Language of document : ECLI:EU:C:2018:971

SCHLUSSANTRÄGE DES GENERALANWALTS

HENRIK SAUGMANDSGAARD ØE

vom 29. November 2018(1)

Rechtssache C235/17

Europäische Kommission

gegen

Ungarn

„Vertragsverletzung eines Mitgliedstaats – Art. 63 AEUV – Freier Kapitalverkehr – Nießbrauchsrechte an landwirtschaftlichen Flächen – Nationale Regelung, aufgrund deren die Rechte, die in der Vergangenheit zugunsten von juristischen oder natürlichen Personen ohne nachgewiesenes nahes Angehörigenverhältnis zum Eigentümer der Grundstücke bestellt wurden, ohne Entschädigung gelöscht werden – Zuständigkeit des Gerichtshofs für eine eigenständige Feststellung des Verstoßes gegen Art. 17 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union“






I.      Einführung

1.        Mit dem vorliegenden Vertragsverletzungsverfahren beantragt die Europäische Kommission die Feststellung, dass Ungarn gegen seine Verpflichtungen aus der Niederlassungsfreiheit (Art. 49 AEUV), der Kapitalverkehrsfreiheit (Art. 63 AEUV) und dem Grundrecht auf Eigentum (Art. 17 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union, im Folgenden: Charta) verstoßen hat, indem es insbesondere durch die seit dem 1. Januar 2013 in Kraft befindlichen Vorschriften des Termőföldről szóló 1994. évi LV. törvény (Gesetz Nr. LV von 1994 betreffend das Agrarland, im Folgenden: Gesetz von 1994 betreffend das Agrarland), durch die einschlägigen Vorschriften des Mező- és erdőgazdasági földek forgalmáról szóló 2013. évi CXXII. törvény (Gesetz Nr. CXXII von 2013 betreffend den Verkauf land- und forstwirtschaftlicher Flächen, im Folgenden: Gesetz von 2013 über landwirtschaftliche Flächen) sowie durch bestimmte Vorschriften des Mező- és erdőgazdasági földek forgalmáról szóló 2013. évi CXXII. törvénnyel összefüggő egyes rendelkezésekről és átmeneti szabályokról szóló 2013. évi CCXII. törvény (Gesetz Nr. CCXII von 2013 mit verschiedenen Vorschriften und Übergangsregelungen betreffend das [Gesetz von 2013 über landwirtschaftliche Flächen], im Folgenden: Gesetz von 2013 betreffend die Übergangsregelungen) und schließlich durch § 94 Abs. 5 des Ingatlan-nyilvántartásról szóló 1997. évi CXLI. törvény (Gesetz Nr. CXLI von 1997 über das Grundbuch, im Folgenden: Gesetz über das Grundbuch) die Nutzungsrechte und Nießbrauchsrechte an land- und forstwirtschaftlichen Flächen offensichtlich unverhältnismäßig beschränkt hat(2).

2.        Die Unvereinbarkeit der streitigen Regelung mit der in Art. 63 AEUV garantierten Kapitalverkehrsfreiheit hat bereits Anlass zu dem Urteil vom 6. März 2018, SEGRO und Horváth(3)gegeben und war Gegenstand meiner Schlussanträge in den beiden verbundenen Rechtssachen, die zu diesem Urteil führten(4). Diese Problematik wird daher keine weiteren Ausführungen meinerseits erfordern, da nach dem genannten Urteil der Gerichtshof nur feststellen kann, dass in diesem Punkt gegen das Unionsrecht verstoßen wurde.

3.        Vor diesem Hintergrund liegt das Interesse an der vorliegenden Rechtssache in einem anderen Punkt begründet. Ich erinnere daran, dass dem Gerichtshof im genannten Urteil auch die Frage gestellt war, ob diese Regelung mit Art. 17 der Charta vereinbar ist. Der Gerichtshof hat es jedoch nicht für erforderlich gehalten, sich mit dieser Frage zu befassen. Nach Auffassung der Kommission aber sollte sich der Gerichtshof zu dieser Vorschrift im vorliegenden Verfahren äußern, und zwar unabhängig von der Prüfung im Zusammenhang mit den Verkehrsfreiheiten.

