SCHLUSSANTRÄGE DES GENERALANWALTS
YVES BOT
vom 18. Juli 2017(1)
Rechtssache C‑42/17
Strafverfahren
gegen
M.A.S.,
M.B.
(Vorabentscheidungsersuchen der Corte costituzionale [Verfassungsgerichtshof, Italien])
„Vorlage zur Vorabentscheidung – Schutz der finanziellen Interessen der Europäischen Union – Art. 325 AEUV – Strafverfahren betreffend Straftaten im Bereich der Mehrwertsteuer – Mögliche Beeinträchtigung der finanziellen Interessen der Union – Nationale Rechtsvorschriften, die absolute Verjährungsfristen vorsehen, die eine Straffreiheit der Straftaten zur Folge haben können – Urteil vom 8. September 2015, Taricco u. a. (C‑105/14, EU:C:2015:555) – Grundsätze der Gleichwertigkeit und der Effektivität – Unzulässigkeit der betreffenden Rechtsvorschriften – Verpflichtung des nationalen Gerichts, dieses Recht für den Fall unangewendet zu lassen, dass es der Verhängung effektiver und abschreckender Strafen ‚in einer beträchtlichen Anzahl von schweren Betrugsfällen‘, die die finanziellen Interessen der Union beeinträchtigen, entgegensteht oder für Betrugsfälle, die die finanziellen Interessen des betreffenden Mitgliedstaats beeinträchtigen, längere Verjährungsfristen vorsieht als für solche, die die finanziellen Interessen der Union beeinträchtigen – Sofortige Anwendung dieser Verpflichtung in laufenden Verfahren gemäß dem Grundsatz tempus regit actum – Vereinbarkeit mit dem Grundsatz der Gesetzmäßigkeit im Zusammenhang mit Straftaten und Strafen – Tragweite und Rang dieses Grundsatzes in der Rechtsordnung des betreffenden Mitgliedstaats – Einschluss der Verjährungsregeln in den Anwendungsbereich dieses Grundsatzes – Substanzieller Charakter dieser Regeln – Art. 4 Abs. 2 EUV – Achtung der nationalen Identität des betreffenden Mitgliedstaats – Charta der Grundrechte der Europäischen Union – Art. 49 und 53“
I. Einleitung
1. Im Rahmen dieser Vorlage zur Vorabentscheidung fragt die Corte costituzionale (Verfassungsgerichtshof, Italien) den Gerichtshof, inwieweit die nationalen Gerichte verpflichtet sind, die vom Gerichtshof im Urteil vom 8. September 2015, Taricco u. a.(2), aufgestellte Verpflichtung zu beachten, die Bestimmungen in Art. 160 letzter Absatz und Art. 161 Abs. 2 des Codice penale (Strafgesetzbuch, im Folgenden: Strafgesetzbuch) im Rahmen laufender Strafverfahren unangewendet zu lassen.
2. In diesem Urteil hat der Gerichtshof in Fortführung des Urteils vom 26. Februar 2013, Åkerberg Fransson(3), bestätigt, dass Mehrwertsteuerbetrug einen Betrug darstellen kann, der die finanziellen Interessen der Europäischen Union beeinträchtigt.
3. Der Gerichtshof hat festgestellt, dass die Bestimmungen des Strafgesetzbuchs dadurch, dass sie insbesondere im Fall der Unterbrechung der Verjährung die Regel begründen, dass die Verjährungsfrist auf keinen Fall um mehr als ein Viertel der ursprünglichen Verjährungsdauer verlängert werden kann, in Anbetracht der Komplexität und der Länge der Strafverfahren bei schwerem Mehrwertsteuerbetrug dessen faktische Straffreiheit zur Folge haben, weil diese Straftaten in der Regel verjährt sind, bevor die gesetzlich vorgesehene Strafe durch ein rechtskräftiges Urteil verhängt werden kann. Der Gerichtshof hat entschieden, dass eine solche Situation die den Mitgliedstaaten durch Art. 325 Abs. 1 und 2 AEUV auferlegten Pflichten beeinträchtigt.
4. Um die Effektivität des Kampfes gegen Betrug zum Nachteil der finanziellen Interessen der Union sicherzustellen, hat der Gerichtshof die nationalen Gerichte deshalb aufgefordert, diese Regelungen erforderlichenfalls unangewendet zu lassen.
5. Im Rahmen des vorliegenden Vorabentscheidungsersuchens führt die Corte costituzionale (Verfassungsgerichtshof) aus, eine solche Verpflichtung verletze einen obersten Grundsatz ihrer Rechtsordnung, nämlich den in Art. 25 Abs. 2 der Costituzione (Verfassung, im Folgenden: italienische Verfassung) verankerten Grundsatz der Gesetzmäßigkeit im Zusammenhang mit Straftaten und Strafen und berühre somit die Verfassungsidentität der Italienischen Republik.
6. Das vorlegende Gericht hebt hervor, dass der Grundsatz der Gesetzmäßigkeit im Zusammenhang mit Straftaten und Strafen, wie er in der italienischen Rechtsordnung ausgelegt werde, ein höheres Schutzniveau garantiere als derjenige, der sich aus der Auslegung des Art. 49 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union(4) ergebe, da er sich auf die Festlegung der auf eine Straftat anwendbaren Verjährungsfristen erstrecke und folglich der Anwendung einer längeren Verjährungsfrist als der zum Zeitpunkt der Begehung dieser Straftat vorgesehenen im Rahmen eines laufenden Verfahrens durch das nationale Gericht entgegenstehe.
7. Das vorlegende Gericht hebt jedoch hervor, dass die vom Gerichtshof im Urteil Taricco u. a. aufgestellte Verpflichtung das italienische Strafgericht dazu zwinge, auf vor der Veröffentlichung des Urteils am 8. September 2015 begangene Straftaten, die noch nicht verjährt seien, längere Verjährungsfristen als jene anzuwenden, die bei Begehung dieser Straftaten vorgesehen gewesen seien. Außerdem beruhe diese Verpflichtung nicht auf einer präzisen rechtlichen Grundlage und stütze sich zudem auf vage Kriterien. Diese Verpflichtung laufe deshalb darauf hinaus, dem nationalen Gericht einen Beurteilungsspielraum einzuräumen, der geeignet sei, die Gefahr von Willkür zu begründen, und außerdem die Grenzen seiner rechtsprechenden Funktion überschreite.
8. Soweit die italienische Verfassung ein höheres Niveau des Grundrechtsschutzes gewährleiste als das im Unionsrecht anerkannte, erlaubten es Art. 4 Abs. 2 EUV und Art. 53 der Charta den nationalen Gerichten, sich zu weigern, der vom Gerichtshof im Urteil Taricco u. a. aufgestellten Verpflichtung nachzukommen.
9. Mit ihren drei Vorlagefragen möchte die Corte costituzionale (Verfassungsgerichtshof) deshalb vom Gerichtshof wissen, ob Art. 325 AEUV in seiner Auslegung durch den Gerichtshof im Urteil Taricco u. a. nationale Gerichte dazu verpflichtet, die streitgegenständlichen Verjährungsregeln auch dann unangewendet zu lassen, wenn erstens diese Regelungen in der Rechtsordnung des betreffenden Mitgliedstaats dem Grundsatz der Gesetzmäßigkeit im Zusammenhang mit Straftaten und Strafen und damit dem materiellen Strafrecht unterliegen, wenn zweitens diese Verpflichtung keine ausreichend präzise rechtliche Grundlage hat und wenn schließlich drittens diese Verpflichtung mit den obersten Grundsätzen der italienischen Verfassungsordnung oder den unveräußerlichen Rechten der Person, wie sie von der italienischen Verfassung anerkannt werden, unvereinbar ist.
10. In ihrer Vorlageentscheidung stellt die Corte costituzionale (Verfassungsgerichtshof) dem Gerichtshof nicht nur diese drei Vorlagefragen, sondern sie empfiehlt ihm außerdem die darauf zu gebende Antwort, um die Einleitung eines „Controlimiti“‑Verfahrens zu vermeiden(5). Insoweit erinnert diese Vorlageentscheidung an die Vorlagefrage des Bundesverfassungsgerichts (Deutschland) in der Rechtssache, in der das Urteil vom 16. Juni 2015, Gauweiler u. a.(6), ergangen ist. Die Corte costituzionale (Verfassungsgerichtshof) macht sehr deutlich, dass sie für den Fall, dass der Gerichtshof seine Auslegung von Art. 325 AEUV im Urteil Taricco u. a. mit denselben Worten aufrechterhalten sollte, das nationale Ratifizierungs- und Durchführungsgesetz zum Vertrag von Lissabon – soweit es Art. 325 AEUV ratifiziert und durchführt – für unvereinbar mit den obersten Grundsätzen seiner Verfassungsordnung erklären und die nationalen Gerichte von ihrer Pflicht zur Beachtung des Urteils Taricco u. a. entbinden könnte.
11. In diesen Schlussanträgen werde ich darlegen, weshalb es nicht in Betracht kommt, den vom Gerichtshof in diesem Urteil aufgestellten Grundsatz in Frage zu stellen, wonach das nationale Gericht verpflichtet ist, erforderlichenfalls die Bestimmungen in Art. 160 letzter Absatz und Art. 161 Abs. 2 des Strafgesetzbuchs unangewendet zu lassen, um eine effektive und abschreckende Bestrafung des Betrugs zum Nachteil der finanziellen Interessen der Union sicherzustellen.
12. Erstens werde ich darlegen, dass die übertrieben restriktive Auslegung des Begriffs der Verjährungsunterbrechung und der Unterbrechungshandlungen, die sich aus der Kombination der in Rede stehenden Bestimmungen ergibt, soweit diese den Strafverfolgungsbehörden und den Gerichten keine angemessene Frist zum Abschluss der wegen Mehrwertsteuerbetrugs eingeleiteten Verfahren einräumen, mit dem Erfordernis einer Bestrafung von Beeinträchtigungen der finanziellen Interessen der Union offensichtlich unvereinbar ist und auch nicht die abschreckende Wirkung hat, die notwendig ist, um die Begehung neuer Straftaten zu verhindern, wodurch der materielle, aber auch der – wie ich es nennen würde – „prozessuale“ Bereich von Art. 325 AEUV verletzt wird.
13. Insoweit werde ich darlegen, dass in Anbetracht des Art. 49 der Charta und der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte zur Tragweite des Grundsatzes der Gesetzmäßigkeit im Zusammenhang mit Straftaten und Strafen nach Art. 7 der am 4. November 1950 in Rom unterzeichneten Europäischen Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten(7) nichts das nationale Gericht daran hindert, im Rahmen der Erfüllung der Pflichten, die ihm das Unionsrecht auferlegt, die Bestimmungen in Art. 160 letzter Absatz und Art. 161 Abs. 2 des Strafgesetzbuchs in laufenden Verfahren unangewendet zu lassen.
14. Hierfür werde ich die Kriterien näher bestimmen, aufgrund deren das nationale Gericht durch eine solche Verpflichtung gebunden ist. Mit dem vorlegenden Gericht bin ich der Meinung, dass zur Gewährleistung der notwendigen Vorhersehbarkeit sowohl im Strafverfahren wie im materiellen Strafrecht der Wortlaut des Urteils Taricco u. a. einer Klarstellung bedarf. Dazu werde ich vorschlagen, anstelle des dort genannten Kriteriums ein Kriterium zu verwenden, das ausschließlich auf die Art der Straftat abstellt.
15. Schließlich werde ich die Gründe darlegen, aus denen ich der Meinung bin, dass die Schaffung eines Raums der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts es erfordert, dass die Ahndung von Straftaten gegen die finanziellen Interessen der Union heute mit einer Harmonisierung der Verjährungsregeln in der Union und insbesondere der Regeln über deren Unterbrechung einhergeht.
16. Zweitens und in Fortführung der vom Gerichtshof im Urteil vom 26. Februar 2013, Melloni(8), aufgestellten Grundsätze werde ich darlegen, dass Art. 53 der Charta es meines Erachtens den Gerichten eines Mitgliedstaats nicht gestattet, sich der Erfüllung der vom Gerichtshof im Urteil Taricco u. a. aufgestellten Verpflichtung mit der Begründung zu widersetzen, dass diese Verpflichtung mit dem höheren Standard des Schutzes der durch die Verfassung dieses Staates garantierten Grundrechte unvereinbar sei.
17. Schließlich werde ich drittens die Gründe darlegen, warum die sofortige Anwendung einer längeren Verjährungsfrist, die sich aus einer Erfüllung der genannten Verpflichtung ergeben würde, meines Erachtens nicht die nationale Identität der Italienischen Republik berührt und damit nicht den Wortlaut von Art. 4 Abs. 2 EUV verletzt.
