SCHLUSSANTRÄGE DES GENERALANWALTS
YVES BOT
vom 8. Juli 20081(1)
Rechtssache C‑110/05
Kommission der Europäischen Gemeinschaften
gegen
Italienische Republik
„Wiedereröffnung der mündlichen Verhandlung – Vertragsverletzung eines Mitgliedstaats – Art. 28 EG – Freier Warenverkehr – Nutzungsmodalitäten – Nationale Regelung, die es verbietet, Anhänger zu nutzen, die von Kleinkrafträdern, Krafträdern, dreirädrigen Kraftfahrzeugen oder vierrädrigen Kraftfahrzeugen gezogen werden – Mengenmäßige Beschränkungen – Maßnahmen gleicher Wirkung – Rechtfertigung – Sicherheit des Straßenverkehrs – Verhältnismäßigkeit“
1. Ist eine nationale Regelung über die „Nutzungsmodalitäten“ einer Ware im Hinblick auf Art. 28 EG zu prüfen, oder ist sie wie eine Regelung über „Verkaufsmodalitäten“ nach den Kriterien zu beurteilen, die der Gerichtshof im Urteil Keck und Mithouard(2) entwickelt hat?
2. Dies ist im Wesentlichen die Frage, die der Gerichtshof im Rahmen der vorliegenden Klage zu beantworten hat.
3. Die vorliegende Rechtssache betrifft ein Vertragsverletzungsverfahren, das die Kommission der Europäischen Gemeinschaften gegen die Italienische Republik auf der Grundlage des Art. 226 EG eingeleitet hat. Nach Auffassung der Kommission hat die Italienische Republik dadurch gegen ihre Verpflichtungen aus Art. 28 EG verstoßen, dass sie in die Straßenverkehrsordnung eine Regelung aufgenommen hat, mit der das Ziehen von Anhängern durch Kleinkrafträder, Krafträder, dreirädrige Kraftfahrzeuge und vierrädrige Kraftfahrzeuge verboten wird(3).
4. Dies ist das zweite Mal, dass im vorliegenden Klageverfahren Schlussanträge vorgelegt werden.
5. Der Gerichtshof hat ursprünglich beschlossen, die Rechtssache an eine Kammer mit fünf Richtern(4) zu verweisen und ohne mündliche Verhandlung zu entscheiden, da keine der Parteien beantragt hat, mündliche Ausführungen machen zu können. Der Generalanwalt Léger hat seine Schlussanträge am 5. Oktober 2006 vorgetragen; nach diesen Schlussanträgen ist die mündliche Verhandlung geschlossen worden. Der Generalanwalt ist zum Ergebnis gelangt, dass die Italienische Republik dadurch gegen ihre Verpflichtungen aus Art. 28 EG verstoßen hat, dass sie die genannte Regelung erlassen und beibehalten hat.
6. Da dieser Vorschlag neue Fragen nach dem Anwendungsbereich des Art. 28 EG aufgeworfen hat, die von den Parteien während des Verfahrens nicht erörtert worden waren, hat der Gerichtshof mit Beschluss vom 7. März 2007 die Wiedereröffnung der mündlichen Verhandlung angeordnet und die Rechtssache an die Große Kammer verwiesen. Er hat ferner nicht nur die Parteien, sondern auch die übrigen Mitgliedstaaten aufgefordert, folgende Frage zu beantworten:
„Inwieweit und unter welchen Voraussetzungen sind die nationalen Bestimmungen, die nicht die Merkmale eines Produkts, sondern dessen Nutzung regeln und die unterschiedslos auf die inländischen und die eingeführten Produkte anwendbar sind, als Maßnahmen gleicher Wirkung wie mengenmäßige Einfuhrbeschränkungen im Sinne von Art. 28 EG anzusehen?“
7. Außer der Kommission und der Italienischen Republik haben die Tschechische Republik, das Königreich Dänemark, die Bundesrepublik Deutschland, die Hellenische Republik, die Französische Republik, die Republik Zypern, das Königreich der Niederlande und das Königreich Schweden Erklärungen eingereicht.
8. In den vorliegenden Schlussanträgen werde ich in zwei Schritten vorgehen.
9. In einem ersten Schritt werde ich darlegen, wie meines Erachtens die Frage des Gerichtshofs zu beantworten ist.
10. Dies macht allgemeine Überlegungen zum Sinn und zur Bedeutung der Vorschriften über den freien Warenverkehr nötig. Die allgemeinen Überlegungen wiederum setzen voraus, dass – auch auf die Gefahr einer Rückkehr zu bereits früher vertretenen Positionen – der Anwendungsbereich des Art. 28 EG sowie die Kriterien untersucht werden, nach denen eine bestimmte Maßnahme mit gleicher Wirkung wie eine mengenmäßige Einfuhrbeschränkung beurteilt werden kann. Die Frage des Gerichtshofs bietet zudem die Möglichkeit, die Tragweite des Urteils Keck und Mithouard näher zu bestimmen. Dieses Urteil hat bekanntlich zu zahlreichen Auslegungsschwierigkeiten geführt, die bis heute nur von Fall zu Fall gelöst werden konnten.
11. In den vorliegenden Schlussanträgen werde ich erläutern, weshalb meines Erachtens nationale Maßnahmen, die die Voraussetzungen regeln, unter denen eine Ware genutzt werden darf, nicht im Hinblick auf die vom Gerichtshof im Urteil Keck und Mithouard aufgestellten Kriterien zu prüfen sind. Ich werde ausführen, dass diese Maßnahmen in den Anwendungsbereich des Art. 28 EG fallen und vertragswidrige Maßnahmen gleicher Wirkung wie mengenmäßige Einfuhrbeschränkungen darstellen können, falls sie den Marktzugang für das betreffende Produkt behindern.
12. Im Licht dieser Analyse werde ich in einem zweiten Schritt die Begründetheit der Vertragsverletzungsklage prüfen, die die Kommission gegen die Italienische Republik erhoben hat.
13. Nach Prüfung der Auswirkungen der betreffenden Maßnahme auf den innergemeinschaftlichen Handelsverkehr werde ich darlegen, dass die italienische Regelung insofern, als sie den Zugang zum italienischen Markt für Anhänger versperrt, die in den anderen Mitgliedstaaten rechtmäßig hergestellt und in den Verkehr gebracht werden, eine gegen Art. 28 EG verstoßene Maßnahme gleicher Wirkung wie eine mengenmäßige Einfuhrbeschränkung darstellt.
I – Rechtlicher Rahmen
A – Gemeinschaftsrecht
1. EG-Vertrag
14. Art. 28 EG verbietet zwischen den Mitgliedstaaten die mengenmäßigen Einfuhrbeschränkungen sowie alle Maßnahmen gleicher Wirkung.
15. Nach Art. 30 EG steht Art. 28 EG jedoch Einfuhrverboten oder ‑beschränkungen nicht entgegen, die insbesondere aus Gründen der Ordnung und Sicherheit oder zum Schutze der Gesundheit und des Lebens von Menschen gerechtfertigt sind, sofern diese Verbote oder Beschränkungen weder ein Mittel zur willkürlichen Diskriminierung noch eine verschleierte Beschränkung des Handels zwischen den Mitgliedstaaten darstellen.
2. Abgeleitetes Recht
16. Der Gemeinschaftsgesetzgeber hat im Rahmen der Richtlinie 92/61/EWG(5) ein gemeinschaftliches Betriebserlaubnisverfahren für zweirädrige und dreirädrige Kraftfahrzeuge eingeführt.
17. Nach Art. 1 Abs. 2 und 3 der Richtlinie 92/61 gehören zu den erfassten Fahrzeugen Kleinkrafträder(6), Krafträder, dreirädrige Kraftfahrzeuge und vierrädrige Kraftfahrzeuge.
18. Wie aus den Erwägungsgründen der Richtlinie klar hervorgeht, kann durch dieses Verfahren zum einen ein besseres Funktionieren des Binnenmarktes über die Beseitigung der technischen Handelshemmnisse bei Kraftfahrzeugen gewährleistet und zum anderen ein Beitrag zur Verbesserung der Sicherheit im Straßenverkehr, des Schutzes der Umwelt und des Verbraucherschutzes geleistet werden(7).
19. Um die Durchführung des genannten Verfahrens zu ermöglichen, sieht die Richtlinie 92/61 eine vollständige Harmonisierung der technischen Anforderungen vor, denen diese Fahrzeuge genügen müssen. Sie sieht auch vor, dass die für die einzelnen Teile und Merkmale dieser Fahrzeuge geltenden technischen Vorschriften im Rahmen von Einzelrichtlinien harmonisiert werden(8).
20. So wurden die Vorschriften über Massen und Abmessungen sowie Anhängevorrichtungen und Befestigungen der genannten Fahrzeuge im Rahmen der Richtlinien 93/93/EWG(9) bzw. 97/24/EG(10) harmonisiert.
21. In beiden Richtlinien heißt es zu den Erwägungsgründen gleichlautend, dass die von ihnen aufgestellten Vorschriften nicht bewirken dürfen, dass die Mitgliedstaaten, in deren Gebiet zwei‑ oder dreirädrige Kraftfahrzeuge keine Anhänger mitführen dürfen, ihre Regelungen ändern müssen(11).
B – Innerstaatliches Recht
22. Art. 53 des Decreto legislativo Nr. 285 vom 30. April 1992(12) definiert als Motorfahrzeuge (motoveicoli) alle Kraftfahrzeuge mit zwei, drei oder vier Rädern, wobei die Letztgenannten die Kategorie der „vierrädrigen Kraftfahrzeuge“ bilden.
23. Nach Art. 54 der Straßenverkehrsordnung sind Kraftwagen Kraftfahrzeuge mit mindestens vier Rädern, mit Ausnahme der Motorfahrzeuge (motoveicoli).
24. Nach Art. 56 der Straßenverkehrsordnung dürfen nur Kraftwagen, Oberleitungsbusse und Zugmaschinen Anhänger ziehen.
II – Vorverfahren
25. Die Kommission gelangte nach einem Schriftwechsel mit der Italienischen Republik zu der Ansicht, dass diese mit dem Erlass der in Rede stehenden Regelung gegen seine Verpflichtungen aus Art. 28 EG verstoßen habe. Sie forderte sie mit Schreiben vom 3. April 2003 auf, sich dazu zu äußern.
