Language of document : ECLI:EU:C:2018:248

URTEIL DES GERICHTSHOFS (Zweite Kammer)

12. April 2018(*)

„Vorlage zur Vorabentscheidung – Recht auf Familienzusammenführung – Richtlinie 2003/86/EG – Art. 2 Buchst. f – Begriff ,unbegleiteter Minderjähriger‘ – Art. 10 Abs. 3 Buchst. a – Recht eines Flüchtlings auf Familienzusammenführung mit seinen Eltern – Flüchtling, der zum Zeitpunkt seiner Einreise in das Hoheitsgebiet des Mitgliedstaats und der Stellung seines Asylantrags unter 18 Jahre alt war, aber zum Zeitpunkt des Erlasses der asylgewährenden Entscheidung und der Stellung seines Antrags auf Familienzusammenführung volljährig ist – Für die Beurteilung der Minderjährigkeit des Betroffenen maßgeblicher Zeitpunkt“

In der Rechtssache C‑550/16

betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht von der Rechtbank Den Haag (Gericht von Den Haag, Niederlande) mit Entscheidung vom 26. Oktober 2016, beim Gerichtshof eingegangen am 31. Oktober 2016, in dem Verfahren

A,

S

gegen

Staatssecretaris van Veiligheid en Justitie

erlässt

DER GERICHTSHOF (Zweite Kammer)

unter Mitwirkung des Kammerpräsidenten M. Ilešič (Berichterstatter), des Richters A. Rosas, der Richterinnen C. Toader und A. Prechal sowie des Richters E. Jarašiūnas,

Generalanwalt: Y. Bot,

Kanzler: M. Ferreira, Hauptverwaltungsrätin,

aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 14. September 2017,

unter Berücksichtigung der Erklärungen

–        von A und S, vertreten durch N. C. Blomjous und S. Wierink, advocaten,

–        der niederländischen Regierung, vertreten durch M. K. Bulterman, M. A. M. de Ree und H. S. Gijzen als Bevollmächtigte,

–        der polnischen Regierung, vertreten durch B. Majczyna als Bevollmächtigten,

–        der Europäischen Kommission, vertreten durch C. Cattabriga und G. Wils als Bevollmächtigte,

nach Anhörung der Schlussanträge des Generalanwalts in der Sitzung vom 26. Oktober 2017

folgendes

Urteil

1        Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 2 Buchst. f der Richtlinie 2003/86/EG des Rates vom 22. September 2003 betreffend das Recht auf Familienzusammenführung (ABl. 2003, L 251, S. 12).

2        Dieses Ersuchen ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen A und S, eritreische Staatsangehörige, auf der einen Seite und dem Staatssecretaris van Veiligheid en Justitie (Staatssekretär für Sicherheit und Justiz, Niederlande) (im Folgenden: Staatssekretär) auf der anderen Seite wegen dessen Weigerung, ihnen und ihren drei minderjährigen Söhnen eine vorläufige Aufenthaltserlaubnis im Rahmen der Familienzusammenführung mit ihrer ältesten Tochter zu erteilen.

 Rechtlicher Rahmen

 Unionsrecht

 Richtlinie 2003/86

3        Die Richtlinie 2003/86 legt die Voraussetzungen für die Ausübung des Rechts auf Familienzusammenführung durch Drittstaatsangehörige fest, die sich rechtmäßig im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats aufhalten.

4        In den Erwägungsgründen 2, 4, 6 und 8 bis 10 der Richtlinie 2003/86 heißt es:

„(2)      Maßnahmen zur Familienzusammenführung sollten in Übereinstimmung mit der Verpflichtung zum Schutz der Familie und zur Achtung des Familienlebens getroffen werden, die in zahlreichen Instrumenten des Völkerrechts verankert ist. Diese Richtlinie steht im Einklang mit den Grundrechten und berücksichtigt die Grundsätze, die insbesondere in Artikel 8 der [am 4. November 1950 in Rom unterzeichneten] Europäischen Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten und der Charta der Grundrechte der Europäischen Union anerkannt wurden.

(4)      Die Familienzusammenführung ist eine notwendige Voraussetzung dafür, dass ein Familienleben möglich ist. Sie trägt zur Schaffung soziokultureller Stabilität bei, die die Integration Drittstaatsangehöriger in dem Mitgliedstaat erleichtert; dadurch wird auch der wirtschaftliche und soziale Zusammenhalt gefördert, der als grundlegendes Ziel der Gemeinschaft im Vertrag aufgeführt wird.

(6)      Zum Schutz der Familie und zur Wahrung oder Herstellung des Familienlebens sollten die materiellen Voraussetzungen für die Wahrnehmung des Rechts auf Familienzusammenführung nach gemeinsamen Kriterien bestimmt werden.

(8)      Der Lage von Flüchtlingen sollte wegen der Gründe, die sie zur Flucht gezwungen haben und sie daran hindern, ein normales Familienleben zu führen, besondere Aufmerksamkeit geschenkt werden. Deshalb sollten günstigere Bedingungen für die Ausübung ihres Rechts auf Familienzusammenführung vorgesehen werden.

(9)      Die Familienzusammenführung sollte auf jeden Fall für die Mitglieder der Kernfamilie, d. h. den Ehegatten und die minderjährigen Kinder gelten.