II. Rechtlicher Rahmen
A. Unionsrecht
1. Der EU-Vertrag
18. Art. 4 Abs. 2 EUV bestimmt, dass die Union die nationale Identität der Mitgliedstaaten achtet, die in ihren grundlegenden politischen und verfassungsmäßigen Strukturen zum Ausdruck kommt. Gemäß Abs. 3 dieser Bestimmung achten und unterstützen sich die Union und die Mitgliedstaaten nach dem Grundsatz der loyalen Zusammenarbeit gegenseitig bei der Erfüllung der Aufgaben, die sich aus den Verträgen ergeben. Die Mitgliedstaaten müssen deshalb alle geeigneten Maßnahmen allgemeiner oder besonderer Art zur Erfüllung der Verpflichtungen ergreifen, die sich aus den Verträgen oder den Handlungen der Organe der Union ergeben.
19. Gemäß Art. 325 AEUV sind die Union und die Mitgliedstaaten verpflichtet, „Betrügereien und sonstige gegen die finanziellen Interessen der Union gerichtete rechtswidrige Handlungen“ zu bekämpfen und „einen effektiven Schutz“ dieser Interessen zu bewirken.
2. Die Charta
20. Art. 47 Abs. 2 der Charta bestimmt:
„Jede Person hat ein Recht darauf, dass ihre Sache von einem unabhängigen, unparteiischen und zuvor durch Gesetz errichteten Gericht in einem fairen Verfahren, öffentlich und innerhalb angemessener Frist verhandelt wird. …“
21. Art. 49 („Grundsätze der Gesetzmäßigkeit und der Verhältnismäßigkeit im Zusammenhang mit Straftaten und Strafen“) der Charta bestimmt in Abs. 1:
„Niemand darf wegen einer Handlung oder Unterlassung verurteilt werden, die zur Zeit ihrer Begehung nach innerstaatlichem oder internationalem Recht nicht strafbar war. Es darf auch keine schwerere Strafe als die zur Zeit der Begehung angedrohte Strafe verhängt werden. Wird nach Begehung einer Straftat durch Gesetz eine mildere Strafe eingeführt, so ist diese zu verhängen.“
22. Art. 52 Abs. 3 der Charta lautet:
„Soweit diese Charta Rechte enthält, die den durch die [EMRK] garantierten Rechten entsprechen, haben sie die gleiche Bedeutung und Tragweite, wie sie ihnen in der genannten Konvention verliehen wird. Diese Bestimmung steht dem nicht entgegen, dass das Recht der Union einen weiter gehenden Schutz gewährt.“
23. Art. 53 der Charta lautet:
„Keine Bestimmung dieser Charta ist als eine Einschränkung oder Verletzung der Menschenrechte und Grundfreiheiten auszulegen, die in dem jeweiligen Anwendungsbereich durch das Recht der Union und das Völkerrecht sowie durch die internationalen Übereinkommen, bei denen die Union, die Gemeinschaft oder alle Mitgliedstaaten Vertragsparteien sind, darunter insbesondere die [EMRK], sowie durch die Verfassungen der Mitgliedstaaten anerkannt werden.“
B. Italienisches Recht
1. Die italienische Verfassung
24. Art. 25 Abs. 2 der italienischen Verfassung bestimmt, dass „[e]ine Tat … nur bestraft werden [kann], wenn die Strafbarkeit gesetzlich bestimmt war, bevor die Tat begangen wurde“.
2. Die Bestimmungen des Strafgesetzbuchs über die Verjährung der Straftaten
25. Die Verjährung ist einer der Gründe für das Erlöschen von Straftaten (Buch I, Titel VI, Kapitel I des Strafgesetzbuchs). Ihre Regelung wurde grundlegend geändert durch die Legge n. 251, 5 dicembre 2005 (Gesetz Nr. 251 vom 5. Dezember 2005)(9).
26. Gemäß Art. 157 Abs. 1 des Strafgesetzbuchs verjährt die Straftat nach Ablauf eines Zeitraums, der der Dauer der gesetzlich vorgesehenen Höchststrafe entspricht und jedenfalls für Verbrechen und Vergehen nicht weniger als sechs Jahre und für Übertretungen nicht weniger als vier Jahre beträgt.
27. Art. 158 des Strafgesetzbuchs legt den Beginn der Verjährung wie folgt fest:
„Die Verjährung beginnt an dem Tag, an dem die Straftat vollendet ist, beim Versuch einer Straftat oder bei einem Dauerdelikt an dem Tag, an dem die Handlung des Täters bzw. die Fortdauer beendet ist.
…“
28. In Art. 159 des Strafgesetzbuchs betreffend die Regeln über das Ruhen der Verjährung heißt es:
„Die Verjährung ruht in allen Fällen, in denen das Ruhen des Verfahrens, des Strafprozesses oder der für die Untersuchungshaft vorgesehenen Frist in einer speziellen gesetzlichen Bestimmung vorgesehen ist, sowie in folgenden Fällen:
1. Genehmigung der Strafverfolgung;
2. Verweisung der Sache an ein anderes Gericht;
3. Ruhen des Verfahrens oder des Strafprozesses aus Gründen der Verhinderung der Parteien und der Verteidiger oder auf Antrag des Angeklagten oder seines Verteidigers. …
…
Die Verjährung beginnt an dem Tag weiterzulaufen, an dem der Grund für das Ruhen entfällt.
…“
29. Art. 160 des Strafgesetzbuchs, der die Unterbrechung der Verjährung regelt, bestimmt:
„Die Verjährung wird durch das Strafurteil oder den Strafbefehl unterbrochen.
Der Beschluss über persönliche Sicherungsmaßnahmen … [und] die Entscheidung über die Anberaumung einer Vorverhandlung … unterbrechen die Verjährung ebenfalls.
Wenn sie unterbrochen worden ist, beginnt die Verjährungsfrist mit dem Tag der Unterbrechung von neuem. Wenn es mehrere Unterbrechungshandlungen gibt, beginnt die Verjährungsfrist mit der letzten dieser Handlungen; die in Art. 157 genannten Fristen können sich jedoch außer für die in Art. 51 Abs. 3bis und 3quater des Codice di procedura penale [(Strafprozessordnung)] genannten Straftaten in keinem Fall über die in Art. 161 Abs. 2 [des Strafgesetzbuchs] vorgesehenen Fristen hinaus verlängern.“
30. In Art. 161 des Strafgesetzbuchs, der die Wirkungen des Ruhens und der Unterbrechung der Verjährung betrifft, heißt es:
„Das Ruhen und die Unterbrechung der Verjährung wirken gegenüber allen, die die Straftat begangen haben.
Mit Ausnahme der Verfolgung von Straftaten gemäß Art. 51 Abs. 3bis und 3quater der [Strafprozessordnung] kann die Unterbrechung der Verjährung eine Verlängerung von höchstens einem Viertel der Verjährungsfrist … nach sich ziehen.“
III. Sachverhalt
A. Das Urteil Taricco u. a.
31. Das Vorabentscheidungsersuchen des Tribunale di Cuneo (Gericht Cuneo, Italien) hatte die Auslegung der Art. 101, 107 und 119 AEUV sowie des Art. 158 der Richtlinie 2006/112/EG(10) in Bezug auf die nationale Verjährungsregelung für Straftaten wie jene in Art. 160 letzter Absatz und Art. 161 Abs. 2 des Strafgesetzbuchs zum Gegenstand.
32. Das Ersuchen war im Rahmen eines Strafverfahrens gegen mehrere Personen ergangen, denen vorgeworfen wurde, eine Vereinigung zur Begehung verschiedener Mehrwertsteuervergehen gebildet und organisiert zu haben.
33. In seinem Urteil vom 8. September 2015 entschied der Gerichtshof, dass eine nationale Regelung wie die in Rede stehende, die zu der für das Ausgangsverfahren maßgeblichen Zeit vorsah, dass eine Unterbrechungshandlung im Rahmen der Strafverfolgung von schwerem Mehrwertsteuerbetrug die Wirkung hat, die Verjährungsfrist um lediglich ein Viertel ihrer ursprünglichen Dauer zu verlängern, die den Mitgliedstaaten durch Art. 325 Abs. 1 und 2 AEUV auferlegten Verpflichtungen beeinträchtigen kann, falls diese nationale Regelung die Verhängung von wirksamen und abschreckenden Sanktionen in einer beträchtlichen Zahl von gegen die finanziellen Interessen der Europäischen Union gerichteten schweren Betrugsfällen verhindern oder für Betrugsfälle zum Nachteil der finanziellen Interessen des betreffenden Mitgliedstaats längere Verjährungsfristen als für solche zum Nachteil der finanziellen Interessen der Europäischen Union vorsehen sollte.
34. Wie der Gerichtshof nämlich festgestellt hat, haben die streitgegenständlichen Bestimmungen, indem sie im Fall der Verjährungsunterbrechung die Regel begründen, dass die Verjährungsfrist in keinem Fall um mehr als ein Viertel der ursprünglichen Dauer verlängert werden kann, in Anbetracht der Komplexität und der Dauer der Strafverfahren, die zu einem rechtskräftigen Urteil führen, zur Folge, dass die zeitliche Wirkung eines Grundes für die Unterbrechung der Verjährung neutralisiert wird. Der Gerichtshof hat festgestellt, dass aus diesem Grund Fälle schweren Betrugs in großer Zahl nicht strafrechtlich geahndet werden.
35. Um die volle Wirksamkeit von Art. 325 Abs. 1 und 2 AEUV sicherzustellen, befand der Gerichtshof deshalb, dass das nationale Gericht erforderlichenfalls die Bestimmungen des nationalen Rechts, die zur Folge hätten, den betreffenden Mitgliedstaat an der Erfüllung seiner durch diese Bestimmung begründeten Pflichten zu hindern, unangewendet lassen muss.
B. Die von der Corte suprema di cassazione (Kassationshof, Italien) und der Corte d’appello di Milano (Berufungsgericht Mailand, Italien) an die Corte costituzionale (Verfassungsgerichtshof) gerichteten Fragen der Verfassungsmäßigkeit
36. Die Corte suprema di cassazione (Kassationshof) und die Corte d’appello di Milano (Berufungsgericht Mailand), bei denen Verfahren wegen schweren Mehrwertsteuerbetrugs anhängig waren, waren der Auffassung, dass die Nichtanwendung von Art. 160 letzter Absatz und Art. 161 Abs. 2 des Strafgesetzbuchs auf vor dem Tag der Veröffentlichung des Urteil Taricco u. a. liegende Sachverhalte eine rückwirkende Verschärfung des Strafregimes zur Folge hätte, die mit dem in Art. 25 Abs. 2 der italienischen Verfassung verankerten Grundsatz der Gesetzmäßigkeit im Zusammenhang mit Straftaten und Strafen unvereinbar wäre.
37. Sie haben deshalb der Corte costituzionale (Verfassungsgerichtshof) die Frage der Verfassungsmäßigkeit von Art. 2 der Legge n. 130, 2 agosto 2008 (Gesetz Nr. 130/2008 vom 2. August 2008)(11) vorgelegt, soweit er die Ratifizierung des Vertrags von Lissabon und die Durchführung insbesondere von Art. 325 Abs. 1 und 2 AEUV, auf dessen Grundlage der Gerichtshof die fragliche Verpflichtung aufgestellt hat(12), genehmigt.
IV. Vorlageentscheidung
A. Zur Tragweite und zum Rang des Grundsatzes der Gesetzmäßigkeit im Zusammenhang mit Straftaten und Strafen in der italienischen Rechtsordnung
38. In ihrer Vorlageentscheidung hebt die Corte costituzionale (Verfassungsgerichtshof) als Erstes hervor, dass in der italienischen Rechtsordnung der Grundsatz der Gesetzmäßigkeit im Zusammenhang mit Straftaten und Strafen der Nichtanwendung der Bestimmungen in Art. 160 letzter Absatz und Art. 161 Abs. 2 des Strafgesetzbuchs durch die nationalen Gerichte entgegenstehe.
39. Die Regelungen über die strafrechtliche Verjährung stellten nämlich in der italienischen Rechtsordnung, anders als in anderen Rechtsordnungen, die diese Regelungen als Verfahrensregeln qualifizierten(13), materiell-rechtliche Regelungen dar, die ein wesentlicher Bestandteil des Grundsatzes der Gesetzmäßigkeit im Zusammenhang mit Straftaten und Strafen seien und deshalb nicht rückwirkend zum Nachteil der der Strafverfolgung unterliegenden Person angewendet werden könnten.