4.        In den vorliegenden Schlussanträgen werde ich darlegen, weshalb der Gerichtshof für die Entscheidung über Art. 17 der Charta, wie sie von der Kommission beantragt wird, meines Erachtens nicht zuständig ist. Hilfsweise werde ich darlegen, weshalb eine Prüfung der streitigen Regelung anhand der genannten Vorschrift jedenfalls ohne Relevanz wäre. Äußerst hilfsweise werde ich diese Regelung schließlich im Rahmen des genannten Art. 17 prüfen und dabei zu dem Ergebnis gelangen, dass die Regelung mit dem in dem Artikel garantierten Grundrecht auf Eigentum nicht vereinbar ist.

II.    Ungarisches Recht

A.      Regelung über den Erwerb landwirtschaftlicher Flächen

5.        Das Gesetz von 1994 betreffend das Agrarland verbietet es natürlichen Personen, die nicht die ungarische Staatsangehörigkeit besitzen, landwirtschaftliche Flächen zu erwerben; ausgenommen sind Personen mit unbefristeter Aufenthaltserlaubnis oder mit anerkanntem Flüchtlingsstatus. Das Verbot gilt auch für ausländische oder ungarische juristische Person.

6.        Dieses Gesetz wurde mit Wirkung vom 1. Januar 2002 durch das Termőföldről szóló 1994. évi LV. törvény módosításáról szóló 2001. évi CXVII. Törvény (Gesetz Nr. CXVII von 2001 zur Änderung des [Gesetzes von 1994 betreffend das Agrarland]) geändert, um auch die Möglichkeit auszuschließen, vertraglich ein Nießbrauchsrecht an landwirtschaftlichen Flächen zugunsten von natürlichen Personen ohne ungarische Staatsangehörigkeit oder juristischen Personen zu bestellen. § 11 Abs. 1 des Gesetzes von 1994 betreffend das Agrarland bestimmte nach diesen Änderungen daher: „Für die vertragliche Bestellung eines Nießbrauchsrechts und Nutzungsrechts gelten die Bestimmungen des Kapitels II über die Beschränkung des Eigentumserwerbs. …“

7.        § 11 Abs. 1 des Gesetzes von 1994 betreffend das Agrarland wurde in der Folge durch das Egyes agrár tárgyú törvények módosításáról szóló 2012. évi CCXIII. Törvény (Gesetz Nr. CCXIII von 2012 zur Änderung bestimmter Gesetze über die Landwirtschaft) geändert. In der neuen geänderten Fassung, die am 1. Januar 2013 in Kraft trat, bestimmte § 11 Abs. 1: „Das vertraglich bestellte Nießbrauchsrecht ist nichtig, es sei denn, die Bestellung erfolgte zugunsten eines nahen Verwandten.“

8.        Durch das Gesetz Nr. CCXIII von 2012 zur Änderung bestimmter Gesetze über die Landwirtschaft wurde in das Gesetz von 1994 betreffend das Agrarland auch ein neuer § 91 Abs. 1 eingefügt, wonach „[a]m 1. Januar 2033 … kraft Gesetzes alle am 1. Januar 2013 bestehenden unbefristeten oder über den 30. Dezember 2032 hinaus befristeten Nießbrauchsrechte [erlöschen], die durch einen Vertrag zwischen Personen begründet worden sind, die keine nahen Angehörigen sind“.

9.        Das Gesetz von 2013 über landwirtschaftliche Flächen wurde am 21. Juni 2013 erlassen und trat am 15. Dezember 2013 in Kraft. § 37 Abs. 1 dieses Gesetzes beließ es bei der Regelung, dass ein vertraglich bestelltes Nießbrauchsrecht oder Nutzungsrecht an den genannten Flächen nichtig ist, es sei denn, die Bestellung erfolgte zugunsten eines nahen Angehörigen.