26. Die Italienische Republik verpflichtete sich in ihrem Antwortschreiben vom 13. Juni 2003 dazu, ihre Regelung zu ändern, um die von der Kommission erwähnten Hindernisse für die Einfuhren zu beseitigen. Sie stellte ferner klar, dass die Änderungen nicht nur die Betriebserlaubnis für die Fahrzeuge, sondern auch die Zulassung, den Verkehr und die Hauptuntersuchung der Anhänger (Untersuchungen) beträfen.
27. Die Kommission erhielt keine weitere Mitteilung in Bezug auf den Erlass dieser Änderungen. Sie übersandte daher der Italienischen Republik am 19. Dezember 2003 eine mit Gründen versehene Stellungnahme, mit der sie diese aufforderte, die notwendigen Maßnahmen zu ergreifen, um ihren Verpflichtungen aus Art. 28 EG binnen zwei Monaten ab Notifizierung dieser Stellungnahme nachzukommen. Da diese mit Gründen versehene Stellungnahme unbeantwortet blieb, hat die Kommission mit Klageschrift, die am 4. März 2005 bei der Kanzlei des Gerichtshofs eingereicht worden ist, die vorliegende Klage gemäß Art. 226 EG erhoben.
III – Klage
28. Die Kommission beantragt,
– festzustellen, dass die Italienische Republik dadurch gegen ihre Verpflichtungen aus Art. 28 EG verstoßen hat, dass sie das Ziehen von Anhängern durch Kleinkrafträder verboten hat;
– der Italienischen Republik die Kosten aufzuerlegen.
29. Die Italienische Republik beantragt Klageabweisung.
IV – Zur Frage des Gerichtshofs
30. Wie dargelegt, hat der Gerichtshof nach der Wiedereröffnung der mündlichen Verhandlung die Parteien und die Mitgliedstaaten aufgefordert, folgende Frage zu beantworten:
Inwieweit und unter welchen Voraussetzungen sind die nationalen Bestimmungen, die nicht die Merkmale eines Produkts, sondern dessen Nutzung regeln und die unterschiedslos auf die inländischen und die eingeführten Produkte anwendbar sind, als Maßnahmen gleicher Wirkung wie mengenmäßige Einfuhrbeschränkungen im Sinne von Art. 28 EG anzusehen?
A – Die Antworten der Parteien und der Mitgliedstaaten
31. Mündliche und schriftliche Erklärungen sind abgegeben worden von der Kommission, der Italienischen Republik, der Tschechischen Republik, dem Königreich Dänemark, der Bundesrepublik Deutschland, der Hellenischen Republik, der Französischen Republik, der Republik Zypern, dem Königreich der Niederlande und dem Königreich Schweden.
32. Die Kommission trägt vor, die Nutzungsmodalitäten eines Produkts regelten die Voraussetzungen, unter denen ein Produkt genutzt werden könne. Dies sei der Fall bei einer Maßnahme, die die Nutzung eines Produkts räumlich oder zeitlich beschränke(13). Der Begriff erfasse auch die Fälle, in denen eine Regelung die Nutzung eines Produkts verbiete.
33. Um zu bestimmen, ob eine innerstaatliche Regelung, die die Nutzung eines Produkts betreffe, eine Maßnahme gleicher Wirkung im Sinne von Art. 28 EG sei, seien im Rahmen einer Einzelfallprüfung die unmittelbaren oder mittelbaren, tatsächlichen oder potenziellen Wirkungen dieser Maßnahme zu berücksichtigen. Es stehe außer Zweifel, dass eine Regelung, die die Nutzung eines Produkts absolut oder nahezu absolut verbiete, eine Maßnahme gleicher Wirkung wie eine mengenmäßige Einfuhrbeschränkung im Sinne des Art. 28 EG sei(14).
34. Das Königreich der Niederlande spricht sich für eine klare Abgrenzung des Anwendungsbereichs des Art. 28 EG aus. Das von dieser Bestimmung verfolgte Ziel, nämlich das ordnungsgemäße Funktionieren des Binnenmarkts, dürfe nicht bedeuten, dass eine innerstaatliche Rechtsvorschrift über z. B. die Sicherheit im Straßenverkehr unter das Verbot des Art. 28 EG falle(15). Das Königreich der Niederlande macht jedoch auch geltend, dass einem ungehinderten Zugang zum Markt eine besondere Bedeutung zukomme.
35. Das Königreich der Niederlande vertritt die Auffassung, die Generalanwältin Kokott in den Schlussanträgen in der vor dem Gerichtshof anhängigen Rechtssache Mickelsson und Roos (C‑142/05) vertreten hat, da nach deren Auffassung eine Reihe von Rechtsvorschriften, die nicht den Schutz wirtschaftlicher Interessen bezwecken, vom Geltungsbereich des Art. 28 EG ausgenommen werden können. Dieser Ansatz habe jedoch einige Nachteile. Einerseits sei es schwierig, den Begriff „Nutzungsmodalitäten“ eindeutig zu bestimmen. Verlange die Vorschrift über die Nutzung eine Anpassung des Produkts, liege eine Anforderung an die Produktmerkmale vor.
36. Auch könne es bei den innerstaatlichen Gerichten zu Unsicherheiten führen, wenn eine weitere Ausnahmekategorie bei der Anwendung des Art. 28 EG zu berücksichtigen sei. Je nach der Kategorie, unter die eine bestimmte Vorschrift falle, sei dieses oder jenes Kriterium heranzuziehen.
37. Das Königreich der Niederlande beanstandet auch das Urteil Keck und Mithouard, da es kein geeignetes Kriterium zur Verfügung stelle, und verweist insoweit auf die Schlussanträge von Generalanwalt Poiares Maduro in den Rechtssachen Alfa Vita Vassilopoulos und Carrefour‑Marinopoulos(16). Es weist zudem darauf hin, dass bestimmte Nutzungsmodalitäten – ebenso wie die Verkaufsmodalitäten – tief greifende Auswirkungen auf den innergemeinschaftlichen Handel haben könnten, und wirft die Frage nach dem praktischen Nutzen auf, den die Einführung einer weiteren Ausnahme haben könnte. Es schlägt daher vor, dem „De–minimis“-Ansatz zu folgen, den Generalanwalt Jacobs in seinen Schlussanträgen in der Rechtssache Leclerc‑Siplec(17) vertreten hat, weist allerdings auch auf die Schwierigkeiten hin, denen sich die innerstaatlichen Gerichte bei Durchführung dieses Ansatzes gegenübersehen würden.
38. Anders als die Tschechische Republik vertreten das Königreich Dänemark, die Bundesrepublik Deutschland, die Französische Republik, die Republik Zypern und das Königreich Schweden die Auffassung, dass die im Urteil Keck und Mithouard aufgestellten Kriterien auf die Maßnahmen übertragen werden könnten, mit denen die Nutzung eines Produkts geregelt werde. Sie führen im Wesentlichen aus, dass die unterschiedslos anwendbaren nationalen Bestimmungen, die die Nutzung eines Produkts beschränkten, jedoch nicht untersagten, grundsätzlich nicht unter den Begriff „Beschränkungen“ im Sinne des Art. 28 EG fielen. Gleichwohl könne von diesem Grundsatz abgewichen werden, wenn nachgewiesen werde, dass die betreffenden Maßnahmen die Nutzung eines Produkts schlichtweg verbieten würden oder nur eine marginale Nutzung zuließen und damit den Marktzugang für dieses Produkt beschränkten.
39. Die Hellenische Republik trägt vor, eine Regelung über die Nutzung eines Produkts sei als solche nicht geeignet, den Handel zwischen den Mitgliedstaaten zu behindern. Sei jedoch die Nutzung des Produkts für dessen Verkehr konstituierend, müsse die Frage nach der Einordnung der Maßnahme von Fall zu Fall geprüft werden, und die sich aus der Nutzung ergebende Behinderung könne in den Anwendungsbereich von Art. 28 EG fallen.
40. Die Italienische Republik schließlich ist im Wesentlichen der Ansicht, dass die Antwort auf die Frage des Gerichtshofs auch davon abhänge, ob das Produkt zu anderen Zwecken genutzt werden könne. Sie betont ferner die Erwägungen der Straßenverkehrssicherheit und die Besonderheiten der Geografie Italiens.
B – Würdigung
41. Im Rahmen des vorliegenden Rechtsstreits hat der Gerichtshof festzustellen, ob die italienische Regelung, die die Nutzung eines bestimmten Produkts im italienischen Hoheitsgebiet untersagt, eine Maßnahme gleicher Wirkung wie eine mengenmäßige Einfuhrbeschränkung im Sinne von Art. 28 EG darstellt oder ob die Regelung, soweit sie die „Nutzungsmodalität“ einer Ware festlegt, nach den vom Gerichtshof im Urteil Keck und Mithouard aufgestellten Kriterien nicht in den Anwendungsbereich dieser Bestimmung fällt.
42. Diese Frage ist namentlich deshalb von Interesse, weil eine andere Rechtssache, die beim Gerichtshof anhängige Rechtssache Mickelsson und Roos, eine ähnliche Fragestellung aufwirft.
43. In jener Rechtssache wird dem Gerichtshof die Frage gestellt, ob die Art. 28 EG und 30 EG einer schwedischen Regelung entgegenstehen, die die Nutzung von Wassermotorrädern auf bestimmten Wasserwegen einschränkt. Jene Regelung unterscheidet sich von der hier in Rede stehenden Maßnahme insofern, als sie die Nutzung eines Produkts beschränkt, nicht aber schlichtweg untersagt, wie dies durch die italienische Regelung geschieht.
44. In den Schlussanträgen in der genannten Rechtssache schlägt Generalanwältin Kokott vor, analog zu den „Verkaufsmodalitäten“ die „Nutzungsmodalitäten“ einer Ware vom Anwendungsbereich des Art. 28 EG auszunehmen, wenn u. a. die Voraussetzungen erfüllt sind, die der Gerichtshof im Urteil Keck und Mithouard aufgestellt hat(18).