40. Art. 25 Abs. 2 der italienischen Verfassung räume dem Grundsatz der Gesetzmäßigkeit im Zusammenhang mit Straftaten und Strafen einen weiteren Anwendungsbereich ein als die Quellen des Unionsrechts, weil er nicht auf die Definition der Straftaten und der für sie angedrohten Strafen begrenzt sei, sondern sich auf alle materiellen Aspekte der Sanktion und insbesondere auf die Bestimmung der auf die Straftat anwendbaren Verjährungsregeln erstrecke. Nach diesem Grundsatz müssten also die Straftat, die mögliche Strafe und die Verjährungsfrist klar, genau und zwingend in einem Gesetz definiert sein, das bei Begehung der Tat in Kraft sei. Die Beachtung dieses Grundsatzes verlange somit, dass es jedermann möglich sein müsse, die strafrechtlichen Folgen seines Tuns zu kennen, und dass jede Willkür bei der Anwendung des Gesetzes vermieden werde.
41. Im Ausgangsverfahren hätten jedoch die Betroffenen in Anbetracht des zum Zeitpunkt der Taten geltenden normativen Rahmens vernünftigerweise nicht vorhersehen können, dass das Unionsrecht und insbesondere Art. 325 AEUV es dem nationalen Gericht vorschreiben würde, Art. 160 letzter Absatz und Art. 161 Abs. 2 des Strafgesetzbuchs unangewendet zu lassen, so dass sich die anwendbaren Verjährungsfristen verlängern würden. Die vom Gerichtshof im Urteil Taricco u. a. aufgestellte Verpflichtung stehe deshalb im Widerspruch zu den in Art. 7 EMRK genannten Anforderungen.
42. Außerdem sei der Grundsatz der Gesetzmäßigkeit im Zusammenhang mit Straftaten und Strafen das wichtigste der unveräußerlichen Rechte der Person und müsse in allen seinen Aspekten als oberster Grundsatz der italienischen Verfassungsordnung angesehen werden, der folglich den entgegenstehenden Normen des Unionsrechts vorgehe.
43. Was die Qualifikation der strafrechtlichen Verjährungsregeln anbelangt, stellt das vorlegende Gericht klar, dass diese nicht Sache des Unionsrechts, sondern der Verfassungstradition eines jeden Mitgliedstaats sei.
44. Soweit die italienische Rechtsordnung einen höheren Standard des Grundrechtsschutzes gewährleiste als denjenigen, der sich aus der Auslegung von Art. 49 der Charta und Art. 7 EMRK ergebe, erlaube Art. 53 der Charta den nationalen Gerichten, sich über die vom Gerichtshof im Urteil Taricco u. a. begründete Verpflichtung hinwegzusetzen.
45. Die vorliegende Rechtssache unterscheide sich von derjenigen, in der das Urteil vom 26. Februar 2013, Melloni(14), ergangen sei und in der die Anwendung der verfassungsrechtlichen Bestimmungen des Königreichs Spanien eine unmittelbare Auswirkung auf den Vorrang des Unionsrechts und insbesondere auf die Reichweite des Rahmenbeschlusses 2009/299/JI(15) gehabt und zu einem Bruch der Einheitlichkeit und der Einheit des Unionsrechts in einem auf gegenseitigem Vertrauen zwischen den Mitgliedstaaten beruhenden Bereich geführt habe.
46. Als Zweites führt die Corte costituzionale (Verfassungsgerichtshof) aus, dass die vom Gerichtshof im Urteil Taricco u. a. aufgestellte Verpflichtung auf ungenauen, mit dem Grundsatz der Rechtssicherheit unvereinbaren Kriterien beruhe, weil es dem nationalen Gericht unmöglich sei, die Fälle, in denen ein Betrug zum Nachteil der finanziellen Interessen der Union als „schwer“ zu bewerten sei, und die Fälle, in denen die Anwendung der fraglichen Verjährungsregeln „in einer beträchtlichen Zahl von Fällen“ zu einer Straffreiheit führe, eindeutig zu definieren.
47. Als Drittes meint das vorlegende Gericht, dass die vom Gerichtshof im Urteil Taricco u. a. entwickelten Regeln mit den Grundsätzen der Gewaltenteilung unvereinbar seien.
48. Die Verjährungsfristen und die Modalitäten ihrer Berechnung müssten vom nationalen Gesetzgeber durch genaue Regelungen bestimmt werden, und es komme deshalb nicht den Gerichten zu, von Fall zu Fall über ihren Inhalt zu entscheiden. Die im Urteil Taricco u. a. genannten Grundsätze erlaubten es nicht, den Beurteilungsspielraum der Gerichte zu beschränken, die folglich frei seien, sich von den fraglichen gesetzlichen Regelungen zu lösen, wenn sie in diesen ein Hindernis für die Bestrafung der Straftat sähen.
B. Zur Verfassungsidentität der Italienischen Republik
49. In ihrer Vorlageentscheidung führt die Corte costituzionale (Verfassungsgerichtshof) schließlich aus, Art. 4 Abs. 2 EUV erlaube es dem nationalen Gericht, sich der vom Gerichtshof im Urteil Taricco u. a. begründeten Verpflichtung zu entziehen, weil diese einen obersten Grundsatz seiner Verfassungsordnung verletze und deshalb geeignet sei, die nationale Identität und insbesondere die Verfassungsidentität der Italienischen Republik zu beeinträchtigen.
50. Das Unionsrecht wie auch seine Auslegung durch den Gerichtshof könnten nicht so verstanden werden, als schrieben sie den Mitgliedstaaten vor, die obersten Grundsätze ihrer Verfassungsordnung, die ihre nationale Identität definierten, preiszugeben. Die Umsetzung eines Urteils des Gerichtshofs stehe deshalb stets unter dem Vorbehalt seiner Vereinbarkeit mit der Verfassungsordnung des betreffenden Mitgliedstaats, die von den nationalen Stellen und in Italien von der Corte costituzionale (Verfassungsgerichtshof) zu beurteilen sei.
V. Die Vorlagefragen
51. Aus diesen Gründen hat die Corte costituzionale (Verfassungsgerichtshof) entschieden, das Verfahren über die Verfassungsmäßigkeit des Art. 2 des Gesetzes Nr. 130 vom 2. August 2008 über die Ratifikation und die Durchführung des Vertrags von Lissabon auszusetzen und dem Gerichtshof die folgenden Vorlagefragen zu stellen:
1. Ist Art. 325 Abs. 1 und 2 AEUV dahin auszulegen, dass der Strafrichter verpflichtet ist, eine nationale Verjährungsvorschrift, die der Verfolgung einer beträchtlichen Anzahl von gegen die finanziellen Interessen der Union gerichteten schweren Betrugsfällen entgegensteht oder für die Betrugsfälle zum Nachteil der finanziellen Interessen der Union kürzere Verjährungsfristen als für die Betrugsfälle zum Nachteil der finanziellen Interessen des Staates vorsieht, auch dann unangewendet zu lassen, wenn es für diese Nichtanwendung keine hinreichend bestimmte Rechtgrundlage gibt?
2. Ist Art. 325 Abs. 1 und 2 AEUV dahin auszulegen, dass der Strafrichter verpflichtet ist, eine nationale Verjährungsvorschrift, die der Verfolgung einer beträchtlichen Anzahl von gegen die finanziellen Interessen der Union gerichteten schweren Betrugsfällen entgegensteht oder für die Betrugsfälle zum Nachteil der finanziellen Interessen der Union kürzere Verjährungsfristen als für die Betrugsfälle zum Nachteil der finanziellen Interessen des Staates vorsieht, auch dann unangewendet zu lassen, wenn die Verjährung nach der Rechtsordnung des Mitgliedstaats Teil des materiellen Strafrechts ist und unter den Grundsatz der Gesetzmäßigkeit fällt?
3. Ist das Urteil Taricco u. a. dahin auszulegen, dass der Strafrichter verpflichtet ist, eine nationale Verjährungsvorschrift, die der Verfolgung einer beträchtlichen Anzahl von gegen die finanziellen Interessen der Union gerichteten schweren Betrugsfällen entgegensteht oder für die Betrugsfälle zum Nachteil der finanziellen Interessen der Union kürzere Verjährungsfristen als für die Betrugsfälle zum Nachteil der finanziellen Interessen des Staates vorsieht, auch dann unangewendet zu lassen, wenn diese Nichtanwendung mit den obersten Grundsätzen des Verfassungsrechts des Mitgliedstaats oder mit den in der Verfassung des Mitgliedstaats anerkannten unveräußerlichen Grundrechten unvereinbar ist?
VI. Vorbemerkungen
52. Bevor ich mit der Analyse der vorgelegten Fragen beginne, erscheint es mir zweckmäßig, einige Vorbemerkungen zunächst zu dem Kontext, in dem das Urteil Taricco u. a. ergangen ist, und dann zu der Herangehensweise, die die Parteien und die Europäische Kommission in der mündlichen Verhandlung gewählt haben, zu machen.
53. Erstens möchte ich darauf hinweisen, dass die Auswirkung der im italienischen Strafgesetzbuch vorgesehenen Verjährungsregeln auf die Strafverfolgung, ob diese nun wegen eines gegen eine Person gerichteten Verbrechens oder Vergehens oder im Bereich der Wirtschafts- und Finanzkriminalität erfolgt, keine neue Frage ist. Sie war bereits Gegenstand zahlreicher an die Italienische Republik gerichteter Berichte und Empfehlungen, in denen vor allem die auf die Verjährung anwendbaren Regeln und Berechnungsmethoden und insbesondere die restriktive Auslegung der Gründe für die Unterbrechung der Verjährung und das Bestehen einer absoluten Verjährungsfrist, die weder unterbrochen noch gehemmt werden kann, kritisiert wurden.
54. Die vom Gerichtshof im Urteil Taricco u. a. hervorgehobenen Probleme im Zusammenhang mit den Auswirkungen der in Art. 160 letzter Absatz und Art. 161 Abs. 2 des Strafgesetzbuchs vorgesehenen Verjährungsregeln auf die Effektivität der Bestrafung des Mehrwertsteuerbetrugs sind also nicht neu.
55. Auf nationaler Ebene wiesen zunächst die Gerichte den nationalen Gesetzgeber sehr früh darauf hin, dass die geltenden Verjährungsfristen es in den meisten Fällen schwerer und komplexer Korruption nicht erlaubten, eine rechtskräftige Entscheidung zu erwirken(16), was zur Schaffung einer Arbeitsgruppe (Ad‑hoc‑Kommission) zur Untersuchung der bestehenden Möglichkeiten einer Reform der Verjährungsregeln führte, die ihre Arbeiten am 23. April 2013 vorlegte(17).
56. Auf Unionsebene widmete die Kommission sodann 2014 den Konsequenzen des italienischen Verjährungsrechts für die effektive Korruptionsbekämpfung eine besondere Studie(18). Sie stellte fest, dass „[d]ie Verjährung [in Italien] immer ein problematischer Aspekt [war]“, und wies darauf hin, dass „[d]ie in Italien geltende Verjährungsfrist … in Kombination mit langwierigen Gerichtsverfahren, den geltenden Regelungen und Berechnungsmethoden für die Verjährung, fehlender Flexibilität hinsichtlich der Gründe für ein Ruhen und eine Unterbrechung der Verjährung und der Existenz einer absoluten Verjährung (Zeitgrenze), bei der weder eine Unterbrechung noch eine Hemmung möglich ist, zur Einstellung zahlreicher Verfahren geführt [hat], woran sich auch künftig nichts ändern wird“(19).
57. Den Empfehlungen des Rates an die Italienische Republik vom 9. Juli 2013(20) folgend forderte die Kommission diesen Mitgliedstaat deshalb auf, die bestehenden Regelungen zur Verjährungsfrist zu überarbeiten, um den rechtlichen Rahmen der Korruptionsbekämpfung zu stärken.
58. Auf der Ebene des Europarats entschied auch der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte in den Urteilen Alikaj u. a./Italien(21) und Cestaro/Italien(22), dass der Mechanismus der Verjährung, wie er in den Art. 157 bis 161 des Strafgesetzbuchs geregelt sei, Wirkungen haben könnte, die mit jenen, die der Schutz der in der EMRK niedergelegten Grundrechte in seinem strafrechtlichen Teil fordere, unvereinbar seien, weil dieser Mechanismus darauf hinauslaufe, dass schwere Straftaten straffrei blieben. Er hielt deshalb den gesetzlichen Rahmen für ungeeignet(23), Angriffen auf das Leben sowie Folter und Misshandlungen vorzubeugen und diese zu bestrafen.