(10)      Es ist Sache der Mitgliedstaaten zu entscheiden, ob sie die Familienzusammenführung von Verwandten in gerader aufsteigender Linie [und] volljährigen unverheirateten Kindern … zulassen möchten.“

5        Art. 2 der Richtlinie 2003/86 bestimmt:

„Im Sinne dieser Richtlinie bezeichnet der Ausdruck

a)      ‚Drittstaatsangehöriger‘ jede Person, die nicht Unionsbürger im Sinne von Artikel 17 Absatz 1 des Vertrags ist;

b)      ,Flüchtling‘ jeden Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen, dem die Flüchtlingseigenschaft im Sinne des Genfer Abkommens über die Rechtsstellung der Flüchtlinge vom 28. Juli 1951 in der durch das New Yorker Protokoll vom 31. Januar 1967 geänderten Fassung zuerkannt wurde;

c)      ‚Zusammenführender‘ den sich rechtmäßig in einem Mitgliedstaat aufhaltenden Drittstaatsangehörigen, der oder dessen Familienangehörige einen Antrag auf Familienzusammenführung mit ihm stellt bzw. stellen;

d)      ,Familienzusammenführung‘ die Einreise und den Aufenthalt von Familienangehörigen eines sich rechtmäßig in einem Mitgliedstaat aufhaltenden Drittstaatsangehörigen in diesem Mitgliedstaat, mit dem Ziel, die Familiengemeinschaft aufrechtzuerhalten, unabhängig davon, ob die familiären Bindungen vor oder nach der Einreise des Zusammenführenden entstanden sind;

f)      ,unbegleiteter Minderjähriger‘ einen Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen unter 18 Jahren, der ohne Begleitung eines für ihn nach dem Gesetz oder dem Gewohnheitsrecht verantwortlichen Erwachsenen in einen Mitgliedstaat einreist, solange er sich nicht tatsächlich in der Obhut einer solchen Person befindet, oder Minderjährige, die ohne Begleitung im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats zurückgelassen werden, nachdem sie in diesen Mitgliedstaat eingereist sind.“

6        Art. 3 der Richtlinie 2003/86 sieht vor:

„(1)      Diese Richtlinie findet Anwendung, wenn der Zusammenführende im Besitz eines von einem Mitgliedstaat ausgestellten Aufenthaltstitels mit mindestens einjähriger Gültigkeit ist, begründete Aussicht darauf hat, ein dauerhaftes Aufenthaltsrecht zu erlangen, und seine Familienangehörigen Drittstaatsangehörige sind, wobei ihre Rechtsstellung unerheblich ist.

(2)      Diese Richtlinie findet keine Anwendung, wenn

a)      der Zusammenführende um die Anerkennung als Flüchtling nachsucht und über seinen Antrag noch nicht abschließend entschieden wurde;

b)      dem Zusammenführenden der Aufenthalt in einem Mitgliedstaat im Rahmen des vorübergehenden Schutzes genehmigt wurde oder er um die Genehmigung des Aufenthalts aus diesem Grunde nachsucht und über seinen Status noch nicht entschieden wurde;

c)      dem Zusammenführenden der Aufenthalt in einem Mitgliedstaat aufgrund subsidiärer Schutzformen gemäß internationalen Verpflichtungen, einzelstaatlichen Rechtsvorschriften oder Praktiken der Mitgliedstaaten genehmigt wurde oder er um die Genehmigung des Aufenthalts aus diesem Grunde nachsucht und über seinen Status noch nicht entschieden wurde.

(5)      Diese Richtlinie berührt nicht das Recht der Mitgliedstaaten, günstigere Regelungen zu treffen oder beizubehalten.“

7        In Art. 4 Abs. 2 der Richtlinie 2003/86 heißt es:

„Vorbehaltlich der in Kapitel IV genannten Bedingungen können die Mitgliedstaaten in ihren nationalen Rechtsvorschriften folgenden Familienangehörigen die Einreise und den Aufenthalt gemäß dieser Richtlinie gestatten:

a)      den Verwandten in gerader aufsteigender Linie ersten Grades des Zusammenführenden oder seines Ehegatten, wenn letztere für ihren Unterhalt aufkommen und erstere in ihrem Herkunftsland keinerlei sonstige familiäre Bindungen mehr haben;

…“

8        Art. 5 der Richtlinie 2003/86 bestimmt:

„(1)      Die Mitgliedstaaten legen fest, ob zur Ausübung des Rechts auf Familienzusammenführung ein Antrag auf Einreise und Aufenthalt entweder vom Zusammenführenden oder von dem oder den Familienangehörigen bei den zuständigen Behörden des betreffenden Mitgliedstaats gestellt werden muss.

(4)      Die zuständigen Behörden des Mitgliedstaats teilen dem Antragsteller ihre Entscheidung unverzüglich, spätestens aber neun Monate nach Einreichung des Antrags schriftlich mit.

In Ausnahmefällen kann aufgrund der Schwierigkeit der Antragsprüfung die in Unterabsatz 1 genannte Frist verlängert werden.

Eine Ablehnung des Antrags ist zu begründen. Ist bei Ablauf der Frist nach Unterabsatz 1 noch keine Entscheidung ergangen, so richten sich etwaige Folgen nach dem nationalen Recht des betreffenden Mitgliedstaats.

(5)      Bei der Prüfung des Antrags tragen die Mitgliedstaaten dafür Sorge, dass vor allem das Wohl des minderjährigen Kindes gebührend berücksichtigt wird.“

9        Art. 7 Abs. 1 der Richtlinie 2003/86 sieht vor, dass die Mitgliedstaaten vom Antragsteller auf Familienzusammenführung den Nachweis verlangen können, dass der Zusammenführende über Wohnraum, eine Krankenversicherung und Einkünfte verfügt, die die in dieser Bestimmung angeführten Bedürfnisse befriedigen.

10      Kapitel V („Familienzusammenführung von Flüchtlingen“) der Richtlinie 2003/86 umfasst die Art. 9 bis 12. Art. 9 Abs. 1 und 2 lautet:

„(1)      Dieses Kapitel findet auf die Familienzusammenführung von Flüchtlingen Anwendung, die von den Mitgliedstaaten anerkannt worden sind.

(2)      Die Mitgliedstaaten können die Anwendung dieses Kapitels auf Flüchtlinge beschränken, deren familiäre Bindungen bereits vor ihrer Einreise bestanden haben.“

11      Art. 10 der Richtlinie 2003/86 bestimmt:

„(1)      Hinsichtlich der Definition von Familienangehörigen findet Artikel 4 Anwendung; ausgenommen davon ist Absatz 1 Unterabsatz 3, der nicht für die Kinder von Flüchtlingen gilt.