45. Generalanwältin Kokott führt dort aus, dass die nationalen Rechtsvorschriften über die Nutzungsmodalitäten der Produkte und jene über deren Verkaufsmodalitäten im Hinblick auf die Art und Intensität ihrer Auswirkungen auf den Warenverkehr vergleichbar seien. Die Vorschriften bezweckten normalerweise keine Regelung des Warenverkehrs zwischen den Mitgliedstaaten. Sie griffen im Grundsatz erst nach der Einfuhr des Produkts ein und wirkten sich nur mittelbar auf seinen Absatz aus. Es sei daher konsequent, das Urteil Keck und Mithouard auf die Maßnahmen, die die Nutzung der Waren regelten, zu erstrecken und diese damit aus dem Anwendungsbereich des Art. 28 EG herauszunehmen(19).
46. Gleichwohl ersucht Generalanwältin Kokott den Gerichtshof, die im Urteil Keck und Mithouard aufgestellten Voraussetzungen zu verfeinern und zu ergänzen, und schlägt vor, die nationalen Rechtsvorschriften, die die Nutzung eines Produkts verbieten oder nur marginal gestatten, in den Anwendungsbereich des Art. 28 EG fallen zu lassen, „sofern sie den Marktzugang für das Erzeugnis (quasi) versperren“(20).
47. Vor diesem Hintergrund scheint mir nunmehr wichtig zu sein, in groben Zügen die Rechtsprechung zum freien Warenverkehr darzustellen.
1. Die Rechtsprechung zum Grundsatz des freien Warenverkehrs
48. Der freie Warenverkehr zwischen den Mitgliedstaaten ist einer der tragenden Grundsätze der Gemeinschaft(21).
49. So bestimmt Art. 3 Buchst. b EG, der im Ersten Teil des Vertrags (Grundsätze) enthalten ist, dass die Tätigkeit der Gemeinschaft im Sinne von Art. 2 EG einen Binnenmarkt umfasst, der durch die Beseitigung der Hindernisse insbesondere für den freien Warenverkehr zwischen den Mitgliedstaaten gekennzeichnet ist.
50. Ferner sieht Art. 14 Abs. 2 EG vor, dass der Binnenmarkt einen Raum ohne Binnengrenzen umfasst, in dem der freie Verkehr von Waren gemäß den Bestimmungen des Vertrags gewährleistet ist.
51. Dieser tragende Grundsatz wird insbesondere durch Art. 28 EG ins Werk gesetzt.
52. Die Bestimmung sieht bekanntlich vor, dass mengenmäßige Einfuhrbeschränkungen sowie alle Maßnahmen gleicher Wirkung zwischen den Mitgliedstaaten verboten sind.
53. Seit dem Urteil vom 11. Juli 1974, Dassonville(22), bedeutet diese Bestimmung nach ständiger Rechtsprechung, dass „jede Handelsregelung der Mitgliedstaaten, die geeignet ist, den innergemeinschaftlichen Handel unmittelbar oder mittelbar, tatsächlich oder potenziell zu behindern“(23), beseitigt werden soll.
54. Zudem hat der Gerichtshof im Urteil vom 20. Februar 1979, Rewe‑Zentral, „Cassis de Dijon“(24), ausdrücklich bejaht, dass in Ermangelung einer Harmonisierung der innerstaatlichen Rechtsvorschriften Maßnahmen, die unterschiedslos auf inländische Produkte und auf aus anderen Mitgliedstaaten eingeführte Produkte anwendbar seien, auch Beschränkungen des freien Warenverkehrs darstellen könnten(25).
55. Nach Auffassung des Gerichtshofs können diese Beschränkungen gleichwohl durch einen der in Art. 30 EG genannten Gründe oder durch ein in seiner Rechtsprechung anerkanntes zwingendes Erfordernis gerechtfertigt sein(26), sofern in beiden Fällen die Maßnahmen geeignet sind, die Verwirklichung des verfolgten Zieles zu gewährleisten, und nicht über das hinausgehen, was zur Erreichung dieses Zieles erforderlich ist(27).
56. Der Gerichtshof hat in seinem Urteil Dassonville den Begriff der Maßnahme gleicher Wirkung sehr weit ausgelegt(28). Nach dieser Rechtsprechung nämlich kommt es, auch wenn eine Maßnahme keine Regelung des Warenverkehrs zwischen den Mitgliedstaaten bezweckt, für den Gemeinschaftsrichter darauf an, welche Wirkungen die Maßnahme auf den innergemeinschaftlichen Handel hat, gleichgültig, ob es sich um tatsächliche oder potenzielle Wirkungen handelt. Durch diese Auslegung konnten unter dem Gesichtspunkt des Art. 28 EG tatsächlich alle Formen von Wirtschaftsprotektionismus der Mitgliedstaaten erfasst werden, da alle nationalen Regelungen, die beschränkende Wirkungen auf den Handel haben können, selbst jene, die keinerlei Bezug zu den Einfuhren aufweisen, vom Gerichtshof geprüft werden konnten.
57. Um die seiner Auffassung nach allzu häufige Anwendung des Art. 28 EG einzuschränken und einen zu weitgehenden Eingriff in die Regelungsbefugnisse der Mitgliedstaaten zu vermeiden, folgte der Gerichtshof einem neuen Ansatz, indem er die Reichweite der Vorschrift einschränkte.
58. Zunächst versuchte er, bestimmte nationale Regelungen, die ein im Allgemeininteresse liegendes Ziel verfolgten und mit einer Geschäftstätigkeit in keinem Zusammenhang standen, vom Anwendungsbereich von Art. 28 EG auszunehmen.
59. So hat der Gerichtshof im Urteil vom 14. Juli 1981, Oebel(29), festgestellt, dass eine innerstaatliche Regelung über die Nachtarbeit in Bäckereien und Konditoreien eine berechtigte wirtschafts- und sozialpolitische Entscheidung darstelle, die den im allgemeinen Interesse liegenden Zielen des Vertrags entspreche. Eine solche Regelung, „die … nach objektiven Kriterien auf sämtliche im Inland ansässigen Unternehmen eines bestimmten Sektors Anwendung findet, ohne irgendeine unterschiedliche Behandlung aus Gründen der Staatsangehörigkeit der Wirtschaftsteilnehmer vorzunehmen und ohne zwischen dem Binnen- und dem Außenhandel des betroffenen Staats zu unterscheiden“, bewirke keine Beschränkungen der Handelsströme zwischen den Mitgliedstaaten und stelle somit offensichtlich keine gegen Art. 28 EG verstoßende Maßnahme gleicher Wirkung dar(30).
60. Im Urteil vom 31. März 1982, Blesgen(31), hat der Gerichtshof die Auffassung vertreten, dass eine Regelung, die den Genuss, den Verkauf und das Angebot alkoholischer Getränke an öffentlichen Orten verbiete, nicht gegen Art. 28 EG verstoße, da eine derartige Regelung, die in keinem Zusammenhang mit der Einfuhr der Produkte stehe, nicht geeignet sei, den Handel zwischen den Mitgliedstaaten zu beeinträchtigen. Die Maßnahme bewirke keinerlei Unterscheidung der Produkte nach ihrer Art oder Herkunft und habe keinen Einfluss auf andere Formen des Vertriebs dieser alkoholischen Getränke. In Bezug auf die beschränkenden Wirkungen hat der Gerichtshof festgestellt, dass diese den Rahmen der solchen Handelsregelungen eigentümlichen Wirkungen nicht überschritten(32).
61. Dann hat sich der Gerichtshof entschlossen, seine Rechtsprechung zu überdenken. Das Urteil Keck und Mithouard markiert einen Wendepunkt in seiner Auslegung. Der Gerichtshof hielt es für notwendig, seine Rechtsprechung auf diesem Gebiet zu überprüfen und klarzustellen, „[d]a sich die Wirtschaftsteilnehmer immer häufiger auf Artikel [28 EG] berufen, um jedwede Regelung zu beanstanden, die sich als Beschränkung ihrer geschäftlichen Freiheit auswirkt, auch wenn sie nicht auf Erzeugnisse aus anderen Mitgliedstaaten gerichtet ist“(33).
62. Die genannte Rechtssache betraf eine französische Rechtsvorschrift, die den Weiterverkauf zum Verlustpreis verbot. Der Gerichtshof räumte zwar ein, dass diese Rechtsvorschrift das Volumen des Absatzes von eingeführten Erzeugnissen dadurch beschränken könne, dass sie den Wirtschaftsteilnehmern eine Methode der Absatzförderung nehme. Er hielt es jedoch für fraglich, „ob diese Möglichkeit ausreicht, um die in Rede stehenden Rechtsvorschriften als eine Maßnahme mit gleicher Wirkung wie eine mengenmäßige Einfuhrbeschränkung [im Sinne von Art. 28 EG] anzusehen“(34).
63. Um diese Frage zu beantworten, unterschied der Gerichtshof zwischen zwei Kategorien von Regelungen, nämlich den Regelungen, die die Anforderungen festlegen, die die Waren erfüllen müssen, und den Regelungen, die bestimmte Verkaufsmodalitäten beschränken oder verbieten. Für jede dieser beiden Kategorien sah der Gerichtshof jeweils ein unterschiedliches Prüfungssystem vor.
64. Die erste Kategorie betrifft die Regelungen insbesondere über die Bezeichnung, die Form, das Gewicht und die Abmessungen des Produkts sowie über seine Zusammensetzung, Aufmachung, Etikettierung und Verpackung, die von den im Ursprungsmitgliedstaat geforderten Regelungen abweichen(35).
65. Für diesen Fall hielt der Gerichtshof an der bisherigen Rechtsprechung fest, die er im Urteil Cassis de Dijon entwickelt hatte, der zufolge die genannten Regelungen, selbst dann, wenn sie unterschiedslos für alle Erzeugnisse gelten, in den Anwendungsbereich des Art. 28 EG fallen(36).
66. Die Beeinträchtigung des Handels nämlich rührt von der Verpflichtung her, die Waren aus den anderen Mitgliedstaaten den im Vermarktungsmitgliedstaat geltenden Anforderungen anzupassen. Durch die Verpflichtung etwa, das Produkt umzupacken oder seine Zusammensetzung zu ändern, führt eine solche Regelung für den Importeur zu zusätzlichen Kosten und Schwierigkeiten.
