Language of document : ECLI:EU:C:2012:93

SCHLUSSANTRÄGE DES GENERALANWALTS

JÁN MAZÁK

vom 16. Februar 2012(1)

Verbundene Rechtssachen C‑611/10 und C‑612/10

Waldemar Hudzinski

gegen

Agentur für Arbeit Wesel – Familienkasse

und

Jaroslaw Wawrzyniak

gegen

Agentur für Arbeit Mönchengladbach – Familienkasse

(Vorabentscheidungsersuchen des Bundesfinanzhofs [Deutschland])

„Soziale Sicherheit – Kindergeld – Art. 14 Abs. 1 Buchst. a und Art. 14a Abs. 1 Buchst. a der Verordnung (EWG) Nr. 1408/71 – Vorübergehende Beschäftigung in einem anderen Mitgliedstaat – Anzuwendende Rechtsvorschriften – Befugnis eines nicht zuständigen Mitgliedstaats, Kindergeld zu gewähren“





I –    Einleitung

1.        Der Bundesfinanzhof (Deutschland) hat dem Gerichtshof mit zwei separaten Beschlüssen vom 21. Oktober 2010, die beim Gerichtshof am 23. Dezember 2010 eingegangen sind, gemäß Art. 267 AEUV Fragen nach der Auslegung von Art. 14 Abs. 1 Buchst. a und von Art. 14a Abs. 1 Buchst. a der Verordnung (EWG) Nr. 1408/71 des Rates vom 14. Juni 1971 über die Anwendung der Systeme der sozialen Sicherheit auf Arbeitnehmer und Selbständige sowie deren Familienangehörige, die innerhalb der Gemeinschaft zu- und abwandern, geändert und aktualisiert durch die Verordnung (EG) Nr. 118/97 des Rates vom 2. Dezember 1996(2), in der durch die Verordnung (EG) Nr. 647/2005 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 13. April 2005(3) geänderten Fassung (im Folgenden: Verordnung Nr. 1408/71), zur Vorabentscheidung vorgelegt.

2.        Diese beiden Ersuchen ergingen im Rahmen von Rechtsstreitigkeiten im Zusammenhang mit dem Anspruch auf Kindergeld in Deutschland. Der Rechtssache C‑611/10 liegt ein Verfahren zwischen Herrn Hudzinski, einem polnischen Staatsangehörigen, der als Saisonarbeitnehmer in der Bundesrepublik arbeitete, und der Agentur für Arbeit Wesel – Familienkasse zugrunde und der Rechtssache C‑612/10 ein Verfahren zwischen Herrn Wawrzyniak, einem polnischen Staatsangehörigen, der in Deutschland als „entsandter Arbeitnehmer“ arbeitete, und der Agentur für Arbeit Mönchengladbach – Familienkasse.

3.        Dem vorlegenden Gericht geht es im Wesentlichen um die Beantwortung der Frage, inwieweit ein Mitgliedstaat, der nicht der zuständige Staat ist und dessen Rechtsvorschriften auf einen Arbeitnehmer aufgrund der Verordnung Nr. 1408/71 nicht anwendbar sind, dennoch die Befugnis besitzt, dem betroffenen Arbeitnehmer Familienleistungen, wie beispielsweise das verfahrensgegenständliche Kindergeld, zu gewähren. Es ersucht daher, bestimmte Aspekte im Urteil Bosmann(4) klarzustellen, in dem der Gerichtshof zwar entschieden hat, dass Deutschland nach den Umständen dieses Falles nicht verpflichtet gewesen sei, Kindergeld zu gewähren, aber auch angemerkt hat, dass dem Wohnsitzmitgliedstaat nicht die Befugnis abgesprochen werden könne, den in seinem Gebiet wohnhaften Personen Familienbeihilfe zu gewähren.

II – Rechtlicher Rahmen

A –    Unionsrecht

4.         Art. 13 der Verordnung Nr. 1408/71 mit der Überschrift „Allgemeine Regelung“ sieht – soweit hier relevant – für die Bestimmung der anwendbaren Rechtsvorschriften Folgendes vor:

„(1)      Vorbehaltlich der Artikel 14c und 14f unterliegen Personen, für die diese Verordnung gilt, den Rechtsvorschriften nur eines Mitgliedstaats. Welche Rechtsvorschriften diese sind, bestimmt sich nach diesem Titel.

(2)      Soweit nicht die Artikel 14 bis 17 etwas anderes bestimmen, gilt Folgendes:

(a)      Eine Person, die im Gebiet eines Mitgliedstaats abhängig beschäftigt ist, unterliegt den Rechtsvorschriften dieses Staates, und zwar auch dann, wenn sie im Gebiet eines anderen Mitgliedstaats wohnt oder ihr Arbeitgeber oder das Unternehmen, das sie beschäftigt, seinen Wohn- oder Betriebssitz im Gebiet eines anderen Mitgliedstaats hat;

…“

5.        Art. 14 der Verordnung Nr. 1408/71 mit der Überschrift („Sonderregelung für andere Personen als Seeleute, die eine abhängige Beschäftigung ausüben“) lautet:

„Vom Grundsatz des Artikels 13 Absatz 2 Buchstabe a) gelten folgende Ausnahmen und Besonderheiten:

1. a)      Wird eine Person im Gebiet eines Mitgliedstaats von einem Unternehmen, dem sie gewöhnlich angehört, abhängig beschäftigt und von diesem Unternehmen zur Ausführung einer Arbeit für dessen Rechnung in das Gebiet eines anderen Mitgliedstaats entsandt, unterliegt sie weiterhin den Rechtsvorschriften des ersten Mitgliedstaats, sofern die voraussichtliche Dauer dieser Arbeit zwölf Monate nicht überschreitet und sie nicht eine andere Person ablöst, für welche die Entsendungszeit abgelaufen ist;

…“

6.        Artikel 14a der Verordnung Nr. 1408/71 („Sonderregelung für andere Personen als Seeleute, die eine selbständige Tätigkeit ausüben“) lautet:

„Vom Grundsatz des Artikels 13 Absatz 2 Buchstabe b) gelten folgende Ausnahmen und Besonderheiten:

1. a)      Eine Person, die eine selbständige Tätigkeit gewöhnlich in einem Mitgliedstaat ausübt und die eine Arbeit im Gebiet eines anderen Mitgliedstaats ausführt, unterliegt weiterhin den Rechtsvorschriften des ersten Mitgliedstaats, sofern die voraussichtliche Dauer dieser Arbeit zwölf Monate nicht überschreitet;

…“

7.        Art. 73 der Verordnung Nr. 1408/71 („Arbeitnehmer oder Selbständige, deren Familienangehörige in einem anderen Mitgliedstaat als dem zuständigen Staat wohnen“) sieht vor:

„Ein Arbeitnehmer oder ein Selbständiger, der den Rechtsvorschriften eines Mitgliedstaats unterliegt, hat, vorbehaltlich der Bestimmungen in Anhang VI für seine Familienangehörigen, die im Gebiet eines anderen Mitgliedstaats wohnen, Anspruch auf Familienleistungen nach den Rechtsvorschriften des ersten Staates, als ob diese Familienangehörigen im Gebiet dieses Staates wohnten.“

B –    Nationales Recht

8.        § 62 („Anspruchsberechtigte“) Abs. 1 des deutschen Einkommensteuergesetzes (im Folgenden: EStG) lautet wie folgt:

„Für Kinder im Sinne des § 63 hat Anspruch auf Kindergeld nach diesem Gesetz, wer:

1.      im Inland einen Wohnsitz oder seinen gewöhnlichen Aufenthalt hat oder

2.      ohne Wohnsitz oder gewöhnlichen Aufenthalt im Inland

a)       nach § 1 Absatz 2 unbeschränkt einkommensteuerpflichtig ist oder

b)       nach § 1 Absatz 3 als unbeschränkt einkommensteuerpflichtig behandelt wird.“

9.        Soweit hier relevant, lautet § 65 EStG:

„(1)       Kindergeld wird nicht für ein Kind gezahlt, für das eine der folgenden Leistungen zu zahlen ist oder bei entsprechender Antragstellung zu zahlen wäre:

1.      …

2.      Leistungen für Kinder, die im Ausland gewährt werden und dem Kindergeld oder einer der unter Nummer 1 genannten Leistungen vergleichbar sind;

3.      …

(2)      Ist in den Fällen des Absatzes 1 Satz 1 Nr. 1 der Bruttobetrag der anderen Leistung niedriger als das Kindergeld nach § 66, wird Kindergeld in Höhe des Unterschiedsbetrags gezahlt, wenn er mindestens 5 Euro beträgt.“

III – Die Klagen vor dem Bundesfinanzhof und die Vorlagefragen

A –    Rechtssache C‑611/10

10.      Herr Hudzinski, ein polnischer Staatsangehöriger, ist in Polen als selbständiger Landwirt tätig und dort sozialversichert.

11.      Vom 20. August bis zum 7. Dezember 2007 arbeitete er als Saisonarbeitnehmer bei einem Gartenbauunternehmen in Deutschland.