59. So wurde die Italienische Republik mit dem Urteil Cestaro/Italien(24) nur wenige Monate vor dem Urteil Taricco u. a. wegen einer Verletzung von Art. 3 EMRK nicht nur in seinem materiellen, sondern auch in seinem verfahrensrechtlichen Teil verurteilt, wobei der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte das Bestehen eines „strukturellen Problems“ feststellte, nämlich die „Ungeeignetheit“ der im Strafgesetzbuch vorgesehenen Verjährungsregeln für die Bestrafung von Folter und für die Gewährleistung einer hinreichend abschreckenden Wirkung(25). Nach der Feststellung, dass diese Verjährungsregeln trotz aller Anstrengungen der Strafverfolgungsbehörden und der Gerichte praktisch einer Verurteilung und Bestrafung der Verantwortlichen entgegenstehen können, entschied der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte, dass die italienische Strafgesetzgebung für diese Art von Straftaten in Bezug auf das Erfordernis einer Sanktion „ungeeignet“ seien und dass ihnen die notwendige abschreckende Wirkung zur Verhinderung der Begehung weiterer ähnlicher Straftaten fehle. Er forderte die Italienische Republik daher auf, die geeigneten rechtlichen Instrumente dafür zu schaffen, dass die für diese Straftaten Verantwortlichen angemessen bestraft würden und verhindert werde, dass ihnen seiner Rechtsprechung zuwiderlaufende Maßnahme zugutekommen könnten, wobei die Verjährungsregeln den Anforderungen der EMRK entsprechen müssten(26).
60. Auf einer politischeren Ebene stellte zudem die Staatengruppe des Europarats gegen Korruption (GRECO) in ihren Evaluierungsberichten der Ersten (Juni 2008), Zweiten (Oktober 2008) und Dritten (Oktober 2011) gemeinsamen Evaluierungsrunde in Bezug auf die Italienische Republik(27) fest, auch wenn die theoretische Verjährungsfrist nicht sehr von derjenigen in anderen Vertragsstaaten abweiche, beeinträchtigten die Berechnungsmethode der Verjährungsfrist und die Rolle anderer Faktoren (wie etwa die Komplexität der Korruptionsermittlung, der Zeitraum, der zwischen der Begehung der Straftat und ihrer Anzeige bei den Strafverfolgungsbehörden vergehe, die verfügbaren Rechtsbehelfe, die Verzögerung und die Arbeitsüberlastung der Strafgerichte) die Effizienz des in Italien geltenden Sanktionsregimes erheblich.
61. Auf internationaler Ebene empfahl schließlich die Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) im Rahmen ihrer Evaluierungen der Umsetzung der Konvention gegen die Bestechung im internationalen Geschäftsverkehr(28) der Italienischen Republik ebenfalls, die im Strafgesetzbuch vorgesehene absolute Verjährungsfrist zu verlängern, um die Effizienz der Verfolgung grenzüberschreitender Korruption zu gewährleisten und die Anforderungen des Art. 6 dieser Konvention zu erfüllen(29). Dem scheint die Italienische Republik im Rahmen eines vom Senato (Senat, Italien) am 15. März 2017 gebilligten Gesetzesvorschlags nachgekommen zu sein(30).
62. Diese Elemente scheinen mir wichtig, um den nationalen, aber auch den europäischen Kontext zu verstehen, in dem das Urteil Taricco u. a. steht.
63. Zweitens halte ich es in Anbetracht der Erörterungen in der mündlichen Verhandlung für wichtig, die von den Beteiligten und der Kommission gewählte eindimensionale Herangehensweise zu korrigieren und an die Besonderheit zu erinnern, die das Wesen des Strafrechts ausmacht.
64. Das Strafrecht ist nämlich ein Sanktionsrecht, dass an den Begriff der öffentlichen Ordnung und hier der öffentlichen Ordnung der Union anknüpft. Dieses Recht muss deshalb einen Ausgleich zwischen der Achtung der öffentlichen Ordnung, der Gleichheit der Bürger, die diese Ordnung verletzen, vor dem Recht und der Gewährleistung der Verfahrensrechte der verfolgten Personen herstellen. Auf keinen Fall kann jedoch die Geltendmachung dieser Garantien durch eine der verfolgenden oder der verfolgten Parteien ein subjektives Recht auf willkürliche Bestrafung oder darauf, der normalen und ausgewogenen Konsequenz der begangenen Straftaten zu entgehen, begründen.
VII. Analyse
65. Im Rahmen ihrer ersten beiden Fragen stellt die Corte costituzionale (Verfassungsgerichtshof) die Vereinbarkeit der vom Gerichtshof im Urteil Taricco u. a. entwickelten Grundsätze und Kriterien mit dem Grundsatz der Gesetzmäßigkeit im Zusammenhang mit Straftaten und Strafen in Frage. In der italienischen Rechtsordnung erfordert dieser Grundsatz, dass die Verjährungsfrist in einer zum Zeitpunkt der Begehung der Tat geltenden Vorschrift genau definiert ist und unter keinen Umständen rückwirkend angewandt werden kann, wenn dies für die verfolgte Person nachteilig ist.
66. Die italienische Verfassung garantiert also jeder Person das Recht, vor der Begehung einer strafbaren Handlung zu wissen, ob diese eine Straftat ist und welche Strafe und welche Verjährungsfrist für sie gelten, wobei keines dieser Elemente später zum Nachteil des Betroffenen geändert werden kann.
67. Nach Ansicht der Corte costituzionale (Verfassungsgerichtshof) ist die vom Gerichtshof im Urteil Taricco u. a. aufgestellte Verpflichtung mit diesem Grundsatz unvereinbar, weil sie vom nationalen Gericht fordere, die Bestimmungen in Art. 160 letzter Absatz und Art. 161 Abs. 2 des Strafgesetzbuchs im Rahmen laufender Verfahren unangewendet zu lassen, so dass sich die anwendbare Verjährungsfrist verlängere.
68. Zur Stützung seiner Ansicht hebt das vorlegende Gericht hervor, dass die betreffenden Bestimmungen erlassen worden seien, um zum einen die Einhaltung einer angemessenen Verfahrensdauer und zum anderen die Rechte der verfolgten Personen zu garantieren. Insoweit ist einzuräumen, dass das Urteil Taricco u. a. allein nicht ausreicht, um der Kritik des vorlegenden Gerichts zu begegnen.
69. Es wäre jedoch ungerecht, den Gerichtshof zu sehr dafür zu kritisieren, dies nicht getan zu haben, da weder das Tribunal di Cuneo (Gericht Coni), das vorlegende Gericht in der Rechtssache Taricco u. a., noch die italienische Regierung im Rahmen ihrer schriftlichen und mündlichen Erklärungen in jener Rechtssache auf die Besonderheiten des Wesens der Verjährung und der für sie geltenden Regeln im italienischen Recht eingegangen sind, die schon damals im Zentrum des Vorabentscheidungsersuchens standen und auf die die Corte costituzionale (Verfassungsgerichtshof) heute hinweist.
70. Auf deren ergänzendes Vorabentscheidungsersuchen hin werde ich dem Gerichtshof deshalb vorschlagen, seine erste Antwort zu vervollständigen.
71. Es geht nämlich nicht darum, den vom Gerichtshof im Urteil Taricco u. a. aufgestellten Grundsatz in Frage zu stellen, wonach die nationalen Gerichte verpflichtet sind, die Bestimmungen in Art. 160 letzter Absatz und in Art. 161 Abs. 2 des Strafgesetzbuchs unangewendet zu lassen, um eine effektive und abschreckende Ahndung von Betrug zum Nachteil der finanziellen Interessen der Union zu gewährleisten, sondern vielmehr darum, die Kriterien zu präzisieren, auf deren Grundlage dieser Verpflichtung nachzukommen ist.
A. Zu dem vom Gerichtshof im Urteil Taricco u. a. aufgestellten Grundsatz
72. Der von der Corte costituzionale (Verfassungsgerichtshof) geäußerte Standpunkt ist auf Begriffen aufgebaut, deren Elemente, so wie dieses Gericht sie definiert, insbesondere dem Grundsatz der Effektivität des Unionsrechts zuwiderlaufen und deshalb mit diesem unvereinbar sind.
73. Bevor ich mit meiner Analyse der gestellten Fragen beginne, sind deshalb sehr genau die Punkte herauszuarbeiten, die zu diesem Ergebnis führen.
74. Was erstens den Grundsatz der Gesetzmäßigkeit im Zusammenhang mit Straftaten und Strafen, auch als Gesetzlichkeitsprinzip im Strafrecht bezeichnet, anbelangt, so ist dieser einer der wesentlichen Grundsätze des modernen Strafrechts. Er wurde insbesondere vom italienischen Strafrechtler Cesare Beccaria entwickelt, der sich in seinem berühmten Werk Von den Verbrechen und von den Strafen(31) auf die Arbeiten von Montesquieu(32) bezog.
75. Es ist traditionell anerkannt, dass nach diesem Grundsatz eine Straftat nicht vorgeworfen und eine Strafe nicht verhängt werden kann, wenn diese nicht vor Begehung der Tat gesetzlich vorgesehen und definiert waren.
76. In der vorliegenden Rechtssache wirft dieser Grundsatz nur deshalb Schwierigkeiten auf, weil das italienische Recht dieser Definition von Beccaria hinzufügt, dass das Verjährungsrecht selbst diesem Grundsatz unterliegt und dass der Straftäter ein erworbenes Recht darauf hat, dass jede Strafverfolgung nach Maßgabe der Verjährungsregeln geschieht, wie sie am Tag der Begehung der Straftat galten.
77. Was zweitens die Verjährung anbelangt, so ist diese nicht grundsätzlich, sondern nur in ihrer Ausgestaltung mit dem Unionsrecht unvereinbar, und zwar ebenfalls wegen der vom italienischen Recht eingeführten Besonderheiten, die im Zusammenspiel der beiden Modalitäten des Ruhens und der Unterbrechung der Verjährung liegen.
78. Hinsichtlich der Verjährungsunterbrechung beschränken die betreffenden Bestimmungen die Fälle, in denen die Verjährung unterbrochen werden kann, auf wenige und gegebenenfalls verspätete Verfahrenshandlungen, die darüber hinaus beschränkte Wirkungen entfalten. So hat eine Unterbrechung nicht zur Folge, eine neue, mit der ersten Frist identische Frist in Lauf zu setzen, sondern nur, die erste Frist um ein Viertel ihrer Dauer zu verlängern, wobei die Verlängerung der Verjährungsfrist darüber hinaus weder erneut ausgesetzt noch erneut unterbrochen werden kann, so dass sie in einem Verfahren nur einmal eintreten kann.
79. Die Kombination der Bestimmungen in Art. 160 letzter Absatz und Art. 161 Abs. 2 des Strafgesetzbuchs läuft also auf die Festlegung einer absoluten Grenze der anwendbaren Verjährungsfrist hinaus. Diese wird folglich unabänderlich und damit zu einer gesetzlich festgesetzten Frist, die traditionell als eine vom Gesetz bestimmte Handlungsfrist definiert wird und deren Lauf im Unterschied zur Verjährung weder ruhen noch unterbrochen werden kann(33). Dieser Begriff ist demnach unvereinbar mit dem Begriff der Verjährung selbst, und beide werden im Schrifttum denn auch als gegensätzlich angesehen.
80. Das Urteil Taricco u. a. enthält, wie ich bereits gesagt habe, nicht alle Elemente, um diesen Ansatz zu widerlegen, für den sich die Corte costituzionale (Verfassungsgerichtshof) auf das Bemühen beruft, einerseits eine angemessene Verfahrensdauer und andererseits die Rechte der verfolgten Person zu gewährleisten.
81. In Wirklichkeit stellt sich die Frage, worin die Quelle der Unvereinbarkeit zwischen der Regelung der Verjährung in Art. 160 letzter Absatz und in Art. 161 Abs. 2 des Strafgesetzbuchs und dem Erfordernis der Achtung der Effektivität des Unionsrechts liegt.
82. Recht ist nur dann effektiv, wenn seine Verletzung geahndet wird.
83. Wenn das Unionsrecht zur Gewährleistung seines Schutzes fordert, dass jede Verletzung geahndet wird, dann widerspricht jedes System, mit dem das Unionsrecht durchgeführt werden soll, das aber auf das Ausbleiben einer Sanktion oder auf eine offensichtliche und erhebliche Gefahr der Straffreiheit hinausläuft, per Definition dem Grundsatz des Vorrangs des Unionsrechts und dem Grundsatz der Effektivität, auf dem insbesondere Art. 325 AEUV beruht.
