Language of document : ECLI:EU:C:2017:824

SCHLUSSANTRÄGE DES GENERALANWALTS

YVES BOT

vom 26. Oktober 2017(1)

Rechtssache C550/16

A,

S

gegen

Staatssecretaris van Veiligheid en Justitie

(Vorabentscheidungsersuchen der Rechtbank Den Haag, zittingsplaats Amsterdam [Bezirksgericht Den Haag, Sitzungsort Amsterdam, Niederlande])

„Vorlage zur Vorabentscheidung – Grenzkontrollen, Asyl und Einwanderung – Einwanderungspolitik – Recht auf Familienzusammenführung – Begriff ‚unbegleiteter Minderjähriger‘ – Recht eines Flüchtlings auf Familienzusammenführung mit seinen Eltern – Vorläufiger Aufenthaltsausweis – Flüchtling, der zum Zeitpunkt seiner Einreise und der Stellung des Asylantrags unter 18 Jahre und zum Zeitpunkt des Antrags auf Familienzusammenführung über 18 Jahre alt ist – Für die Beurteilung der Eigenschaft eines unbegleiteten Minderjährigen maßgeblicher Zeitpunkt“






I.      Einführung

1.        Welches ist der maßgebliche Zeitpunkt für die Beurteilung des Status eines unbegleiteten Minderjährigen? Kann ein Staatsangehöriger eines Drittlands, der als Minderjähriger in das Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats eingereist ist und erst nach Erlangung der Volljährigkeit Asyl erhält, als unbegleiteter Minderjähriger ein Recht auf Familienzusammenführung geltend machen? Dies sind im Kern die Fragen, um deren Beantwortung der Gerichtshof hier ersucht wird.

2.        Die vorliegende Rechtssache wird dem Gerichtshof die Gelegenheit geben, darüber zu entscheiden, welcher Schutz als Minderjährige in die Europäische Union eingereisten Personen zu gewähren ist, die den Flüchtlingsstatus erwerben, während sie im Laufe der Prüfung ihres Antrags auf Schutz volljährig geworden sind, und danach ein Verfahren zur Familienzusammenführung einleiten.

3.        Es wird notwendig sein, die Verfahrensstadien, die den Weg dieser Asylbewerber markieren, die möglichen administrativen Verzögerungen und den unaufhaltsamen Ablauf der Zeit im Leben einer Person, die während der Prüfung ihres Asylantrags volljährig wird und für ihre Eltern das Recht auf Familienzusammenführung geltend macht, nachdem sie als Flüchtling anerkannt wurde, in ein ausgewogenes Verhältnis zu bringen.

4.        Ich werde dem Gerichtshof vorschlagen, diejenige Lesart zu wählen, die den größtmöglichen Schutz gewährt, und zu entscheiden, dass ein Drittstaatsangehöriger oder Staatenloser unter 18 Jahren, der ohne Begleitung eines für ihn nach dem Gesetz oder nach Gewohnheitsrecht verantwortlichen Erwachsenen in einen Mitgliedstaat einreist, Asyl beantragt und dann volljährig wird, bevor ihm rückwirkend zum Zeitpunkt der Antragstellung Asyl gewährt wird, und der schließlich das unbegleiteten minderjährigen Flüchtlingen gemäß Art. 10 Abs. 3 der Richtlinie 2003/86/EG(2) gewährte Recht auf Familienzusammenführung geltend macht, als unbegleiteter Minderjähriger im Sinne von Art. 2 Buchst. f dieser Richtlinie angesehen werden kann.

II.    Rechtlicher Rahmen

A.      Unionsrecht

5.        Ziel der Richtlinie 2003/86 ist die Festlegung der Bedingungen für die Ausübung des Rechts auf Familienzusammenführung durch Drittstaatsangehörige, die sich rechtmäßig im Gebiet der Mitgliedstaaten aufhalten.

6.        Die Erwägungsgründe 2, 4, 6 und 8 bis 10 der Richtlinie lauten:

„(2)      Maßnahmen zur Familienzusammenführung sollten in Übereinstimmung mit der Verpflichtung zum Schutz der Familie und zur Achtung des Familienlebens getroffen werden, die in zahlreichen Instrumenten des Völkerrechts verankert ist. Diese Richtlinie steht im Einklang mit den Grundrechten und berücksichtigt die Grundsätze, die insbesondere in Artikel 8 der [am 4. November 1950 in Rom unterzeichneten] Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten [(im Folgenden: EMRK)] und der Charta der Grundrechte der Europäischen Union[(3)] anerkannt wurden.

(4)      Die Familienzusammenführung ist eine notwendige Voraussetzung dafür, dass ein Familienleben möglich ist. Sie trägt zur Schaffung soziokultureller Stabilität bei, die die Integration Drittstaatsangehöriger in dem Mitgliedstaat erleichtert; dadurch wird auch der wirtschaftliche und soziale Zusammenhalt gefördert, der als grundlegendes Ziel der Gemeinschaft im Vertrag aufgeführt wird.

(6)      Zum Schutz der Familie und zur Wahrung oder Herstellung des Familienlebens sollten die materiellen Voraussetzungen für die Wahrnehmung des Rechts auf Familienzusammenführung nach gemeinsamen Kriterien bestimmt werden.

(8)      Der Lage von Flüchtlingen sollte wegen der Gründe, die sie zur Flucht gezwungen haben und sie daran hindern, ein normales Familienleben zu führen, besondere Aufmerksamkeit geschenkt werden. Deshalb sollten günstigere Bedingungen für die Ausübung ihres Rechts auf Familienzusammenführung vorgesehen werden.

(9)      Die Familienzusammenführung sollte auf jeden Fall für die Mitglieder der Kernfamilie, d. h. den Ehegatten und die minderjährigen Kinder gelten.

(10)      Es ist Sache der Mitgliedstaaten zu entscheiden, ob sie die Familienzusammenführung von Verwandten in gerader aufsteigender Linie, volljährigen unverheirateten Kindern … zulassen möchten. …“

7.        Art. 2 der Richtlinie enthält die folgenden Definitionen:

„Im Sinne dieser Richtlinie bezeichnet der Ausdruck

a)      ,Drittstaatsangehöriger‘ jede Person, die nicht Unionsbürger im Sinne von Artikel 17 Absatz 1 [EG, nunmehr Art. 20 Abs. 1 AEUV,] ist;

b)      ,Flüchtling‘ jeden Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen, dem die Flüchtlingseigenschaft im Sinne des Genfer Abkommens über die Rechtsstellung der Flüchtlinge vom 28. Juli 1951 in der durch das New Yorker Protokoll vom 31. Januar 1967 geänderten Fassung zuerkannt wurde;

c)      ‚Zusammenführender‘ den sich rechtmäßig in einem Mitgliedstaat aufhaltenden Drittstaatsangehörigen, der oder dessen Familienangehörige einen Antrag auf Familienzusammenführung mit ihm stellt bzw. stellen;

d)      ,Familienzusammenführung‘ die Einreise und den Aufenthalt von Familienangehörigen eines sich rechtmäßig in einem Mitgliedstaat aufhaltenden Drittstaatsangehörigen in diesem Mitgliedstaat, mit dem Ziel, die Familiengemeinschaft aufrechtzuerhalten, unabhängig davon, ob die familiären Bindungen vor oder nach der Einreise des Zusammenführenden entstanden sind;

f)      ,unbegleiteter Minderjähriger‘ einen Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen unter 18 Jahren, der ohne Begleitung eines für ihn nach dem Gesetz oder dem Gewohnheitsrecht verantwortlichen Erwachsenen in einen Mitgliedstaat einreist, solange er sich nicht tatsächlich in der Obhut einer solchen Person befindet, oder Minderjährige, die ohne Begleitung im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats zurückgelassen werden, nachdem sie in diesen Mitgliedstaat eingereist sind.“

8.        Art. 3 der Richtlinie 2003/86 sieht vor:

„(1)      Diese Richtlinie findet Anwendung, wenn der Zusammenführende im Besitz eines von einem Mitgliedstaat ausgestellten Aufenthaltstitels mit mindestens einjähriger Gültigkeit ist, begründete Aussicht darauf hat, ein dauerhaftes Aufenthaltsrecht zu erlangen, und seine Familienangehörigen Drittstaatsangehörige sind, wobei ihre Rechtsstellung unerheblich ist.