67. Die zweite Kategorie betrifft die Regelungen, die „bestimmte Verkaufsmodalitäten“ beschränken oder verbieten. Der Gerichtshof hat diesen Begriff nicht definiert. Was möglich ist, ist jedoch eine – nicht abschließende – Bestandsaufnahme der Verkaufsmodalitäten anhand der Rechtsprechung des Gerichtshofs. Neben dem im Urteil Keck und Mithouard erwähnten Verbot des Weiterverkaufs zum Verlustpreis hat der Gerichtshof als „Verkaufsmodalitäten“ Regelungen angesehen, die bestimmte Formen der Absatzförderung beschränken, wie die Verbote der Fernsehwerbung, die in einem Sektor erfolgt oder für eine bestimmte Öffentlichkeit bestimmt ist(37), oder auch Regelungen, die den Verkauf bestimmter Erzeugnisse bestimmten Stellen vorbehalten(38) oder z. B. die Geschäftsöffnungszeiten regeln(39).
68. Wenn keine unmittelbare oder verschleierte Diskriminierung zugunsten der innerstaatlichen Industrie vorliegt, fallen diese Regelungen seither nicht mehr in den Anwendungsbereich des Art. 28 EG.
69. Wie festzustellen ist, betreffen diese Maßnahmen die Ausübung der kommerziellen Tätigkeit als solche. Sie sind allgemeiner Art, und ihre Auswirkungen auf die Vermarktung der aus anderen Mitgliedstaaten stammenden Erzeugnisse unterscheiden sich nicht von den Auswirkungen auf die Vermarktung der inländischen Erzeugnisse. Die Regelungen sind nicht geeignet, den Marktzugang für das betreffende Erzeugnis unmittelbar zu beeinflussen. Gleichwohl können sie sich mittelbar auf die Einfuhren auswirken, da sie tatsächlich zu einem Sinken der Umsätze führen können.
70. Entgegen seiner früheren Rechtsprechung hat der Gerichtshof somit die Auffassung vertreten, dass die genannten Regelungen keine Maßnahmen gleicher Wirkung im Sinne des Art. 28 EG seien, soweit sie „für alle betroffenen Wirtschaftsteilnehmer gelten, die ihre Tätigkeit im Inland ausüben“, und soweit „sie den Absatz der inländischen Erzeugnisse und der Erzeugnisse aus anderen Mitgliedstaaten rechtlich wie tatsächlich in der gleichen Weise berühren“(40).
71. Der Gerichtshof hat dann klargestellt, dass, wenn diese Voraussetzungen erfüllt seien, „die Anwendung derartiger Regelungen auf den Verkauf von Erzeugnissen aus einem anderen Mitgliedstaat, die den von diesem Staat aufgestellten Bestimmungen entsprechen, nicht geeignet [ist], den Marktzugang für diese Erzeugnisse zu versperren oder stärker zu behindern, als sie dies für inländische Erzeugnisse tut“(41).
72. Was ist der Grund für die Unterscheidung, die der Gerichtshof zwischen den beiden genannten Regelungskategorien vornimmt?
73. Die Erzeugnisse müssen mit der ihnen eigenen Zusammensetzung, Bezeichnung, Form, Etikettierung und Verpackung grundsätzlich in alle Mitgliedstaaten ausgeführt werden können, soweit sie insoweit den Vorschriften ihres Ursprungsstaats entsprechen. Die Anwendung der Rechtsvorschriften des Einfuhrstaats ist nur rechtmäßig, wenn sie durch einen im Allgemeininteresse liegenden höheren Grund gerechtfertigt werden kann. Es geht darum, für die Erzeugnisse den Zugang zum Markt des Einfuhrmitgliedstaats nicht mehr als erforderlich zu erschweren und folglich zu verhindern, dass die inländische Industrie geschützt wird.
74. Dagegen dürfen die Erzeugnisse von dem Augenblick an, in dem sie als solche Zugang zum Markt des Einfuhrmitgliedstaats haben, den „Vermarktungsvorschriften“ unterworfen werden, die in jenem Staat in Kraft sind. Insoweit müssen sie den inländischen Erzeugnissen gleichgestellt sein.
75. Die Einführung einer solchen Unterscheidung geht meines Erachtens auf das Bemühen zurück, eine ausgewogene Rechtslage herzustellen. Die Prüfung der Rechtsprechung des Gerichtshofs offenbart einen latenten Konflikt zwischen einerseits dem Willen des Gemeinschaftsrichters, der Bestimmung des Art. 28 EG die Rolle einer „Sicherheitsbarriere“ gegenüber den verschiedenen Formen von Wirtschaftsprotektionismus der Mitgliedstaaten zu verleihen, und andererseits dem deutlichen Bestreben des Gerichtshofs, in bestimmte Bereiche der Innenpolitik dieser Staaten nicht einzudringen.
76. Insoweit liegt die vorliegende Rechtssache im Mittelpunkt dieser Problematik.
77. Das Urteil Keck und Mithouard rief Ratlosigkeit hervor. Vielfach wurden die in ihm enthaltenen Widersprüche, seine mangelnde Begründung und fehlende Klarheit bedauert(42). Die Anwendung der in diesem Urteil aufgestellten Kriterien zog zahlreiche Auslegungsschwierigkeiten nach sich, denen sich der Gerichtshof ausgesetzt sah und die nur von Fall zu Fall gelöst werden konnten.
78. Ich werde diese Rechtsprechung insbesondere unter zwei Aspekten kritisieren.
79. Erstens bin ich der Ansicht, wie andere vor mir auch, dass eine Unterscheidung zwischen verschiedenen Kategorien von Maßnahmen nicht sachgerecht ist(43).
80. Denn es ist zwar legitim, dass der Gerichtshof Vermutungen über die Auswirkungen aufstellt, die unterschiedliche Kategorien von Maßnahmen auf den Markt haben, doch kann eine Beschränkung auch von anderen Faktoren abhängig sein, wie z. B. von der Art der Anwendung der betreffenden Regelung und deren konkreten Auswirkungen auf den Handel.
81. Die Unterscheidung, die der Gerichtshof trifft, kann somit künstlich, und die Grenzlinie zwischen den verschiedenen Kategorien kann unsicher sein(44). In bestimmten Fällen wertet der Gerichtshof Regelungen über die Merkmale der Erzeugnisse als „Verkaufsmodalitäten“(45). In anderen Fällen behandelt er Maßnahmen über die Verkaufsmodalitäten einer Ware als Vorschriften über die Produktmerkmale. Dies ist insbesondere der Fall bei Maßnahmen, mit denen die Werbung geregelt wird, wenn die Maßnahmen Auswirkungen auf die Verpackung des Produkts haben(46). Schließlich kann es vorkommen, dass der Gerichtshof von dieser Unterscheidung absieht, um eine Prüfung vorzunehmen, die allein auf die Wirkungen der Regelung gestützt wird(47). Diese Beispiele belegen die Schwierigkeiten, denen der Gerichtshof bei der Bewertung bestimmter Maßnahmen begegnen kann. Es ist daher meines Erachtens schwierig, sich anhand von Kategorien zu orientieren, wo doch in der Praxis die nationalen Gerichte und der Gemeinschaftsrichter auf sehr unterschiedliche Regelungen treffen können, die sie im Hinblick auf die Umstände jedes einzelnen Falls beurteilen müssen.
82. Zweitens führte diese Rechtsprechung durch Aufstellung neuer Kriterien und Einführung eines je nach Art der Maßnahme unterschiedlichen Prüfungssystems dazu, dass die Beschränkungen des freien Warenverkehrs im Vergleich zu dem für die sonstigen Verkehrsfreiheiten geltenden System unterschiedlich beurteilt wurden(48).
83. Wie wir sehen werden, ist der Art, wie die Beschränkungen der verschiedenen Freiheiten beurteilt werden, gemeinsam, dass ihr ein einziges Kriterium zugrunde liegt, nämlich das des Marktzugangs. Würde man nun einem anderen Ansatz im Bereich des freien Warenverkehrs folgen, so wäre dies mit den Erfordernissen, die mit der Schaffung eines europäischen Binnenmarkts und dem Entstehen einer Unionsbürgerschaft verbunden sind, nicht zu vereinbaren.
84. Aufgrund der vorstehenden Erwägungen scheint mir daher, dass die vom Gerichtshof im Urteil Keck und Mithouard aufgestellten Kriterien es nicht ermöglicht haben, den Anwendungsbereich des Art. 28 EG klarzustellen und seine Durchführung zu erleichtern.
85. Wie Generalanwalt Poiares Maduro bin ich jedoch nicht der Ansicht, dass es heute angebracht wäre, von dieser Rechtsprechung abzurücken(49).
86. Auch meine ich nicht, dass diese Rechtsprechung auf die Regelungen auszudehnen wäre, die sich, wie die im Ausgangsverfahren in Frage stehende, auf die „Nutzungsmodalitäten“ der Produkte beziehen.
2. Die Gründe, weshalb ich eine Erstreckung der Rechtsprechung im Urteil Keck und Mithouard auf die Maßnahmen, die die Nutzungsmodalitäten regeln, nicht befürworte
87. Eine Erstreckung der Rechtsprechung im Urteil Keck und Mithouard auf die Regelungen über die Nutzungsmodalitäten der Produkte würde eine Reihe von Nachteilen mit sich bringen, obwohl das „herkömmliche Prüfungsschema“ des Gerichtshofs, wie es scheint, völlig zufriedenstellend ist.
88. Erstens würde diese Lösung darauf hinauslaufen, dass für die Anwendung des Art. 28 EG eine neue Kategorie von Ausnahmen eingeführt wird. Eine solche Lösung befürworte ich nicht, und dies aus folgenden Gründen.
89. Zum einen bin ich nicht sicher, ob die Gründe, die den Gerichtshof dazu veranlassten, die Regelungen über die Verkaufsmodalitäten der Produkte vom Anwendungsbereich des Art. 28 EG auszunehmen, auch bei den Maßnahmen gelten, die die Nutzungsmodalitäten der Produkte regeln. Wenn ich mich nicht irre, waren die gegen diese Art von Maßnahmen erhobenen Klagen, mit denen der Gerichtshof befasst war, nicht sehr zahlreich.