(2)      Die Mitgliedstaaten können weiteren, in Artikel 4 nicht genannten Familienangehörigen die Familienzusammenführung gestatten, sofern der zusammenführende Flüchtling für ihren Unterhalt aufkommt.

(3)      Handelt es sich bei einem Flüchtling um einen unbegleiteten Minderjährigen, so

a)      gestatten die Mitgliedstaaten ungeachtet der in Artikel 4 Absatz 2 Buchstabe a) genannten Bedingungen die Einreise und den Aufenthalt seiner Verwandten in gerader aufsteigender Linie ersten Grades zum Zwecke der Familienzusammenführung;

b)      können die Mitgliedstaaten die Einreise und den Aufenthalt seines gesetzlichen Vormunds oder eines anderen Familienangehörigen zum Zwecke der Familienzusammenführung gestatten, wenn der Flüchtling keine Verwandten in gerader aufsteigender Linie hat oder diese unauffindbar sind.“

12      Art. 11 der Richtlinie 2003/86 sieht vor:

„(1)      Hinsichtlich der Stellung und Prüfung des Antrags kommt Artikel 5 vorbehaltlich des Absatzes 2 des vorliegenden Artikels zur Anwendung.

(2)      Kann ein Flüchtling seine familiären Bindungen nicht mit amtlichen Unterlagen belegen, so prüft der Mitgliedstaat andere Nachweise für das Bestehen dieser Bindungen; diese Nachweise werden nach dem nationalen Recht bewertet. Die Ablehnung eines Antrags darf nicht ausschließlich mit dem Fehlen von Belegen begründet werden.“

13      Art. 12 Abs. 1 der Richtlinie 2003/86 lautet:

„Abweichend von Artikel 7 verlangen die Mitgliedstaaten in Bezug auf Anträge betreffend die in Artikel 4 Absatz 1 genannten Familienangehörigen von einem Flüchtling und/oder einem (den) Familienangehörigen keinen Nachweis, dass der Flüchtling die in Artikel 7 genannten Bedingungen erfüllt.

Unbeschadet internationaler Verpflichtungen können die Mitgliedstaaten in Fällen, in denen eine Familienzusammenführung in einem Drittstaat möglich ist, zu dem eine besondere Bindung des Zusammenführenden und/oder Familienangehörigen besteht, die Vorlage des in Unterabsatz 1 genannten Nachweises verlangen.

Die Mitgliedstaaten können von dem Flüchtling die Erfüllung der in Artikel 7 Absatz 1 genannten Voraussetzungen verlangen, wenn der Antrag auf Familienzusammenführung nicht innerhalb einer Frist von drei Monaten nach der Zuerkennung des Flüchtlingsstatu[s] gestellt wurde.“

 Richtlinie 2011/95/EU

14      Die Erwägungsgründe 18, 19 und 21 der Richtlinie 2011/95/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 13. Dezember 2011 über Normen für die Anerkennung von Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen als Personen mit Anspruch auf internationalen Schutz, für einen einheitlichen Status für Flüchtlinge oder für Personen mit Anrecht auf subsidiären Schutz und für den Inhalt des zu gewährenden Schutzes (ABl. 2011, L 337, S. 9) lauten:

„(18)      Bei der Umsetzung dieser Richtlinie sollten die Mitgliedstaaten im Einklang mit dem Übereinkommen der Vereinten Nationen von 1989 über die Rechte des Kindes vorrangig das ‚Wohl des Kindes‘ berücksichtigen. Bei der Bewertung der Frage, was dem Wohl des Kindes dient, sollten die Mitgliedstaaten insbesondere dem Grundsatz des Familienverbands, dem Wohlergehen und der sozialen Entwicklung des Minderjährigen, Sicherheitsaspekten sowie dem Willen des Minderjährigen unter Berücksichtigung seines Alters und seiner Reife Rechnung tragen.

(19)      Der Begriff ‚Familienangehörige‘ muss ausgeweitet werden, wobei den unterschiedlichen besonderen Umständen der Abhängigkeit Rechnung zu tragen und das Wohl des Kindes besonders zu berücksichtigen ist.

(21)      Die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft ist ein deklaratorischer Akt.“

15      Art. 2 der Richtlinie 2011/95 bestimmt:

„Im Sinne dieser Richtlinie bezeichnet der Ausdruck

d)      ‚Flüchtling‘ einen Drittstaatsangehörigen, der aus der begründeten Furcht vor Verfolgung wegen seiner Rasse, Religion, Nationalität, politischen Überzeugung oder Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe sich außerhalb des Landes befindet, dessen Staatsangehörigkeit er besitzt, und den Schutz dieses Landes nicht in Anspruch nehmen kann oder wegen dieser Furcht nicht in Anspruch nehmen will, oder einen Staatenlosen, der sich aus denselben vorgenannten Gründen außerhalb des Landes seines vorherigen gewöhnlichen Aufenthalts befindet und nicht dorthin zurückkehren kann oder wegen dieser Furcht nicht dorthin zurückkehren will und auf den Artikel 12 keine Anwendung findet;

e)      ‚Flüchtlingseigenschaft‘ die Anerkennung eines Drittstaatsangehörigen oder eines Staatenlosen als Flüchtling durch einen Mitgliedstaat;

…“

16      Nach Art. 13 („Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft“) der Richtlinie 2011/95 erkennen „[d]ie Mitgliedstaaten … einem Drittstaatsangehörigen oder einem Staatenlosen, der die Voraussetzungen der Kapitel II und III erfüllt, die Flüchtlingseigenschaft zu“. Diese Kapitel betreffen die Prüfung von Anträgen auf internationalen Schutz und die Anerkennung als Flüchtling.