(2)      Diese Richtlinie findet keine Anwendung, wenn

a)      der Zusammenführende um die Anerkennung als Flüchtling nachsucht und über seinen Antrag noch nicht abschließend entschieden wurde;

b)      dem Zusammenführenden der Aufenthalt in einem Mitgliedstaat im Rahmen des vorübergehenden Schutzes genehmigt wurde oder er um die Genehmigung des Aufenthalts aus diesem Grunde nachsucht und über seinen Status noch nicht entschieden wurde;

c)      dem Zusammenführenden der Aufenthalt in einem Mitgliedstaat aufgrund subsidiärer Schutzformen gemäß internationalen Verpflichtungen, einzelstaatlichen Rechtsvorschriften oder Praktiken der Mitgliedstaaten genehmigt wurde oder er um die Genehmigung des Aufenthalts aus diesem Grunde nachsucht und über seinen Status noch nicht entschieden wurde.

(5)      Diese Richtlinie berührt nicht das Recht der Mitgliedstaaten, günstigere Regelungen zu treffen oder beizubehalten.“

9.        Art. 4 Abs. 2 Buchst. a dieser Richtlinie bestimmt:

„Vorbehaltlich der in Kapitel IV genannten Bedingungen können die Mitgliedstaaten in ihren nationalen Rechtsvorschriften folgenden Familienangehörigen die Einreise und den Aufenthalt gemäß dieser Richtlinie gestatten:

a)      den Verwandten in gerader aufsteigender Linie ersten Grades des Zusammenführenden oder seines Ehegatten, wenn Letztere für ihren Unterhalt aufkommen und Erstere in ihrem Herkunftsland keinerlei sonstige familiäre Bindungen mehr haben“.

10.      Art. 5 dieser Richtlinie sieht vor:

„(1)      Die Mitgliedstaaten legen fest, ob zur Ausübung des Rechts auf Familienzusammenführung ein Antrag auf Einreise und Aufenthalt entweder vom Zusammenführenden oder von dem oder den Familienangehörigen bei den zuständigen Behörden des betreffenden Mitgliedstaats gestellt werden muss.

(2)      Dem Antrag sind Unterlagen beizufügen, anhand derer die familiären Bindungen nachgewiesen werden und aus denen ersichtlich ist, dass die in den Artikeln 4 und 6 und gegebenenfalls in den Artikeln 7 und 8 vorgesehenen Bedingungen erfüllt sind, sowie beglaubigte Abschriften der Reisedokumente des oder der Familienangehörigen.

(3)      Der Antrag ist zu stellen und zu prüfen, wenn sich die Familienangehörigen noch außerhalb des Hoheitsgebiets des Mitgliedstaats aufhalten, in dem sich der Zusammenführende aufhält.

(4)      Die zuständigen Behörden des Mitgliedstaats teilen dem Antragsteller ihre Entscheidung unverzüglich, spätestens aber neun Monate nach Einreichung des Antrags schriftlich mit.

In Ausnahmefällen kann aufgrund der Schwierigkeit der Antragsprüfung die in Unterabsatz 1 genannte Frist verlängert werden.

Eine Ablehnung des Antrags ist zu begründen. Ist bei Ablauf der Frist nach Unterabsatz 1 noch keine Entscheidung ergangen, so richten sich etwaige Folgen nach dem nationalen Recht des betreffenden Mitgliedstaats.

(5)      Bei der Prüfung des Antrags tragen die Mitgliedstaaten dafür Sorge, dass vor allem das Wohl des minderjährigen Kindes gebührend berücksichtigt wird.“

11.      Kapitel V der Richtlinie 2003/86 regelt in den Art. 9 bis 12 speziell die Familienzusammenführung von Flüchtlingen. Art. 9 Abs. 1 und 2 bestimmt:

„(1)      Dieses Kapitel findet auf die Familienzusammenführung von Flüchtlingen Anwendung, die von den Mitgliedstaaten anerkannt worden sind.

(2)      Die Mitgliedstaaten können die Anwendung dieses Kapitels auf Flüchtlinge beschränken, deren familiäre Bindungen bereits vor ihrer Einreise bestanden haben.“

12.      Art. 10 der Richtlinie bestimmt:

„(1)      Hinsichtlich der Definition von Familienangehörigen findet Artikel 4 Anwendung; ausgenommen davon ist Absatz 1 Unterabsatz 3, der nicht für die Kinder von Flüchtlingen gilt.

(2)      Die Mitgliedstaaten können weiteren, in Artikel 4 nicht genannten Familienangehörigen die Familienzusammenführung gestatten, sofern der zusammenführende Flüchtling für ihren Unterhalt aufkommt.

(3)      Handelt es sich bei einem Flüchtling um einen unbegleiteten Minderjährigen, so

a)      gestatten die Mitgliedstaaten ungeachtet der in Artikel 4 Absatz 2 Buchstabe a) genannten Bedingungen die Einreise und den Aufenthalt seiner Verwandten in gerader aufsteigender Linie ersten Grades zum Zwecke der Familienzusammenführung;

b)      können die Mitgliedstaaten die Einreise und den Aufenthalt seines gesetzlichen Vormunds oder eines anderen Familienangehörigen zum Zwecke der Familienzusammenführung gestatten, wenn der Flüchtling keine Verwandten in gerader aufsteigender Linie hat oder diese unauffindbar sind.“

13.      Art. 11 der Richtlinie sieht vor:

„(1)      Hinsichtlich der Stellung und Prüfung des Antrags kommt Artikel 5 vorbehaltlich des Absatzes 2 des vorliegenden Artikels zur Anwendung.

(2)      Kann ein Flüchtling seine familiären Bindungen nicht mit amtlichen Unterlagen belegen, so prüft der Mitgliedstaat andere Nachweise für das Bestehen dieser Bindungen; diese Nachweise werden nach dem nationalen Recht bewertet. Die Ablehnung eines Antrags darf nicht ausschließlich mit dem Fehlen von Belegen begründet werden.“

14.      Art. 12 der Richtlinie 2003/86 bestimmt:

„(1)      Abweichend von Artikel 7 verlangen die Mitgliedstaaten in Bezug auf Anträge betreffend die in Artikel 4 Absatz 1 genannten Familienangehörigen von einem Flüchtling und/oder einem (den) Familienangehörigen keinen Nachweis, dass der Flüchtling die in Artikel 7 genannten Bedingungen erfüllt.

Unbeschadet internationaler Verpflichtungen können die Mitgliedstaaten in Fällen, in denen eine Familienzusammenführung in einem Drittstaat möglich ist, zu dem eine besondere Bindung des Zusammenführenden und/oder Familienangehörigen besteht, die Vorlage des in Unterabsatz 1 genannten Nachweises verlangen.

Die Mitgliedstaaten können von dem Flüchtling die Erfüllung der in Artikel 7 Absatz 1 genannten Voraussetzungen verlangen, wenn der Antrag auf Familienzusammenführung nicht innerhalb einer Frist von drei Monaten nach der Zuerkennung des Flüchtlingsstatuts gestellt wurde.