12.      Auf seinen Antrag wurde der Kläger für das Jahr 2007 nach § 1 Abs. 3 EStG in Deutschland als unbeschränkt einkommensteuerpflichtig behandelt.

13.      Herr Hudzinski beantragte für jedes seiner beiden Kinder für die Dauer seiner Beschäftigung in Deutschland als Saisonarbeitnehmer die Zahlung von Kindergeld gemäß §§ 62 ff. EStG in Höhe von 154 Euro pro Monat.

14.      Die Agentur für Arbeit Wesel – Familienkasse lehnte den Antrag ab und wies den gegen den ablehnenden Bescheid gerichteten Einspruch zurück. Auch eine Klage gegen die ablehnende Einspruchsentscheidung vor dem Finanzgericht wurde abgewiesen.

15.      Daher legte Herr Hudzinski beim vorlegenden Gericht Revision gegen das Urteil des Finanzgerichts ein.

16.      Im Ausgangsverfahren trägt Herr Hudzinski insbesondere vor, dass sich aus dem Urteil Bosmann(5) ergebe, dass der nach der Verordnung Nr. 1408/71 nicht zuständige Mitgliedstaat gemäß Art. 13 ff. dieser Verordnung gleichwohl Familienleistungen zu gewähren habe, wenn die entsprechenden Voraussetzungen des nationalen Rechts – in diesem Fall §§ 62 ff. EStG – gegeben seien.

17.      Das vorlegende Gericht merkt hierzu an, dass auch nach dem Urteil Bosmann(6) der nach Art. 14a Abs. 1 Buchst. a der Verordnung Nr. 1408/71 nicht zuständige Mitgliedstaat keine Befugnis habe, nach seinem nationalen Recht einer Person Familienleistungen zu gewähren, es sei denn, dass diese Person andernfalls infolge der Wahrnehmung ihres Rechts auf Freizügigkeit einen Rechtsnachteil erleiden würde – was aber bei Herrn Hudzinski nicht der Fall sei.

18.      Sollte einem nicht zuständigen Mitgliedstaat allerdings die Befugnis zustehen, Familienleistungen unabhängig davon zu gewähren, ob die Wahrnehmung des Rechts auf Freizügigkeit zu einem Rechtsnachteil führt, stellt sich für das vorlegende Gericht die Frage, ob eine solche Befugnis auch dann bestehen solle, wenn, wie im vorliegenden Fall – im Unterschied zur Situation im Fall Bosmann(7) –, weder der betroffene Arbeitnehmer noch seine Kinder im Gebiet des nicht zuständigen Staates wohnten oder ihren Aufenthalt hätten.

19.      Vor diesem Hintergrund hat der Bundesfinanzhof das Verfahren ausgesetzt und dem Gerichtshof folgende Frage zur Vorabentscheidung vorgelegt:

Ist Art. 14a Abs. 1 Buchst. a der Verordnung Nr. 1408/71 dahin auszulegen, dass er dem danach nicht zuständigen Mitgliedstaat jedenfalls dann die Befugnis nimmt, nach seinem nationalen Recht dem nur vorübergehend in seinem Gebiet beschäftigten Arbeitnehmer Familienleistungen zu gewähren, wenn weder der Arbeitnehmer selbst noch seine Kinder in dem nicht zuständigen Staat wohnen oder sich dort gewöhnlich aufhalten?

B –    Rechtssache C‑612/10

20.      Herr Wawrzyniak ist polnischer Staatsangehöriger und wohnt zusammen mit seiner Ehefrau und der gemeinsamen Tochter in Polen, wo er auch sozialversichert ist.

21.      Von Februar bis Dezember 2006 arbeitete Herr Wawrzyniak als „entsandter Arbeitnehmer“ in Deutschland. Für das Jahr 2006 wurde er in Deutschland zusammen mit seiner Ehefrau zur Einkommensteuer veranlagt.

22.      Für den Zeitraum, während dessen er in der Bundesrepublik arbeitete, beantragte Herr Wawrzyniak für seine im Jahr 2005 geborene Tochter die Zahlung von Kindergeld gemäß §§ 62 ff. EStG in Höhe von 154 Euro pro Monat. In diesem Zeitraum war seine Ehefrau in Polen ausschließlich gesundheitsversichert und erhielt dort Kindergeld für die Tochter in Höhe von monatlich 48 PLN (ungefähr 12 Euro).

23.      Die Agentur für Arbeit Mönchengladbach – Familienkasse lehnte den Antrag von Herrn Wawrzyniak auf Zahlung von Kindergeld gemäß §§ 62 ff. EStG ab und wies den gegen den ablehnenden Bescheid gerichteten Einspruch zurück. Eine Klage vor dem Finanzgericht wurde ebenfalls abgewiesen.

24.      Im Ausgangsverfahren hat das vorlegende Gericht über eine Revision von Herrn Wawrzyniak gegen das Urteil des Finanzgerichts zu entscheiden.

25.      Ebenso wie Herr Hudzinski vertritt auch Herr Wawrzyniak im Hauptverfahren die Ansicht, dass sich aus dem Urteil Bosmann ergebe, dass §§ 62 ff. EStG auf ihn anwendbar seien, obwohl die deutschen Rechtsvorschriften nach Art. 14 Abs. 1 Buchst. a der Verordnung Nr. 1408/71 nicht die auf ihn anwendbaren Rechtsvorschriften im Sinne dieser Verordnung seien.

26.      Wie in seinem Vorlagebeschluss in der Rechtssache C‑611/10 vertritt der Bundesfinanzhof die Ansicht, dass der nach den Art. 13 ff. der Verordnung Nr. 1408/71 nicht zuständige Mitgliedstaat nach ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofs keine Befugnis habe, nach deutschem Recht Kindergeld zu gewähren, auch wenn die Erfordernisse von §§ 62 ff. EStG erfüllt seien.

27.      Der Bundesfinanzhof weist darauf hin, dass Herr Wawrzyniak im Unterschied zu Frau Bosmann(8) durch die Wahrnehmung seines Rechts auf Freizügigkeit keinen Rechtsnachteil erlitten habe, da weiterhin polnisches Recht auf ihn anwendbar gewesen sei. Zudem sei sein Wohnsitz, an dem er mit seiner Frau und der gemeinsamen Tochter lebe, in Polen.

28.      Ferner merkt der Bundesfinanzhof an, dass sich dann, wenn es unter solchen Umständen einem nicht zuständigen Mitgliedstaat nicht verwehrt sein sollte, nach nationalem Recht Familienleistungen zu gewähren, die Frage stelle, inwieweit die Anerkennung dieser Befugnis von der Feststellung abhänge, dass im zuständigen Mitgliedstaat kein Anspruch auf vergleichbare Familienleistungen bestehe, da im vorliegenden Fall festgestellt worden sei, dass die Tochter von Herrn Wawrzyniak im relevanten Zeitraum nach polnischem Recht einen Anspruch auf Familienleistungen gehabt habe und dass diese Leistungen auch tatsächlich ausgezahlt worden seien.

29.      Zudem stelle sich dann, wenn man davon ausgehen müsse, dass ein im Sinne von Art. 13 ff. der Verordnung Nr. 1408/71 nicht zuständiger Mitgliedstaat die Befugnis besitze, Familienleistungen nach dessen nationalem Recht zu gewähren, die Frage, ob das Unionsrecht einer Vorschrift wie § 65 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 in Verbindung mit § 65 Abs. 2 EStG entgegenstehe, der zufolge Kindergeld nicht zu gewähren sei, wenn das Kind vergleichbare Leistungen in einem anderen Land als der Bundesrepublik erhalte. Nach Ansicht des Bundesfinanzhofs sollte diese Frage verneint werden, da dadurch weder gegen das Recht der Arbeitnehmer auf Freizügigkeit noch gegen Diskriminierungsverbote verstoßen werde.

30.      Schließlich müsse, falls das Unionsrecht doch der Anwendung der oben genannten EStG-Vorschriften entgegenstünde, die Frage der Anspruchskumulation gelöst werden.

31.      Vor diesem Hintergrund hat der Bundesfinanzhof das Verfahren ausgesetzt und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorgelegt:

1.      Ist Art. 14 Abs. 1 Buchst. a der Verordnung Nr. 1408/71 dahin auszulegen, dass er dem danach nicht zuständigen Mitgliedstaat, in den ein Arbeitnehmer entsandt wird und der auch nicht der Wohnmitgliedstaat der Kinder des Arbeitnehmers ist, jedenfalls dann die Befugnis nimmt, dem entsandten Arbeitnehmer Familienleistungen zu gewähren, wenn der Arbeitnehmer durch seine Entsendung in diesen Mitgliedstaat keinen Rechtsnachteil erleidet?

2.      Für den Fall, dass die erste Frage verneint wird:

Ist Art. 14 Abs. 1 Buchst. a der Verordnung Nr. 1408/71 dahin auszulegen, dass der nicht zuständige Mitgliedstaat, in den ein Arbeitnehmer entsandt wird, jedenfalls nur befugt ist, Familienleistungen zu gewähren, wenn feststeht, dass in dem anderen Mitgliedstaat kein Anspruch auf vergleichbare Familienleistungen besteht?