 Richtlinie 2013/32/EU

17      Im 33. Erwägungsgrund der Richtlinie 2013/32/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Juni 2013 zu gemeinsamen Verfahren für die Zuerkennung und Aberkennung des internationalen Schutzes (ABl. 2013, L 180, S. 60) heißt es:

„Bei der Anwendung dieser Richtlinie sollten die Mitgliedstaaten gemäß der [Charta der Grundrechte] und dem Übereinkommen der Vereinten Nationen von 1989 über die Rechte des Kindes das Wohl des Kindes vorrangig berücksichtigen. Bei der Beurteilung des Wohls des Kindes sollten die Mitgliedstaaten insbesondere das Wohlbefinden und die soziale Entwicklung einschließlich des Hintergrunds des Minderjährigen berücksichtigen.“

18      Art. 31 („Prüfungsverfahren“) der Richtlinie 2013/32 bestimmt in Abs. 7:

„Die Mitgliedstaaten können die Prüfung eines Antrags auf internationalen Schutz im Einklang mit den Grundsätzen und Garantien nach Kapitel II vorziehen, insbesondere,

a)      wenn der Antrag begründet erscheint,

b)      wenn der Antragsteller schutzbedürftig im Sinne von Artikel 22 der Richtlinie 2013/33/EU [des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Juni 2013 zur Festlegung von Normen für die Aufnahme von Personen, die internationalen Schutz beantragen (ABl. 2013, L 180, S. 96)] ist oder besondere Verfahrensgarantien benötigt; dies gilt insbesondere für unbegleitete Minderjährige.“

 Niederländisches Recht

19      Nach Art. 29 Abs. 2 Buchst. c der Vreemdelingenwet 2000 (Ausländergesetz von 2000) kann den Eltern eines Ausländers, der ein unbegleiteter Minderjähriger im Sinne von Art. 2 Buchst. f der Richtlinie 2003/86 ist, ein befristeter Aufenthaltstitel für Asylberechtigte gemäß Art. 28 dieses Gesetzes ausgestellt werden, wenn sie zum Zeitpunkt der Einreise des betreffenden Ausländers zu dessen Kernfamilie gehörten und wenn sie gleichzeitig mit ihm in die Niederlande eingereist sind oder ihm innerhalb von drei Monaten, nachdem ihm ein befristeter Aufenthaltstitel gemäß des genannten Art. 28 ausgestellt wurde, nachgereist sind.

 Ausgangsrechtsstreit und Vorlagefrage

20      Die Tochter von A und S reiste unbegleitet in die Niederlande ein, obwohl sie noch minderjährig war. Sie stellte am 26. Februar 2014 einen Asylantrag. Am 2. Juni 2014 wurde sie volljährig.

21      Mit Entscheidung vom 21. Oktober 2014 erteilte der Staatssekretär der Betroffenen rückwirkend zum Zeitpunkt der Stellung des Asylantrags einen auf fünf Jahre befristeten Aufenthaltstitel für Asylberechtigte.

22      Am 23. Dezember 2014 stellte die Organisation VluchtelingenWerk Midden-Nederland im Namen der Tochter von A und S einen Antrag auf Erteilung eines vorläufigen Aufenthaltstitels für ihre Eltern und ihre drei minderjährigen Brüder im Rahmen der Familienzusammenführung.

23      Mit Entscheidung vom 27. Mai 2015 lehnte der Staatssekretär diesen Antrag mit der Begründung ab, die Tochter von A und S sei zum Zeitpunkt der Antragstellung volljährig gewesen. Der gegen diese Entscheidung eingelegte Widerspruch wurde mit Entscheidung vom 13. August 2015 für unbegründet erklärt.

24      Am 3. September 2015 erhoben A und S gegen diese Zurückweisung Klage bei der Rechtbank Den Haag (Gericht von Den Haag, Niederlande).

25      Zur Stützung ihrer Klage machen A und S geltend, aus Art. 2 Buchst. f der Richtlinie 2003/86 folge, dass es für die Frage, ob jemand ein „unbegleiteter Minderjähriger“ im Sinne dieser Bestimmung sei, auf den Zeitpunkt ankomme, zu dem er in den Mitgliedstaat einreise. Demgegenüber ist der Staatssekretär der Auffassung, dass dafür der Zeitpunkt der Stellung des Antrags auf Familienzusammenführung maßgeblich sei.

26      Das vorlegende Gericht weist darauf hin, dass der Raad van State (Staatsrat, Niederlande) in zwei Urteilen vom 23. November 2015 entschieden habe, dass es bei der Beurteilung, ob ein ausländischer Staatsangehöriger in den Anwendungsbereich von Art. 2 Buchst. f der Richtlinie 2003/86 falle, berücksichtigt werden dürfe, wenn er nach seiner Ankunft in den Niederlanden volljährig geworden sei.

27      Nach Ansicht des vorlegenden Gerichts stellt Art. 2 Buchst. f der Richtlinie 2003/86 für die Beurteilung der Eigenschaft eines unbegleiteten Minderjährigen grundsätzlich auf den Zeitpunkt seiner Einreise in das Hoheitsgebiet des Mitgliedstaats ab. Diese Vorschrift sehe zwar zwei Ausnahmen von diesem Grundsatz vor, nämlich für den ursprünglich begleiteten Minderjährigen, der anschließend zurückgelassen werde, und für den Minderjährigen, der unbegleitet eingereist sei und danach von einem für ihn verantwortlichen Erwachsenen in Obhut genommen werde. Die Umstände des vorliegenden Falles fielen jedoch nicht unter eine dieser beiden Ausnahmen, und im Wortlaut dieser Bestimmung weise nichts darauf hin, dass sie weitere Ausnahmen von diesem Grundsatz zulasse.

28      Unter diesen Umständen hat die Rechtbank Den Haag (Gericht von Den Haag) das Verfahren ausgesetzt und dem Gerichtshof folgende Frage zur Vorabentscheidung vorgelegt:

Ist im Rahmen der Familienzusammenführung bei Flüchtlingen als „unbegleiteter Minderjähriger“ im Sinne von Art. 2 Buchst. f der Richtlinie 2003/86 auch ein Drittstaatsangehöriger oder Staatenloser unter 18 Jahren anzusehen, der ohne Begleitung eines für ihn nach dem Gesetz oder dem Gewohnheitsrecht verantwortlichen Erwachsenen in einen Mitgliedstaat einreist und der

–        Asyl beantragt,

–        während des Asylverfahrens in dem Mitgliedstaat 18 Jahre alt wird,

–        Asyl rückwirkend zum Zeitpunkt der Antragstellung erhält und

–        anschließend Familienzusammenführung beantragt?