90. Zum anderen ist, wie bereits ausgeführt, eine Unterscheidung zwischen verschiedenen Kategorien von Regelungen nicht sachgerecht. Ein solches Vorgehen ist gekünstelt und kann bei den nationalen Gerichten zu Unsicherheiten führen.
91. Wollte man schließlich die nationalen Maßnahmen, die nicht nur die Verkaufsmodalitäten der Waren, sondern auch deren Nutzungsmodalitäten regeln, vom Anwendungsbereich des Art. 28 EG ausnehmen, so wäre dies mit den Zielen des Vertrags, nämlich der Schaffung eines einheitlichen Binnenmarkts, unvereinbar. Eine derartige Lösung würde die praktische Wirksamkeit des Art. 28 EG beeinträchtigen, da die Mitgliedstaaten erneut die Möglichkeit erhielten, Rechtsvorschriften in Bereichen zu erlassen, die der Gemeinschaftsgesetzgeber gerade „vergemeinschaften“ wollte. Dies ist aber nicht die Richtung, die der Aufbau Europas und die Schaffung eines europäischen Binnenmarkts nehmen sollen. Denn ein Produkt muss im Gemeinsamen Markt ungehindert zirkulieren können, und inländische Maßnahmen, die im innergemeinschaftlichen Handel irgendein Hindernis errichten, müssen von den Mitgliedstaaten gerechtfertigt werden können.
92. Zweitens besteht meines Erachtens kein Interesse daran, die Kontrolle des Gerichtshofs über Maßnahmen zu beschränken, die tatsächlich ein erhebliches Hindernis für den innergemeinschaftlichen Handel darstellen können.
93. Die gerichtliche Kontrolle, die der Gerichtshof nach dem in den Urteilen Dassonville und Cassis de Dijon definierten „herkömmlichen Prüfungsschema“ ausübt, ist meines Erachtens völlig zufriedenstellend, und ich sehe keinen Grund, hiervon abzuweichen.
94. Dieses Prüfungsschema ermöglicht nicht nur dem Gerichtshof, die Einhaltung der Vertragsbestimmungen durch die Mitgliedstaaten zu überwachen, sondern schafft Letzteren auch den erforderlichen Handlungsspielraum für die berechtigte Wahrnehmung ihrer Interessen.
95. Um zu verhindern, dass die Liberalisierung des Handels die Verfolgung anderer Allgemeininteressen beeinträchtigt, haben nämlich der Gemeinschaftsgesetzgeber einerseits und der Gerichtshof durch seine Rechtsprechung andererseits Ausnahmen vom Grundsatz des freien Warenverkehrs vorgesehen(50).
96. Art. 30 EG nennt daher in einer Liste Rechtfertigungen, auf die sich die Mitgliedstaaten für die Einführung von Beschränkungen des freien Warenverkehrs berufen können. Diese Liste ist abschließend und eng auszulegen(51).
97. Parallel hierzu hat der Gerichtshof in seiner Rechtsprechung „zwingende Erfordernisse des Allgemeininteresses“ definiert, zu denen der Umweltschutz oder auch der Verbraucherschutz zählen(52). So kann mangels gemeinschaftsweiter Harmonisierung eine nationale Maßnahme zum Schutz der Umwelt ein „zwingendes Erfordernis“ sein, das im Sinne des Urteils Cassis de Dijon geeignet ist, die Anwendung des Art. 28 EG zu beschränken.
98. Dass der Gesetzgeber und der Gemeinschaftsrichter Fälle anerkennen, in denen es legitim sein kann, den freien Warenverkehr zu beschränken, gibt den Mitgliedstaaten deshalb jedoch keinen „Freibrief“. Selbst wenn nämlich die Maßnahmen der Mitgliedstaaten aus Gründen des Allgemeininteresses gerechtfertigt werden können, müssen sie gleichwohl erforderlich und verhältnismäßig sein(53).
99. Auch gibt das genannte Prüfungsschema dem Gerichtshof die Möglichkeit, sämtliche Maßnahmen der Mitgliedstaaten gerichtlich zu kontrollieren.
100. Diese Kontrolle ist erforderlich. Es muss sichergestellt werden, dass die Mitgliedstaaten berücksichtigen, inwieweit die von ihnen erlassenen Vorschriften den freien Warenverkehr und die Nutzung der Verkehrsfreiheiten durch die Marktteilnehmer beeinträchtigen können. Es muss auch vermieden werden, dass die nationalen Gerichte zu viele Maßnahmen von dem nach dieser Vorschrift angeordneten Verbot ausnehmen müssen. Der Begriff der Beschränkung ist daher in einem weiten Sinne zu verstehen.
101. Gleichzeitig muss die gerichtliche Kontrolle begrenzt bleiben, da die Aufgabe des Gerichtshofs nicht darin besteht, systematisch die polizeilichen Maßnahmen in Frage zu stellen, die die Mitgliedstaaten erlassen könnten. Die Verhältnismäßigkeitsprüfung ermöglicht dem Gerichtshof, eine Interessenabwägung zwischen den Erwägungen der Verwirklichung des Binnenmarktes einerseits und dem Schutz der berechtigten Interessen der Mitgliedstaaten andererseits vorzunehmen(54).
102. Nach alledem sehe ich daher keinen Grund, dieses Prüfungsschema zugunsten einer Lösung aufzugeben, die letztlich die Kernvorschriften des Vertrags teilweise ihres Inhalts entleeren würde.
103. Drittens kann meines Erachtens die Rechtsprechung im Urteil Keck und Mithouard weder auf eine Regelung erstreckt werden, die die Nutzung eines Produkts verbietet, noch auf eine Regelung, die die Nutzungsmodalitäten des Produkts festlegt.
104. Denn die Regelung, um die es in der vorliegenden Rechtssache geht, stellt insoweit, als sie die Nutzung eines Produkts schlichtweg verbietet und diesem damit jeden Nutzen nimmt, naturgemäß eine Beeinträchtigung des freien Warenverkehrs dar. Selbst wenn diese Regelung in gleicher Weise auf inländische wie auf eingeführte Produkte Anwendung findet, hindert sie Letztere am Marktzugang. Dies ist eindeutig eine Beschränkung und gebietet eine Prüfung des Verhältnisses zwischen den Art. 28 EG und 30 EG.
105. So verhält es sich auch bei den Maßnahmen, die die Nutzungsmodalitäten eines Produkts festlegen. Selbst wenn diese Maßnahmen grundsätzlich nicht die Regelung des Warenverkehrs zwischen den Mitgliedstaaten bezwecken, können sie doch Auswirkungen auf den innergemeinschaftlichen Handel dadurch haben, dass sie den Marktzugang für das betreffende Produkt behindern. Daher sollte diese Art von Maßnahmen im Hinblick auf die Vorschriften des Vertrags geprüft, nicht aber aus dem Anwendungsbereich des Vertrags herausgenommen werden.
106. Nach alledem bin ich daher der Auffassung, dass die nationalen Bestimmungen, die die Nutzung eines Produkts regeln, nicht im Hinblick auf die vom Gerichtshof im Urteil Keck und Mithouard aufgestellten Kriterien zu beurteilen sind, sondern im Licht des Art. 28 EG geprüft werden müssen.
107. Die Prüfung, die der Gemeinschaftsrichter vorzunehmen hat, müsste meines Erachtens auf der Grundlage eines Kriteriums erfolgen, das unter Berücksichtigung des von Art. 28 EG verfolgten Zwecks formuliert wird und allen Beschränkungen der Verkehrsfreiheiten gemeinsam ist, also des Kriteriums des Marktzugangs(55).
3. Gerichtliche Kontrolle anhand des Kriteriums des Marktzugangs
108. Nach Art. 28 EG verbietet der Vertrag „Maßnahmen gleicher Wirkung“ zwischen den Mitgliedstaaten(56). Im Rahmen der gerichtlichen Kontrolle einer nationalen Regelung entspräche es daher eher dem Wortlaut und dem Zweck des Vertrags, die Auswirkungen dieser Regelung auf den Markt konkret zu beurteilen.
109. Das Kriterium, das ich vorschlage, wäre somit ein allgemeines Kriterium, das mehr auf die Wirkung, die die Maßnahme auf den Marktzugang hat, als auf den Gegenstand der betreffenden Regelung abstellt. Es würde somit für alle Arten von Regelungen unabhängig davon gelten, ob es sich um Anforderungen an Produktmerkmale, um Verkaufsmodalitäten oder um Nutzungsmodalitäten handelt.
110. Ausgangspunkt des genannten Kriteriums wäre die Frage, inwieweit eine nationale Regelung den Handel zwischen den Mitgliedstaaten behindert(57).
111. Nach diesem Kriterium wäre eine nationale Regelung eine gegen den Vertrag verstoßende Maßnahme mit gleicher Wirkung wie eine mengenmäßige Beschränkung, wenn sie für die aus anderen Mitgliedstaaten stammenden Produkte den Marktzugang versperrt, behindert oder erschwert.
112. Angesichts dieses Kriteriums müssten die Mitgliedstaaten die Maßnahmen, die den innergemeinschaftlichen Handel behindern, lediglich rechtfertigen. Damit könnte ein sachgerechteres Gleichgewicht gefunden werden zwischen den Erfordernissen des ordnungsgemäßen Funktionierens des Gemeinsamen Marktes und den Erfordernissen der gebotenen Achtung der hoheitlichen Befugnisse der Mitgliedstaaten.
113. Was die Anwendung dieses Kriteriums angeht, bin ich wie die Kommission der Auffassung, dass der Gemeinschaftsrichter eine Einzelfallprüfung vornehmen sollte. Im Rahmen dieser Kontrolle würde der Gerichtshof konkret den Umfang des Hemmnisses für den innergemeinschaftlichen Handel prüfen, das durch die den Marktzugang beschränkende Maßnahme verursacht wird.
114. Eine Untersuchung der Rechtsprechung des Gerichtshofs gibt uns einige Hinweise für die Anwendung des Kriteriums.
115. Was zunächst die Maßnahmen angeht, die offen diskriminieren, liegt die Beeinträchtigung des innergemeinschaftlichen Handels auf der Hand. Derartige Maßnahmen sind für sich genommen durch Art. 28 EG verboten.