3.      Falls auch diese Frage verneint wird:

Stehen dann gemeinschafts- bzw. unionsrechtliche Vorschriften einer nationalen Rechtsvorschrift wie § 65 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 in Verbindung mit § 65 Abs. 2 EStG entgegen, die einen Anspruch auf Familienleistungen ausschließt, wenn eine vergleichbare Leistung im Ausland zu zahlen ist oder bei entsprechender Antragstellung zu zahlen wäre?

4.      Falls diese Frage bejaht wird:

Wie ist die dann gegebene Kumulation des Anspruchs im zuständigen Staat, der zugleich Wohnmitgliedstaat der Kinder ist, und des Anspruchs im nicht zuständigen Staat, der auch nicht Wohnmitgliedstaat der Kinder ist, zu lösen?

IV – Verbindung der Rechtssachen

32.      Angesichts des engen Zusammenhangs zwischen den Rechtssachen C‑611/10 und C‑612/10 sind diese mit Beschluss des Präsidenten des Gerichtshofs vom 14. Februar 2011 zu gemeinsamem schriftlichen und mündlichen Verfahren und zu gemeinsamer Entscheidung verbunden worden.

V –    Rechtliche Würdigung

A –    Zu der einzigen Frage in der Rechtssache C‑611/10 und den Fragen 1 und 2 in der Rechtssache 612/10: Befugnis eines nicht zuständigen Mitgliedstaats, Kindergeld zu gewähren

33.      Mit der einzigen Frage in der Rechtssache C‑611/10 und den Fragen 1 und 2 in der Rechtssache 612/10, die sinnvollerweise gemeinsam betrachtet werden sollten, möchte das vorlegende Gericht wissen, ob Art. 14 Abs. 1 Buchst. a und Art. 14a Abs. 1 Buchst. a der Verordnung Nr. 1408/71 jeweils dahin auszulegen sind, dass sie dem Mitgliedstaat, dessen Rechtsvorschriften nach diesen Bestimmungen nicht anwendbar sind, die Befugnis nehmen, einem Arbeitnehmer, der in seinem Gebiet nur vorübergehend beschäftigt ist oder dahin entsandt wurde, Familienleistungen zu gewähren, wenn es um Fälle wie jene geht, mit denen das vorlegende Gericht befasst ist, in denen weder der Arbeitnehmer noch seine Kinder in diesem Mitgliedstaat ihren gewöhnlichen Aufenthalt haben, der Arbeitnehmer durch die Wahrnehmung seines Rechts auf Freizügigkeit keinen Rechtsnachteil erleidet und im zuständigen Staat ein Anspruch auf Kindergeld besteht oder bestehen könnte.

1.      Wesentliches Vorbringen der Verfahrensbeteiligten

34.      Von Herrn Hudzinski und Herrn Wawrzyniak und auch von der ungarischen und der deutschen Regierung sowie von der Kommission sind schriftliche Erklärungen eingereicht worden. Diese Verfahrensbeteiligten waren auch in der mündlichen Verhandlung vom 6. Dezember 2011 vertreten.

35.      Herr Hudzinski und Herr Wawrzyniak behaupten im Wesentlichen, aus dem Urteil Bosmann(9) ergebe sich, dass die Art. 14 Abs. 1 Buchst. a und 14a Abs. 1 Buchst. a der Verordnung Nr. 1408/71 dahin auszulegen seien, dass sie dem danach nicht zuständigen Mitgliedstaat in Fällen wie jenen, mit denen das vorlegende Gericht befasst sei, nicht die Befugnis nähmen, Kindergeld zu gewähren.

36.      Herr Hudzinski und Herr Wawrzyniak sind der Ansicht, dass die Bestimmung der anzuwendenden Rechtsvorschriften gemäß der Verordnung Nr. 1408/71 die Anwendung nationaler Vorschriften eines anderen Mitgliedstaats nicht ausschließe, wenn die Bedingungen dieser nationalen Vorschriften erfüllt seien. Sie weisen darauf hin, dass diese Koordinierungsvorschriften nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs nicht dazu führen dürften, dass Wanderarbeitnehmer ihrer Sozialleistungen verlustig gingen oder der Betrag dieser Leistungen verringert werde. Die Koordinierungsvorschriften der Verordnung Nr. 1408/71 stellten bloß sicher, dass die Rechtsvorschriften nur eines Mitgliedstaats als anwendbares Recht bestimmt würden, sie seien aber neutral hinsichtlich der Frage, ob zusätzlich und jenseits des Rahmens der Verordnung Nr. 1408/71 ein Mitgliedstaat Familienleistungen nach dessen nationalem Recht gewähren dürfe. Dieses Recht des nicht zuständigen Mitgliedstaats, Familienleistungen zu gewähren, hänge zudem nicht davon ab, ob der Arbeitnehmer einen Rechtsnachteil erlitten habe; und es sei auch nicht nötig, dass die Kinder des Arbeitnehmers dort ihren gewöhnlichen Aufenthalt hätten. Eine andere Auslegung stünde dem Grundsatz der Freizügigkeit der Arbeitnehmer entgegen.

37.      Was das Bestehen eines Anspruchs auf vergleichbare Familienleistungen im zuständigen Mitgliedstaat anlangt, so sind Herr Hudzinski und Herr Wawrzyniak der Ansicht, dass sich aus dem Urteil Bosmann(10) nicht ableiten lasse, dass der Gerichtshof das Fehlen solch korrespondierender Ansprüche als Voraussetzung dafür erachte, dass ein nicht zuständiger Mitgliedstaat berechtigt sei, Familienleistungen zu gewähren. Es sei einzig und allein Sache des jeweiligen nationalen Gesetzgebers, Vorschriften für den Fall einer Anspruchskumulation zu erlassen.

38.      Die ungarische Regierung teilt im Wesentlichen die Ansicht von Herrn Hudzinski und Herrn Wawrzyniak. Sie bringt vor, dass auch dann, wenn die deutschen Behörden gemäß der Verordnung Nr. 1408/71 nicht verpflichtet seien, den betroffenen Arbeitnehmern Familienleistungen zu gewähren, aus dem Urteil Bosmann(11) und aus den Zielsetzungen und der Systematik der Verordnung Nr. 1408/71 gefolgert werden müsse, dass es diesen Behörden nicht verwehrt sei, solche Leistungen nach deren nationalem Recht zu gewähren. Allerdings sehe das Unionsrecht dazu auch keine Verpflichtung des nicht zuständigen Mitgliedstaats vor.

39.      Demgegenüber trägt die deutsche Regierung vor, dass diese Fragen verneint werden sollten, das heißt, dass es Deutschland – als nicht zuständigem Mitgliedstaat – nach Art. 14 Abs. 1 Buchst. a und Art. 14a Abs. 1 Buchst. a der Verordnung Nr. 1408/71 in jedem Fall verwehrt sei, in solchen Situationen Familienleistungen zu gewähren.

40.      Die deutsche Regierung stützt ihren Standpunkt im Wesentlichen auf drei Argumente. Zunächst verweist sie auf den Wortlaut von Art. 13 Abs. 1 der Verordnung Nr. 1408/71, wonach Personen, für die die Verordnung gelte, dem Recht nur eines Mitgliedstaats unterlägen. Zweitens handelt es sich hier nach Meinung der deutschen Regierung um einen fundamentalen Grundsatz, der der Verordnung Nr. 1408/71 zugrunde liege und der auch durch die ständige Rechtsprechung des Gerichtshofs bestätigt worden sei.

41.      Drittens seien die Sachverhalte der Fälle, die das vorlegende Gericht zu behandeln habe, von jenem in der Rechtssache Bosmann(12) zu unterscheiden. Insbesondere habe Frau Bosmann in Deutschland gewohnt und daher grundsätzlich Anspruch auf Kindergeld in diesem Mitgliedstaat gehabt – wobei sie diesen Anspruch jedoch später, als sie in den Niederlanden eine Erwerbstätigkeit aufgenommen habe, wieder verloren habe. In den vorliegenden Fällen seien Herr Hudzinski und Herr Wawrzyniak keiner Rechte oder Ansprüche deshalb verlustig gegangen, weil sie vorübergehend in Deutschland gearbeitet hätten, sondern sie hätten lediglich keine zusätzlichen Rechte erworben; zudem habe sich das anwendbare Recht nicht geändert. Jedenfalls folge aus dem Urteil Bosmann allenfalls, dass Deutschland Kindergeld gewähren dürfe, wenn es dies wolle; unter Umständen wie jenen des Ausgangsverfahrens bestehe jedoch kein Anspruch nach nationalem Recht, was aus § 65 Abs. 1 EStG klar hervorgehe.