84. Ist das hier der Fall?
85. Ich meine ja und stütze diese Antwort auf Feststellungen namentlich zur Art der begangenen Straftaten gegen die finanziellen Interessen der Union und insbesondere auf ihren wesensgemäß transnationalen Charakter.
86. Die Ermittlungen im Bereich dieser Wirtschafts- und Finanzkriminalität müssen es ermöglichen, die Schwere des Betrugs hinsichtlich seiner Dauer, seines Ausmaßes und des Gewinns, der mit ihm erzielt wurde, festzustellen. Stellen wir uns nun die Zeiträume vor, die eine Ermittlung zu einem Mehrwertsteuerkarussell(34) in Anspruch nimmt, das Briefkastenfirmen in mehreren Mitgliedstaaten und Täter und Teilnehmer verschiedener Nationalitäten umfasst und technische Ermittlungen, eine Vielzahl von Anhörungen und Gegenüberstellungen sowie eine große buchhalterische und finanzielle Expertise und Maßnahmen der internationalen justiziellen und polizeilichen Zusammenarbeit erfordert. Die Gerichte müssen ein komplexes Strafverfahren führen, um unter Wahrung der Garantien eines fairen Prozesses die individuellen Verantwortlichkeiten jeder einzelnen verfolgten Person nachzuweisen und zugleich auf die Verteidigungsstrategien der Rechtsanwälte und sonstigen spezialisierten Experten zu reagieren, die darin bestehen, das Verfahren bis zum Eintritt der Verjährung in Gang zu halten.
87. In solchen Angelegenheiten erscheint die für Ermittlung und Gerichtsverfahren geltende Endfrist deshalb offensichtlich unzureichend, und die verschiedenen Berichte auf nationaler und internationaler Ebene beweisen den systemischen Charakter der festgestellten Ohnmacht. Die Gefahr der Straffreiheit ist hier nicht auf Ausweichmanöver, auf Gefälligkeit oder auf die Säumigkeit der Gerichte zurückzuführen, sondern auf die mangelnde Eignung des gesetzlichen Rahmens für die Ahndung des Mehrwertsteuerbetrugs, weil der nationale Gesetzgeber eine unangemessene, weil zu kurze und unabänderliche Urteilsfrist eingeführt hat, die es dem nationalen Gericht trotz seiner Bemühungen nicht gestattet, die Urheber der begangenen Straftaten ihrer normalen Bestrafung zuzuführen.
88. Ich verstehe, dass es eines der Anliegen des nationalen Gesetzgebers bei der Änderung der Verjährungsregeln durch das Gesetz „ex-Cirielli“ war, die Verfahrensverzögerungen zu bekämpfen, die oft vom Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte beanstandet worden waren, und im Interesse der verfolgten Personen eine angemessene Verfahrensdauer zu gewährleisten.
89. Paradoxerweise stellt jedoch diese von dem Wunsch, die Zügigkeit der Gerichtsverfahren zu gewährleisten, getragene Änderung einen Verstoß gegen den Begriff selbst der angemessenen Frist und damit letztlich eine Beeinträchtigung der geordneten Rechtspflege dar(35).
90. Im Rahmen von Art. 6 Abs. 1 EMRK definiert nämlich der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte die angemessene Frist als Gebot einer Urteilsfrist, die der objektiven Komplexität der Angelegenheit, dem Gegenstand des Rechtsstreits sowie der Haltung der Parteien und der zuständigen Stellen angemessen ist(36).
91. Es muss jedoch festgestellt werden, dass eine gesetzlich festgelegte Frist diesem Grundsatz direkt zuwiderläuft.
92. Das Recht auf eine angemessene Frist ist kein Recht auf Straffreiheit und darf die effektive Verurteilung des Straftäters nicht verhindern.
93. Diese perverse Wirkung kann jedoch die gesetzlich festgelegte Frist haben.
94. Hierzu meine ich, auf den Text des Vorschlags für eine Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates über die strafrechtliche Bekämpfung von gegen die finanziellen Interessen der Europäischen Union gerichtetem Betrug(37) hinweisen zu sollen, der in seinem Anwendungsbereich den schweren Mehrwertsteuerbetrug erfasst. Während das SFI‑Übereinkommen die Frage der Verjährungsfristen nicht behandelte, führt Art. 12 des SFI‑Richtlinienvorschlags ein neues, zwingendes und detailliertes Regelwerk über die Verjährungsregelung ein, die für Straftaten gegen den Haushalt der Union gilt. Danach sind die Mitgliedstaaten verpflichtet, eine Verjährungsfrist vorzusehen.
95. Der SFI‑Richtlinienvorschlag sieht nicht nur verlängerte Verjährungsfristen vor, die es den Strafverfolgungsbehörden erlauben sollen, innerhalb eines ausreichend langen Zeitraums wirksam gegen diese Straftaten vorzugehen, sondern er bestimmt auch eine maximale und absolute Frist für das Urteil.
96. Ich kann deshalb nur mein Unverständnis dafür ausdrücken, dass dieser Entwurf ein Verjährungssystem vorschlägt, das der in der vorliegenden Rechtssache in Rede stehenden Verfahrensregelung nachgebildet ist, das die gleichen Wirkungen wie die Kombination der Art. 160 letzter Absatz und Art. 161 Abs. 2 des Strafgesetzbuchs hat und das meines Erachtens deshalb die gleiche Kritik hervorruft, weil es die gleichen Gefahren mit sich bringt.
97. Bestimmungen dieser Art führen nämlich in Wirklichkeit dazu, die Verantwortung dafür, dass in diesen Sachen kein Urteil ergeht, auf die Gerichte zu verlagern. Dabei wird vergessen, dass die Effektivität der Verfahren von den der Justiz zur Verfügung gestellten Mitteln abhängt und dass es, wenn ihr diese vorenthalten werden, immer einen Vorwand gibt, sich der aus dem Unionsrecht folgenden Pflichten zu entziehen. Es besteht dann die Gefahr, dass die Sachen, die als die schwersten und die komplexesten angesehen werden, „Kurzverfahren“ zugeführt werden, die keine effektive und abschreckende Ahndung der Tat gewährleisten und es vor allem nicht erlauben, die Täter für einen ausreichenden Zeitraum unschädlich zu machen. So laufen wir Gefahr, mit den besten Intentionen die Geldwäsche und die Finanzierung illegaler Praktiken zu erleichtern, die für die Union und ihre Bürger, deren Interessen letztlich verletzt werden, besonders schädlich sind.
98. Wenn ich es deshalb für absolut legitim halte, eine Frist vorzusehen, die am Tag der Begehung der Tat beginnt und nach deren Ablauf eine Strafverfolgung nicht mehr eingeleitet werden kann, falls bis dahin keine Ermittlungshandlung erfolgt ist, so erscheint es mir demgegenüber völlig unerlässlich, dass das einmal begonnene Strafverfahren zum Abschluss gebracht werden kann, wobei jede Verfolgungshandlung eine die Verjährung unterbrechende Handlung ist, die eine neue, vollständige Frist in Lauf setzt, und dass insoweit Grenze und Bezugspunkt nur die Beachtung des Grundsatzes der angemessenen Frist in der Definition durch den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte sein kann.
99. Diese Bezugnahme auf den Grundsatz der angemessenen Frist ist meines Erachtens ein für alle Mitgliedstaaten geltendes Erfordernis.
100. Beim Schutz der finanziellen Interessen der Union wenden die Mitgliedstaaten nämlich das Unionsrecht an und sind deshalb an die Bestimmungen der Charta gebunden. Da jedoch Art. 47 der Charta und Art. 6 Abs. 1 EMRK gleichlautende Regelungen zum Grundsatz der angemessenen Frist des Verfahrens enthalten, sind die Mitgliedstaaten an die erst kürzlich in Erinnerung gerufene Definition des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte gebunden.
101. Ich denke deshalb, dass der Gerichtshof den Begriff der Verjährungsunterbrechung als autonomen Begriff des Unionsrechts ansehen und ihn in dem Sinne definieren sollte, dass jede Strafverfolgungshandlung sowie jede Handlung, die die notwendige Fortsetzung einer solchen darstellt, die Verjährung unterbricht und eine neue Frist, die mit der ersten Frist identisch ist, in Lauf setzt, so dass der bereits abgelaufene Teil der Verjährungsfrist zum Erlöschen gebracht wird.
102. Nur eine solche Definition wird es ermöglichen, die Verfolgung derartiger Straftaten zu gewährleisten.
103. Die Verhandlungen über die Annahme des SFI‑Richtlinienvorschlags und die Schaffung einer Europäischen Staatsanwaltschaft gehen zwar in die Richtung einer gemeinsamen Definition des Betrugs und des anwendbaren Sanktionsniveaus, doch kann eine solche Harmonisierung keine zufriedenstellenden Ergebnisse hervorbringen, wenn sie nicht von wirksamen Maßnahmen im Bereich von Ermittlung und Verfolgung und insbesondere von einer einheitlichen Verjährungsregelung in der gesamten Union begleitet und unterstützt wird.
104. Andernfalls wäre die Europäische Staatsanwaltschaft(38) und mit ihr das gute Funktionieren des Raums der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts eine Totgeburt.
105. Wie könnte man in dem einheitlichen Raum, zu dem sich der Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts entwickelt, akzeptieren, dass ein und dieselbe Straftat gegen die finanziellen Interessen der Union in einem Mitgliedstaat verjährt ist, während sie im Nachbarstaat zu einer rechtskräftigen Verurteilung führen kann?
106. Weil es eine solche Situation schon gegeben hat, ist es demnach von zentraler Bedeutung, zu einer Harmonisierung der Verjährungsregeln zu gelangen, um einen Schutz der finanziellen Interessen der Union zu gewährleisten, der in allen Mitgliedstaaten gleichwertig und einheitlich ist, und um auf diese Weise zu verhindern, dass Straftäter gleichsam Straffreiheit genießen, indem sie von den für sie günstigsten Strafgesetzen profitieren, was das Risiko von „forum shopping“ begründen würde(39).
107. Im Übrigen wird die Kommission seit mehreren Jahren nicht müde, auf die Schwächen des aktuellen Systems hinzuweisen, das durch einen extrem zerstückelten Rechtsrahmen gekennzeichnet ist, der auf die Vielfalt der Traditionen und Rechtsordnungen, auf die erfolgte oder unterbliebene Ratifizierung des SFI‑Übereinkommens(40) und auf die politischen Prioritäten der Mitgliedstaaten im Strafrecht(41) zurückzuführen ist. In Anbetracht der Mobilität der Straftäter und der Gewinne aus den illegalen Handlungen zum Nachteil der finanziellen Interessen der Union sowie der Komplexität der grenzüberschreitenden Ermittlungen, die damit einhergeht, beurteilt die Kommission die nationalen Verjährungsfristen in diesem Bereich heute als unangemessen(42).
108. In Anbetracht all dessen und in Fortführung des vom Gerichtshof im Urteil Taricco u. a. aufgestellten Grundsatzes ist meines Erachtens Art. 325 Abs. 1 und 2 AEUV dahin auszulegen, dass er von dem als ordentliches Gericht der Union handelnden nationalen Gericht verlangt, dass es die sich aus der Kombination der Bestimmungen in Art. 160 letzter Absatz und Art. 161 Abs. 2 des Strafgesetzbuchs ergebende absolute Verjährungsfrist unangewendet lässt, wenn eine solche Regelung die Verhängung effektiver und abschreckender Strafen im Fall eines schweren Betrugs zum Nachteil der finanziellen Interessen der Union verhindert oder für Fälle schweren Betrugs zum Nachteil der finanziellen Interessen des betreffenden Mitgliedstaats längere Verjährungsfristen vorsieht als für solche zum Nachteil der finanziellen Interessen der Union.
109. Des Weiteren bin ich der Meinung, dass der Begriff der Verjährungsunterbrechung als autonomer Begriff des Unionsrechts anzusehen und in dem Sinne zu definieren ist, dass jede Strafverfolgungshandlung sowie jede Handlung, die die notwendige Fortsetzung einer solchen darstellt, die Verjährung unterbricht und eine neue, mit der ersten Frist identische Frist in Lauf setzt, so dass der bereits abgelaufene Teil der Verjährungsfrist zum Erlöschen gebracht wird.