116. Was sodann die sonstigen Kategorien von Maßnahmen angeht, müssen deren konkrete Auswirkungen auf die Handelsströme geprüft werden, doch sollte die vom Gemeinschaftsrichter vorzunehmende Untersuchung nicht zu einer komplexen wirtschaftlichen Beurteilung führen. Nach Auffassung des Gerichtshofs nämlich differenziert Art. 28 EG unter den Maßnahmen, die als Maßnahmen mit gleicher Wirkung wie eine mengenmäßige Beschränkung zu qualifizieren sind, nicht nach der Intensität ihrer Auswirkungen auf den Handel in der Gemeinschaft(58).
117. Der Gerichtshof muss jedoch über ausreichende Angaben verfügen, die ihm die Feststellung erlauben, dass die Maßnahmen geeignet sind, den Handel zwischen den Mitgliedstaaten zu behindern oder zu stören. Nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs reichen Wirkungen, die nur hypothetisch(59) oder völlig ungewiss und von nur mittelbarer Bedeutung(60) oder einfach nur unbedeutend(61) sind, nicht aus, um die Maßnahmen als gegen Art. 28 EG verstoßende Maßnahmen mit gleicher Wirkung wie eine mengenmäßige Beschränkung zu qualifizieren. Diese Beeinträchtigung braucht somit nicht gegenwärtig oder erheblich zu sein, sie muss aber zumindest möglich sein. Dies wird z. B. bei den unterschiedslos anwendbaren Maßnahmen der Fall sein, die die Anforderungen an die Produktmerkmale festsetzen.
118. Die Verwendung eines einzigen und einfachen Kriteriums, das auf den Marktzugang bezogen ist, gäbe die Möglichkeit, die Prüfungsschemata für die Beschränkungen an die verschiedenen Verkehrsfreiheiten anzugleichen. Wie ausgeführt, führten die von der Rechtsprechung im Urteil Keck und Mithouard entwickelten Kriterien dazu, dass die Beschränkungen des freien Warenverkehrs im Vergleich zu denen der sonstigen Freiheiten unterschiedlich beurteilt wurden. Ein den verschiedenen Freiheiten gemeinsamer Ansatz ist jedoch vor allem angesichts der Erfordernisse geboten, die mit der Schaffung des europäischen Binnenmarkts und dem Entstehen einer Unionsbürgerschaft verbunden sind.
119. Selbstverständlich entsprechen sich die Freiheit des Warenverkehrs, die Freizügigkeit, die Dienstleistungsfreiheit und die Freiheit des Kapitalverkehrs nicht völlig. Den Beurteilungen der Beschränkungen dieser verschiedenen Freiheiten ist jedoch gemeinsam, dass sie sich auf das Vorliegen einer Behinderung des Marktzugangs stützen.
120. Im Bereich der Freizügigkeit, der Dienstleistungsfreiheit und der Freiheit des Kapitalverkehrs prüft der Gerichtshof, ob die streitige Maßnahme die Ausübung der betreffenden Freiheit verbietet, behindert oder weniger attraktiv macht, und er stellt fest, dass eine Regelung gegen den Vertag verstößt, die z. B. den Zugang eines Arbeitnehmers zum Arbeitsmarkt beeinträchtigt oder den Zugang von Kapital zum Finanzmarkt verhindert.
121. Der Gerichtshof hat hieran kürzlich im Urteil Gouvernement de la Communauté française und Gouvernement wallon erinnert, in dem er klargestellt hat, dass „die Art. 39 EG und 43 EG jeder nationalen Maßnahme [entgegenstehen], die, auch wenn sie ohne Diskriminierung aus Gründen der Staatsangehörigkeit anwendbar ist, geeignet ist, die Ausübung der durch den Vertrag garantierten Grundfreiheiten durch die Gemeinschaftsangehörigen zu behindern oder weniger attraktiv zu machen“(62).
122. Zu diesen Maßnahmen gehören diejenigen, die, obwohl sie unterschiedslos anwendbar sind, eine Modalität der Ausübung der betreffenden Tätigkeit beeinträchtigen und einem Wirtschaftsteilnehmer ein wirksames Wettbewerbsmittel für den Zugang zum Markt nehmen(63).
123. So hat der Gerichtshof im Urteil CaixaBank France festgestellt, dass die französische Rechtsvorschrift, die die Verzinsung von Einlagekonten verbot, eine Beschränkung im Sinne von Art. 43 EG sei, da sie für die in einem anderen Mitgliedstaat als der Französischen Republik niedergelassenen Gesellschaften ein „ernsthaftes Hindernis für die Ausübung ihrer Tätigkeiten“ darstelle, das ihren Zutritt zum französischen Markt beeinträchtige(64).
124. Was weiterhin die Dienstleistungsfreiheit angeht, so hat der Gerichtshof im Urteil Fidium Finanz(65) zu einer deutschen Regelung, die eine vorherige Erlaubnis in dem Mitgliedstaat vorschreibt, in dem die Dienstleistung erbracht wird, ebenfalls entschieden, dass die streitige Regelung bewirke, dass der Zugang zum deutschen Finanzmarkt für die Wirtschaftsteilnehmer, die nicht über die nach dem deutschen Gesetz erforderliche Eignung verfügten, insbesondere für die in Drittstaaten ansässigen Unternehmen, erschwert werde(66).
125. In demselben Urteil hat der Gerichtshof, auch wenn der Aspekt des freien Kapitalverkehrs dabei als untergeordnet galt, festgestellt, dass die genannte Regelung Finanzdienstleistungen, die von nicht im Europäischen Wirtschaftsraum ansässigen Unternehmen angeboten werden, für die in Deutschland ansässigen Kunden weniger leicht zugänglich mache und damit zu einer Verminderung der mit diesen Dienstleistungen zusammenhängenden grenzüberschreitenden Geldströme führe(67).
126. Zur Freizügigkeit der Arbeitnehmer schließlich hat der Gerichtshof im Urteil Graf(68) entschieden, dass auch eine unterschiedslos anwendbare Bestimmung, die einen Staatsangehörigen eines Mitgliedstaats daran hindere oder davon abhalte, sein Herkunftsland zu verlassen, um von seinem Recht auf Freizügigkeit Gebrauch zu machen, eine Beeinträchtigung dieser Freiheit darstelle. Insoweit hat der Gerichtshof darauf hingewiesen, dass „[d]ies … nur dann der Fall [ist], wenn [die betreffenden Maßnahmen] den Zugang der Arbeitnehmer zum Arbeitsmarkt beeinflussen“(69). So hatte der Gerichtshof bereits im Urteil Bosman(70) bezüglich einer Regelung entschieden, die den Transfer eines Berufsfußballers von einem Club zu einem anderen regelte(71).
127. Diese Regelungen sind Beschränkungen, die dem Vertrag zuwiderlaufen, weil sie durch die Behinderung des Zugangs neuer Wirtschaftsteilnehmer zum Markt objektiv Hemmnisse für die Verkehrsfreiheiten darstellen. Derartige Maßnahmen schreiben den bestehenden Marktzustand fest und verstoßen daher ihrer Natur nach gegen die Verkehrsfreiheiten und den freien Wettbewerb, auf denen der Gemeinsame Markt gerade beruht(72).
128. Im Bereich des freien Warenverkehrs liegt dem Denkansatz in der Rechtsprechung des Gerichtshofs das Kriterium des Marktzugangs zugrunde.
129. Im Urteil Dassonville hat der Gerichtshof eine Maßnahme gleicher Wirkung, wie erinnerlich, definiert als „jede Handelsregelung der Mitgliedstaaten, die geeignet ist, den innergemeinschaftlichen Handel … zu behindern“(73). Im Urteil Keck und Mithouard dann vertrat der Gerichtshof die Auffassung, dass nationale Bestimmungen, die bestimmte Verkaufsmodalitäten beschränkten oder verboten, nicht in den Anwendungsbereich von Art. 28 EG fielen, sofern sie nicht „geeignet [sind], den [Zugang zum Markt für die Erzeugnisse aus einem anderen Mitgliedstaat] zu versperren oder stärker zu behindern, als sie dies für inländische Erzeugnisse [tun]“(74). Durch Unterscheidung verschiedener Kategorien von Maßnahmen hat der Gerichtshof daher versucht, die Umstände zu ermitteln, unter denen die einzelnen Kategorien den Zugang zum Markt beeinträchtigen können(75).
130. Es gibt zahlreiche Beispiele aus der Rechtsprechung, denen in Wirklichkeit dieses Kriterium zugrunde liegt. Im Urteil Gourmet International Products(76) z. B. hat der Gerichtshof festgestellt, dass eine Regelung, die jede Verbreitung von Werbung für alkoholische Getränke verbiete, die sich an Verbraucher richte, ein unter den Anwendungsbereich des Art. 28 EG fallendes Hemmnis für den innergemeinschaftlichen Handelsverkehr darstelle, da sie geeignet sei, den Zugang zum Markt für die aus anderen Mitgliedstaaten stammenden Erzeugnisse stärker als den Zugang zum Markt für die inländischen Erzeugnisse zu behindern(77). Ebenso hat der Gerichtshof im Urteil De Agostini und TV‑Shop, das ein vollständiges Verbot der Fernsehwerbung betraf, die an Kinder gerichtet ist, entschieden, dass eine nationale Regelung, die dem Werbetreibenden die einzige Form der Absatzförderung nehme, um auf den relevanten Markt vordringen zu können, eine Maßnahme mit gleicher Wirkung wie eine mengenmäßige Beschränkung sein könne(78).
131. Wie Generalanwalt Tizzano in seinen Schlussanträgen in der Rechtssache CaixaBank France ausgeführt hat, ist somit der in der Rechtsprechung zum freien Warenverkehr angewandte Maßstab derselbe, der hinsichtlich der anderen Verkehrsfreiheiten angewandt wird(79).
132. Wird für alle Verkehrsfreiheiten ein identisches Kriterium angewandt, können diejenigen Fälle leichter gelöst werden, in denen Maßnahmen, die der Gerichtshof unter dem Gesichtspunkt des freien Warenverkehrs zu prüfen hat, auch als Beschränkungen der sonstigen Verkehrsfreiheiten qualifiziert werden können.