42.      Die deutsche Regierung betont schließlich, dass das Recht, Familienleistungen zu gewähren, nicht über die Erfordernisse, die in den Bestimmungen über die Grundfreiheiten festgelegt seien, hinaus ausgedehnt werden könne. Wäre dies der Fall, würde dem unter Titel II der Verordnung Nr. 1408/71 errichteten Koordinierungssystem seine praktische Wirksamkeit genommen. Dieses System führe weder zu einer Diskriminierung noch zu Beschränkungen der durch Art. 45 und 56 AEUV gewährten Freiheiten. Vor allem enthielten die Bestimmungen über die Grundfreiheiten kein „Günstigkeitsprinzip“, wonach es Unionsbürgern freistünde, die für sie vorteilhaftesten Rechtsvorschriften auszuwählen. Vielmehr zielten die in Titel II der Verordnung Nr. 1408/71 dargelegten Regelungen darauf ab, nach objektiven Kriterien die sozialversicherungsrechtlichen Vorschriften zu bestimmen, die auf eine erwerbstätige Person, die von ihrem Recht auf Freizügigkeit Gebrauch gemacht habe, anzuwenden seien.

43.      Die Kommission schlägt vor, die Vorlagefragen so zu beantworten, dass Art. 14 Abs. 1 Buchst. a und Art. 14a Abs. 1 Buchst. a der Verordnung Nr. 1408/71 den danach nicht zuständigen Mitgliedstaat nicht verpflichteten, unter den vorliegenden Umständen Familienleistungen zu gewähren.

44.      Die Kommission weist vor allem darauf hin, dass sich die Sachverhalte in den Rechtssachen Hudzinski und Wawrzyniak von jenem, auf dessen Grundlage der Gerichtshof sein Urteil Bosmann(13) gefällt habe, fundamental unterschieden. So hätten im Unterschied zu Frau Bosmann weder Herr Hudzinski noch Herr Wawrzyniak ihren Anspruch auf Kindergeld in Polen verloren; zudem habe keiner von beiden aufgrund der Wahrnehmung seines Rechts auf Freizügigkeit einen Nachteil erlitten.

45.      Die Kommission ist der Ansicht, es sei nicht völlig ausgeschlossen, dass der Gerichtshof, in Analogie zu in der Verordnung Nr. 1408/71 vorgesehenen Sonderfällen, entscheiden könnte, dass es in Fällen wie jenen, die das vorlegende Gericht zu behandeln habe, mehr als einen zuständigen Staat und eine Anspruchskumulation geben könnte. Die Kommission warnt jedoch vor solch einer Sichtweise, da dies die gegenwärtige Rechtslage nach der Verordnung Nr. 1408/71 oder der neuen Verordnung (EG) Nr. 883/2004 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 29. April 2004 zur Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit(14) nicht widerspiegeln würde und somit für die Unionsbürger irreführend sein könnte.

2.      Beurteilung

46.      Es ist zunächst daran zu erinnern, dass Titel II der Verordnung Nr. 1408/71 – zu dem auch Art. 14 Abs. 1 Buchst. a und Art. 14a Abs. 1 Buchst. a gehören – die allgemeine Regelung für die Bestimmung der Rechtsvorschriften enthält, die auf Arbeitnehmer anzuwenden sind, die unter verschiedenen Umständen von ihrem Recht auf Freizügigkeit Gebrauch machen(15).

47.      In dieser Hinsicht stellen sowohl Art. 14 Abs. 1 Buchst. a als auch Art. 14a Abs. 1 Buchst. a der Verordnung Nr. 1408/71 Ausnahmen zur Regel dar, die in deren Art. 13 Abs. 2 Buchst. a aufgestellt wird, wonach ein Arbeitnehmer den Rechtsvorschriften des Mitgliedstaats unterliegt, in dem er abhängig beschäftigt ist (lex loci laboris), indem sie vorschreiben, dass Personen, die zur Ausübung einer Beschäftigung in das Gebiet eines anderen Mitgliedstaats entsandt werden oder vorübergehend in einem anderen Mitgliedstaat beschäftigt sind, weiterhin den sozialrechtlichen Vorschriften des Mitgliedstaats unterliegen, in dem das Unternehmen, das sie beschäftigt, seinen Betriebssitz hat oder wo sie normalerweise eine selbständige Tätigkeit ausüben, und nicht den entsprechenden Vorschriften des Mitgliedstaats, in dem solche Arbeitnehmer im relevanten Zeitraum tatsächlich einer Beschäftigung nachgehen(16).

48.      Anzumerken ist, dass die Prämissen, auf denen die Vorlagefragen beruhen, im Kern nicht in Frage gestellt worden sind, nämlich, dass auf Herrn Hudzinski Art. 14 Abs. 1 Buchst. a der Verordnung Nr. 1408/71 und auf Herrn Wawrzyniak Art. 14a Abs. 1 Buchst. a dieser Verordnung anzuwenden ist, was bedeutet, dass im Hinblick auf das Kindergeld in beiden Fällen die Rechtsvorschriften Polens als anwendbar bestimmt werden und dass daher Polen – und nicht Deutschland – der zuständige Mitgliedstaat für die Zwecke des Koordinierungssystems des Titels II der Verordnung Nr. 1408/71 ist.

49.      Die einzige Frage in der Rechtssache C‑611/10 und die Fragen 1 und 2 in der Rechtssache C‑612/10 zielen daher lediglich darauf ab, ob Deutschland als nicht zuständigem Mitgliedstaat dennoch – aufgrund des Urteils Bosmann(17) – nicht die Befugnis genommen wird, unter den vorliegenden Umständen Kindergeld zu gewähren.

50.      In dieser Hinsicht sollte zunächst in Erinnerung gerufen werden, dass es nach ständiger Rechtsprechung der Zweck von Titel II der Verordnung Nr. 1408/71 ist, sicherzustellen, dass die betroffenen Personen dem Sozialversicherungssystem nur eines Mitgliedstaats unterliegen, damit nicht mehr als ein nationales Rechtssystem anwendbar ist und damit einhergehende Komplikationen vermieden werden. Dieser Grundsatz wird in Art. 13 Abs. 1 der Verordnung Nr. 1408/71 ausformuliert, dem zufolge ein Arbeitnehmer, für den diese Verordnung gilt, den Rechtsvorschriften nur eines Mitgliedstaats unterliegt(18).

51.      Im Urteil Bosmann hat der Gerichtshof unter Bezugnahme auf die oben genannte Rechtsprechung und auf der Grundlage der in Art. 13 Abs. 2 Buchst. a der Verordnung Nr. 1408/71 festgeschriebenen Regel der lex loci laboris entschieden, dass die Rechtsvorschriften des Mitgliedstaats, in dem Frau Bosmann eine Beschäftigung aufgenommen hatte, also die Rechtsvorschriften der Niederlande, auf ihren Sachverhalt anwendbar waren(19).

52.      Daher hat der Gerichtshof, im Einklang mit der Position, die ich in meinen Schlussanträgen(20) in dieser Rechtssache vertreten habe, gefolgert, dass die Behörden in Deutschland, dem (nicht zuständigen) Wohnmitgliedstaat, nicht verpflichtet waren, Frau Bosmann die fraglichen Familienleistungen zu gewähren(21).

53.      Während er somit klar zum Ausdruck gebracht hat, dass nach Unionsrecht der nicht zuständige Wohnmitgliedstaat nicht verpflichtet ist, das gegenständliche Kindergeld zu gewähren, hat der Gerichtshof im folgenden Teil des Urteils Bosmann entschieden, dass diesem Staat jedoch nicht die Befugnis abgesprochen werden kann, das fragliche Kindergeld aufgrund seines nationalen Rechts zu gewähren(22).

54.      Diese Schlussfolgerung, dass es nämlich erlaubt sei, solche Leistungen zu gewähren, wird erst verständlich, wenn sie vor dem Hintergrund des oben erwähnten(23) Grundsatzes gelesen wird, der in Art. 13 Abs. 1 der Verordnung Nr. 1408/71 verankert ist, wonach das System der Kollisionsnormen in Titel II dieser Verordnung darauf abzielt, sicherzustellen, dass im Allgemeinen ein Arbeitnehmer dem System der sozialen Sicherheit eines einzigen Mitgliedstaats unterliegt, und auch im Licht der Wirkung, die die Ten-Holder-Rechtsprechung der Bestimmung der Rechtsvorschriften eines Mitgliedstaats als die aufgrund dieser Kollisionsregeln auf einen Arbeitnehmer anzuwendenden Rechtsvorschriften beimisst, und zwar „dass nur die Rechtsvorschriften dieses Mitgliedstaats auf ihn anwendbar sind“(24).