B. Zu den Voraussetzungen, unter denen die nationalen Gerichte verpflichtet sind, die kombinierten Bestimmungen in Art. 160 letzter Absatz und Art. 161 Abs. 2 des Strafgesetzbuchs unangewendet zu lassen
1. Die anzuwendenden Kriterien
110. Nach den vom Gerichtshof im Urteil Taricco u. a. aufgestellten Grundsätzen sind die nationalen Gerichte verpflichtet, die Bestimmungen in Art. 160 letzter Absatz und Art. 161 Abs. 2 des Strafgesetzbuchs unangewendet zu lassen, falls diese Regelung „die Verhängung von wirksamen und abschreckenden Sanktionen in einer beträchtlichen Anzahl von gegen die finanziellen Interessen der Europäischen Union gerichteten schweren Betrugsfällen“ verhindert(43).
111. Die Kriterien, anhand deren die nationalen Gerichte die Bestimmungen ihres Strafgesetzbuchs unangewendet lassen sollen, sind, wie das vorlegende Gericht feststellt, vage und allgemein. In Ermangelung von Leitlinien oder einer anderen Präzisierung im Urteil Taricco u. a. ist das nationale Gericht allein in der Tat nicht in der Lage, die Fälle, in denen eine Beeinträchtigung der finanziellen Interessen der Union als „schwer“ zu qualifizieren ist, und die Fälle, in denen die Anwendung der betreffenden Verjährungsregeln zur Folge hätte, „die Verhängung von wirksamen und abschreckenden Sanktionen in einer beträchtlichen Anzahl von[Fällen]“ zu verhindern(44), eindeutig zu definieren.
112. Konkret ist es im Rahmen eines laufenden Strafverfahrens tatsächlich schwierig, von einem nationalen Gericht zu fordern, einem Ziel wie der Bekämpfung von Mehrwertsteuerstraftaten gerecht zu werden, indem von ihm verlangt wird, materielle Regeln seines Strafrechts über die Verjährung der Straftaten und der Strafen auf der Grundlage eines Kriteriums unangewendet zu lassen, das in der Tat ein gewisses Maß an Subjektivität in die geforderte Beurteilung einfließen zu lassen scheint.
113. Das im Urteil Taricco u. a. aufgestellte Kriterium beruht auf dem Bestehen einer systemischen Gefahr der Straffreiheit.
114. Die Beurteilung des systemischen Charakters kann tatsächlich für das mit dem Rechtsstreit befasste nationale Gericht heikel sein, da es von außen betrachtet den Anschein haben mag, dass diese Beurteilung mit einer gewissen Dosis Subjektivität des Gerichts einhergeht.
115. Gewiss könnte sich die Beurteilung des systemischen Charakters aus der Anwendung objektiver Kriterien oder aus einer von der obersten italienischen Gerichtsbarkeit getragenen umfassenden Beurteilung ergeben, der alle nationalen Gerichte zu folgen hätten. Aus den Erörterungen in der mündlichen Verhandlung ergibt sich jedoch nicht, dass eine solche Lösung im Hinblick auf das nationale Recht möglich erscheint. So hat auch die Italienische Republik, deren offensichtlich um eine angemessene und unionsrechtskonforme Lösung bemühte Haltung hervorzuheben ist, zu diesem Punkt keine ausreichenden Garantien geben können.
116. Ich schlage deshalb vor, dass diese Verpflichtung allein auf der Art der Straftat beruht und dass es Sache des Unionsgesetzgebers ist, dieses zu definieren.
117. Ich stelle fest, dass der Unionsgesetzgeber im Rahmen der Verhandlungen über die Annahme des SFI‑Richtlinienvorschlags den Begriff der schweren Straftat zum Nachteil der finanziellen Interessen der Union, wozu auch der Mehrwertsteuerbetrug gehört, so definiert hat, dass er alle Straftaten umfasst, die eine Verbindung zum Gebiet von zwei oder mehr Mitgliedstaaten haben und die einen Schaden nach sich ziehen, dessen Gesamtbetrag die Schwelle von 10 Mio. Euro überschreitet, wobei diese Schwelle Gegenstand einer Anpassungsklausel ist(45).
2. Zu den zeitlichen Wirkungen der vom Gerichtshof im Urteil Taricco u. a. aufgestellten Verpflichtung
118. Nach den vom Gerichtshof im Urteil Taricco u. a. aufgestellten Grundsätzen ist das nationale Gericht verpflichtet, soweit erforderlich die kombinierten Bestimmungen in Art. 160 letzter Absatz und Art. 161 Abs. 2 des Strafgesetzbuchs in laufenden Verfahren unangewendet zu lassen, um gemäß Art. 325 AEUV eine effektive Ahndung des festgestellten Betrugs zu gewährleisten.
119. Wie ich bereits dargestellt habe, ist die Corte costituzionale (Verfassungsgerichtshof) der Ansicht, dass die nationalen Gerichte diese Verpflichtung in Anbetracht von Rang und Tragweite des Grundsatzes der Gesetzmäßigkeit im Zusammenhang mit Straftaten und Strafen im italienischen Recht nicht beachten könnten.
120. Art. 53 der Charta gestatte es der Italienischen Republik, ihren eigenen Grundrechtsschutzstandard anzuwenden, soweit dieser höher sei als jener, der sich aus einer Auslegung von Art. 49 der Charta ergebe, und es somit dem nationalen Gericht erlaube, sich zu weigern, der vom Gerichtshof aufgestellten Verpflichtung nachzukommen.
121. Zudem ergebe sich aus Art. 4 Abs. 2 EUV, dass das Unionsrecht die Erfüllung dieser Verpflichtung nicht erzwingen könne, ohne zugleich die nationale Identität und insbesondere die Verfassungsidentität der Italienischen Republik in Frage zu stellen.
122. Ich teile diese von der Corte costituzionale (Verfassungsgerichtshof) vorgeschlagene Auslegung nicht.
a) Zur Reichweite des Grundsatzes der Gesetzmäßigkeit im Zusammenhang mit Straftaten und Strafen im Unionsrecht
123. Erstens wissen wir, dass die Ahndung von Beeinträchtigungen der finanziellen Interessen der Union in den Anwendungsbereich des Unionsrechts fällt und dass das nationale Gericht verpflichtet ist, die Effektivität dieses Rechts und besonders des Primärrechts zu gewährleisten.
124. Im Rahmen des Unionsrechts ist der Grundsatz der Gesetzmäßigkeit im Zusammenhang mit Straftaten und Strafen in Art. 49 der Charta verankert. Gemäß Art. 51 Abs. 1 der Charta gilt dieser Artikel für die Mitgliedstaaten, wenn sie das Unionsrecht durchführen, wie es hier der Fall ist.
125. Nach den Erläuterungen zur Charta der Grundrechte(46) entspricht deren Art. 49 Abs. 1 (mit Ausnahme des letzten Satzes) und Abs. 2 Art. 7 der EMRK. Nach Art. 52 Abs. 3 der Charta haben, soweit die Charta Rechte enthält, die den durch die EMRK garantierten Rechten entsprechen, diese die gleiche Bedeutung und Tragweite, wie sie ihnen die EMRK verleiht, wobei diese Bestimmung dem nicht entgegensteht, dass das Recht der Union einen weiter gehenden Schutz gewährt.
126. In den Rn. 54 bis 56 des Urteils Taricco u. a. hat der Gerichtshof entschieden, dass der in Art. 49 der Charta verankerte Grundsatz nur die Definition der Straftaten sowie das Niveau der auf sie anwendbaren Strafen erfasst. Da dieser Grundsatz sich nicht auf die Bestimmung der Verjährungsfristen erstreckt, hat er deshalb entschieden, dass der Grundsatz nicht der Anwendung einer längeren Verjährungsfrist als jener, die zum Zeitpunkt der Begehung der Straftat vorgesehen war, durch das nationale Gericht in einem laufenden Verfahren entgegensteht.
127. Diese Beurteilung steht im Einklang mit der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte zur Tragweite des Grundsatzes der Gesetzmäßigkeit im Zusammenhang mit Straftaten und Strafen.
128. Die allgemeinen Grundsätze für die Anwendung der Verjährungsregeln hat der EGMR in seinem Urteil Coëme u. a./Belgien(47) zusammengefasst und kürzlich in seinen Entscheidungen Previti/Italien(48) und Borcea/Rumänien(49) bestätigt.
129. Art. 7 EMRK schreibt den Grundsatz der Legalität der Straftaten und der Strafen fest: „Verbietet er insbesondere, den Anwendungsbereich bestehender Straftatbestände auf Sachverhalte zu erweitern, die zuvor keine Straftaten darstellten, so schreibt er darüber hinaus vor, dass das Strafgesetz nicht extensiv, z. B. durch Analogie, zum Nachteil des Angeklagten angewendet werden darf. Das Gesetz muss daher klar die Zuwiderhandlungen und die dafür angedrohten Strafen festlegen. Diese Voraussetzung ist erfüllt, wenn der Rechtsunterworfene anhand des Wortlauts der einschlägigen Bestimmung und nötigenfalls mit Hilfe ihrer Auslegung durch die Gerichte erkennen kann, welche Handlungen und Unterlassungen seine strafrechtliche Verantwortung begründen.“(50)
130. Dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte zufolge sind „die Regelungen über die Rückwirkung in Art. 7 [EMRK] auf die Bestimmungen, die die Straftaten und die dafür angedrohten Strafen festlegen, nicht anwendbar“(51). Deshalb ist der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte der Meinung, dass er sich davon überzeugen muss, dass „zu dem Zeitpunkt, als der Angeklagte die Tat begangen hat, die zu einer Strafverfolgung und gegebenenfalls zu einer Verurteilung geführt hat, eine gesetzliche Bestimmung existierte, die die Tat unter Strafe stellte, und dass die verhängte Strafe die von dieser Bestimmung gesetzten Grenzen nicht übersteigt“(52).
131. Dagegen hielt der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte im Urteil Coëme u. a./Belgien(53) die Anwendung des Grundsatzes tempus regit actum durch die nationalen Gerichte in Bezug auf Verfahrensgesetze, im konkreten Fall die sofortige Anwendung der die Verjährungsregeln ändernden Gesetze auf laufende Verfahren, für angemessen.
132. Nach Ansicht des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte verletzt die sofortige Anwendung eines die Verjährungsfristen verlängernden Gesetzes nicht Art. 7 EMRK, „weil diese Vorschrift nicht so ausgelegt werden kann, dass sie die Verlängerung der Verjährungsfristen durch ein sofort anwendbares Verfahrensgesetz verhindert, wenn die vorgeworfene Tat zu keinem Zeitpunkt verjährt war“(54). Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte hat die Verjährungsregeln demnach als „Verfahrensgesetze“ qualifiziert. Er stellt fest, dass die Verjährungsregeln nicht die Straftaten und die dafür angedrohten Strafen festlegen und dass sie als Sachprüfungsvoraussetzung interpretiert werden können(55).
133. In seiner Entscheidung Previti/Italien(56) qualifizierte der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte die neuen durch das Gesetz „ex-Cirielli“ eingeführten Verjährungsregeln als Verfahrensregeln. Bekanntlich waren es die mit diesem Gesetz bewirkten grundlegenden Änderungen, die Gegenstand der Rechtssache waren, in der das Urteil Taricco u. a. ergangen ist, und die uns heute beschäftigen.
134. In der Sache, in der die Entscheidung Previti/Italien(57) ergangen ist, hatte der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte insbesondere zu beurteilen, ob die Voraussetzungen, unter denen die neuen Verjährungsfristen angewendet worden waren, mit den Anforderungen von Art. 7 EMRK vereinbar sind. Im zu entscheidenden Fall rügte der Beschwerdeführer, dessen Rechtsmittel im Kassationsverfahren anhängig war, dass ihm nicht die Verkürzung der Verjährungsfrist für die Straftat der Korruption von 15 auf acht Jahre zugutekommen könne. Tatsächlich galten die neuen, für den Angeklagten günstigeren Verjährungsregeln nach den vom Gesetzgeber vorgesehen Übergangsregeln für alle bei Inkrafttreten des Gesetzes laufenden Verfahren, jedoch mit Ausnahme der bei der Corte suprema di cassazione (Kassationshof) anhängigen Verfahren, was den Beschwerdeführer faktisch von ihrer Anwendung ausschloss.
135. Damit stellte sich die Frage, ob die Bestimmungen über die Verjährungsfristen ebenso wie die Bestimmungen, die die Straftaten und die dafür angedrohten Strafen festlegen, besonderen Regeln über die Rückwirkung unterliegen, zu denen auch der Grundsatz der Rückwirkung des milderen Strafgesetzes gehört.
136. Zur Beantwortung dieser Frage und damit zur Beurteilung der Begründetheit der Rüge des Verstoßes gegen Art. 7 EMRK fragte sich der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte deshalb, ob das Gesetz „ex-Cirielli“ Bestimmungen des materiellen Strafrechts enthält.