(2)      Abweichend von Artikel 8 können die Mitgliedstaaten nicht von einem Flüchtling verlangen, dass er sich während eines bestimmten Zeitraums in ihrem Hoheitsgebiet aufgehalten hat, bevor seine Familienangehörigen ihm nachreisen.“

15.      Nach Art. 20 der Richtlinie war diese von den Mitgliedstaaten bis spätestens zum 3. Oktober 2005 in ihr innerstaatliches Recht umzusetzen.

B.      Niederländisches Recht

16.      Nach Art. 29 Abs. 2 Buchst. c der Vreemdelingenwet 2000 (Ausländergesetz von 2000) vom 23. November 2000 kann den Eltern eines Ausländers, der ein unbegleiteter Minderjähriger im Sinne von Art. 2 Buchst. f der Richtlinie 2003/86 ist, ein befristeter Aufenthaltstitel für Asylberechtigte gemäß Art. 28 dieses Gesetzes ausgestellt werden, wenn sie zum Zeitpunkt der Einreise des betreffenden Ausländers zu dessen Kernfamilie gehörten und wenn sie gleichzeitig mit ihm in die Niederlande eingereist sind oder ihm innerhalb von drei Monaten, nachdem ihm ein befristeter Aufenthaltstitel gemäß des genannten Art. 28 ausgestellt wurde, nachgereist sind.

III. Sachverhalt des Ausgangsverfahrens und Vorlagefrage

17.      Die Tochter von A und S, eine eritreische Staatsangehörige, reiste als Minderjährige allein in die Niederlande ein. Sie stellte am 26. Februar 2014 in diesem Mitgliedstaat einen Asylantrag. Während der Prüfung ihres Asylantrags und vor einer endgültigen Entscheidung wurde die Antragstellerin volljährig. Mit Entscheidung vom 21. Oktober 2014 erteilten ihr die zuständigen Behörden des Königreichs der Niederlande einen auf das Datum der Antragstellung rückwirkenden und für fünf Jahre gültigen Aufenthaltstitel für Asylberechtigte.

18.      Am 23. Dezember 2014 stellte die Organisation VluchtelingenWerk Midden-Nederland im Namen der Tochter von A und S einen Antrag auf Erteilung eines vorläufigen Aufenthaltstitels für ihre Eltern sowie ihre drei minderjährigen Brüder im Rahmen der Familienzusammenführung.

19.      Mit Entscheidung vom 27. Mai 2015 wies der Staatssecretaris van Veiligheid en Justitie (Staatssekretär für Sicherheit und Justiz, Niederlande) diesen Antrag mit der Begründung zurück, dass die Antragstellerin zum Zeitpunkt der Stellung des Antrags auf Familienzusammenführung volljährig gewesen sei und sich deshalb nicht auf den Status einer unbegleiteten Minderjährigen, der ihr ein Vorzugsrecht auf Familienzusammenführung gewähren würde, berufen könne. Die gegen diese Entscheidung eingelegte Beschwerde wurde am 13. August 2015 zurückgewiesen.

20.      Am 3. September 2015 erhoben A und S vor der Rechtbank Den Haag, zittingsplaats Amsterdam (Bezirksgericht Den Haag, Sitzungsort Amsterdam, Niederlande), dem vorlegenden Gericht, Klage gegen diese Zurückweisung und machten insbesondere geltend, aus Art. 2 Buchst. f der Richtlinie 2003/86 ergebe sich, dass für die Beurteilung, ob eine Person als „unbegleiteter Minderjähriger“ anzusehen sei, der Zeitpunkt der Einreise des Antragstellers in den betreffenden Mitgliedstaat maßgeblich sei. Dagegen ist nach Ansicht des Staatssekretärs für Sicherheit und Justiz insoweit der Zeitpunkt der Stellung des Antrags auf Familienzusammenführung maßgeblich.

21.      Das vorlegende Gericht weist darauf hin, dass der Raad van State (Staatsrat, Niederlande) in zwei Urteilen vom 23. November 2015(4) entschieden habe, dass der Umstand, dass ein ausländischer Staatsangehöriger nach seiner Ankunft im Hoheitsgebiet volljährig geworden sei, bei der Beurteilung, ob er in den Anwendungsbereich von Art. 2 Buchst. f der Richtlinie 2003/86 falle und als „unbegleiteter Minderjähriger“ angesehen werden könne, berücksichtigt werden könne.

22.      Nach Ansicht des vorlegenden Gerichts muss diese Bestimmung jedoch so ausgelegt werden, dass der Begriff des „unbegleiteten Minderjährigen“ aufgrund der Verwendung des Begriffs „einreist“ zum Zeitpunkt der Ankunft der betreffenden Person im Hoheitsgebiet zu beurteilen sei und dass Art. 2 Buchst. f der Richtlinie 2003/86 nur zwei Ausnahmen von diesem Grundsatz vorsehe, nämlich den Fall eines zunächst begleiteten und dann ohne Begleitung zurückgelassenen Minderjährigen und den umgekehrten Fall eines bei Einreise unbegleiteten Minderjährigen, der danach von einem verantwortlichen Erwachsenen in Obhut genommen werde.

23.      Unter diesen Umständen hat die Rechtbank Den Haag, zittingsplaats Amsterdam (Bezirksgericht Den Haag, Sitzungsort Amsterdam), das Verfahren ausgesetzt und dem Gerichtshof folgende Frage zur Vorabentscheidung vorgelegt:

Ist im Rahmen der Familienzusammenführung bei Flüchtlingen als „unbegleiteter Minderjähriger“ im Sinne von Art. 2 Buchst. f der Richtlinie 2003/86 auch ein Drittstaatsangehöriger oder Staatenloser unter 18 Jahren anzusehen, der ohne Begleitung eines für ihn nach dem Gesetz oder dem Gewohnheitsrecht verantwortlichen Erwachsenen in einen Mitgliedstaat einreist und der

–        Asyl beantragt,

–        während des Asylverfahrens in dem Mitgliedstaat 18 Jahre alt wird,

–        Asyl rückwirkend zum Zeitpunkt der Antragstellung erhält und

–        anschließend Familienzusammenführung beantragt?

IV.    Würdigung

24.      Der Gerichtshof wird um die Beantwortung der Frage ersucht, welches Datum für die Beurteilung der Frage maßgeblich ist, ob ein Drittstaatsangehöriger als unbegleiteter Minderjähriger anzusehen ist und ein Recht auf Familienzusammenführung geltend machen kann, wenn er als Minderjähriger in einen Mitgliedstaat eingereist ist, dort Asyl beantragt und diesen internationalen Schutz nach Erreichen der Volljährigkeit erlangt hat und danach das Recht auf Familienzusammenführung als unbegleiteter Minderjähriger geltend macht.

25.      In dieser Situation kommen für den Gerichtshof mindestens drei Daten für die Beurteilung des Rechts des Antragstellers, sich als unbegleiteter Minderjähriger auf die Bestimmungen der Richtlinie 2003/86 zu berufen, in Betracht, nämlich das Datum seiner Einreise in den Mitgliedstaat, das Datum der Stellung des Asylantrags und das Datum der Stellung des Antrags auf Familienzusammenführung.

26.      Aus Art. 2 Buchst. f in Verbindung mit Art. 10 Abs. 3 der Richtlinie 2003/86 ergibt sich, dass das maßgebliche Datum notwendigerweise vor dem Datum der Gewährung internationalen Schutzes liegt. Dieses Datum kann deshalb nur das Datum der Stellung des Asylantrags sein, da erstens in Art. 2 Buchst. f der Richtlinie der Begriff „einreist“ verwendet wird, da zweitens die Anerkennung dieses Status auf das Datum der Antragstellung zurückwirkt und da drittens dies das genaueste Datum ist, das der Behörde für die sichere Beurteilung des Alters der betreffenden Person zur Verfügung steht.