55.      Im Urteil Bosmann hat der Gerichtshof – vor allem im Licht des allgemeinen Zwecks von Art. 42 EG, auf dem die Verordnung Nr. 1408/71 beruht, nämlich der Erleichterung der Freizügigkeit der Arbeitnehmer, und des Ziels des durch diese Verordnung geschaffenen Koordinierungssystems, nämlich zur Verbesserung des Lebensstandards und der Arbeitsbedingungen der Arbeitnehmer beizutragen(25) – offenbar die Ansicht vertreten, dass die „Ausschließlichkeitswirkung“ der in Art. 13 ff. der Verordnung Nr. 1408/71 dargelegten Vorschriften, die sich aus der „ein-Mitgliedstaat-Regel“ ergibt und auch in der Ten-Holder-Rechtsprechung zum Ausdruck kommt, in Bezug auf Umfang und Bedeutung eng ausgelegt werden muss, so dass es jedenfalls einem Mitgliedstaat, der nicht der zuständige Staat ist, nicht verwehrt sein kann, eine Leistung zu gewähren, sofern sich diese Möglichkeit aus seinen Rechtsvorschriften ergibt(26).

56.      Dies scheint, wie Herr Hudzinski und Herr Wawrzyniak vorgebracht haben, darauf hinauszulaufen, dass die Vorschriften der Verordnung Nr. 1408/71 über die Bestimmung der Rechtsvorschriften, die auf Arbeitnehmer, die sich innerhalb der Europäischen Union bewegen, anwendbar sind, sicherstellen sollen, dass in diesem Koordinierungssystem, vorbehaltlich bestimmter Ausnahmen(27), die Rechtsvorschriften nur eines Mitgliedstaats als anwendbar bestimmt werden und dass demnach, soweit der zuständige Mitgliedstaat betroffen ist, die Zuständigkeit verpflichtend ist, obwohl das nicht bedeutet – wie der Gerichtshof jüngst im Urteil Chamier-Glisczinski festgestellt hat –, dass es Mitgliedstaaten, die nicht der zuständige Staat sind, verboten ist, „Arbeitnehmern sowie deren Familienangehörigen einen weiter gehenden sozialen Schutz zu gewähren, als sich aus der Anwendung dieser Verordnung ergibt“(28).

57.      Zugegebenermaßen geht allerdings aus dem Urteil Bosmann(29), wie das vorlegende Gericht richtig angemerkt hat, nicht eindeutig hervor, inwieweit diese Entscheidung – dahin, dass es einem Mitgliedstaat freistehe, die genannte Familienleistung zu gewähren – auf die speziellen Umstände dieses Einzelfalls zugeschnitten war, die jedoch in den hier vorliegenden Rechtssachen nicht gegeben sind, und zwar: (i) die Tatsache, dass Frau Bosmann aufgrund der Anwendung der niederländischen Rechtsvorschriften (der Rechtsvorschriften des zuständigen Beschäftigungsmitgliedstaats) einen Nachteil erlitt, da die Bedingungen für die Gewährung von Kindergeld dort weniger günstig waren als nach deutschem Recht (den Rechtsvorschriften des nicht zuständigen Wohnsitzmitgliedstaats); (ii) die Tatsache, dass es im zuständigen Mitgliedstaat überhaupt keinen vergleichbaren Anspruch auf Kindergeld gab; und schließlich (iii) die Tatsache, dass Frau Bosmann und jedenfalls ihre Kinder im betroffenen nicht zuständigen Mitgliedstaat wohnten oder ihren gewöhnlichen Aufenthalt hatten.

58.      Meiner Meinung nach geht die Ratio des Urteils Bosmann(30), obwohl der Gerichtshof sein Urteil auf der Grundlage der besonderen Umstände dieses Einzelfalls zu fällen hatte, weshalb eine andere Sichtweise des Urteils nicht ausgeschlossen sein dürfte, über diese Faktoren oder Bedingungen hinaus, indem ganz allgemein klargestellt wird, welche – oben beschriebene(31) – Beziehung zwischen den Vorschriften der Verordnung Nr. 1408/71 über die Bestimmung der anzuwendenden Rechtsvorschriften einerseits und der Möglichkeit eines nicht zuständigen Mitgliedstaats, auf Basis seiner eigenen Rechtsvorschriften solche Leistungen zu gewähren, andererseits besteht.

59.      In diesem Zusammenhang möchte ich zunächst betonen, dass – auch nach dem Urteil Bosmann(32) – nichts darauf hinweist, dass die Rechtsprechung davon abgegangen wäre, dass es – weil die Verordnung Nr. 1408/71 aufgrund der entsprechenden Vorgaben von Art. 42 EG (jetzt Art. 48 AEUV) bloß ein Koordinierungssystem schafft und die materiell- und verfahrensrechtlichen Unterschiede zwischen den Sozialversicherungssystemen unberührt lässt – für einen Arbeitnehmer, der in mehr als einem Mitgliedstaat eine Beschäftigung ausübt oder seine Tätigkeit in einen anderen Mitgliedstaat verlegt, keine Garantie gibt, dass dies sozialversicherungsrechtlich neutral vonstattengeht. Vielmehr kann nach der Rechtsprechung eine solche Ausweitung oder Verlagerung aufgrund der Unterschiede zwischen den Systemen der sozialen Sicherheit der verschiedenen Mitgliedstaaten für den Erwerbstätigen je nach Einzelfall Vor- oder Nachteile in Bezug auf die soziale Sicherheit haben(33).

60.      Mit anderen Worten bestimmt sich, wie die deutsche Regierung richtig angemerkt hat, das nach dem System der Verordnung Nr. 1408/71 anzuwendende Recht nicht nach dem Grundsatz, dass Personen, die in zwei oder mehr Ländern erwerbstätig oder wohnhaft sind, den für sie günstigeren Rechtsvorschriften unterliegen sollten, sondern nach objektiven Faktoren wie Beschäftigungsort oder Wohnsitz(34).

61.      Ebenso wie die Verpflichtung eines Mitgliedstaats, seine sozialversicherungsrechtlichen Vorschriften im Einklang mit den Koordinierungsregeln von Titel II der Verordnung Nr. 1408/71 auf die Situation eines bestimmten Arbeitnehmers anzuwenden, nicht dadurch bestimmt wird, ob sich daraus für den Arbeitnehmer ein Vor- oder Nachteil im Hinblick auf vergleichbare Leistungen eines anderen Mitgliedstaats ergibt, gibt es meiner Meinung nach keinen vernünftigen Grund, warum andererseits das Recht des nicht zuständigen Mitgliedstaats, eine Leistung auf Basis seines eigenen Rechts zu gewähren, davon abhängen sollte, ob andernfalls die Anwendung der Rechtsvorschriften des zuständigen Mitgliedstaats zu einem Nachteil – wie dem, den Frau Bosmann in casu tatsächlich erlitten hat (Verlust des Kindergelds) – führen würde.

62.      Diese Ansicht wird nicht durch die Reihe von Fällen in Frage gestellt, auf die auch im Urteil Bosmann(35) Bezug genommen wurde, in denen der Gerichtshof entschieden hat, dass Wanderarbeitnehmer im Licht der Ziele der Verordnung Nr. 1408/71 nicht deshalb Ansprüche auf Leistungen der sozialen Sicherheit verlieren oder geringere Leistungen erhalten dürfen, weil sie das ihnen vom Vertrag verliehene Recht auf Freizügigkeit ausgeübt haben(36).

63.      Diese Rechtsprechung hat in Bezug auf die Bestimmungen der Verordnung Nr. 1408/71 nämlich keinen übergreifenden Grundsatz dahin aufgestellt, dass die Wahrnehmung des Rechts auf Freizügigkeit, und damit ein Wechsel der anzuwendenden sozialversicherungsrechtlichen Vorschriften, niemals zu geringeren Sozialleistungen oder deren Verlust führen dürfe. Vielmehr bezieht sie sich auf spezielle Bestimmungen der Verordnung Nr. 1408/71, wie z. B. Art. 58 Abs. 1 betreffend die Berechnung der Geldleistungen unter Zugrundelegung eines Durchschnittslohns oder ‑gehalts, worum es im Urteil Nemec(37) ging, auf das im Urteil Bosmann(38) verwiesen wird.

64.      Im Großen und Ganzen bezieht sich diese Rechtsprechung auf Fälle, in denen es um den Anspruch auf Sozialleistungen geht und insbesondere um deren Berechnung im zuständigen Mitgliedstaat unter Zugrundelegung von erworbenen Versicherungszeiten oder geleisteten Beiträgen, oder, allgemeiner ausgedrückt, auf Rechte, die in einem anderen Mitgliedstaat vor der Wahrnehmung des Rechts auf Freizügigkeit erworben worden sind, und zielt darauf ab, dass jene Faktoren, die eine Sozialleistung begründen, gebührend berücksichtigt werden und damit nicht „verloren“ gehen, wenn es um den Anspruch auf die fraglichen Sozialleistungen im zuständigen Mitgliedstaat geht(39).

