und die Frage der wettbewerbsbeschränkenden Auswirkungen der betroffenen Vereinbarungen in mehrfacher Hinsicht falsch beurteilt habe, und erklärt ihre Entscheidung wegen unzureichender Begründung für nichtig.

Das klagende Unternehmen, das im Namen der Bahnunternehmen British Rail (BR), Deutsche Bundesbahn (DB), Nederlandse Spoorwegen (NS) und Société nationale des chemins de fer français (SNCF) handelt, hatte einen Antrag auf Freistellung der Vereinbarungen, die diese Unternehmen auf dem Gebiet des Personen-Eisenbahnverkehrs durch den Kanaltunnel getroffen hatten, von den Bestimmungen des Wettbewerbsrechts gestellt.

Die erste der bei der Kommission angemeldeten Vereinbarungen betraf die Gründung der Gesellschaft ENS durch die vier Bahnunternehmen BR, SNCF, DB und NS; der Gesellschaftszweck sollte darin bestehen, Reisenden Nachtzugverbindungen zwischen Großbritannien und Zielorten auf dem europäischen Festland durch den Kanaltunnel anzubieten. Die übrigen angemeldeten Vereinbarungen betrafen Betriebsvereinbarungen von ENS mit den Eisenbahnunternehmen, nach denen diese ENS bestimmte Dienstleistungen zu erbringen hatten, zu denen die Zugförderung auf dem eigenen Streckennetz sowie die Bereitstellung von Triebfahrzeugen, Zugpersonal und Fahrplantrasse gehörten.

Für den Betrieb der Nachtzugverbindungen erwarben die beteiligten Eisenbahnunternehmen über die ENS mittels langfristiger Finanzierungs- und Leasingverträge, die für zunächst zwanzig Jahre geschlossen wurden, Spezialfahrzeuge, die auf den verschiedenen Streckennetzen und im Kanaltunnel verkehren können. Die Gesamtkosten für dieses Material beliefen sich auf 136,7 Millionen UKL, sie erhöhten sich im Januar 1996 auf 158 Millionen UKL.

Die Kommission erteilte mit ihrer Entscheidung für die erwähnten Vereinbarungen eine Freistellung von der Anwendung der Bestimmungen des Wettbewerbsrechts für die Zeit vom 29. Januar 1993 bis zum 31. Dezember 2002. Diese Freistellung wurde jedoch unter der Auflage erteilt, daß die betroffenen

Bahnunternehmen die gleichen Bahnleistungen, die sie ENS zugesagt haben, allen "internationalen Gruppierungen" von Bahnunternehmen und allen "Verkehrsunternehmen" zu erbringen haben, die Nachtzüge im Reiseverkehr durch den Kanaltunnel verkehren lassen wollen. Diese Leistungen sollten zu den gleichen technischen und finanziellen Bedingungen wie für ENS erbracht werden.

Die Klägerinnen haben die Nichtigerklärung dieser Entscheidung beantragt; sie rügen die von der Kommission vorgenommene Beurteilung, die erteilte Auflage und die unzureichende Dauer der gewährten Freistellung.

Das Gericht hat festgestellt, daß nicht beanstandet worden sei, daß der räumliche Markt der betreffenden Dienstleistungen nur aus den vier Strecken bestehe, deren tatsächliche Bedienung ENS beantragt habe (Zielorte auf dem europäischen Festland). Daher stelle sich die Frage, ob die Kommission aufgrund einer richtigen Würdigung der Marktanteile der ENS zu dem Ergebnis gelangt sei, daß die Vereinbarungen den Handel zwischen Mitgliedstaaten erheblich beeinträchtigten. Hierzu hat das Gericht ausgeführt, daß die angefochtene Entscheidung weder die Marktanteile von ENS noch die Marktanteile der anderen konkurrierenden Wirtschaftsteilnehmer erwähne. Ferner könne in Ermangelung einer eingehenden Untersuchung des wirtschaftlichen und rechtlichen Kontextes der relevanten Märkte, wie er in den Anmeldungen der Vereinbarungen beschrieben worden sei, der bloße Umstand, daß die geschätzten Marktanteile von ENS die kritische Schwelle von 5 % erreichten, nicht die automatische Anwendung des Verbotes der Vereinbarungen zwischen Unternehmen nach dem Vertrag rechtfertigen. Das Gericht ist zu dem Ergebnis gelangt, daß es ihm die Begründung der angefochtenen Entscheidung ermögliche, über die Anteile der ENS auf den verschiedenen relevanten Märkten und somit darüber zu entscheiden, ob die ENS-Vereinbarungen erhebliche Auswirkungen auf den Handel zwischen Mitgliedstaaten hätten.

Das Gericht hat sodann die Frage geprüft, ob die ENS ihre Tätigkeit im internationalen Reiseverkehr als "internationale Gruppierung" gemäß der Richtlinie 91/440 ausübt oder, wie die Kommission vorgetragen hat, als "Verkehrsunternehmen", das als solches dem Wettbewerbsrecht des Vertrages unterliegt. Das Gericht hat festgestellt, daß die Kommission den Begriff "internationale Gruppierung" eng ausgelegt habe, indem sie den Begriff "Verkehrsunternehmen" aus dem Bereich des Marktes für den kombinierten Güterverkehr auf den des Marktes für die Beförderung von Reisenden übertragen habe; dabei handele es sich aber um einen Begriff, der mit dem tatsächlichen Funktionieren des letztgenannten Marktes nichts zu tun habe.

In bezug auf die Auflagen, mit denen die Freistellung versehen wurde, hat das Gericht unter Berufung auf die Rechtsprechung zum Verbot des Mißbrauchs einer beherrschenden Stellung entschieden, daß ein Unternehmen nur dann im Besitz für den relevanten Markt "unerläßlicher" oder "wesentlicher" Infrastrukturen sei, wenn diese Infrastrukturen, Erzeugnisse oder Dienstleistungen nicht austauschbar seien und wenn wegen ihrer besonderen Eigenschaften und insbesondere den prohibitiven Kosten ihres Ersatzes und/oder der zu diesem Zweck erforderlichen Zeit für die möglichen Konkurrenten des gemeinsamen Unternehmens keine brauchbare Alternative bestünde, so daß sie auf diese Weise vom Markt ausgeschlossen würden.

Schließlich ist das Gericht dem Vorbringen der Klägerinnen gefolgt, daß die Dauer der gewährten Freistellung unzureichend sei. Es hat hierzu festgestellt, daß die Entscheidung keine eingehende Beurteilung der Frage enthalte, welcher Zeitraum erforderlich sei, damit sich die fraglichen Investitionen rechtlich abgesichert rentieren könnten, und daß die Entscheidung auch in dieser Beziehung mangelhaft begründet sei.

N.B.: Gegen dieses Urteil des Gerichts kann innerhalb von zwei Monaten nach seiner Zustellung ein auf Rechtsfragen beschränktes Rechtsmittel beim Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften eingelegt werden.

Zur Verwendung durch die Medien bestimmtes nichtamtliches Dokument, das das Gericht erster Instanz nicht bindet. Dieses Dokument liegt in französischer, englischer und deutscher Sprache vor.

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