27.      Das vorlegende Gericht hat übrigens in der Vorlageentscheidung festgestellt, dass Art. 2 Buchst. f der Richtlinie seinem Wortlaut nach offenkundig so zu verstehen sei, dass das maßgebliche Datum für die Beurteilung, ob der Antragsteller als unbegleiteter Minderjähriger anzusehen sei, dasjenige der Erteilung des Aufenthaltstitels durch die zuständige Behörde sein müsse und nicht dasjenige der Stellung des Antrags auf Familienzusammenführung. Da die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft deklarativ und rückwirkend ist, ist somit das Datum der Beantragung des Titels für die Beurteilung, ob der Antragsteller der Definition eines unbegleiteten Minderjährigen entspricht, maßgeblich.

28.      Mit der Rückwirkung einer Maßnahme ist eine distributive Wirkung unvereinbar. Die Tatsache, dass das niederländische Recht zum Schutz vorsieht, dass die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft auf das Datum der Antragstellung zurückwirkt, impliziert notwendig, dass der so gewährte Status ab dem Datum des Antrags auf internationalen Schutz eine Reihe von Wirkungen einschließlich eines Rechts auf Familienzusammenführung, wie es sich aus der Richtlinie 2003/86 ergibt, auslöst, wenn, wie es hier der Fall ist, der Flüchtlingsstatus einer Person gewährt wird, die ihren Antrag gestellt hat, als sie minderjährig war. Der schützende Charakter dieser nationalen Maßnahme beseitigt die Ungleichbehandlung, die eine unterschiedliche Bearbeitungsdauer der Asylanträge zur Folge hätte. Außerdem wäre die Verweigerung der rückwirkenden Gewährung aller mit dem Flüchtlingsstatus zusammenhängenden Rechte, wie es das niederländische Recht vorsieht, mit dem Wohl des Kindes, das den Asylantrag vor Erreichung der Volljährigkeit gestellt hat, offensichtlich unvereinbar.

29.      Zudem kann gemäß Art. 3 Abs. 1 der Richtlinie 2003/86 die Familienzusammenführung erst ab dem Zeitpunkt beantragt oder durchgeführt werden, zu dem die zuständigen nationalen Behörden endgültig über den Antrag auf Erteilung eines Aufenthaltstitels entschieden haben(5). Da die Anerkennung des Flüchtlingsstatus eine der Voraussetzungen für die Stellung eines Antrags auf Familienzusammenführung ist, wäre es mit den mit der Richtlinie sowie mit den Texten der Union und den völkerrechtlichen Texten zum Schutz von Flüchtlingen verfolgten Zielen unvereinbar, dieses Vorzugsrecht nur auf solche Personen anzuwenden, die zum Zeitpunkt der Erlangung des internationalen Schutzes noch minderjährig sind, obwohl dieser Schutz deklarativ ist und auf das Datum der Antragstellung zurückwirkt.

30.      Ich weise darauf hin, dass der Gerichtshof mit dieser die Familienzusammenführung begünstigenden Lesart eine formalistische Auslegung von Art. 2 Buchst. f der Richtlinie 2003/86, die die Erreichung der Ziele dieser Regelung behindern würde, vermeiden würde. Es geht hier jedoch nicht darum, jedem Minderjährigen, der in das Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats einreist, die Geltendmachung des Rechts auf Familienzusammenführung zu ermöglichen. Es ist aber möglich, dieses Recht den Personen einzuräumen, die als Minderjährige in das Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats eingereist sind und die einen Flüchtlingsstatus erwerben, selbst nachdem sie volljährig geworden sind, also zu dem Zeitpunkt, zu dem die Familienzusammenführung möglich wird, denn nach dem Wortlaut von Art. 3 Abs. 1 der Richtlinie 2003/86 muss die Person, die sich auf die Bestimmungen über die Familienzusammenführung berufen will, im Besitz eines Aufenthaltstitels sein, der vorzugsweise langfristig ist oder begründete Aussicht darauf bietet, zu einem dauerhaften Aufenthaltsrecht zu führen(6).

31.      Das erklärt im vorliegenden Fall, warum die Tochter von A und S mit der Stellung des Antrags auf Familienzusammenführung zu Recht abgewartet hat, bis sie gemäß Art. 9 Abs. 1 der Richtlinie 2003/86 für fünf Jahre das Recht auf Asyl erworben hatte. Sie hat davon abgesehen, vor Erteilung dieses Aufenthaltsrechts einen Antrag auf Familienzusammenführung zu stellen, der mit den Bestimmungen von Art. 3 Abs. 2 Buchst. a und Art. 9 Abs. 1 dieser Richtlinie unvereinbar gewesen wäre, den Ausgang des Verfahrens der Familienzusammenführung unsicher gemacht hätte und zur Folge gehabt hätte, die nationalen Behörden mit einem Antrag auf Familienzusammenführung zu blockieren, der möglicherweise nicht erfolgreich gewesen wäre, weil der Zusammenführende nicht über einen Aufenthaltstitel verfügt. Deshalb ist als das für die Beurteilung der Eigenschaft eines unbegleiteten Minderjährigen maßgebliche Datum notwendigerweise das Datum anzusehen, ab dem die Familienzusammenführung möglich wird, also der Zeitpunkt der Bewilligung des Antrags auf Erteilung eines Aufenthaltstitels durch die zuständige Behörde(7). In Anbetracht des deklarativen Charakters und der Rückwirkung der Gewährung des Flüchtlingsstatus ist deshalb im Ausgangsverfahren das Datum der Stellung des Asylantrags maßgeblich.

32.      Die respektvolle Haltung der Antragstellerin gegenüber den Verfahren und ihrer Reihenfolge sollte ihr im vorliegenden Fall nicht zum Nachteil gereichen, sondern ist vielmehr zu begrüßen.

33.      Unter den besonderen Umständen des vorliegenden Falles sind die Bearbeitungsdauer der Asylanträge und der unaufhaltsame Lauf der Zeit zu berücksichtigen, der dazu geführt hat, dass die Antragstellerin volljährig war, als ihr Asyl gewährt wurde und als sie infolgedessen den Antrag auf Nachzug ihrer Eltern, die sich zu dieser Zeit in Äthiopien bzw. in Israel aufhielten, in die Niederlande stellen konnte, um so die Familienbande und die Privatsphäre wiederherzustellen, auf die jeder Drittstaatsangehörige nach den Bestimmungen von Art. 8 der EMRK und Art. 7 der Charta, wie sie vom Gerichtshof und vom Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte ausgelegt werden, einen Anspruch hat.

34.      Der sechste Erwägungsgrund der Richtlinie 2003/86 bezweckt den Schutz der Familie und die Wahrung des Familienlebens. Dies impliziert notwendig, dass dieser Text im Einklang mit Art. 8 der EMRK und Art. 7 der Charta nicht restriktiv ausgelegt wird, um ihn nicht seiner praktischen Wirksamkeit zu berauben und das Ziel dieser Richtlinie, das in der Begünstigung der Familienzusammenführung besteht(8), nicht zu untergraben.

35.      Der Gerichtshof hatte im Übrigen bereits Gelegenheit, darauf hinzuweisen, dass sich aus dem zweiten Erwägungsgrund dieser Richtlinie ergibt, dass Maßnahmen zur Familienzusammenführung im Einklang mit der Pflicht zum Schutz der Familie und zur Achtung des Familienlebens, die in zahlreichen Instrumenten des internationalen Rechts verankert ist, getroffen werden müssen.