10.      § 5 Nr. 13 des genannten Gesetzes definiert den Begriff „nahe Angehörige“ als „die Ehegatten, die Verwandten in gerader Linie, die Adoptivkinder, die eigenen Kinder und die Kinder des Ehegatten, die Adoptiv‑, Schwieger- und Stiefeltern und die Geschwister“.

11.      Das Gesetz von 2013 betreffend die Übergangsregelungen wurde am 12. Dezember 2013 erlassen und trat am 15. Dezember 2013 in Kraft. § 108 Abs. 1 dieses Gesetzes, mit dem § 91 Abs. 1 des Gesetzes von 1994 betreffend das Agrarland aufgehoben wurde, bestimmt, dass „[a]m 1. Mai 2014 … kraft Gesetzes alle am 30. April 2014 bestehenden unbefristeten oder über den 30. April 2014 hinaus befristeten Nießbrauchsrechte oder Nutzungsrechte [erlöschen], die durch einen Vertrag zwischen Personen begründet worden sind, die keine nahen Angehörigen sind“.

12.      § 94 des Gesetzes über das Grundbuch bestimmt:

„1.      Im Fall der Löschung eines aufgrund der Bestimmungen von § 108 Abs. 1 [des Gesetzes von 2013 über Übergangsregelungen] erlöschenden Nießbrauchs- oder Nutzungsrechts (in diesem Paragrafen im Folgenden zusammen: Nießbrauchsrecht) im Grundbuch muss eine nießbrauchsberechtigte natürliche Person auf die durch die Grundbuchbehörde spätestens bis zum 31. Oktober 2014 versandte Aufforderung hin binnen 15 Tagen nach deren Zustellung auf einem durch den Minister eingeführten Formular eine Erklärung über das Bestehen des nahen Angehörigenverhältnisses zwischen ihr und dem Grundstückseigentümer, der gemäß der für die Eintragung als Grundlage dienenden Urkunde das Nießbrauchsrecht bestellt hat, abgeben. Bei einem Versäumen dieser Frist ist nach dem 31. Dezember 2014 kein Antrag auf Wiedereinsetzung zulässig.

3.      Wenn aufgrund der Erklärung kein nahes Angehörigenverhältnis besteht oder der Berechtigte innerhalb der Frist keine Erklärung abgibt, löscht die Grundbuchbehörde das eingetragene Nießbrauchsrecht innerhalb von sechs Monaten nach Ablauf der Frist zur Abgabe der Erklärung, spätestens bis zum 31. Juli 2015 von Amts wegen aus dem Grundbuch.

…“

B.      Zivilrecht

13.      Die Vorschriften des A polgári törvénykönyvről szóló 1959. évi IV. Törvény (Gesetz Nr. IV von 1959 zur Einführung des Zivilgesetzbuchs, im Folgenden: ehemaliges Zivilgesetzbuch) blieben bis zum 14. März 2014 in Kraft.

14.      § 215 des ehemaligen Zivilgesetzbuchs lautete:

„(1)      Ist für das Wirksamwerden eines Vertrags die Zustimmung eines Dritten oder die Genehmigung der Behörden erforderlich, so kann der Vertrag erst mit der Zustimmungs- oder der Genehmigungserklärung wirksam werden; die Parteien bleiben jedoch durch ihre Erklärungen gebunden. Die Parteien sind von ihren Pflichten befreit, wenn sich der Dritte oder die betreffende Behörde nicht innerhalb einer von beiden Parteien gemeinsam bestimmten Frist äußert.

(3)      Wird die erforderliche Zustimmung oder Genehmigung nicht erteilt, unterliegt der Vertrag den Rechtsfolgen der Unwirksamkeit.

…“

15.      § 237 des ehemaligen Zivilgesetzbuchs lautete:

„(1)      Ist ein Vertrag unwirksam, ist der vor dem Vertragsschluss bestandene Zustand wiederherzustellen.