65.      Da es somit klar ist, dass es sich bei der Rechtssache Nemec(40) um einen völlig anderen Sachverhalt handelt als in der Rechtssache Bosmann(41), kann aus dem Verweis in Randnr. 29 des Urteils Bosmann auf das Urteil Nemec nicht geschlossen werden, dass der Gerichtshof gemeint habe, dass der Verlust des Kindergelds, den Frau Bosmann aufgrund der Änderung der anwendbaren Rechtsvorschriften erlitten habe, dazu geführt habe, dass es für Deutschland als dem nicht zuständigen Mitgliedstaat möglich geworden sei, diese Leistung dennoch aufgrund von dessen nationalem Recht zu gewähren. Vielmehr hat der Gerichtshof meiner Meinung nach eher allgemein auf dieses Urteil Bezug genommen – wie auch auf andere Faktoren, wie beispielsweise Art. 42 EG und die Präambel zur Verordnung Nr. 1408/71 –, um zu zeigen, dass diese Verordnung in dem Sinne günstig für Wanderarbeitnehmer ausgelegt werden muss, dass – was die im Urteil Bosmann zu beantwortende Frage betrifft – durch ihre Bestimmungen einem Mitgliedstaat, auch wenn er nicht der zuständige Staat ist, nicht verboten wird, Arbeitnehmern nach seinem nationalen Recht Sozialleistungen zu gewähren(42).

66.      Aus all dem ergibt sich für mich, dass es einem Mitgliedstaat, der nicht der zuständige Staat ist, aufgrund der Verordnung Nr. 1408/71 nicht verwehrt ist, Arbeitnehmern und deren Familienangehörigen Familienleistungen zusätzlich zum oder über den Schutz, der sich aufgrund der Anwendung dieser Verordnung ergibt, hinausgehend zu gewähren, und dies gilt auch für Fälle wie die hier in Rede stehenden, in denen der Arbeitnehmer aufgrund der Wahrnehmung seines Rechts auf Freizügigkeit weder einen Verlust noch eine Verringerung seiner sozialen Absicherung im Vergleich zu vorher erleidet und in denen im zuständigen Staat ein Anspruch auf Kindergeld besteht oder bestehen könnte.

67.      Was schließlich die Relevanz des Wohnsitzes im Mitgliedstaat betrifft, der nicht der zuständige Staat ist, so meine ich, dass die Befugnis dieses Mitgliedstaats, Sozialleistungen zu gewähren, als solche nicht davon abhängt, ob diese Voraussetzung erfüllt ist.

68.      Vielmehr stellte der Wohnsitz oder der gewöhnliche Aufenthalt unter den besonderen Umständen der Rechtssache Bosmann bloß das relevante materielle Erfordernis dar, aufgrund dessen gemäß § 62 Abs. 1 Nr. 1 EStG für Frau Bosmann ein Anspruch auf Kindergeld in Deutschland bestand(43).

69.      Es scheint jedoch keinen objektiven Grund zu geben, warum es einem Mitgliedstaat, der nicht der zuständige Staat ist, verboten sein sollte, Kindergeld zu gewähren, wenn der Anspruch auf Kindergeld, wie in den vorliegenden Fällen, auf einem anderen verbindenden Faktor beruht, wie beispielsweise, dass jemand in Deutschland unbeschränkt einkommensteuerpflichtig ist oder als unbeschränkt einkommensteuerpflichtig behandelt wird, wie dies § 62 Abs. 1 Nr. 2 EStG vorsieht. Nach der Ratio des Urteils Bosmann ist die entscheidende Frage, ob sich der Anspruch auf die fraglichen Sozialleistungen aufgrund von Rechtsvorschriften eines Mitgliedstaats ergibt, der nicht der zuständige Staat ist(44).

70.      Im Licht dieser Erwägungen schlage ich vor, auf die einzige Frage in der Rechtssache C‑611/10 und die Fragen 1 und 2 in der Rechtssache C‑612/10 zu antworten, dass Art. 14 Abs. 1 Buchst. a und Art. 14a Abs. 1 Buchst. a der Verordnung Nr. 1408/71 dahin auszulegen sind, dass sie dem Mitgliedstaat, dessen Rechtsvorschriften nach diesen Bestimmungen nicht anwendbar sind, nicht die Befugnis nehmen, einem Arbeitnehmer, der in seinem Gebiet nur vorübergehend beschäftigt ist oder dahin entsandt wurde, Familienleistungen zu gewähren, wenn es um Fälle wie jene geht, mit denen das vorlegende Gericht befasst ist, in denen weder der Arbeitnehmer noch seine Kinder in diesem Mitgliedstaat ihren gewöhnlichen Aufenthalt haben, der Arbeitnehmer durch die Wahrnehmung seines Rechts auf Freizügigkeit keinen Rechtsnachteil erleidet und im zuständigen Staat ein Anspruch auf Kindergeld besteht oder bestehen könnte.

B –    Frage 3 in der Rechtssache C‑612/10: Vereinbarkeit einer nationalen Rechtsvorschrift wie § 65 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 in Verbindung mit § 65 Abs. 2 EStG mit dem Unionsrecht

71.      Frage 3 in der Rechtssache C‑612/10 zielt darauf ab, ob das Unionsrecht – vor allem die Vertragsbestimmungen über die Grundfreiheiten und die Verordnung Nr. 1408/71 – einer nationalen Rechtsvorschrift wie § 65 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 in Verbindung mit § 65 Abs. 2 EStG entgegensteht, die einen Anspruch auf Familienleistungen ausschließt, wenn – bzw. im Hinblick auf die zuletzt genannte Vorschrift soweit – eine vergleichbare Leistung im Ausland zu zahlen ist oder bei entsprechender Antragstellung zu zahlen wäre.

1.      Wesentliches Vorbringen der Verfahrensbeteiligten

72.      Herr Hudzinski und Herr Wawrzyniak sind der Ansicht, dass das Unionsrecht einer nationalen Rechtsvorschrift entgegenstehe, wonach der Anspruch auf eine Sozialleistung im Sinne der Verordnung Nr. 1408/71 generell ausgeschlossen sei, wenn ein Anspruch auf eine vergleichbare Leistung in einem anderen Mitgliedstaat bestehe.

73.      Sie weisen insbesondere darauf hin, dass die einschlägigen deutschen Bestimmungen sogar dann einen Anspruch auf Familienleistungen ausschlössen, wenn Deutschland gemäß Art. 13 ff. der Verordnung Nr. 1408/71 als zuständiger Staat eine Leistung gewähren müsse. Zudem sei die Zahlung von Leistungen auch ausgeschlossen, wenn bei Antragstellung eine vergleichbare Leistung zahlbar wäre, was der Entscheidung des Gerichtshofs im Urteil Schwemmer entgegenstehe(45).

74.      Im Gegensatz dazu ist die ungarische Regierung der Ansicht, dass es einem Mitgliedstaat, der nicht der zuständige Staat sei, freistehe, nach seinem nationalen Recht – wie es hier in § 65 Abs. 1 EStG der Fall sei – die Zahlung ergänzender Familienleistungen in Fällen auszuschließen, in denen die betroffene Person einen Anspruch auf analoge oder vergleichbare Familienleitungen im zuständigen Staat habe.

75.      Auch nach Ansicht der Kommission steht eine Rechtsvorschrift wie jene des § 65 Abs. 1 EStG nicht im Widerspruch zu den Art. 14 Abs. 1 Buchst. a und 14a Abs. 1 Buchst. a der Verordnung Nr. 1408/71 oder zum primären Unionsrecht.

76.      Die deutsche Regierung betont, dass für Deutschland weder nach der Verordnung Nr. 1408/71 noch nach den Vorschriften über die Arbeitnehmerfreizügigkeit eine Verpflichtung bestehe, unter Umständen wie denen des Ausgangsverfahrens Kindergeld zu gewähren.

2.      Beurteilung

77.      Vorweg ist anzumerken, dass der Hintergrund, vor dem das vorlegende Gericht die Frage 3 gestellt hat – wie aus den Angaben dieses Gerichts hervorgeht und was durch die deutsche Regierung unterstrichen wird –, darin besteht, dass die rechtlichen Voraussetzungen, die für die Gewährung von Kindergeld in Deutschland erfüllt sein müssen, in den Fällen, die das vorlegende Gericht zu behandeln hat, nicht erfüllt sind, da diese unter § 65 Abs. 1 Nr. 2 in Verbindung mit § 65 Abs. 2 EStG fallen.

78.      Ferner ist anzumerken, dass – im Gegensatz zur Auffassung von Herrn Hudzinski und Herrn Wawrzyniak – nach Angaben des Bundesfinanzhofs in seinem Vorlagebeschluss in der Rechtssache C‑612/10 die deutsche Rechtsprechung grundsätzlich davon ausgeht, dass § 65 Abs. 1 Nr. 2 in Verbindung mit § 65 Abs. 2 EStG nicht anzuwenden ist, wenn Deutschland Familienleistungen aufgrund der Vorschriften der Art. 13 ff. der Verordnung Nr. 1408/71 gewähren muss.

79.      Nachdem dies klargestellt ist, ist zu betonen, dass in den hier zu betrachtenden Fällen das Unionsrecht den zuständigen deutschen Behörden keine Verpflichtung auferlegt, Herrn Hudzinski oder Herrn Wawrzyniak das fragliche Kindergeld zu gewähren.