36.      Ferner ist das nach Art. 7 der Charta garantierte Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs in Verbindung mit der in Art. 24 Abs. 2 der Charta niedergelegten Verpflichtung zur Berücksichtigung des Kindeswohls zu lesen. Mit anderen Worten und gemäß den Anforderungen der letztgenannten Bestimmung müssen die Mitgliedstaaten das Wohl des Kindes beim Erlass von Kinder betreffenden Rechtsetzungsmaßnahmen durch eine öffentliche oder eine private Stelle zu einer „vorrangigen Erwägung“ machen. Auf dieses Erfordernis wird in Art. 5 Abs. 5 der Richtlinie 2003/86 ausdrücklich hingewiesen. Außerdem hat der Gerichtshof entschieden, dass die Mitgliedstaaten sich vergewissern müssen, dass das Kind regelmäßige persönliche Beziehungen und unmittelbare Kontakte zu beiden Elternteilen pflegen kann(9).

37.      Auch wenn sich nicht notwendig aus der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte ergibt, dass das Recht auf Familienzusammenführung unter dem Gesichtspunkt des Schutzes der Privatsphäre und des Familienlebens auf volljährige Kinder angewandt werden kann, geht aus seiner Rechtsprechung doch hervor, dass die Bande zwischen dem Kind und seiner Familie aufrechterhalten bleiben müssen und nur außergewöhnliche Umstände zu einem Bruch der familiären Bindung führen dürfen. Aus dieser Rechtsprechung ergibt sich, dass alles unternommen werden muss, um die persönlichen Beziehungen und die Familiengemeinschaft aufrechtzuerhalten oder die Familie „wiederherzustellen“(10).

38.      In diesem Zusammenhang berücksichtigt der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte einige auf das Kind bezogene individuelle Umstände, um dessen Wohl bestmöglich zu bestimmen und sein Wohlbefinden sicherzustellen. Er berücksichtigt insbesondere das Alter und den Reifegrad des Kindes sowie dessen Grad an Abhängigkeit von seinen Eltern und insoweit deren An- oder Abwesenheit. Er stellt auch auf das Umfeld, in dem das Kind lebt, und auf die Situation im Herkunftsstaat ab, um die Schwierigkeiten zu beurteilen, denen die Familie dort möglicherweise ausgesetzt sein wird(11). Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte beurteilt unter Berücksichtigung aller Umstände und ihrer Abwägung gegen die öffentlichen Interessen der Vertragsstaaten, ob diese in ihren Entscheidungen einen gerechten Ausgleich gefunden und die Anforderungen von Art. 8 der EMRK beachtet haben.

39.      Die zuständigen nationalen Behörden müssen bei der Umsetzung der Richtlinie 2003/86 und bei der Prüfung von Anträgen auf Familienzusammenführung alle zu berücksichtigenden Interessen, insbesondere die der betroffenen Kinder, ausgewogen und sachgerecht bewerten(12).

40.      Wenn im vorliegenden Fall der Interessenausgleich unter Berücksichtigung dieser Umstände beurteilt würde, so wäre danach erstens festzustellen, dass die Tochter von A und S allein und minderjährig in das Hoheitsgebiet der Niederlande eingereist ist, zweitens, dass sie eritreischer Herkunft ist, und drittens, dass ein Anspruch auf Familienzusammenführung es gestatten würde, die Familie wiederherzustellen. Dies würde das Recht auf Achtung der Privatsphäre und des Familienlebens aller Familienmitglieder schützen, und zwar unabhängig davon, dass die Antragstellerin, die als unbegleitete Minderjährige in das Königreich der Niederlande eingereist ist, zu dem Zeitpunkt, zu dem die zuständige Behörde des Mitgliedstaats über den Antrag auf Familienzusammenführung entscheidet, volljährig geworden ist und im strengen Sinne nicht mehr als Kind angesehen werden kann.

41.      Die Anerkennung des Rechts auf Familienzusammenführung einer Person wie der Tochter der Kläger des Ausgangsverfahrens, die als unbegleitete Minderjährige in das Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats eingereist ist, den Flüchtlingsstatus aber erst nach Eintritt der Volljährigkeit erlangt hat und deshalb die Bestimmungen über das Recht auf Familienzusammenführung gemäß Art. 3 Abs. 2 Buchst. a der Richtlinie 2003/86 erst danach geltend machen konnte, scheint insoweit nicht über die den Mitgliedstaaten gesetzten Ziele hinauszugehen.

42.      Außerdem kann, wie die Kläger des Ausgangsverfahrens zu Recht geltend machen, das Recht auf Familienzusammenführung, wie es in Art. 10 Abs. 3 der Richtlinie vorgesehen ist, nicht davon abhängen, wie schnell die Behörden eines Mitgliedstaats einen Asylantrag bearbeiten, insbesondere dann nicht, wenn die betreffenden Personen in einigen Monaten volljährig werden, und obwohl die Mitgliedstaaten von den Institutionen regelmäßig aufgefordert werden, die Asylanträge von unbegleiteten Minderjährigen vorrangig zu bearbeiten, um ihrer besonderen Verletzlichkeit Rechnung zu tragen, die eines speziellen Schutzes bedarf(13).

43.      Im Ausgangsverfahren benötigte die Antragstellerin acht Monate für die Erlangung des Flüchtlingsstatus nach ihrer Einreise in das Königreich der Niederlande. Der vorliegende Fall liegt also innerhalb der üblichen Fristen für die Bearbeitung von Asylanträgen, obwohl der seinerzeit anwendbare Art. 23 Abs. 2 der Richtlinie 2005/85/EG(14) vorsah, dass Asylanträge innerhalb kurzer Fristen von etwa sechs Monaten zu bearbeiten seien, worauf die Kommission in ihren Erklärungen hinweist.

44.      Außerdem hat der Gerichtshof entschieden, dass eine Auslegung zu bevorzugen ist, die sicherstellt, dass der Erfolg eines Antrags in erster Linie von Umständen abhängt, die in der Sphäre der Antragsteller liegen, nicht aber von Umständen, die in der Behördensphäre liegen, wie der Dauer der Bearbeitung des Antrags(15).

45.      Diese Gesichtspunkte sprechen in Anbetracht der üblichen Bearbeitungsdauer von Asylanträgen und der Möglichkeit der Behörden, bestimmte Anträge von Asylbewerbern bevorzugt zu bearbeiten, zumal wenn diese Bewerber kurz vor Erlangung der Volljährigkeit stehen, für eine weite Auslegung der Bestimmungen von Art. 2 Buchst. f in Verbindung mit Art. 10 Abs. 3 der Richtlinie 2003/86.

46.      Außerdem ergibt sich daraus, dass es sich bei der Gewährung des Flüchtlingsstatus um eine Anerkennung dieses Status handelt, dass es den Mitgliedstaaten nicht möglich sein darf, sich ihrer Pflichten zu entledigen oder diese zu umgehen, bis die Regeln über das Gemeinsame Europäische Asylsystem ihres Inhalts entleert sind, indem sie sich mit dem uneingestandenen Ziel, das Vorzugsrecht auf Familienzusammenführung, das unbegleiteten minderjährigen Flüchtlingen zusteht, nicht zu gewähren, weigern, die Asylanträge Minderjähriger, die sich unbegleitet in ihrem Hoheitsgebiet aufhalten, sorgfältig zu bearbeiten. Eine restriktive Anwendung dieser Regeln, die Asylbewerber abschrecken und die Hindernisse, denen sich diese Personen und ihre Familien ohnehin gegenübersehen, vergrößern würde, muss verhindert werden(16).

47.      Es geht hier jedoch nicht um die Schaffung einer Kasuistik, nach der das Vorrecht Minderjähriger auf Familienzusammenführung für eine gewisse Dauer aufrechterhalten werden soll, auch wenn sie volljährig geworden sind. Es geht nicht darum, die Rechtswirkungen zu bestreiten, die mit der Erlangung der Volljährigkeit einhergehen. In einer Situation wie derjenigen im Ausgangsverfahren ist es jedoch möglich, sehr jungen erwachsenen Flüchtlingen in Anbetracht der Abfolge der Verfahren, der kürzlichen Erlangung der Volljährigkeit und der Möglichkeit, eine Wiedervereinigung der Familie zu ermöglichen, den Schutz der Bestimmungen der Richtlinie 2003/86 zukommen zu lassen.