(2)      Ist die Wiederherstellung des vor Vertragsschluss bestandenen Zustands nicht möglich, erklärt das Gericht den Vertrag für den Zeitraum bis zu seiner Entscheidung für wirksam. Ein unwirksamer Vertrag kann für wirksam erklärt werden, wenn der Grund für die Unwirksamkeit, insbesondere in Wucherverträgen bei einem auffälligen Missverhältnis zwischen den Leistungen der Parteien, durch Beseitigung des unverhältnismäßigen Vorteils ausgeräumt werden kann. In diesen Fällen ist die Rückerstattung der möglicherweise ohne Gegenleistung bleibenden Leistung anzuordnen.“

16.      Die Bestimmungen des A polgári törvénykönyvről szóló 2013. évi V. törvény (Gesetz Nr. V von 2013 zur Einführung des Zivilgesetzbuchs, im Folgenden: neues Zivilgesetzbuch) traten am 15. März 2014 in Kraft.

17.      Die §§ 6:110 und 6:111 des neuen Zivilgesetzbuchs, die im Kapitel XIX („Rechtsfolgen der Unwirksamkeit“) enthalten sind, bestimmen:

„§ 6:110 [Wirksamerklärung des Vertrags durch das Gericht mit rückwirkender Kraft]

(1)      Ein unwirksamer Vertrag kann rückwirkend auf den Zeitpunkt des Vertragsschlusses vom Gericht für wirksam erklärt werden, wenn

a)      der infolge der Unwirksamkeit entstandene Schaden durch eine geeignete Änderung des Vertrags beseitigt werden kann oder wenn

b)      die Ursache für die Unwirksamkeit im Nachhinein entfallen ist.

(2)      Wird der unwirksame Vertrag für wirksam erklärt, haben die Parteien des Vertrags ihre sich aus diesem ergebenden wechselseitigen Verpflichtungen zu erfüllen und sind, wenn der Vertrag nach Erklärung der Wirksamkeit aufgelöst wird, in gleicher Weise verpflichtet, wie wenn der Vertrag von Beginn an wirksam gewesen wäre.

§ 6:111 [Wirksamkeit des Vertrags kraft Willenserklärung der Parteien]

(1)      Ein Vertrag wird rückwirkend auf den Zeitpunkt des Vertragsschlusses wirksam, wenn die Parteien die Ursache für die Unwirksamkeit im Nachhinein beseitigen oder – im Fall einer Beseitigung dieser Ursache aus anderen Gründen – ihren Willen zum Vertragsschluss bekräftigen.

(2)      Wird der unwirksame Vertrag wirksam, haben die Parteien des Vertrags ihre sich aus diesem ergebenden wechselseitigen Verpflichtungen zu erfüllen und sind, wenn der Vertrag nach Erklärung der Wirksamkeit aufgelöst wird, in gleicher Weise verpflichtet, wie wenn der Vertrag von Beginn an wirksam gewesen wäre

(3)      Beseitigen die Parteien im Nachhinein die Ursache für die Unwirksamkeit und vereinbaren die Wirksamkeit des Vertrags für die Zukunft, unterliegt die Ausführung des Vertrags bis dahin den Rechtsfolgen der Unwirksamkeit.“

III. Sachverhalt und Vorverfahren

18.      In Ungarn unterliegt der Erwerb landwirtschaftlicher Flächen durch Ausländer seit Langem Beschränkungen. So sah das Gesetz von 1987 über Grundbesitz(5) vor, dass ausländische natürliche und juristische Personen Eigentum an diesen Grundstücken durch Kauf, Tausch oder Schenkung nur mit vorheriger Genehmigung der ungarischen Regierung erwerben konnten.