80.      Insoweit ist erstens anzumerken, dass, wie oben dargestellt(46), Herr Hudzinski und Herr Wawrzyniak aufgrund der klaren Regelungen von Art. 14 Abs. 1 Buchst. a bzw. Art. 14a Abs. 1 Buchst. a der Verordnung Nr. 1408/71 während ihrer vorübergehenden Arbeitstätigkeit in Deutschland weiterhin den Rechtsvorschriften ihres Herkunftsmitgliedstaats unterlagen. Unter diesen Umständen ist somit Polen der zuständige Mitgliedstaat, der nach seinen nationalen Rechtsvorschriften Kindergeld zu gewähren hat, und nicht Deutschland.

81.      Zweitens gibt es meiner Meinung nach keinen Hinweis darauf – und dies wurde auch von den Parteien tatsächlich nicht in Abrede gestellt –, dass die Regelungen über die Bestimmung der anzuwendenden Rechtsvorschriften, die in Art. 14 Abs. 1 Buchst. a und Art. 14a Abs. 1 Buchst. a der Verordnung Nr. 1408/71 enthalten sind, für sich betrachtet mit dem Unionsrecht unvereinbar wären, vor allem mit der Freizügigkeit oder dem Gleichheitsgrundsatz.

82.      Insoweit sollte der Hinweis genügen, dass aus der Rechtsprechung des Gerichtshofs klar hervorgeht, dass die Ziele, die mit Art. 14 Abs. 1 Buchst. a der Verordnung Nr. 1408/71 verfolgt werden, im Einklang mit den Grundfreiheiten stehen, da diese Vorschrift das Ziel hat, die Dienstleistungsfreiheit zugunsten von Unternehmen, die sie in Anspruch nehmen und Arbeitnehmer in andere Mitgliedstaaten als den Staat ihrer Betriebsstätte entsenden, zu fördern und Hindernisse für die Freizügigkeit der Arbeitnehmer überwinden zu helfen sowie die gegenseitige wirtschaftliche Durchdringung zu fördern und dabei administrative Schwierigkeiten insbesondere für die Arbeitnehmer und die Unternehmer zu vermeiden(47).

83.      Ebenso hat der Rat meiner Meinung nach die richtige Entscheidung getroffen – als er seiner Aufgabe nach Art. 42 EG (jetzt Art. 48 AEUV) nachgekommen ist, ein Koordinierungssystem zur Erleichterung der Ausübung der Arbeitnehmerfreizügigkeit und der Sicherstellung der Gleichbehandlung zu schaffen –, indem er in Art. 14a Abs. 1 Buchst. a der Verordnung Nr. 1408/71 als Ausnahme von der Regel vorgesehen hat, dass Personen, die normalerweise eine selbständige Tätigkeit in einem Mitgliedstaat ausüben, weiterhin den Rechtsvorschriften dieses Mitgliedstaats unterliegen, wenn sie eine Tätigkeit in einem anderen Mitgliedstaat bloß vorübergehend ausüben, da die Komplikationen, zu denen ein Wechsel der anzuwendenden sozialversicherungsrechtlichen Vorschriften andernfalls führen könnte, die Wirkung haben könnten, dass eine Person davor zurückschreckt, in einem anderen Mitgliedstaat für einen relativ kurzen Zeitraum eine Beschäftigung aufzunehmen.

84.      Drittens ist es, wie ich oben beschrieben habe(48) und wie die deutsche und die ungarische Regierung richtigerweise vorgebracht haben, so, dass aus dem Urteil Bosmann(49), auch wenn dessen Ratio – wie ich meine – auf Umstände wie die vorliegenden anwendbar ist, nur geschlossen werden kann, dass Deutschland als nicht zuständiger Mitgliedstaat bloß die Möglichkeit, nicht aber die Verpflichtung hat, Kindergeld zu gewähren.

85.      Viertens ist es angebracht, in diesem Zusammenhang in Erinnerung zu rufen, dass das Unionsrecht – vorbehaltlich der Erfordernisse, die sich insbesondere aus den Vertragsbestimmungen über die Arbeitnehmerfreizügigkeit ergeben – nach der Rechtsprechung die Befugnis der Mitgliedstaaten zur Ausgestaltung ihrer Systeme der sozialen Sicherheit unberührt lässt und dass es mangels Harmonisierung auf Unionsebene Sache des Rechts des jeweiligen Mitgliedstaats ist, die Voraussetzungen für die Gewährung von Leistungen der sozialen Sicherheit sowie ihre Höhe und die Dauer ihrer Gewährung festzulegen(50).

86.      Da das Unionsrecht demnach nicht verlangt, dass die zuständigen deutschen Behörden in den hier untersuchten Fällen Kindergeld gewähren, können folglich Bestimmungen des nationalen Rechts, wie § 65 Abs. 1 Nr. 2 EStG in Verbindung mit § 65 Abs. 2 EStG, die für solche Situationen einen Anspruch auf Kindergeld gänzlich oder teilweise ausschließen, nicht als unionsrechtswidrig erachtet werden.

87.      Schließlich vertreten Herr Hudzinski und Herr Wawrzyniak die Ansicht, dass sich aus dem Urteil Schwemmer(51) ableiten lasse, dass § 65 Abs. 1 EStG unionsrechtswidrig sei.

88.      Bei diesem Urteil ging es jedoch um eine sehr spezifische Frage in Bezug auf die Bestimmungen zur Verhinderung einer Anspruchskumulierung, wie sie in Art. 76 der Verordnung Nr. 1408/71 und Art. 10 der Verordnung Nr. 574/72 niedergelegt sind. Im Wesentlichen hat der Gerichtshof entschieden, dass in einem Fall wie im dortigen Ausgangsverfahren der Anspruch auf Leistungen nach dem Recht eines Mitgliedstaats nicht im Einklang mit diesen Bestimmungen ausgesetzt werden kann, wenn aufgrund der Rechtsvorschriften des anderen betroffenen Mitgliedstaats grundsätzlich ein Anspruch auf Familienleistungen besteht, diese tatsächlich aber nicht in Anspruch genommen werden, weil der berechtigte Elternteil keinen entsprechenden Antrag gestellt hat(52).

89.      Es ist offensichtlich, dass die Problematik, um die es im Urteil Schwemmer(53) ging, keinerlei Ähnlichkeit mit den Fällen aufweist, die das vorlegende Gericht zu behandeln hat.

90.      Und selbst wenn aus dem Urteil Schwemmer(54) die Schlussfolgerung zu ziehen wäre, dass § 65 Abs. 1 EStG im Einklang mit dem Unionsrecht neu zu interpretieren oder im Hinblick auf diesen besonderen Aspekt nicht anzuwenden ist (was das nationale Gericht zu entscheiden hätte), lässt sich aus diesem Urteil nicht ableiten, dass § 65 Abs. 1 EStG generell und insbesondere in Fällen wie denen des Ausgangsverfahrens unionsrechtswidrig ist und deshalb vom nationalen Gericht nicht angewendet werden darf, was zur Folge hätte, dass aufgrund der verbleibenden materiellen Erfordernisse des EStG Herr Hudzinski und Herr Wawrzyniak – im Einklang mit dem im Urteil Bosmann(55) aufgestellten Grundsatz, dass es dem nicht zuständigen Mitgliedstaat freisteht, nach dessen nationalem Recht Sozialleistungen zu gewähren – in Deutschland Kindergeld beanspruchen könnten(56).

91.      Im Licht dieser Erwägungen ist auf die Frage 3 in der Rechtssache C‑612/10 zu antworten, dass das Unionsrecht und vor allem die Verordnung Nr. 1408/71 dem nicht entgegenstehen, eine nationale Rechtsvorschrift wie § 65 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 EStG in Verbindung mit § 65 Abs. 2 EStG in Fällen wie denen der Ausgangsverfahren in einem nicht zuständigen Mitgliedstaat auf den Anspruch auf Kindergeld anzuwenden.

C –    Frage 4 in der Rechtssache C‑612/10: Kumulation des Anspruchs auf Kindergeld

92.      Falls die Frage 3 in der Rechtssache C‑612/10 bejaht wird, möchte das vorlegende Gericht wissen, wie eine mögliche Kumulation der Ansprüche im zuständigen Mitgliedstaat und in einem anderen Mitgliedstaat zu lösen wäre.

93.      Aufgrund der Antwort, die auf die Frage 3 in der Rechtssache C‑612/10 vorgeschlagen wurde, erübrigt sich eine Beantwortung der Frage 4 in dieser Rechtssache.