48.      Unter den besonderen Umständen des vorliegenden Falles und unter Berücksichtigung des deklaratorischen Charakters und der Rückwirkung der Gewährung des Flüchtlingsstatus, die Voraussetzung für einen Antrag auf Familienzusammenführung ist, stellt die Anerkennung des Rechts auf Familienzusammenführung einer Person, die einen Asylantrag gestellt hat, als sie minderjährig war, keine zu weite Auslegung der Bestimmungen der Richtlinie dar.

49.      Sollte der Gerichtshof diesem Vorschlag nicht folgen, wäre hilfsweise daran zu erinnern, dass die Mitgliedstaaten in Anbetracht der Erwägungsgründe 8 und 10 der Richtlinie verpflichtet sind, Flüchtlingen günstigere Voraussetzungen für die Familienzusammenführung zu gewähren, und dass sie die Familienzusammenführung der Verwandten in gerader aufsteigender Linie zulassen können. Die Erlangung der Volljährigkeit bewirkt nämlich nur ein Erlöschen des Vorrechts und der günstigeren Regeln, auf die sich der Betroffene in Bezug auf sein Recht auf Familienzusammenführung berufen konnte.

50.      Es ist außerdem auf die Texte der Union und die völkerrechtlichen Texte hinzuweisen, wonach die von Personen mit Flüchtlingsstatus gestellten Anträge auf Familienzusammenführung von den Staaten mit besonderer Sorgfalt und besonderem Wohlwollen zu prüfen sind(17).

51.      Demnach könnten die Bestimmungen der Richtlinie 2003/86, selbst wenn die Tochter von A und S im vorliegenden Fall nicht als unbegleitete Minderjährige angesehen würde, nicht in dem Sinne ausgelegt werden, dass sie es ihr verwehren, ihren Verwandten in aufsteigender Linie die Familienzusammenführung zugutekommen zu lassen, und zwar gemäß Art. 4 Abs. 2 Buchst. a dieser Richtlinie, der vorsieht, dass die Mitgliedstaaten unter dem Gesichtspunkt der Familienzusammenführung die Einreise und den Aufenthalt der Verwandten in gerader aufsteigender Linie ersten Grades des Zusammenführenden zulassen können, wenn Letzterer für ihren Unterhalt aufkommt und sie in ihrem Herkunftsland keinerlei sonstige familiäre Bindungen mehr haben.

52.      Das vorlegende Gericht müsste deshalb feststellen, ob das nationale Recht die Möglichkeit vorsieht, einem Antrag auf Familienzusammenführung für Verwandte in aufsteigender Linie des Flüchtlings stattzugeben, und ob die Voraussetzungen hierfür im vorliegenden Fall erfüllt sind.

53.      Bei Heranziehung einer solchen Auslegung im vorliegenden Fall müsste jedoch geprüft werden, ob eine Person, die kürzlich volljährig geworden ist, allein für den Unterhalt einer ganzen Familie aufkommen kann.

54.      Meines Erachtens ist ein möglichst umfassender Schutz zu gewährleisten, um soweit wie möglich der besonderen Verletzlichkeit von unbegleiteten Minderjährigen, die in das Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten einreisen, sowie von jungen Erwachsenen mit Flüchtlingsstatus(18), deren Reifegrad noch zu beurteilen ist, Rechnung zu tragen, ohne dass dies die Ziele des Unionsgesetzgebers im Bereich der Beschränkung von Migrationsbewegungen gefährden könnte.

55.      Zu beachten ist nämlich, dass die Familienzusammenführung der Grundsatz ist(19) und Ausnahmen von diesem Grundsatz restriktiv auszulegen sind. Außerdem stellt die Anerkennung der Familienzusammenführung über das zusammenführende Kind keine besondere Gefahr für die nationale Politik dar, da die Eltern selbst für ihre Kinder die Familienzusammenführung beantragen können, wenn diese minderjährig und abhängig sind.

56.      Dies impliziert, dass bei dieser Art von Familienzusammenführung die Abhängigkeitsfaktoren sowie die affektiven und materiellen Bande beurteilt werden müssen. Insoweit kann, zumal in unseren modernen Gesellschaften, nicht angenommen werden, dass das zwischen Eltern und Kindern bestehende Abhängigkeitsverhältnis zu dem Zeitpunkt, zu dem das Kind volljährig wird, sofort endet und das Kind nicht mehr als minderjährig angesehen werden kann.

57.      Außerdem soll die Richtlinie 2003/86 der Verletzlichkeit der betreffenden Personen Rechnung tragen. Die Verletzlichkeit von Personen, die minderjährig aus Eritrea kommend in das Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten eingereist sind und deren Flüchtlingsstatus anerkannt worden ist, anzuzweifeln, wäre, auch wenn sie in der Zwischenzeit volljährig geworden sind, mit den Zielen des Unionsgesetzgebers unvereinbar.

58.      Daraus folgt, dass ein Drittstaatsangehöriger oder Staatenloser unter 18 Jahren, der ohne Begleitung eines für ihn nach dem Gesetz oder nach Gewohnheitsrecht verantwortlichen Erwachsenen in einen Mitgliedstaat einreist, Asyl beantragt und im Laufe des Verfahrens volljährig wird, bevor ihm rückwirkend auf das Datum der Antragstellung Asyl gewährt wird, und der schließlich das minderjährigen unbegleiteten Flüchtlingen gemäß Art. 10 Abs. 3 der Richtlinie gewährte Recht auf Familienzusammenführung geltend macht, als unbegleiteter Minderjähriger im Sinne von Art. 2 Buchst. f dieser Richtlinie anzusehen ist.

59.      Sollte der Gerichtshof dieser Auslegung nicht folgen, müsste die vom Unionsgesetzgeber getroffene Entscheidung geprüft werden, die Richtlinie 2003/86 zu verabschieden, ohne sich ausdrücklich dazu zu äußern, welches Datum für die Beurteilung des Status eines unbegleiteten Minderjährigen im Sinne von Art. 2 Buchst. f dieser Richtlinie maßgeblich ist. Damit hat sich der Unionsgesetzgeber entweder für eine Vollharmonisierung, die den Mitgliedstaaten keinen Ermessensspielraum lässt, oder für einen sehr weiten Ermessensspielraum der Mitgliedstaaten entschieden, die, freilich unter Beachtung der Grundsätze der Gleichwertigkeit und der Effektivität, den für die Beurteilung des Rechts einer Person, sich auf die Bestimmungen der Familienzusammenführung gemäß Art. 10 Abs. 3 dieser Richtlinie zu berufen, geeignetsten Zeitpunkt bestimmen können.

60.      Insoweit handelt es sich nicht, wie das Königreich der Niederlande, die Polnische Republik und die Kommission geltend machen, um fakultative, sondern gemäß Art. 10 Abs. 3 Buchst. a der Richtlinie 2003/86 um zwingende Bestimmungen. Im Fall eines unbegleiteten minderjährigen Flüchtlings „gestatten“ die Mitgliedstaaten die Einreise und den Aufenthalt seiner Verwandten in gerader aufsteigender Linie. Mit der Verwendung des imperativen Präsens erlegt diese Bestimmung den Mitgliedstaaten präzise positive Pflichten auf. Die Mitgliedstaaten verfügen also über keinerlei Ermessensspielraum, und wenn ein solcher bestehen würde, dürfte er nicht dafür genutzt werden, das Ziel dieser Richtlinie zu beeinträchtigen, das in der Begünstigung der Familienzusammenführung besteht(20).