19.      Später schloss eine Regierungsverordnung(6), die am 1. Januar 1992 in Kraft trat, für Personen, die nicht die ungarische Staatsangehörigkeit besitzen, jede Möglichkeit eines Erwerbs landwirtschaftlicher Flächen aus; dies galt nicht für Personen mit einer unbefristeten Aufenthaltserlaubnis oder für Personen mit Flüchtlingsstatus. Das Gesetz von 1994 betreffend das Agrarland weitete dieses Verbot dann auf ausländische und ungarische juristische Personen aus.

20.      Für die Bestellung von Nießbrauchsrechten an landwirtschaftlichen Flächen sahen diese Vorschriften dagegen keine besonderen Beschränkungen vor.

21.      Durch eine Änderung des Gesetzes von 1994 betreffend das Agrarland(7), die am 1. Januar 2002 in Kraft trat, wurden jedoch die für den Erwerb landwirtschaftlicher Flächen geltenden Beschränkungen auf die Bestellung von Nießbrauchsrechten an den genannten Flächen ausgeweitet. Somit konnten weder Personen mit ausländischer Staatsangehörigkeit noch juristische Personen derartige Rechte erwerben.

22.      Im Rahmen des Beitritts zur Europäischen Union wurde Ungarn eine Übergangszeit eingeräumt, in der es die für den Erwerb landwirtschaftlicher Flächen geltenden Beschränkungen während eines Zeitraums von zehn Jahren ab dem Beitrittsdatum, d. h. bis zum 30. April 2014, aufrechterhalten kann. Ungarn musste es jedoch den Unionsbürgern, die seit drei Jahren in Ungarn leben und dort ihren Tätigkeiten nachgehen, ab 1. Mai 2004 erlauben, landwirtschaftliche Flächen unter denselben Voraussetzungen wie die ungarischen Staatsangehörigen zu erwerben(8).

23.      Gegen Ende dieses Übergangszeitraums verabschiedete der ungarische Gesetzgeber eine weitere Änderung zum Gesetz von 1994 betreffend das Agrarland(9), die ab 1. Januar 2013 die Bestellung von Nießbrauchsrechten an landwirtschaftlichen Flächen, außer zwischen nahen Verwandten, allgemein untersagte. Das Gesetz von 2013 über landwirtschaftliche Flächen, das Ende 2013 erlassen wurde und am 1. Januar 2014 in Kraft trat, behielt dieses Verbot bei(10).

24.      Die Vorschriften, die am 1. Januar 2013 in Kraft traten, sahen vor, dass Nießbrauchsrechte, die zu diesem Zeitpunkt bestanden und auf unbestimmte oder auf bestimmte, aber nach dem 31. Dezember 2032 ablaufende Dauer zwischen Personen, die keine nahen Verwandten sind, vertraglich bestellt wurden, innerhalb einer Übergangszeit von zwanzig Jahren ex lege gelöscht werden mussten. Die Rechte sollten somit spätestens am 1. Januar 2033 kraft Gesetzes erlöschen.

25.      § 108 Abs. 1 des Gesetzes von 2013 betreffend die Übergangsregelungen, das am 15. Dezember 2013 in Kraft trat, verkürzte den genannten Übergangszeitraum jedoch erheblich. Gemäß dieser letztgenannten Bestimmung sollten die am 30. April 2014 bestehenden Nießbrauchsrechte künftig am 1. Mai 2014 erlöschen; ausgenommen waren die zwischen nahen Verwandten geschlossenen Verträge.

26.      Am 17. Oktober 2014 sandte die Kommission an Ungarn ein Mahnschreiben, da sie insbesondere der Auffassung war(11), dass Ungarn mit dieser Löschung bestimmter Nießbrauchsrechte, die zuvor an landwirtschaftlichen Flächen bestellt worden waren, gegen die Art. 49 und 63 AEUV sowie Art. 17 der Charta verstoßen habe. Ungarn antwortete mit Schreiben vom 18. Dezember 2014, in dem es die genannten Verstöße bestritt.