133. Der Gerichtshof prüft zwar diese Art von Maßnahmen meist im Hinblick auf nur eine der Grundfreiheiten(80), gelegentlich aber hat er festgestellt, dass der Aspekt des freien Warenverkehrs und beispielsweise der der Freizügigkeit eng miteinander verbunden seien, und daher die in Frage stehende Beschränkung zugleich im Hinblick auf Art. 28 EG und auf Art. 49 EG geprüft.
134. So hat der Gerichtshof im Urteil Canal Satélite Digital(81) festgestellt, dass eine Regelung, die das Inverkehrbringen bestimmter Anlagen sowie die Erbringung der damit verbundenen Dienstleistungen von einem vorherigen Genehmigungsverfahren abhängig mache, den Grundsätzen des freien Warenverkehrs und des freien Dienstleistungsverkehrs zuwiderlaufe, da sie wegen der Dauer des Verfahrens und der damit verbundenen Kosten geeignet sei, die fraglichen Wirtschaftsteilnehmer von der Weiterbetreibung ihres Vorhabens abzuhalten(82).
135. Darüber hinaus gibt es auch Fälle, in denen der Gerichtshof die im Urteil Keck und Mithouard herausgearbeiteten Kriterien auf den Bereich der übrigen Verkehrsfreiheiten entsprechend angewandt hat. Im Urteil Alpine Investments(83) über den freien Dienstleistungsverkehr hat der Gemeinschaftsrichter gerade den Umstand betont, dass das Verbot in jener Rechtssache im Unterschied zum Urteil Keck und Mithouard „den Zugang zum Dienstleistungsmarkt in den anderen Mitgliedstaaten [unmittelbar beeinflusst und] daher geeignet [ist], den innergemeinschaftlichen Dienstleistungsverkehr zu behindern“(84).
136. Aufgrund der vorstehenden Erwägungen bin ich der Auffassung, dass eine nationale Regelung geeignet ist, eine dem Vertrag zuwiderlaufende Maßnahme mit gleicher Wirkung wie eine mengenmäßige Beschränkung darzustellen, wenn sie den Marktzugang für ein Produkt behindert, und zwar unabhängig vom Gegenstand der betreffenden Maßnahme.
137. Die Frage des Gerichtshofs im Rahmen des vorliegenden Verfahrens ist daher meines Erachtens dahin zu beantworten, dass nationale Bestimmungen, die die Voraussetzungen regeln, unter denen eine Ware genutzt werden darf, und die unterschiedslos auf inländische und auf aus anderen Mitgliedstaaten eingeführte Produkte anwendbar sind, Maßnahmen mit gleicher Wirkung wie mengenmäßige Einfuhrbeschränkungen im Sinne von Art. 28 EG sind, sofern sie den Marktzugang für das betreffende Produkt behindern.
138. Angesichts all dessen werde ich untersuchen, ob die in Rede stehende Maßnahme mit dem von Art. 28 EG garantierten Grundsatz des freien Warenverkehrs im Einklang steht
V – Zur Vertragsverletzung
139. Wie erinnerlich, soll mit der Klage der Kommission festgestellt werden, dass die italienische Regelung ein vertragswidriges Hindernis für den freien Warenverkehr dadurch einführt, dass das Ziehen von Anhängern durch Kleinkrafträder, Krafträder, dreirädrige Kraftfahrzeuge und vierrädrige Kraftfahrzeuge verboten wird.
A – Wesentliches Vorbringen der Parteien(85)
140. Zunächst weist die Kommission darauf hin, dass in Ermangelung einer gemeinschaftsweiten Harmonisierung der Vorschriften für die Bauartgenehmigung, die Zulassung und den Verkehr von Anhängern für Kleinkrafträder die Art. 28 EG und 30 EG Anwendung fänden.
141. Die italienische Maßnahme verhindere die Verwendung von in den anderen Mitgliedstaaten rechtmäßig hergestellten und in Verkehr gebrachten Anhängern, was deren Einfuhr nach Italien und den Vertrieb in diesem Land behindere. Eine solche Maßnahme könne daher nur dann als mit dem Vertrag vereinbar betrachtet werden, wenn sie aus einem der in Art. 30 EG aufgeführten Gründe oder durch eines der in der Rechtsprechung des Gerichtshofs aufgestellten Erfordernisse gerechtfertigt sei.
142. Der Umstand, dass die Italienische Republik den Verkehr von in anderen Mitgliedstaaten zugelassenen Kleinkrafträdern in ihrem Gebiet erlaube, obwohl sie Anhänger zögen, beweise, dass die in Rede stehende Regelung keinem Erfordernis im Bereich der Sicherheit des Straßenverkehrs entspreche.
143. Schließlich seien die von der Italienischen Republik zur Stützung ihrer Rechtsvorschriften angeführten Begründungserwägungen der Richtlinien 93/93 und 97/24 nach ständiger Rechtsprechung nicht bindend und könnten nationale Regelungen der in der vorliegenden Rechtssache streitigen Art nicht mit dem Gemeinschaftsrecht vereinbar machen.
144. Auf dieses Vorbringen erwidert die Italienische Republik, dass die ihr zur Last gelegte Vertragsverletzung das Verbot des Ziehens von Anhängern durch in Italien zugelassene Kleinkrafträder und nicht die Versagung der Zulassung eines in einem anderen Mitgliedstaat hergestellten Kleinkraftrads und Anhängers betreffe, die dazu bestimmt seien, in Italien in den Verkehr gebracht zu werden.
145. Ferner ermächtige der in den letzten Begründungserwägungen der Richtlinien 93/93 und 97/24 aufgeführte Vorbehalt zum Erlass der streitigen Maßnahme. Ein solcher Vorbehalt sei mit der unterschiedlichen Geografie der Gebiete der Mitgliedstaaten zu erklären. Er könne nur dann aufgehoben werden, wenn die technischen Vorschriften über die Bauartgenehmigung, die Zulassung und den Straßenverkehr von Anhängern, die von zweirädrigen oder dreirädrigen Kraftfahrzeugen gezogen würden, harmonisiert würden(86). Das geltende Gemeinschaftsrecht sehe eine solche Harmonisierung jedoch nicht vor. Daher stehe die gegenseitige Anerkennung der Anhänger im Ermessen der Mitgliedstaaten.
146. Schließlich seien die technischen Merkmale der Fahrzeuge unter dem Gesichtspunkt der Sicherheit des Straßenverkehrs von Bedeutung. In Ermangelung von Normen über die Bauartgenehmigung für Fahrzeuge, die einen Anhänger zögen, seien die erforderlichen Sicherheitsvoraussetzungen nicht erfüllt.
B – Würdigung
147. Vorab ist darauf hinzuweisen, dass das Gemeinschaftsrecht keine Bestimmungen über Verhaltens- und Verkehrsregeln enthält, insbesondere nicht solche für Fahrzeuge mit Anhängern.
148. In Ermangelung von Harmonisierungsvorschriften auf Gemeinschaftsebene können die Mitgliedstaaten somit das Schutzniveau für die Sicherheit im Straßenverkehr, das sie auf ihrem Gebiet für sachgerecht halten, bestimmen und die Maßnahmen zum Schutz der öffentlichen Sicherheit erlassen. Sie können daher Beschränkungen für die Nutzung von Anhängern vorsehen.
149. Diese Zuständigkeit kann jedoch nicht unbeschränkt wahrgenommen werden.
150. In Ermangelung gemeinsamer oder harmonisierter Regelungen bleiben die Mitgliedstaaten verpflichtet, die im Vertrag verankerten Grundfreiheiten zu achten, zu denen, wie erinnerlich, die Freiheit des Warenverkehrs zählt(87). Wie dargelegt, gewährleistet diese Freiheit gemäß Art. 28 EG, dass mengenmäßige Einfuhrbeschränkungen sowie alle Maßnahmen gleicher Wirkung zwischen den Mitgliedstaaten verboten sind.
151. Die Definition, die der Gerichtshof dem Begriff Maßnahme gleicher Wirkung im Urteil Dassonville gegeben hat, hat zur Folge, dass jede nationale Regelung, die den Marktzugang für das eingeführte Produkt behindert, in den Anwendungsbereich des Art. 28 EG fällt.
152. In Anbetracht meiner bisherigen Analyse geht es somit um die Frage, ob die italienische Regelung geeignet ist, den innergemeinschaftlichen Handel zu behindern, vor allem aber, ob sie verhindern kann, dass in den anderen Mitgliedstaaten rechtmäßig hergestellte und in den Verkehr gebrachte Anhänger auf den italienischen Markt gelangen.
153. In der vorliegenden Rechtssache ist die in Frage stehende Regelung eine polizeiliche Maßnahme der italienischen Regierung, um die Sicherheit der Straßenverkehrsteilnehmer zu gewährleisten. Sie gehört als solche zur Straßenverkehrsordnung. Sie verbietet den Nutzern von Anhängern, diese mit einem Kleinkraftrad, Kraftrad, dreirädrigen Kraftfahrzeug oder vierrädrigen Kraftfahrzeug zu ziehen, und zwar im gesamten italienischen Staatsgebiet. Von diesem grundsätzlichen Verbot gibt es offenbar keine Ausnahme. Im Gegensatz zur Regelung, die in der Rechtssache Mickelsson und Roos in Frage steht, beschränkt die Maßnahme nicht die Nutzung eines Produkts, sondern verbietet sie schlichtweg.
154. Die Maßnahme unterscheidet ferner nicht danach, ob die Anhänger in Italien hergestellt und in den Verkehr gebracht werden oder aus anderen Mitgliedstaaten eingeführt werden(88). Die italienische Regierung betont in ihrer Gegenerwiderung, dass die Verbotsmaßnahme alle Anhänger betreffe, unabhängig vom Ort ihrer Herstellung und ihres Inverkehrbringens(89).
155. Wie die Kommission in ihren schriftlichen Erklärungen ausgeführt hat(90), bilden die von der fraglichen Regelung erfassten Anhänger einen besonderen Markt. Sie weisen spezifische technische Merkmale auf, damit sie von Motorrädern gezogen werden können.