137. Er verneinte dies und qualifizierte die mit diesem Gesetz eingeführten Gesetzesänderungen als „Verfahrensregeln“.
138. In Fortführung seiner ständigen Rechtsprechung erinnerte der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte daran, dass die Verjährungsregeln, da sie nicht die Straftaten und die dafür angedrohten Strafen festlegten, als bloße Sachprüfungsvoraussetzungen ausgelegt und deshalb als „Verfahrensgesetze“ qualifiziert werden könnten(58).
139. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte entschied deshalb, dass Art. 7 EMRK, anders als es bei den Bestimmungen der Fall sei, die die Straftaten und die dafür angedrohten Strafen festlegten(59), der sofortigen Anwendung auf ein laufendes Verfahren (tempus regit actum) eines Gesetzes, das die Verjährungsfristen verlängert, nicht entgegenstehe, wenn die vorgeworfene Tat zu keiner Zeit verjährt gewesen sei(60) und keine Willkür vorliege(61).
140. Da die mit dem Gesetz „ex-Cirielli“ eingeführten Verjährungsregeln als „Verfahrensgesetze“ zu qualifizieren seien und die Übergangsregeln weder sachwidrig noch willkürlich erschienen, entschied der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte, dass die EMRK den italienischen Gesetzgeber nicht daran hindere, die Anwendung dieser Bestimmungen auf zum Zeitpunkt des Inkrafttretens des Gesetzes anhängige Verfahren zu regeln.
141. In Anbetracht dessen bin ich der Meinung, dass unter Berücksichtigung des Wortlauts von Art. 49 der Charta und der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte zur Tragweite des in Art. 7 EMRK verankerten Grundsatzes der Gesetzmäßigkeit im Zusammenhang mit Straftaten und Strafen nichts dem entgegensteht, dass das nationale Gericht im Rahmen der Erfüllung seiner Pflichten aus dem Unionsrecht die Bestimmungen in Art. 160 letzter Absatz und Art. 161 Abs. 2 des Strafgesetzbuchs in laufenden Verfahren unangewendet lässt.
142. Das vorlegende Gericht ist außerdem der Ansicht, dass die im Urteil Taricco u. a. aufgestellten Grundsätze mit den in Art. 7 EMRK aufgestellten Erfordernissen und insbesondere mit dem der Vorhersehbarkeit unvereinbar seien, da die betreffenden Personen in Anbetracht des zum Zeitpunkt der Tat geltenden normativen Rahmens vernünftigerweise nicht hätten vorhersehen können, dass das Unionsrecht und insbesondere Art. 325 AEUV dem Gericht vorschreiben würde, die Bestimmungen in Art. 160 letzter Absatz und Art. 161 Abs. 2 des Strafgesetzbuchs unangewendet zu lassen(62).
143. Mir scheint jedoch, dass den betroffenen Personen nicht unbekannt sein konnte, dass die Taten, die ihnen heute vorgeworfen werden, geeignet waren, ihre strafrechtliche Verantwortung zu begründen und im Fall einer rechtskräftigen Verurteilung zur Verhängung der im Gesetz bestimmten Strafe zu führen. Diese Taten waren zum Zeitpunkt ihrer Begehung Straftaten, und die Strafen sind nicht schwerer als jene, die zum Zeitpunkt der Tat verhängt werden konnten. Ich denke nicht, dass die betreffenden Personen infolge der Erfüllung dieser Verpflichtung durch das nationale Gericht einen größeren Nachteil erleiden werden, als er ihnen zur Zeit der Begehung der Tat drohte.
b) Zur Tragweite von Art. 53 der Charta
144. Die Corte costituzionale (Verfassungsgerichtshof) führt sodann die Bestimmungen von Art. 53 der Charta gegen die Erfüllung der vom Gerichtshof im Urteil Taricco u. a. aufgestellten Verpflichtung an.
145. Es komme eine Auslegung von Art. 53 der Charta in Betracht, die es der Italienischen Republik gestatte, den durch die italienische Verfassung garantierten Grundrechtsschutzstandard anzuwenden, da dieser höher sei als jener, der sich aus der Auslegung von Art. 49 der Charta ergebe, und ihn gegen die Erfüllung der vom Gerichtshof in dem Urteil Taricco u. a. aufgestellten Verpflichtung einzuwenden.
146. Diese Auslegung gestatte es dem nationalen Gericht, sich von dieser Pflicht zu befreien, soweit diese von ihm verlange, die betreffenden Verjährungsregeln in einem laufenden Verfahren unangewendet zu lassen.
147. Die von der Corte costituzionale (Verfassungsgerichtshof) vorgelegten Fragen führen deshalb zu der Frage, über welchen Spielraum die Mitgliedstaaten bei der Festlegung des Niveaus des Grundrechtsschutzes verfügen, das sie im Rahmen der Durchführung des Unionsrechts gewährleisten möchten.
1) Einleitende Erwägungen(63)
148. Auch wenn die Auslegung der von der Charta geschützten Rechte ein hohes Schutzniveau anstreben muss, wie sich aus Art. 52 Abs. 3 der Charta und den entsprechenden Erläuterungen in Art. 52 Abs. 4 der Charta ableiten lässt, ist gleichwohl klarzustellen, dass es sich um ein „dem Unionsrecht angemessenes“ Schutzniveau handeln muss, wie im Übrigen in diesen Erläuterungen selbst klargestellt wird.
149. Es handelt sich dabei um den Hinweis auf einen Grundsatz, der schon seit Langem die Auslegung der Grundrechte innerhalb der Union leitet und der besagt, dass sich nämlich die Gewährleistung der Grundrechte innerhalb der Union in deren Struktur und Ziele einfügen muss(64). Insoweit ist es nicht ohne Bedeutung, dass die Präambel der Charta die Hauptziele der Union anführt, wozu die Schaffung eines Raums der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts gehört.
150. Es ist also nicht möglich, nur in den Kategorien eines höheren oder niedrigeren Niveaus des Schutzes der Grundrechte zu denken, ohne die mit dem Handeln der Union und der Besonderheit des Unionsrechts zusammenhängenden Vorgaben zu berücksichtigen.
151. Die zu schützenden Grundrechte und das ihnen beizumessende Schutzniveau spiegeln die Entscheidungen einer bestimmten Gesellschaft hinsichtlich des angemessenen Gleichgewichts zwischen den Interessen der Einzelnen und denen der Gesamtheit, der diese zugehören, wider. Diese Bestimmung steht in engem Zusammenhang mit Wertungen, die der betreffenden Rechtsordnung eigen sind, u. a. entsprechend deren sozialem, kulturellem und historischem Kontext, und ist somit nicht automatisch auf andere Kontexte übertragbar.
152. Eine Auslegung von Art. 53 der Charta dahin, dass er es den Mitgliedstaaten erlaubt, im Anwendungsbereich des Unionsrechts ihre Verfassungsnormen, die ein höheres Niveau des Schutzes des betreffenden Grundrechts gewährleisten, anzuwenden, würde außer Acht lassen, dass die Bestimmung des grundrechtlichen Schutzniveaus stark vom Kontext abhängt, in dem sie erfolgt.
153. Selbst wenn ein hohes Niveau des Grundrechtsschutzes angestrebt werden soll, folgt aus der Besonderheit des Unionsrechts somit, dass das sich aus der Auslegung einer nationalen Verfassung ergebende Schutzniveau weder automatisch auf die Ebene der Union übertragbar ist noch der Anwendung des Unionsrechts entgegengehalten werden kann.
154. Bei der Bewertung des grundrechtlichen Schutzniveaus, das innerhalb der Rechtsordnung der Union gewährleistet sein muss, sind die spezifischen Interessen zu berücksichtigen, die das Handeln der Union leiten. Dies gilt insbesondere für die notwendige Einheitlichkeit der Anwendung des Unionsrechts und die Vorgaben im Zusammenhang mit der Schaffung eines Raums der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts. Diese spezifischen Interessen führen zu einer Anpassung des grundrechtlichen Schutzniveaus entsprechend den verschiedenen in Betracht kommenden Interessen.
2) Bewertung
155. Der von der Corte costituzionale (Verfassungsgerichtshof) vorgeschlagenen Auslegung von Art. 53 der Charta kann meines Erachtens aus denselben Gründen, wie sie der Gerichtshof im Urteil vom 26. Februar 2013, Melloni(65), dargelegt hat, nicht gefolgt werden.
156. Eine solche Auslegung beeinträchtigt ein wesentliches Merkmal der Unionsrechtsordnung, nämlich den Grundsatz des Vorrangs des Unionsrechts. Diese Auslegung erlaubt es nämlich einem Mitgliedstaat, sich zu weigern, einer vom Gerichtshof aufgestellten Verpflichtung, die mit der Charta im Einklang steht, nachzukommen, wenn diese Verpflichtung den durch die Verfassung dieses Mitgliedstaats garantierten höheren Standard des Grundrechtsschutzes nicht beachtet.
157. So hat der Gerichtshof im Urteil vom 26. Februar 2013, Melloni(66), daran erinnert, dass nach dem Grundsatz des Vorrangs des Unionsrechts der Umstand, dass ein Mitgliedstaat sich auf Bestimmungen des nationalen Recht beruft, und seien diese verfassungsrechtlicher Natur, die Wirkung des Unionsrechts im Gebiet dieses Mitgliedstaats nicht berührt(67).
158. Wenn ein Unionsrechtsakt Durchführungsmaßnahmen erfordert, bestätigt Art. 53 der Charta, dass die staatlichen Behörden und Gerichte tatsächlich nationale Schutzstandards der Grundrechte anwenden dürfen. Der Gerichtshof hat jedoch klargestellt, dass diese Anwendung weder das Schutzniveau nach der Charta, wie sie vom Gerichtshof ausgelegt wird, noch den Vorrang, die Einheit und die Effektivität des Unionsrechts beeinträchtigen darf(68).
159. In meinen Schlussanträgen in der Rechtssache Melloni(69) habe ich die Situationen, in denen der Grad an Schutz, der hinsichtlich eines Grundrechts im Rahmen der Durchführung einer Handlung der Union auf Unionsebene gewährleistet sein muss, festgelegt ist, von den Situationen unterschieden, in denen dieses Schutzniveau nicht einheitlich festgelegt wurde.
160. Zum ersten Fall habe ich die Ansicht vertreten, dass die spätere Berufung eines Mitgliedstaats auf sein höheres Schutzniveau die Zerstörung des vom Unionsgesetzgeber erreichten Gleichgewichts zur Folge hätte und somit die Anwendung des Unionsrechts beeinträchtigen würde. Das Schutzniveau ist in engem Zusammenhang mit den Zielen des entsprechenden Handelns der Union festgelegt worden. Es spiegelt also ein Gleichgewicht zwischen der Notwendigkeit, die Wirksamkeit des Handelns der Union sicherzustellen, und der Notwendigkeit eines ausreichenden Schutzes der Grundrechte wider.
161. Im zweiten Fall genießen die Mitgliedstaaten dagegen einen größeren Spielraum, um im Anwendungsbereich des Unionsrechts das Niveau des Grundrechtsschutzes anzuwenden, das sie im Rahmen ihres nationalen Rechts gewährleisten möchten. Ich habe jedoch darauf hingewiesen, dass dieses Schutzniveau mit der ordnungsgemäßen Durchführung des Unionsrechts vereinbar sein muss und nicht andere durch das Unionsrecht geschützte Grundrechte verletzen darf.
162. Gemäß Art. 325 AEUV erfordert der Schutz der finanziellen Interessen der Union nationale Durchführungsmaßnahmen. Diese Maßnahmen müssen nach den Grundsätzen der Gleichwertigkeit und der Effektivität die Bestrafung von Straftaten zum Nachteil dieser Interessen durch die Verhängung effektiver und abschreckender Strafen gewährleisten. Im vorliegenden Fall ist der Gerichtshof, indem er von den nationalen Gerichten fordert, die betreffenden Verjährungsregeln im Rahmen laufender Verfahren unangewendet zu lassen, bestrebt, dieses Ziel unter Beachtung von Art. 49 der Charta und im Einklang mit der dem Grundsatz der Gesetzmäßigkeit im Zusammenhang mit Straftaten und Strafen in Art. 7 EMRK zuerkannten Tragweite zu gewährleisten.