27.      Da der Kommission diese Antwort nicht ausreichend erschien, gab sie am 19. Juni 2015 eine mit Gründen versehene Stellungnahme ab, in der sie daran festhielt, dass Ungarn mit der Löschung bestimmter Nießbrauchsrechte, die ex lege gemäß § 108 Abs. 1 des Gesetzes von 2013 betreffend die Übergangsregelungen mit Wirkung zum 1. Mai 2014 erfolgt sei, gegen die Vorschriften des oben genannten Unionsrechts verstoßen habe. Ungarn antwortete mit Schreiben vom 9. Oktober 2015 und 18. April 2016, in denen es erklärte, dass die angeblichen Vertragsverletzungen nicht vorlägen.

28.      Das nationale Gericht, das die Vorabentscheidungsfragen vorgelegt hatte, die zum Urteil SEGRO und Horváth führten, befasste zeitgleich den Alkotmánybíróság (Verfassungsgericht, Ungarn) mit Fragen u. a. zur Vereinbarkeit des genannten § 108 Abs. 1 mit dem ungarischen Grundgesetz.

29.      Mit seinem Urteil Nr. 25 vom 21. Juli 2015 stellte der Alkotmánybíróság (Verfassungsgericht) fest, dass die genannte Vorschrift teilweise gegen das Grundgesetz verstoße, soweit der Gesetzgeber für die Eigentümer der Grundstücke, an denen die gelöschten Nießbrauchsrechte bestellt worden seien, keine Entschädigungsregelung vorgesehen habe, und setzte ihm bis zum 31. Dezember 2015 eine Frist zur Beseitigung dieses Verstoßes. Das Gericht wies die Klage im Übrigen ab. Die dem ungarischen Gesetzgeber vom Alkotmánybíróság (Verfassungsgericht) gesetzte Frist endete, ohne dass jener die erforderlichen Maßnahmen ergriffen hätte.

IV.    Verfahren vor dem Gerichtshof und Anträge der Parteien

30.      Die vorliegende Vertragsverletzungsklage ist am 5. Mai 2017 eingereicht worden.

31.      In der Klageschrift beantragt die Kommission,

–        festzustellen, dass Ungarn mit dem Erlass einer beschränkenden Regelung für die Nutzung landwirtschaftlicher Flächen gegen seine Verpflichtungen aus den Art. 49 und 63 AEUV sowie aus Art. 17 der Charta verstoßen hat;

–        Ungarn die Kosten aufzuerlegen.

32.      Ungarn beantragt,

–        die Klage der Kommission als unbegründet abzuweisen;

–        der Kommission die Kosten aufzuerlegen.

33.      Eine mündliche Verhandlung hat am 9. Juli 2018 stattgefunden, bei der die Kommission und Ungarn vertreten waren.

V.      Bewertung

A.      Zur Zulässigkeit

34.      Die ungarische Regierung hat gegen die vorliegende Vertragsverletzungsklage weder in ihrer Klagebeantwortung noch in ihrer Gegenerwiderung eine Einrede der Unzulässigkeit erhoben. Nach ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofs jedoch sind die Zulässigkeitsvoraussetzungen einer solchen Klage zwingendes Recht, so dass der Gerichtshof sie von Amts wegen zu prüfen hat(12).

35.      Aus einem Vergleich der mit Gründen versehenen Stellungnahme und der Klageschrift ergibt sich jedoch, dass die Kommission in der Klageschrift den Streitgegenstand, wie er in dem erstgenannten Dokument gefasst worden war, offensichtlich erweitert hat und damit gegen die ständige Rechtsprechung des Gerichtshofs, nach der eine solche Erweiterung nicht zulässig ist, verstoßen hat(13).

36.      Insoweit weise ich darauf hin, dass die Kommission in der mit Gründen versehenen Stellungnahme Ungarn zur Last legte, es habe die am 30. April 2014 bestehenden Nießbrauchsrechte zwischen Personen, die keine nahen Verwandten seien, gemäß § 108 Abs. 1 des Gesetzes von 2013 betreffend die Übergangsregelungen ex lege gelöscht.