 Zur Vorlagefrage

29      Mit seiner Frage möchte das vorlegende Gericht wissen, ob Art. 2 Buchst. f der Richtlinie 2003/86 dahin auszulegen ist, dass ein Drittstaatsangehöriger oder Staatenloser, der zum Zeitpunkt seiner Einreise in das Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats und der Stellung seines Asylantrags in diesem Staat unter 18 Jahre alt war, aber während des Asylverfahrens volljährig wird und später rückwirkend zum Zeitpunkt der Antragstellung Asyl erhält, als „Minderjähriger“ im Sinne dieser Bestimmung anzusehen ist.

30      Nach Ansicht von A und S ist diese Frage zu bejahen, während die niederländische und die polnische Regierung sowie die Europäische Kommission gegenteiliger Auffassung sind. Die niederländische Regierung macht geltend, es sei Sache der Mitgliedstaaten, den Zeitpunkt zu bestimmen, auf den es für die Feststellung, ob ein Flüchtling als unbegleiteter Minderjähriger im Sinne von Art. 2 Buchst. f der Richtlinie 2003/86 anzusehen sei, ankomme. Im Gegensatz dazu sind die polnische Regierung und die Kommission der Meinung, dass sich dieser Zeitpunkt anhand der Richtlinie bestimmen lasse. Die Kommission hält den Zeitpunkt der Stellung des Antrags auf Familienzusammenführung für maßgeblich, die polnische Regierung den Zeitpunkt der Entscheidung über einen solchen Antrag.

31      Es ist darauf hinzuweisen, dass es nach Art. 1 der Richtlinie 2003/86 Ziel dieser Richtlinie ist, die Bedingungen für die Ausübung des Rechts auf Familienzusammenführung durch Drittstaatsangehörige festzulegen, die sich rechtmäßig im Gebiet der Mitgliedstaaten aufhalten.

32      Insoweit ergibt sich aus dem achten Erwägungsgrund der Richtlinie 2003/86, dass die Richtlinie für Flüchtlinge günstigere Bedingungen für die Ausübung des Rechts auf Familienzusammenführung vorsieht, weil ihrer Lage wegen der Gründe, die sie zur Flucht aus ihrem Heimatland gezwungen haben und sie daran hindern, dort ein normales Familienleben zu führen, besondere Aufmerksamkeit geschenkt werden sollte.

33      Eine dieser günstigeren Bedingungen betrifft die Familienzusammenführung mit den Verwandten in gerader aufsteigender Linie ersten Grades des Flüchtlings.

34      Während nämlich die Möglichkeit einer solchen Zusammenführung nach Art. 4 Abs. 2 Buchst. a der Richtlinie 2003/86 grundsätzlich dem Ermessen der Mitgliedstaaten überlassen bleibt und u. a. voraussetzt, dass der Zusammenführende für den Unterhalt seiner Verwandten in gerader aufsteigender Linie ersten Grades aufkommt und diese in ihrem Herkunftsland keinerlei sonstige familiäre Bindungen mehr haben, sieht Art. 10 Abs. 3 Buchst. a der Richtlinie für unbegleitete minderjährige Flüchtlinge als Ausnahme von diesem Grundsatz ein Recht auf eine solche Zusammenführung vor, das weder in das Ermessen der Mitgliedstaaten gestellt ist noch den in Art. 4 Abs. 2 Buchst. a aufgestellten Voraussetzungen unterliegt.

35      Der Begriff „unbegleiteter Minderjähriger“, der in der Richtlinie nur in diesem Art. 10 Abs. 3 Buchst. a verwendet wird, ist in Art. 2 Buchst. f der Richtlinie 2003/86 definiert.

36      Nach dieser Bestimmung bezeichnet der Ausdruck „unbegleiteter Minderjähriger“ im Sinne der Richtlinie 2003/86 „einen Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen unter 18 Jahren, der ohne Begleitung eines für ihn nach dem Gesetz oder dem Gewohnheitsrecht verantwortlichen Erwachsenen in einen Mitgliedstaat einreist, solange er sich nicht tatsächlich in der Obhut einer solchen Person befindet, oder Minderjährige, die ohne Begleitung im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats zurückgelassen werden, nachdem sie in diesen Mitgliedstaat eingereist sind“.

37      Diese Bestimmung sieht somit zwei Voraussetzungen vor, nämlich, dass der Betroffene „Minderjähriger“ ist und dass er „unbegleitet“ ist.

38      Obwohl die genannte Bestimmung in Bezug auf die zweite Voraussetzung auf den Zeitpunkt der Einreise des Betroffenen in das Hoheitsgebiet des betreffenden Mitgliedstaats verweist, geht daraus auch hervor, dass spätere Umstände ebenfalls zu berücksichtigen sind, und zwar in zwei Fällen. So erfüllt ein zum Zeitpunkt seiner Einreise unbegleiteter Minderjähriger, der danach von einem für ihn nach dem Gesetz oder dem Gewohnheitsrecht verantwortlichen Erwachsenen in Obhut genommen wird, diese zweite Voraussetzung nicht, während ein ursprünglich begleiteter Minderjähriger, der danach zurückgelassen wird, als unbegleitet angesehen wird und die Voraussetzung von diesem Zeitpunkt an erfüllt.

39      In Bezug auf die erste der beiden in Rn. 37 des vorliegenden Urteils genannten Voraussetzungen, die im Ausgangsverfahren allein in Rede steht, bestimmt Art. 2 Buchst. f der Richtlinie 2003/86 nur, dass der Betroffene „unter 18 Jahre“ zu sein hat, ohne Hinweis darauf, zu welchem Zeitpunkt diese Voraussetzung erfüllt sein muss.