VI – Ergebnis

94.      Aus den vorstehenden Gründen schlage ich vor, die vom Bundesfinanzhof vorgelegten Fragen wie folgt zu beantworten:

–        Art. 14 Abs. 1 Buchst. a und Art. 14a Abs. 1 Buchst. a der Verordnung (EWG) Nr. 1408/71 des Rates vom 14. Juni 1971 über die Anwendung der Systeme der sozialen Sicherheit auf Arbeitnehmer und Selbständige sowie deren Familienangehörige, die innerhalb der Gemeinschaft zu- und abwandern, geändert und aktualisiert durch die Verordnung (EG) Nr. 118/97 des Rates vom 2. Dezember 1996, in der durch die Verordnung (EG) Nr. 647/2005 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 13. April 2005 geänderten Fassung, sind dahin auszulegen, dass sie dem Mitgliedstaat, dessen Rechtsvorschriften nach diesen Bestimmungen nicht anwendbar sind, nicht die Befugnis nehmen, einem Arbeitnehmer, der in seinem Gebiet nur vorübergehend beschäftigt ist oder dahin entsandt wurde, Familienleistungen zu gewähren, wenn es um Fälle wie jene geht, mit denen das vorlegende Gericht befasst ist, in denen weder der Arbeitnehmer noch seine Kinder in diesem Mitgliedstaat ihren gewöhnlichen Aufenthalt haben, der Arbeitnehmer durch die Wahrnehmung seines Rechts auf Freizügigkeit keinen Rechtsnachteil erleidet und im zuständigen Staat ein Anspruch auf Kindergeld besteht oder bestehen könnte;

–        Das Unionsrecht und vor allem die Verordnung Nr. 1408/71 stehen dem nicht entgegen, eine nationale Rechtsvorschrift wie § 65 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 in Verbindung mit § 65 Abs. 2 des Einkommensteuergesetzes (EStG) in Fällen wie denen der Ausgangsverfahren in einem nicht zuständigen Mitgliedstaat auf den Anspruch auf Kindergeld anzuwenden.


1 – Originalsprache: Englisch.


2 – ABl. 1997, L 28, S. 1.


3 – ABl. 2005, L 117, S. 1.


4 – Urteil vom 20. Mai 2008, Bosmann (C‑352/06, Slg. 2008, I‑3827, Randnrn. 27 bis 32.


5 – Oben in Fn. 4 angeführt.


6 – Oben in Fn. 4 angeführt.


7 – Oben in Fn. 4 angeführt.


8 – Oben in Fn. 4 angeführt.


9 – Oben in Fn. 4 angeführt.


10 – Oben in Fn. 4 angeführt.


11 – Oben in Fn. 4 angeführt.


12 – Oben in Fn. 4 angeführt.


13 – Oben in Fn. 4 angeführt.


14 – ABl. 2004, L 166, S. 1.


15 – Vgl. dazu u. a. Urteil vom 19. März 2002, Hervein u. a. (C‑393/99 und C‑394/99, Slg. 2002, I‑2829, Randnr. 52).


16 – Vgl. hierzu Urteile vom 9. November 2002, Plum (C‑404/98, Slg. 2002, I‑9379, Randnrn. 14 und 15), vom 30. März 2000, Banks u. a. (C‑178/97, Slg. 2000, I‑2005, Randnr. 16), und vom 15. Juni 2006, Kommission/Frankreich (C‑255/04, Slg. 2006, I‑5251, Randnr. 48).


17 – Oben in Fn. 4 angeführt.


18 – Vgl. u. a. Urteil Bosmann (oben in Fn. 4 angeführt, Randnr. 16), Urteil vom 12. Juni 1986, Ten Holder (302/84, Slg. 1986, 1821, Randnrn. 19 und 20), und Urteil vom 15. März 2001, de Laat (C‑444/98, Slg. 2001, I‑2229, Randnr. 31).


19 – Siehe vor allem Randnrn. 16 bis 19 des Urteils (oben in Fn. 4 angeführt).


20 – Schlussanträge des Generalanwalts Mazák vom 29. November 2007 in der Rechtssache Bosmann, vor allem Nr. 66 (Urteil oben in Fn. 4 angeführt).


21 – Siehe Randnr. 27 des Urteils.


22 – Siehe Randnrn. 28 bis 33 des Urteils (oben in Fn. 4 angeführt).


23 – Siehe oben, Nr. 50.


24 – Vgl. vor allem Urteil Ten Holder (oben in Fn. 18 angeführt, Randnr. 23), Urteil vom 10. Juli 1986, Luijten (60/85, Slg. 1986, 2365, Randnr. 16); vgl. auch Urteil Bosmann (oben in Fn. 4 angeführt, Randnr. 17), und Urteil vom 11. November 2004, Adanez-Vega (C‑372/02, Slg. 2004, I‑10761, Randnr. 18).


25 – Vgl. Urteil Bosmann (oben in Fn. 4 angeführt, Randnrn. 29 bis 31).


26 – Vgl. in diesem Sinne Urteil Bosmann (oben in Fn. 4 angeführt, Randnrn. 32 und 33); vgl. auch Urteil vom 16. Juli 2009, Chamier-Glisczinski (C‑208/07, Slg. 2009, I‑6095, Randnrn. 55 und 56).


27 – Wie beispielsweise in den Fällen, um die es in den Vorschriften über die Anspruchskumulierung geht, wie in Art. 76 der Verordnung Nr. 1408/71 und Art. 10 der Verordnung (EWG) Nr. 574/72 des Rates vom 21. März 1972 über die Durchführung der Verordnung Nr. 1408/71; vgl. dazu auch das Urteil Bosmann (oben in Fn. 4 angeführt, Randnrn. 20 bis 22), Urteil vom 14. Oktober 2010, Schwemmer (C‑16/09, Slg. 2010, I‑9717, Randnrn. 43 bis 48), und Urteil vom 20. Januar 2005, Laurin Effing (C‑302/02, Slg. 2005, I‑553, Randnr. 39).


28 – Vgl. Urteil Chamier-Glisczinski (oben in Fn. 26 angeführt, Randnr. 56).


29 – Oben in Fn. 4 angeführt.


30 – Oben in Fn. 4 angeführt.


31 – Siehe oben, Nrn. 55 und 56.


32 – Oben in Fn. 4 angeführt.


33 – Vgl. in diesem Sinne u. a. Urteile vom 9. März 2006, Piatkowski (C‑493/04, Slg. 2006, I‑2369, Randnr. 34), und Hervein u. a (oben in Fn. 15 angeführt, Randnrn. 50 und 51).


34 – Siehe meine Schlussanträge in der Rechtssache Bosmann, oben in Fn. 20 angeführt, Nr. 65 (Urteil oben in Fn. 4 angeführt).


35 – Vgl. den Verweis auf das Urteil vom 9. November 2006, Nemec (C‑205/05, Slg. 2006, I‑10745), im Urteil Bosmann (oben in Fn. 4 angeführt, Randnr. 29).


36 – Vgl. in diesem Sinne u. a. auch Urteile vom 20. Oktober 2011, Perez Garcia u. a. (C‑225/10, Slg. 2011, I‑10111, Randnr. 51), vom 30. Juni 2011, da Silva Martins (C‑388/09, Slg. 2011, I‑5737, Randnr. 75), und vom 6. März 1979, Rossi (100/78, Slg. 1979, 831, Randnr. 14).


37 – Oben in Fn. 35 angeführt.


38 – Oben in Fn. 4 angeführt.


39 – Vgl. Urteil Nemec (oben in Fn. 35 angeführt) und die in Fn. 36 erwähnten Urteile.


40 – Oben in Fn. 35 angeführt.


41 – Oben in Fn. 4 angeführt.


42 – Vgl. in diesem Sinne auch Urteil Chamier-Glisczinski (oben in Fn. 26 angeführt, Randnr. 56).


43 – Vgl. dazu Urteil Bosmann (oben in Fn. 4 angeführt, Randnrn. 28 und 36).


44 – Vgl. dazu Urteil Bosmann (oben in Fn. 4 angeführt, Randnrn. 31 bis 33); vgl. auch oben, Nr. 56.


45 – Oben in Fn. 27 angeführt.


46 – Siehe oben, Nrn. 47 und 48.


47 – Vgl. in diesem Sinne u. a. Urteil Plum (oben in Fn. 16 angeführt, Randnrn. 19 und 20), und Urteil vom 10. Februar 2000, FTS (C‑202/97, Slg. 2000, I‑883, Randnrn. 28 und 29).


48 – Siehe oben, Nrn. 52 und 53.


49 – Oben in Fn. 4 angeführt.


50 – Vgl. in Bezug auf § 62 Abs. 1 EStG das Urteil vom 18. November 2010, Xhymshiti (C‑247/09, Slg. 2010, I‑11854, Randnr. 43); siehe ferner Urteil vom 21. Februar 2008, Klöppel (C‑507/06, Slg. 2008, I‑943, Randnr. 16), und Urteil vom 23. November 2000, Elsen (C‑135/99, Slg. 2000, I‑10409, Randnr. 33).


51 – Oben in Fn. 27 angeführt.


52 – Siehe Urteil Schwemmer (oben in Fn. 27 angeführt, vor allem Randnrn. 44 und 59).


53 – Oben in Fn. 27 angeführt.


54 – Oben in Fn. 27 angeführt.


55 – Oben in Fn. 4 angeführt.


56 – Es gibt keinen Hinweis darauf, dass der Gerichtshof § 65 Abs. 1 EStG generell als unionsrechtswidrig ansehen könnte; siehe dazu nur Urteil Xhymshiti (oben in Fn. 50 angeführt, Randnrn. 42 bis 44).