156. Angesichts all dessen bin ich der Ansicht, dass die italienische Regelung den in den anderen Mitgliedstaaten ansässigen Herstellern und Händlern von Anhängern erhebliche Beschränkungen auferlegt, wobei ich sehr wohl die Bedeutung anerkenne, die dem Schutz der Sicherheit im Straßenverkehr zukommt, und dem wachsenden Bewusstsein Rechnung trage, das in der Gemeinschaft und den Mitgliedstaaten insoweit besteht.
157. Das in Frage stehende Verbot macht es praktisch unmöglich, auf den italienischen Markt vorzudringen.
158. Das Verbot lässt für eine nicht nur marginale Nutzung der Anhänger keinen Raum. Die Anhänger verlieren jeden Nutzen, da sie gemäß ihrer Zweckbestimmung, nämlich zur Vergrößerung des Fassungsvermögens der Motorrad-Gepäckträger, nicht genutzt werden können. Das Verbot hält somit die Händler davon ab, die Anhänger einzuführen. Denn eine Einfuhr hat wenig Sinn, wenn der Händler weiß, dass er das Produkt weder verkaufen noch vermieten kann(91). Das Verbot führt somit zu einer erheblichen Verminderung der Einfuhren.
159. Folglich enthält die in Frage stehende Regelung, die die Nutzung einer Ware im gesamten Staatsgebiet schlichtweg verbietet, eine wesentliche, unmittelbare und sofortige Beeinträchtigung des innergemeinschaftlichen Handels. Eine solche Regelung stellt somit eine Maßnahme mit gleicher Wirkung wie eine mengenmäßige Beschränkung im Sinne von Art. 28 EG dar.
160. Gleichwohl verstößt diese Maßnahme nicht zwangsläufig gegen das Gemeinschaftsrecht. Die Verkehrsfreiheiten können, wie ausgeführt, Beschränkungen der Mitgliedstaaten unterliegen, sofern diese durch einen legitimen Grund gerechtfertigt sowie sachgerecht und verhältnismäßig sind.
161. Was die Rechtfertigung der genannten Maßnahme betrifft, so kann nach ständiger Rechtsprechung eine nationale Regelung, die den freien Warenverkehr behindert, durch einen der in Art. 30 EG aufgeführten Gründe oder, sofern die nationale Regelung unterschiedslos anwendbar ist, durch eines der in der Rechtsprechung des Gerichtshofs aufgestellten zwingenden Erfordernisse gerechtfertigt werden(92).
162. Im vorliegenden Verfahren trägt die Italienische Republik vor, das Verbot sei aufgestellt worden, um die Sicherheit im Straßenverkehr zu gewährleisten.
163. Nach ständiger Rechtsprechung ist die Sicherheit des Straßenverkehrs ein zwingender Grund des Gemeinwohls, der eine Behinderung des freien Warenverkehrs rechtfertigen kann(93).
164. Dieses Verbot muss jedoch verhältnismäßig sein. Auch wenn es mangels harmonisierter Vorschriften über den Verkehr von Motorrädern, die Anhänger ziehen, Sache der Mitgliedstaaten ist, darüber zu entscheiden, auf welchem Niveau sie die Sicherheit der Kraftfahrzeugführer gewährleisten wollen und wie dieses Niveau erreicht werden soll, so können sie dies doch nur in den vom Vertrag vorgegebenen Grenzen und vor allem nur unter Wahrung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes tun.
165. Eine nationale Regelung entspricht nur dann dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit, wenn sie geeignet ist, das angestrebte Interesse zu schützen, und wenn die gewählten Mittel das Maß des hierzu Erforderlichen nicht übersteigen(94).
166. Es liegt auf der Hand, dass die fragliche Rechtsvorschrift ein wirksames Mittel zum Schutz der Straßenverkehrsteilnehmer sein kann. Wie Generalanwalt Léger in den ersten Schlussanträgen in der vorliegenden Rechtssache ausgeführt hat, kann das Ankuppeln eines Anhängers an ein Motorrad unter bestimmten Umständen eine Gefahr für den Verkehr darstellen, da dieses Fahrzeug langsam ist und den Verkehr auf der Straße erheblich behindern kann.
167. Meines Erachtens lässt sich jedoch kaum sagen, dass die beanstandete Maßnahme dem Erfordernis der Verhältnismäßigkeit entsprechen könnte.
168. Die italienische Regelung beschränkt sich nämlich nicht darauf, die Nutzung von Anhängern, die von einem Motorrad gezogen werden, an bestimmten Örtlichkeiten oder auf bestimmten Strecken zu verbieten, sondern gilt für das gesamte italienische Staatsgebiet, unabhängig von der Straßenverkehrsinfrastruktur und den Verkehrsverhältnissen.
169. Die italienischen Behörden führen nichts Konkretes dafür an, dass diese Anforderungen im rechten Verhältnis zum angestrebten Zweck stehen. Zudem betrifft das in Rede stehende Verbot nur in Italien zugelassene Motorräder(95). In anderen Mitgliedstaaten zugelassene Fahrzeuge dürfen daher mit einem Anhänger auf den italienischen Straßen verkehren.
170. Im Übrigen könnte die mit der italienischen Rechtsvorschrift angestrebte Sicherheit der Fahrzeugführer durch Mittel gewährleistet werden, die den freien Warenverkehr sehr viel weniger einschränken würden. Es wären z. B. im Landesinnern die Strecken zu bestimmen, die als gefährlich angesehen werden – wie die Gebirgsübergänge, die Autobahnen oder die besonders häufig befahrenen öffentlichen Straßen –, um Verbote oder sektorale Beschränkungen anzuordnen. Diese Alternative würde die mit der Nutzung von Anhängern verbundenen Gefahren beschränken und wäre mit Sicherheit für den Handelsverkehr weniger einschränkend.
171. Jedenfalls oblag es meiner Ansicht nach den italienischen Behörden, vor Erlass einer so einschneidenden Maßnahme wie eines allgemeinen und absoluten Verbots sorgfältig die Möglichkeit zu prüfen, Maßnahmen zu ergreifen, die für den freien Verkehr weniger beschränkend sind, und diese nur dann auszuschließen, wenn ihre Ungeeignetheit im Hinblick auf das verfolgte Ziel eindeutig feststünde. Den Akten ist jedoch nicht zu entnehmen, dass die italienischen Behörden eine derartige Prüfung vorgenommen haben.
172. Nach allem denke ich, dass die Italienische Republik dadurch gegen ihre Verpflichtungen aus Art. 28 EG verstoßen hat, dass sie eine Regelung, die es verbietet, in ihrem Hoheitsgebiet Anhänger zu nutzen, die von Kleinkrafträdern, Krafträdern, dreirädrigen Kraftfahrzeugen oder vierrädrigen Kraftfahrzeugen gezogen werden, erlassen und beibehalten hat.
173. Was das Vorbringen der Italienischen Republik betrifft, dass die letzten Erwägungsgründe der Richtlinien 93/93 und 97/24 den Mitgliedstaaten erlaubten, eine solche Regelung beizubehalten, so bin ich der Auffassung, dass es die von der fraglichen Maßnahme angeordnete Beschränkung nicht rechtfertigen kann.
174. Wie nämlich Generalanwalt Léger in seinen Schlussanträgen in der vorliegenden Rechtssache ausgeführt hat, sind nach ständiger Rechtsprechung die Erwägungsgründe eines Gemeinschaftsrechtsakts rechtlich nicht verbindlich und können weder herangezogen werden, um von den Bestimmungen des betreffenden Rechtsakts abzuweichen, noch, um diese Bestimmungen in einem Sinne auszulegen, der ihrem Wortlaut offensichtlich widerspricht(96).
175. Bereits der Wortlaut der Richtlinie 93/93 lässt erkennen, dass keiner der von der Italienischen Republik angesprochenen Erwägungsgründe in die Bestimmungen der Richtlinie selbst Eingang gefunden hat. Wie Generalanwalt Léger in Nr. 65 seiner Schlussanträge in der vorliegenden Rechtssache ausgeführt hat, geben insoweit zwar die Erwägungsgründe einer Richtlinie dem Gerichtshof im Allgemeinen Hinweise auf die Absicht des Gesetzgebers und liefern ihm nützliche Anhaltspunkte dafür, die Bedeutung ihrer Bestimmungen festzulegen, doch muss, wenn ein in einem Erwägungsgrund enthaltener Begriff in den Bestimmungen der Richtlinie selbst nicht ausdrücklich konkretisiert wird, der Inhalt der Richtlinie Vorzug haben(97).
176. Jedenfalls kann nach ständiger Rechtsprechung eine Bestimmung des abgeleiteten Rechts, im vorliegenden Fall eine Richtlinie, „nicht dahin ausgelegt werden, dass [sie] die Mitgliedstaaten ermächtigt, Bedingungen vorzuschreiben, die den Vertragsbestimmungen über den Warenverkehr zuwiderlaufen“(98).
177. Demgemäß schlage ich dem Gerichtshof vor, festzustellen, dass die Italienische Republik dadurch gegen ihre Verpflichtungen aus Art. 28 EG verstoßen hat, dass sie eine Regelung, die es verbietet, Anhänger zu nutzen, die von Kleinkrafträdern, Krafträdern, dreirädrigen Kraftfahrzeugen oder vierrädrigen Kraftfahrzeugen gezogen werden, erlassen und beibehalten hat.
VI – Kosten
178. Nach Art. 69 § 2 der Verfahrensordnung ist die unterliegende Partei auf Antrag zur Tragung der Kosten zu verurteilen. Da die Kommission Kostenantrag gegen die Italienische Republik gestellt hat und diese im Wesentlichen unterlegen ist, sind ihr die Kosten aufzuerlegen.
VII – Ergebnis
179. Nach alledem schlage ich dem Gerichtshof vor,
– festzustellen, dass die Italienische Republik dadurch gegen ihre Verpflichtungen aus Art. 28 EG verstoßen hat, dass sie eine Regelung, die es verbietet, Anhänger zu nutzen, die von Kleinkrafträdern, Krafträdern, dreirädrigen Kraftfahrzeugen oder vierrädrigen Kraftfahrzeugen gezogen werden, erlassen und beibehalten hat;
– der Italienischen Republik die Kosten aufzuerlegen.