40      Aus dem letztgenannten Umstand ergibt sich jedoch keineswegs, dass es Sache der Mitgliedstaaten wäre, zu entscheiden, auf welchen Zeitpunkt sie für die Feststellung, ob diese Voraussetzung erfüllt ist, abstellen möchten.

41      Aus den Anforderungen sowohl der einheitlichen Anwendung des Unionsrechts als auch des Gleichheitsgrundsatzes folgt nämlich, dass eine Bestimmung des Unionsrechts, die für die Ermittlung ihres Sinns und ihrer Bedeutung nicht ausdrücklich auf das Recht der Mitgliedstaaten verweist, in der Regel in der gesamten Union eine autonome und einheitliche Auslegung erhalten muss, die unter Berücksichtigung des Kontextes der Vorschrift und des mit der Regelung verfolgten Ziels gefunden werden muss (Urteil vom 26. Juli 2017, Ouhrami, C‑225/16, EU:C:2017:590, Rn. 38 und die dort angeführte Rechtsprechung).

42      Insoweit ist erstens festzustellen, dass weder Art. 2 Buchst. f noch Art. 10 Abs. 3 Buchst. a der Richtlinie 2003/86 – anders als andere Bestimmungen der Richtlinie wie Art. 5 Abs. 1 und Art. 11 Abs. 2 – einen Verweis auf das nationale Recht oder die Mitgliedstaaten enthalten, was darauf schließen lässt, dass der Unionsgesetzgeber, wenn er die Bestimmung des Zeitpunkts, bis zu dem der Betroffene minderjährig sein muss, um das Recht auf Familienzusammenführung mit seinen Eltern in Anspruch nehmen zu können, in das Ermessen der Mitgliedstaaten hätte stellen wollen, auch in diesem Zusammenhang einen solchen Verweis vorgesehen hätte.

43      Zweitens erlegt Art. 10 Abs. 3 Buchst. a der Richtlinie 2003/86 den Mitgliedstaaten eine präzise positive Verpflichtung auf, der ein klar definiertes Recht gegenübersteht. Danach sind sie in dem darin genannten Fall verpflichtet, die Familienzusammenführung der Verwandten in gerader aufsteigender Linie ersten Grades des Zusammenführenden zu gestatten, ohne dass sie dabei über einen Wertungsspielraum verfügen.

44      Drittens wird mit der Richtlinie 2003/86 nicht nur allgemein das Ziel verfolgt, die Familienzusammenführung zu begünstigen und Drittstaatsangehörigen, insbesondere Minderjährigen, Schutz zu gewähren (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 6. Dezember 2012, O u. a., C‑356/11 und C‑357/11, EU:C:2012:776, Rn. 69), sondern es soll durch Art. 10 Abs. 3 Buchst. a im Speziellen ein stärkerer Schutz der Flüchtlinge, die unbegleitete Minderjährige sind, gewährleistet werden.

45      Die Richtlinie 2003/86 regelt zwar nicht ausdrücklich, bis zu welchem Zeitpunkt ein Flüchtling minderjährig sein muss, um das Recht auf Familienzusammenführung aus Art. 10 Abs. 3 Buchst. a in Anspruch nehmen zu können. Aus der Zielsetzung dieser Bestimmung, aus der Tatsache, dass sie den Mitgliedstaaten keinen Spielraum lässt, und aus dem Fehlen jeden Verweises auf das nationale Recht zu dieser Frage ergibt sich jedoch, dass die Bestimmung dieses Zeitpunkts nicht dem Ermessen der Mitgliedstaaten überlassen bleiben kann.

46      Es bleibt noch hinzuzufügen, dass die Situation im Ausgangsverfahren in diesem Punkt nicht mit der von der niederländischen Regierung angeführten Situation vergleichbar ist, die dem Urteil vom 17. Juli 2014, Noorzia (C‑338/13, EU:C:2014:2092), zugrunde lag. Darin ging es um Art. 4 Abs. 5 der Richtlinie 2003/86, wonach, „[z]ur Förderung der Integration und zur Vermeidung von Zwangsehen … die Mitgliedstaaten vorsehen [können], dass der Zusammenführende und sein Ehegatte ein Mindestalter erreicht haben müssen, das höchstens auf 21 Jahre festgesetzt werden darf, bevor der Ehegatte dem Zusammenführenden nachreisen darf“.

47      Im Gegensatz zu Art. 10 Abs. 3 Buchst. a der Richtlinie 2003/86 ist Art. 4 Abs. 5 der Richtlinie nämlich fakultativ und lässt den Mitgliedstaaten zudem ausdrücklich einen Spielraum bei der Frage, welches Mindestalter des Zusammenführenden und seines Ehegatten sie zur Verfolgung des legitimen Ziels der Gewährleistung einer besseren Integration und der Vermeidung von Zwangsehen gegebenenfalls festsetzen möchten. Daher stehen die Unterschiede, die sich daraus ergeben, dass die Mitgliedstaaten den Zeitpunkt frei wählen können, auf den ihre Behörden abstellen müssen, um zu klären, ob die Altersvoraussetzung erfüllt ist, mit der Natur und dem Ziel von Art. 4 Abs. 5 der Richtlinie 2003/86 völlig im Einklang, was dagegen bei Art. 10 Abs. 3 Buchst. a der Richtlinie 2003/86 nicht der Fall ist.

48      Insbesondere ist die Frage, auf welchen Zeitpunkt zur Beurteilung des Alters eines Flüchtlings letztlich abzustellen ist, damit er als Minderjähriger anzusehen ist und folglich das Recht auf Familienzusammenführung aus Art. 10 Abs. 3 Buchst. a der Richtlinie 2003/86 in Anspruch nehmen kann, anhand des Wortlauts, der Systematik und des Ziels dieser Richtlinie unter Berücksichtigung des Regelungszusammenhangs, in den sie sich einfügt, und der allgemeinen Grundsätze des Unionsrechts zu beantworten.