61.      Unbegleitete minderjährige Flüchtlinge haben ein Recht auf Familienzusammenführung mit ihren Verwandten in gerader aufsteigender Linie ersten Grades. Art. 4 Abs. 1 der Richtlinie 2003/86 erlegt den Mitgliedstaaten präzise positive Verpflichtungen auf, denen klar definierte subjektive Rechte entsprechen, da er den Mitgliedstaaten in den in der Richtlinie festgelegten Fällen vorschreibt, den Nachzug bestimmter Mitglieder der Familie des Zusammenführenden zu genehmigen, ohne dass sie dabei von ihrem Ermessensspielraum Gebrauch machen könnten(21).

62.      Der Gerichtshof hat außerdem klargestellt, dass die Mitgliedstaaten im Rahmen der Richtlinie 2003/86 zwar über einen gewissen Handlungsspielraum bei der Regelung der Voraussetzungen für die Ausübung des Rechts auf Familienzusammenführung verfügen, dass dieser Spielraum jedoch restriktiv ausgelegt werden muss, da die Genehmigung der Familienzusammenführung die Grundregel darstellt(22).

63.      Das Schweigen des Unionsgesetzgebers zu dem für die Beurteilung der Familienzusammenführung maßgeblichen Datum, wenn der Antragsteller ein unbegleiteter Minderjähriger ist und die Personen, für die die Zusammenführung beantragt wird, seine Verwandten in aufsteigender Linie sind, kann also nicht so verstanden werden, dass damit den Mitgliedstaaten ein Handlungsspielraum bei der Beurteilung der Voraussetzungen für die Gewährung des grundsätzlichen Schutzes und des Vorrechts eingeräumt würde. Die Mitgliedstaaten verfügen vielmehr nur dann über einen Ermessensspielraum bei der Genehmigung der Familienzusammenführung, wenn der Antragsteller nicht mehr als unbegleiteter Minderjähriger angesehen wird.

64.      Die Grundsätze der Gleichwertigkeit und der Effektivität bleiben also bei der Beantwortung der dem Gerichtshof vom vorlegenden Gericht gestellten Frage außer Betracht, wenn der Gerichtshof meiner Empfehlung folgt und befindet, dass eine Person, die als Minderjähriger in das Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats einreist und den Flüchtlingsstatus erst nach Erlangung der Volljährigkeit erwirbt, gleichwohl als unbegleiteter Minderjähriger im Sinne von Art. 2 Buchst. f der Richtlinie 2003/86 angesehen werden muss und deshalb das in Art. 10 Abs. 3 dieser Richtlinie vorgesehene Vorrecht auf Familienzusammenführung geltend machen kann.

65.      Sollte der Gerichtshof mir in Bezug auf den zwingenden Charakter der im Ausgangsverfahren maßgeblichen Bestimmungen und die Möglichkeit, die Antragstellerin als unbegleitete Minderjährige anzusehen, nicht folgen, so wäre darauf hinzuweisen, dass eine Auslegung von Art. 2 Buchst. f der Richtlinie 2003/86, nach der das für die Beurteilung der Frage, ob der Antragsteller über ein Recht auf Familienzusammenführung verfügt, maßgebliche Datum der Zeitpunkt der Stellung des Antrags auf Familienzusammenführung ist, dem Erfordernis der Effektivität nicht entsprechen würde. Eine solche Auslegung würde nämlich die Möglichkeit, sich auf das Recht der Familienzusammenführung zu berufen, behindern, obwohl die Richtlinie gerade den Schutz der Familie insbesondere durch die Anerkennung eines Rechts der Flüchtlinge auf Familienzusammenführung bezweckt(23).

66.      Nach alledem schlage ich dem Gerichtshof deshalb vor, für Recht zu erkennen, dass ein Drittstaatsangehöriger oder Staatenloser unter 18 Jahren, der ohne Begleitung eines für ihn nach dem Gesetz oder nach Gewohnheitsrecht verantwortlichen Erwachsenen in einen Mitgliedstaat einreist, Asyl beantragt und im Laufe des Verfahrens volljährig wird, bevor ihm rückwirkend auf das Datum der Antragstellung Asyl gewährt wird, und der schließlich das minderjährigen unbegleiteten Flüchtlingen gemäß Art. 10 Abs. 3 der Richtlinie 2003/86 gewährte Recht auf Familienzusammenführung geltend macht, als unbegleiteter Minderjähriger im Sinne von Art. 2 Buchst. f dieser Richtlinie angesehen werden kann.

V.      Ergebnis

67.      Ich schlage dem Gerichtshof deshalb vor, die Vorlagefrage der Rechtbank Den Haag, zittingsplaats Amsterdam (Bezirksgericht Den Haag, Sitzungsort Amsterdam, Niederlande), wie folgt zu beantworten:

Ein Drittstaatsangehöriger oder Staatenloser unter 18 Jahren, der ohne Begleitung eines für ihn nach dem Gesetz oder nach Gewohnheitsrecht verantwortlichen Erwachsenen in einen Mitgliedstaat einreist, Asyl beantragt, während des Asylverfahrens in dem Mitgliedstaat 18 Jahre alt wird, Asyl rückwirkend zum Zeitpunkt der Antragstellung erhält und der schließlich das minderjährigen unbegleiteten Flüchtlingen gemäß Art. 10 Abs. 3 der Richtlinie 2003/86 gewährte Recht auf Familienzusammenführung geltend macht, kann als unbegleiteter Minderjähriger im Sinne von Art. 2 Buchst. f dieser Richtlinie angesehen werden.


1      Originalsprache: Französisch.


2      Richtlinie des Rates vom 22. September 2003 betreffend das Recht auf Familienzusammenführung (ABl. 2003, L 251, S. 12).


3      Im Folgenden: Charta.


4      Vgl. Urteile Nr. 201501042/1/V1 und Nr. 201502485/1/V1. Das vorlegende Gericht äußert vor dem Gerichtshof Zweifel an einer Auslegung, an die es normalerweise gebunden sei, die sich aber nicht aus einer verbindlichen Auslegung des im Ausgangsverfahren anwendbaren Unionsrechts ergebe. Nach Ansicht des vorlegenden Gerichts hat der Raad van State (Staatsrat) die Bestimmungen der Richtlinie 2003/86 zu Unrecht ausgelegt, obwohl ihre Bedeutung nicht klar sei und die deshalb einer verbindlichen Auslegung durch den Gerichtshof bedurft hätten. Ohne auf diese Polemik eingehen zu wollen, muss doch festgestellt werden, dass es in dieser Sache zumindest auf nationaler Ebene um eine Meinungsverschiedenheit zwischen Gerichten gehen könnte.


5      Vgl. e contrario Schlussanträge des Generalanwalts Mengozzi in der Rechtssache Noorzia (C‑338/13, EU:C:2014:288, Nrn. 34 bis 36).


6      Vgl. in diesem Sinne meine Schlussanträge in den verbundenen Rechtssachen O u. a. (C‑356/11 und C‑357/11, EU:C:2012:595, Nr. 56).


7      Vgl. entsprechend Schlussanträge des Generalanwalts Mengozzi in der Rechtssache Noorzia (C‑338/13, EU:C:2014:288, Nrn. 34 und 36).


8      Vgl. in diesem Sinne Urteil vom 4. März 2010, Chakroun (C‑578/08, EU:C:2010:117, Rn. 43 und 44), sowie meine Schlussanträge in den verbundenen Rechtssachen O u. a. (C‑356/11 und C‑357/11, EU:C:2012:595, Nr. 63).


9      Vgl. meine Schlussanträge in den verbundenen Rechtssachen O u. a. (C‑356/11 und C‑357/11, EU:C:2012:595, Nrn. 77 und 78 und die dort angeführte Rechtsprechung) und Urteil vom 6. Dezember 2012, O u. a. (C‑356/11 und C‑357/11, EU:C:2012:776, Rn. 76).