163. Es gibt zwar auf Unionsebene gegenwärtig keine gemeinsame Definition der Tragweite, die dem Grundsatz der Gesetzmäßigkeit im Zusammenhang mit Straftaten und Strafen zukommen muss, und des Schutzumfangs, der der verfolgten Person in diesem Rahmen zugestanden werden muss, wenn es um die Anwendung der Verjährungsregeln geht(70). Die Mitgliedstaaten verfügen deshalb grundsätzlich über einen größeren Spielraum für die Anwendung eines höheren Schutzstandards, jedoch unter der Voraussetzung, dass dieser den Vorrang und die Effektivität des Unionsrechts gewährleistet
164. Hier sind jedoch drei Bemerkungen angezeigt.
165. Erstens sind zwar die Verjährungsregeln noch nicht harmonisiert worden, der in Artikel 47 Abs. 2 der Charta festgeschriebene Grundsatz der angemessenen Frist ist aber ebenso wie das Instrument, das ihn begründet, der Archetyp einer harmonisierten, unmittelbar anwendbaren Norm.
166. Zweitens gefährdet die Anwendung des in Art. 25 Abs. 2 der italienischen Verfassung vorgesehenen Schutzstandards, den die Corte costituzionale (Verfassungsgerichthof) ins Feld führt, den Vorrang des Unionsrechts, indem sie es erlaubt, eine vom Gerichtshof aufgestellte Verpflichtung zu umgehen, die nicht nur der Charta entspricht, sondern auch im Einklang mit der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte steht.
167. Drittens schließlich beeinträchtigt diese Anwendung die Effektivität des Unionsrechts, soweit die fraglichen Straftaten zum Nachteil der Union wegen der absoluten Verjährungsfrist nicht mehr Gegenstand einer rechtskräftigen Verurteilung sein können und deshalb straffrei bleiben werden.
168. Ich bin deshalb der Meinung, dass Art. 53 der Charta es den Gerichten eines Mitgliedstaats nicht erlaubt, sich der Erfüllung der vom Gerichtshof im Urteil Taricco u. a. aufgestellten Verpflichtung mit der Begründung zu widersetzen, dass diese Verpflichtung den von der Verfassung dieses Staates gewährleisteten höheren Standard des Grundrechtsschutzes nicht achte.
c) Zur Achtung der Verfassungsidentität der Italienischen Republik
169. Die dritte Frage des vorlegenden Gerichts bezieht sich auf die Tragweite von Art. 4 Abs. 2 EUV.
170. Die Corte costituzionale (Verfassungsgerichtshof) ist der Meinung, dass die vom Gerichtshof im Urteil Taricco u. a. aufgestellte Verpflichtung dadurch, dass sie einen obersten Grundsatz ihrer Verfassungsordnung, nämlich den Grundsatz der Gesetzmäßigkeit im Zusammenhang mit Straftaten und Strafen verletze, die nationale Identität und insbesondere die Verfassungsidentität der Italienischen Republik beeinträchtigen könne.
171. Das Unionsrecht und seine Auslegung durch den Gerichtshof könnten nicht so verstanden werden, als schrieben sie seinem Mitgliedstaat vor, die obersten Grundsätze seiner Verfassungsordnung, die seine nationale Identität bestimmten, preiszugeben. Die Umsetzung eines Urteils des Gerichtshofs stehe deshalb stets unter dem Vorbehalt seiner Vereinbarkeit mit der Verfassungsordnung des Mitgliedstaats, die von den nationalen Stellen und in Italien von der Corte costituzionale (Verfassungsgerichtshof) zu beurteilen sei.
172. Der Standpunkt, den ich dem Gerichtshof in der vorliegenden Rechtssache einzunehmen vorschlage, läuft nicht darauf hinaus, die Notwendigkeit in Abrede zu stellen, die nationale Identität der Mitgliedstaaten zu berücksichtigen, zu der ohne Zweifel die Verfassungsidentität gehört(71).
173. Ich bin mir bewusst, dass die Union nach Art. 4 Abs. 2 EUV verpflichtet ist, die nationale Identität der Mitgliedstaaten zu achten, „die in ihren grundlegenden politischen und verfassungsmäßigen Strukturen … zum Ausdruck kommt“.
174. Ich bin mir außerdem bewusst, dass in der Präambel der Charta darauf hingewiesen wird, dass die Union bei ihrem Handeln die nationale Identität der Mitgliedstaaten zu achten hat.
175. Ein Mitgliedstaat, der seine nationale Identität durch eine Bestimmung des Primärrechts oder des abgeleiteten Rechts beeinträchtigt sieht, kann diese Bestimmung deshalb auf der Grundlage von Art. 4 Abs. 2 EUV in Frage stellen.
176. Ich denke jedoch nicht, dass wir es hier mit einer solchen Situation zu tun haben.
177. Zunächst hat der Gerichtshof stets angenommen, dass die Geltendmachung einer Beeinträchtigung der Grundrechte, so wie sie in der Verfassung eines Mitgliedstaats formuliert sind, oder der Grundsätze einer nationalen Verfassungsstruktur die Gültigkeit eines von den Organen der Union angenommenen Rechtsakts oder seine Wirkung im Gebiet dieses Mitgliedstaats nicht berühren kann, damit die Einheit und die Effektivität des Unionsrechts gewährleistet bleibt. Nach ständiger Rechtsprechung kann die Gültigkeit dieser Rechtsakte nur nach dem Unionsrecht beurteilt werden(72).
178. Außerdem bin ich nicht davon überzeugt, dass die sofortige Anwendung einer längeren Verjährungsfrist infolge der Erfüllung der vom Gerichtshof in dem Urteil Taricco u. a. aufgestellten Verpflichtung geeignet ist, die nationale Identität der Italienischen Republik zu berühren.
179. Was zu einem anspruchsvollen Verständnis von Grundrechtsschutz gehört, darf nämlich nicht mit einer Beeinträchtigung der nationalen Identität oder genauer der Verfassungsidentität eines Mitgliedstaats verwechselt werden. Zwar handelt es sich im vorliegenden Fall um ein durch die italienische Verfassung geschütztes Grundrecht, dessen Bedeutung nicht hoch genug eingeschätzt werden kann, das bedeutet aber nicht, dass hier die Anwendung von Art. 4 Abs. 2 EUV in Erwägung zu ziehen wäre.
180. Zudem legt die Corte costituzionale (Verfassungsgerichtshof) nicht dar, aus welchen Gründen sämtlichen Aspekten des Grundsatzes der Gesetzmäßigkeit im Zusammenhang mit Straftaten und Strafen der Status eines „obersten“ Grundsatzes der Verfassungsordnung zukommen soll(73) und aus welchen Gründen die sofortige Anwendung einer längeren Verjährungsfrist die Verfassungsidentität der Italienischen Republik in Frage stellen könnte.
181. Ich stelle fest, dass die italienische Verfassung die als „fundamental“ qualifizierten Grundsätze in ihren Art. 1 bis 12 aufzählt, so dass also der Grundsatz der Gesetzmäßigkeit im Zusammenhang mit Straftaten und Strafen a priori nicht dazugehört.
182. Mir ist bekannt, dass Tragweite und Rang eines Grundsatzes in der italienischen Verfassungsordnung auch durch die Verfassungsgerichtsbarkeit festgelegt werden können.
183. Die Corte costituzionale (Verfassungsgerichtshof) hat bereits festgestellt, dass nur der „harte Kern“ eines fundamentalen Grundsatzes die Einleitung des sogenannten „Controlimiti“-Verfahrens rechtfertigen kann, nicht aber die verschiedenen Institute, in denen sich dieses Recht konkret manifestieren oder im Lauf der Geschichte und ihrer Anforderungen ausprägen kann(74).
184. Kürzlich hat die Corte costituzionale (Verfassungsgerichtshof) diesen Ansatz in einem Urteil bestätigt und erklärt, dass die „obersten“ oder „fundamentalen“ Grundsätze der Verfassungsordnung jene seien, die diese charakterisierten und den „harten Kern“ der italienischen Verfassung bildeten(75).
185. Außerdem hat die Italienische Republik in den Rn. 10 und 11 ihrer schriftlichen Stellungnahme in der Rechtssache, in der das Urteil vom 16. Juni 2015, Gauweiler u. a.(76), ergangen ist, und insbesondere in ihren Erläuterungen zur Einleitung des sogenannten „Controlimiti“‑Verfahrens klargestellt, dass die obersten oder fundamentalen Grundsätze ihrer Verfassungsordnung, deren Verletzung durch einen Rechtsakt des Unionsrechts die Einleitung dieses Verfahrens rechtfertigen würde(77), den wesentlichen verfassungsmäßigen Garantien wie etwa der in Art. 1 der italienischen Verfassung verankerten demokratischen Struktur der Italienischen Republik oder dem Gleichheitsgrundsatz in ihrem Art. 3 entsprächen und nicht die Verfahrensgarantien umfassten, wie wichtig diese auch sein mögen.
186. Unter Berücksichtigung dessen bin ich nicht davon überzeugt, dass die vom Gerichtshof im Urteil Taricco u. a. aufgestellte Verpflichtung dadurch, dass sie dazu führt, dass das nationale Gericht in einem laufenden Verfahren sofort eine längere Verjährungsfrist als jene anwendet, die das Gesetz zum Zeitpunkt der Begehung der Tat vorsah, eine Verletzung der nationalen Identität der Italienischen Republik darstellen kann.
187. Nach alledem bin ich deshalb der Meinung, dass Art. 4 Abs. 2 EUV es den Gerichten eines Mitgliedstaats nicht erlaubt, sich der Erfüllung der vom Gerichtshof im Urteil Taricco u. a. aufgestellten Verpflichtung mit der Begründung zu widersetzen, dass die sofortige Anwendung einer längeren Verjährungsfrist als jener, die das Gesetz zum Zeitpunkt der Begehung der Tat vorsah, in einem laufenden Verfahren die nationale Identität dieses Staates berühren würde.
VIII. Ergebnis
188. Aufgrund der vorstehenden Überlegungen schlage ich dem Gerichtshof vor, die Fragen, die ihm die Corte costituzionale (Verfassungsgerichtshof, Italien) zur Vorabentscheidung vorgelegt hat, wie folgt zu beantworten:
1. Art. 325 Abs. 1 und 2 AEUV ist dahin auszulegen, dass er von dem als ordentliches Gericht der Union handelnden nationalen Gericht verlangt, dass es die sich aus der Kombination der Bestimmungen in Art. 160 letzter Absatz und Art. 161 Abs. 2 des Codice penale (Strafgesetzbuch) ergebende absolute Verjährungsfrist unangewendet lässt, wenn eine solche Regelung die Verhängung effektiver und abschreckender Sanktionen im Fall eines schweren Betrugs zum Nachteil der finanziellen Interessen der Europäischen Union verhindert oder für Fälle schweren Betrugs zum Nachteil des betreffenden Mitgliedstaats längere Verjährungsfristen vorsieht als für solche zum Nachteil der finanziellen Interessen der Union.
2. Der Begriff der Verjährungsunterbrechung ist als autonomer Begriff des Unionsrechts anzusehen und in dem Sinne zu definieren, dass jede Strafverfolgungshandlung sowie jede Handlung, die die notwendige Fortsetzung einer solchen darstellt, die Verjährung unterbricht und eine neue, mit der ersten Frist identische Frist in Lauf setzt, so dass der bereits abgelaufene Teil der Verjährungsfrist außer Betracht bleibt.
3. Art. 49 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union ist dahin auszulegen, dass er der Nichtanwendung der kombinierten Bestimmungen in Art. 160 letzter Absatz und des Art. 161 Abs. 2 des Strafgesetzbuchs durch die italienischen Gerichte in einem laufenden Verfahren gemäß der vom Gerichtshof im Urteil vom 8. September 2015, Taricco u. a. (C‑105/14, EU:C:2015:555), aufgestellten Verpflichtung nicht entgegensteht.
4. Art. 53 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union erlaubt es den Gerichten eines Mitgliedstaats nicht, sich der Erfüllung der vom Gerichtshof im Urteil vom 8. September 2015, Taricco u. a. (C‑105/14, EU:C:2015:555), aufgestellten Verpflichtung mit der Begründung zu widersetzen, dass diese Verpflichtung den von der Verfassung dieses Staates gewährleisteten höheren Standard des Grundrechtsschutzes nicht achte.
5. Art. 4 Abs. 2 EUV erlaubt es den Gerichten eines Mitgliedstaats nicht, sich der Erfüllung der vom Gerichtshof im Urteil vom 8. September 2015, Taricco u. a. (C‑105/14, EU:C:2015:555) aufgestellten Verpflichtung mit der Begründung zu widersetzen, dass die sofortige Anwendung einer längeren Verjährungsfrist als jener, die das Gesetz zum Zeitpunkt der Begehung der Tat vorsah, in einem laufenden Verfahren die nationale Identität dieses Staates berühren würde.