49      Insoweit ergibt sich aus den Rn. 38 und 39 des vorliegenden Urteils, dass sich die Antwort auf diese Frage weder allein aus dem Wortlaut von Art. 2 Buchst. f der Richtlinie 2003/86 noch allein aus dem Wortlaut von Art. 10 Abs. 3 Buchst. a dieser Richtlinie ableiten lässt.

50      Zur Systematik der Richtlinie 2003/86 ist festzustellen, dass diese nach ihrem Art. 3 Abs. 2 Buchst. a keine Anwendung findet, wenn der Zusammenführende ein Drittstaatsangehöriger ist, der um die Anerkennung als Flüchtling nachsucht und über dessen Antrag noch nicht abschließend entschieden worden ist. Nach Art. 9 Abs. 1 der Richtlinie findet Kapitel V, zu dem Art. 10 Abs. 3 Buchst. a gehört, auf die Familienzusammenführung von Flüchtlingen Anwendung, die von den Mitgliedstaaten anerkannt worden sind.

51      Somit ist die Möglichkeit für einen Asylbewerber, einen Antrag auf Familienzusammenführung auf der Grundlage der Richtlinie 2003/86 zu stellen, zwar an die Bedingung geknüpft, dass über seinen Asylantrag bereits endgültig positiv entschieden wurde, doch lässt sich diese Voraussetzung unschwer damit erklären, dass sich vor Erlass einer solchen Entscheidung nicht mit Sicherheit feststellen lässt, ob der Betroffene die Voraussetzungen für die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft erfüllt, was wiederum Voraussetzung für das Recht auf Familienzusammenführung ist.

52      In diesem Zusammenhang ist darauf hinzuweisen, dass einer Person die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen ist, wenn sie die im Unionsrecht festgelegten Mindestnormen erfüllt. Nach Art. 13 der Richtlinie 2011/95 erkennen die Mitgliedstaaten einem Drittstaatsangehörigen oder einem Staatenlosen, der die Voraussetzungen der Kapitel II und III dieser Richtlinie erfüllt, die Flüchtlingseigenschaft zu, ohne in dieser Hinsicht über ein Ermessen zu verfügen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 24. Juni 2015, H. T., C‑373/13, EU:C:2015:413, Rn. 63).

53      Zudem ist die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft nach dem 21. Erwägungsgrund der Richtlinie 2011/95 ein deklaratorischer Akt.

54      Daher hat jeder Drittstaatsangehörige oder Staatenlose, der die materiellen Voraussetzungen von Kapitel III dieser Richtlinie erfüllt, nach der Stellung eines Antrags auf internationalen Schutz gemäß Kapitel II der Richtlinie 2011/95 ein subjektives Recht auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft, und zwar noch bevor hierzu eine förmliche Entscheidung ergangen ist.

55      Folglich würde die praktische Wirksamkeit von Art. 10 Abs. 3 Buchst. a der Richtlinie 2003/86 in Frage gestellt, wenn das Recht auf Familienzusammenführung aus dieser Bestimmung davon abhinge, zu welchem Zeitpunkt die zuständige nationale Behörde förmlich über die Anerkennung des Betroffenen als Flüchtling entscheidet, und damit von der mehr oder weniger schnellen Bearbeitung des Antrags auf internationalen Schutz durch diese Behörde. Außerdem liefe dies nicht nur dem Ziel dieser Richtlinie, die Familienzusammenführung zu begünstigen und dabei Flüchtlinge, insbesondere unbegleitete Minderjährige, besonders zu schützen, sondern auch den Grundsätzen der Gleichbehandlung und der Rechtssicherheit zuwider.

56      Eine solche Auslegung hätte nämlich zur Folge, dass zwei unbegleitete Minderjährige gleichen Alters, die ihren Antrag auf internationalen Schutz zum gleichen Zeitpunkt gestellt haben, hinsichtlich des Rechts auf Familienzusammenführung je nach der Bearbeitungsdauer dieser Anträge unterschiedlich behandelt werden könnten. Auf die Bearbeitungsdauer haben sie in der Regel keinen Einfluss, und sie kann – außer von der Komplexität der jeweiligen Situation – sowohl von der Arbeitsbelastung der zuständigen Behörden als auch von den politischen Entscheidungen der Mitgliedstaaten über die Personalausstattung dieser Behörden und die vorrangig zu behandelnden Fälle abhängen.

57      Hinge das Recht auf Familienzusammenführung von dem Zeitpunkt der Beendigung des Asylverfahrens ab, könnte zudem in Anbetracht der Tatsache, dass die Dauer eines Asylverfahrens erheblich sein kann und dass insbesondere in Zeiten eines starken Zustroms von Personen, die um internationalen Schutz nachsuchen, die vom Unionsrecht in diesem Zusammenhang vorgesehenen Fristen oft überschritten werden, einem großen Teil der Flüchtlinge, die ihren Antrag auf internationalen Schutz als unbegleitete Minderjährige gestellt haben, dieses Recht und der Schutz, den Art. 10 Abs. 3 Buchst. a der Richtlinie 2003/86 ihnen gewähren soll, vorenthalten werden.

58      Im Übrigen könnte eine solche Auslegung, anstatt die nationalen Behörden dazu anzuhalten, die Anträge auf internationalen Schutz unbegleiteter Minderjähriger vorrangig zu bearbeiten, um ihrer besonderen Schutzbedürftigkeit Rechnung zu tragen – eine Möglichkeit, die mittlerweile ausdrücklich in Art. 31 Abs. 7 Buchst. b der Richtlinie 2013/32 vorgesehen ist – den gegenteiligen Effekt haben und dabei dem Ziel sowohl dieser Richtlinie als auch der Richtlinien 2003/86 und 2011/95 entgegenwirken, nämlich sicherzustellen, dass für die Mitgliedstaaten bei der Anwendung dieser Richtlinien im Einklang mit Art. 24 Abs. 2 der Charta der Grundrechte das Wohl des Kindes tatsächlich eine vorrangige Erwägung ist,.