10      Vgl. meine Schlussanträge in den verbundenen Rechtssachen O u. a. (C‑356/11 und C‑357/11, EU:C:2012:595, Nr. 73) sowie EGMR, 6. Juli 2010, Neulinger und Shuruk/Schweiz (CE:ECHR:2010:0706JUD004161507, § 136 und die dort angeführte Rechtsprechung).


11      Vgl. meine Schlussanträge in den verbundenen Rechtssachen O u. a. (C‑356/11 und C‑357/11, EU:C:2012:595, Nr. 74) sowie EGMR, 21. Dezember 2001, Sen/Niederlande (CE:ECHR:2001:1221JUD003146596, § 37), und 31. Januar 2006, Rodrigues da Silva und Hoogkamer/Niederlande (CE:ECHR:2006:0131JUD005043599, § 39). Vgl. auch Urteil vom 27. Juni 2006, Parlament/Rat (C‑540/03, EU:C:2006:429, Rn. 56).


12      Vgl. in diesem Sinne Urteil vom 6. Dezember 2012, O u. a. (C‑356/11 und C‑357/11, EU:C:2012:776, Rn. 81).


13      Vgl. Stellungnahme von Frans Timmermans, Vizepräsident der Europäischen Kommission, vom 30. November 2016, mit der die Mitgliedstaaten aufgefordert wurden, die Erfassung von unbegleiteten Minderjährigen zu beschleunigen und ihren Schutz zu verbessern.


14      Richtlinie des Rates vom 1. Dezember 2005 über Mindestnormen für Verfahren in den Mitgliedstaaten zur Zuerkennung und Aberkennung der Flüchtlingseigenschaft (ABl. 2005, L 326, S. 13).


15      Vgl. entsprechend Urteil vom 17. Juli 2014, Noorzia (C‑338/13, EU:C:2014:2092, Rn. 17).


16      Vgl. entsprechend meine Schlussanträge in der Rechtssache Danqua (C‑429/15, EU:C:2016:485, Nrn. 75 bis 79). Vgl. in diesem Sinne auch EGMR, 10. Juli 2014, Tanda-Muzinga/Frankreich (CE:ECHR:2014:0710JUD000226010, §§ 75 und 76).


17      Vgl. Urteil vom 27. Juni 2006, Parlament/Rat (C‑540/03, EU:C:2006:429, Rn. 57), in dem darauf hingewiesen wird, dass nach Art. 9 Abs. 1 des von der Generalversammlung der Vereinten Nationen mit Resolution 44/25 vom 20. November 1989 beschlossenen und am 2. September 1990 in Kraft getretenen Übereinkommens über die Rechte des Kindes die Vertragsstaaten sicherstellen, dass ein Kind nicht gegen den Willen seiner Eltern von diesen getrennt wird, und dass nach Art. 10 Abs. 1 aus dieser Verpflichtung folgt, dass von einem Kind oder seinen Eltern zwecks Familienzusammenführung gestellte Anträge auf Einreise in einen Vertragsstaat oder Ausreise aus einem Vertragsstaat von den Vertragsstaaten wohlwollend, human und beschleunigt bearbeitet werden. Vgl. auch Art. 22 dieses Übereinkommens, wonach jedes Kind das Recht hat, mit seinen Eltern zu leben. Vgl. außerdem die Schlussakte der Bevollmächtigtenkonferenz der Vereinten Nationen über die Rechtsstellung von Flüchtlingen und staatenlosen Personen vom 25. Juli 1951, sowie EGMR, 10. Juli 2014, Tanda‑Muzinga/Frankreich (CE:ECHR:2014:0710JUD000226010, §§ 44 und 45 sowie 48 und 49), die auch die Empfehlung des Ministerkomitees des Europarats Nr. R (99) 23über die Familienzusammenführung für Flüchtlinge und andere Menschen, die des internationalen Schutzes bedürfen, vom 15. Dezember 1999 erwähnen, oder auch das Memorandum vom 20. November 2008 von Thomas Hammarberg, Kommissar für Menschenrechte des Europarats, im Anschluss an seinen Besuch in Frankreich vom 21. bis 23. Mai 2008.


18      Die Expertengruppe des Europarats für die Bekämpfung des Menschenhandels empfiehlt in ihrem Fünften und ihrem Sechsten allgemeinen Tätigkeitsbericht (für die Zeiträume vom 1. Oktober 2014 bis 31. Dezember 2015 und vom 1. Januar 2016 bis 31. Dezember 2016, abrufbar unter: https://rm.coe.int/168063093d und https://rm.coe.int/1680706a43) einen besonderen Schutz für Kindermigranten und heranwachsende Migranten oder Asylbewerber vor der Gefahr des Menschenhandels, der sie ausgesetzt sind. Dieser weitreichende Schutz muss jedoch für alle Gefahren gewährt werden, denen minderjährige oder junge erwachsene Drittstaatsangehörige in den Hoheitsgebieten der Mitgliedstaaten ausgesetzt sind. Insbesondere hat diese Expertengruppe in ihrer Erklärung vom 28. Juli 2017 anlässlich des 4. Welttags gegen Menschenhandel, abrufbar unter: http://www.coe.int/fr/web/portal/news-2017/-/asset_publisher/StEVosr24HJ2/content/states-must-act-urgently-to-protect-refugee-children-from-trafficking?inheritRedirect=false&redirect=http%3A%2F%2Fwww.coe.int%2Ffr%2Fweb%2Fportal%2Fnews-2017%3Fp_p_id%3D101_INSTANCE_StEVosr24HJ2%26p_p_lifecycle%3D0%26p_p_state%3Dnormal%26p_p_mode%3Dview%26p_p_col_id%3Dcolumn-4%26p_p_col_count%3D1, vor allem die Einschränkungen der Familienzusammenführung durch zahlreiche Staaten in Frage gestellt.


19      Vgl. in diesem Sinne Urteil vom 4. März 2010, Chakroun (C‑578/08, EU:C:2010:117, Rn. 43), und meine Schlussanträge in den verbundenen Rechtssachen O u. a. (C‑356/11 und C‑357/11, EU:C:2012:595, Nr. 59).


20      Vgl. entsprechend Schlussanträge des Generalanwalts Mengozzi in der Rechtssache Noorzia (C‑338/13, EU:C:2014:288, Nrn. 25 und 61).


21      Vgl. Urteile vom 27. Juni 2006, Parlament/Rat (C‑540/03, EU:C:2006:429, Rn. 60), und vom 4. März 2010, Chakroun (C‑578/08, EU:C:2010:117, Rn. 41). Vgl. ebenfalls in diesem Sinne Schlussanträge des Generalanwalts Mengozzi in der Rechtssache Noorzia (C‑338/13, EU:C:2014:288, Nr. 23).


22      Vgl. Urteile vom 4. März 2010, Chakroun (C‑578/08, EU:C:2010:117, Rn. 43), und vom 6. Dezember 2012, O u. a. (C‑356/11 und C‑357/11, EU:C:2012:776, Rn. 74), sowie Schlussanträge des Generalanwalts Mengozzi in der Rechtssache Noorzia (C‑338/13, EU:C:2014:288, Nr. 24).


23      Vgl. Urteil vom 27. Juni 2006, Parlament/Rat (C‑540/03, EU:C:2006:429, Rn. 88), in dem der Gerichtshof darauf hinweist, dass die Mitgliedstaaten zwar nach einigen Bestimmungen der Richtlinie 2003/86 über einen Ermessensspielraum verfügen, sie jedoch verpflichtet bleiben, den Antrag im Hinblick auf das Kindeswohl und im Bemühen um eine Förderung des Familienlebens zu prüfen.