59      Diese Auslegung hätte ferner zur Folge, dass es für einen unbegleiteten Minderjährigen, der einen Antrag auf internationalen Schutz gestellt hat, völlig unvorhersehbar wäre, ob er das Recht auf Familienzusammenführung mit seinen Eltern in Anspruch nehmen können wird, was die Rechtssicherheit beeinträchtigen könnte.

60      Im Gegensatz dazu ermöglicht es das Anknüpfen an den Zeitpunkt der Stellung des Antrags auf internationalen Schutz als den Zeitpunkt, auf den es für die Beurteilung des Alters eines Flüchtlings bei der Anwendung von Art. 10 Abs. 3 Buchst. a der Richtlinie 2003/86 ankommt, die gleiche und vorhersehbare Behandlung aller Antragsteller zu gewährleisten, die sich zeitlich in der gleichen Situation befinden, indem sichergestellt wird, dass der Erfolg des Antrags auf Familienzusammenführung in erster Linie von Umständen abhängt, die in der Sphäre der Antragsteller liegen, nicht aber von Umständen, die in der Behördensphäre liegen, wie die Bearbeitungsdauer des Antrags auf internationalen Schutz oder des Antrags auf Familienzusammenführung (vgl. entsprechend Urteil vom 17. Juli 2014, Noorzia, C‑338/13, EU:C:2014:2092, Rn. 17).

61      Da es, wie die niederländische Regierung und die Kommission geltend gemacht haben, mit dem Ziel von Art. 10 Abs. 3 Buchst. a der Richtlinie 2003/86 sicherlich unvereinbar wäre, dass sich ein Flüchtling, der zum Zeitpunkt seines Antrags die Eigenschaft eines unbegleiteten Minderjährigen besaß, aber während des Verfahrens volljährig geworden ist, ohne jede zeitliche Begrenzung auf diese Vorschrift berufen könnte, um eine Familienzusammenführung zu erwirken, muss er seinen Antrag auf Familienzusammenführung innerhalb einer angemessenen Frist stellen. Zur Bestimmung einer solchen angemessenen Frist kann die vom Unionsgesetzgeber in dem ähnlichen Kontext von Art. 12 Abs. 1 Unterabs. 3 dieser Richtlinie gewählte Lösung als Hinweis dienen. Der auf der Grundlage von Art. 10 Abs. 3 Buchst. a der Richtlinie eingereichte Antrag auf Familienzusammenführung ist daher in einer solchen Situation grundsätzlich innerhalb von drei Monaten ab dem Tag zu stellen, an dem der Minderjährige als Flüchtling anerkannt worden ist.

62      Zu den übrigen Zeitpunkten, die im vorliegenden Verfahren für die Beurteilung, ob ein Flüchtling als Minderjähriger anzusehen ist, vorgeschlagen wurden, ist zum einen festzustellen, dass insoweit grundsätzlich nicht der Zeitpunkt der Einreise in das Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats als maßgeblich angesehen werden kann, weil zwischen dem Recht auf Familienzusammenführung aus Art. 10 Abs. 3 Buchst. a der Richtlinie 2003/86 und der Flüchtlingseigenschaft, deren Zuerkennung die Stellung eines Antrags auf internationalen Schutz durch den Betroffenen voraussetzt, ein innerer Zusammenhang besteht.

63      Was zum anderen den Zeitpunkt der Stellung des Antrags auf Familienzusammenführung und den Zeitpunkt der Entscheidung über diesen Antrag anbelangt, genügt der Hinweis, dass sich u. a. aus Rn. 55 des vorliegenden Urteils ergibt, dass das Recht auf Familienzusammenführung aus Art. 10 Abs. 3 Buchst. a der Richtlinie 2003/86 nicht von dem Zeitpunkt abhängen kann, zu dem die zuständige nationale Behörde über die Anerkennung des Zusammenführenden als Flüchtling förmlich entscheidet. Das wäre aber gerade der Fall, wenn auf einen dieser Zeitpunkte abgestellt würde, da der Zusammenführende, wie in den Rn. 50 und 51 des vorliegenden Urteils ausgeführt, erst nach dem Erlass der Entscheidung, ihn als Flüchtling anzuerkennen, einen Antrag auf Familienzusammenführung stellen kann.

64      Nach alledem ist auf die Vorlagefrage zu antworten, dass Art. 2 Buchst. f in Verbindung mit Art. 10 Abs. 3 Buchst. a der Richtlinie 2003/86 dahin auszulegen ist, dass ein Drittstaatsangehöriger oder Staatenloser, der zum Zeitpunkt seiner Einreise in das Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats und der Stellung seines Asylantrags in diesem Staat unter 18 Jahre alt war, aber während des Asylverfahrens volljährig wird und dem später die Flüchtlingseigenschaft zuerkannt wird, als „Minderjähriger“ im Sinne dieser Bestimmung anzusehen ist.

 Kosten

65      Für die Parteien des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren ein Zwischenstreit in dem bei dem vorlegenden Gericht anhängigen Rechtsstreit; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig.

Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Zweite Kammer) für Recht erkannt:

Art. 2 Buchst. f in Verbindung mit Art. 10 Abs. 3 Buchst. a der Richtlinie 2003/86/EG des Rates vom 22. September 2003 betreffend das Recht auf Familienzusammenführung ist dahin auszulegen, dass ein Drittstaatsangehöriger oder Staatenloser, der zum Zeitpunkt seiner Einreise in das Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats und der Stellung seines Asylantrags in diesem Staat unter 18 Jahre alt war, aber während des Asylverfahrens volljährig wird und dem später die Flüchtlingseigenschaft zuerkannt wird, als „Minderjähriger“ im Sinne dieser Bestimmung anzusehen ist.

Unterschriften


*      Verfahrenssprache: Niederländisch.