37.      Aus dem Petitum in der Einleitung der Klageschrift, das in Nr. 1 dieser Schlussanträge wiedergegeben wird, geht jedoch hervor, dass die Kommission im streitigen Verfahren auf nationale Vorschriften abstellt, die zahlreicher sind als die, die in der mit Gründen versehenen Stellungnahme beanstandet wurden, und von denen einige nicht die Löschung der bereits vorher bestehenden Nießbrauchsrechte an landwirtschaftlichen Flächen, sondern die Bestellung von Rechten an diesen Flächen betreffen(14). Zudem beanstandet die Kommission in ihren Klaganträgen gegenüber Ungarn nicht, dass es zuvor bestellte Nießbrauchsrechte „gelöscht“ habe, sondern allgemeiner, dass es die Nießbrauchsrechte an den genannten Flächen „beschränkt“ habe.

38.      Dies weist darauf hin, dass sich die Klage der Kommission nicht nur gegen die Löschung ex lege bestimmter Nießbrauchsrechte richtet, die an landwirtschaftlichen Flächen aufgrund von § 108 Abs. 1 des Gesetzes von 2013 betreffend die Übergangsregelungen bestellt wurden, sondern die Kommission mit ihr auch die Verurteilung von Ungarn insoweit begehrt, als Ungarn die Möglichkeit einer zukünftigen Bestellung solcher Rechte beschränkt hat.

39.      Vom Gerichtshof in der mündlichen Verhandlung zu diesem Punkt befragt, hat Ungarn erklärt, es verstehe die Klage der Kommission dahin, dass sie sich im Wesentlichen gegen die Löschung ex lege der zuvor bestellten Nießbrauchsrechte richte. Es ist jedoch der Auffassung, dass die Klageschrift der Kommission angesichts der in den drei vorhergehenden Nummern dieser Schlussanträge dargelegten Uneindeutigkeit keine zusammenhängende und verständliche Darstellung enthalte. Die Kommission ihrerseits hat geltend gemacht, sie wolle den Streitgegenstand, wie er in der mit Gründen versehenen Stellungnahme eingegrenzt sei, nicht ändern: In Frage stehe allein die Löschung der bestehenden Nießbrauchsrechte.

40.      Meines Erachtens hat die Uneindeutigkeit der Klageschrift nicht ein solches Ausmaß, dass die Klage als insgesamt unzulässig angesehen werden könnte. Ungarn ist in der Lage gewesen, seine Verteidigungsrechte geltend zu machen, und hat auch eingeräumt, den wesentlichen Gehalt der Klage erkannt zu haben, nämlich die in § 108 Abs. 1 des Gesetzes von 2013 betreffend die Übergangsregelungen vorgesehene Löschung ex lege der Nießbrauchsrechte, die an landwirtschaftlichen Flächen zugunsten von Personen bestellt wurden, die zu den Grundstückseigentümern in keinem engen Verwandtschaftsverhältnis stehen, und die am 30. April 2014 Bestand hatten. Ich bin daher der Auffassung, dass die Klage zulässig ist, soweit sie nur diese Fragestellung betrifft, – und somit im Übrigen unzulässig ist.

B.      Zum ersten Klagegrund (Vereinbarkeit der streitigen Regelung mit den Art. 49 und 63 AEUV)

41.      Mit dem ersten Klagegrund begehrt die Kommission der Sache nach die Feststellung, dass § 108 Abs. 1 des Gesetzes von 2013 betreffend die Übergangsregelungen mit der in Art. 49 AEUV vorgesehenen Niederlassungsfreiheit und der in Art. 63 AEUV garantierten Kapitalverkehrsfreiheit unvereinbar ist.

42.      Insoweit erinnere ich daran, dass der Gerichtshof im Urteil SEGRO und Horváth nach der Vereinbarkeit der streitigen Regelung mit diesen beiden Verkehrsfreiheiten befragt worden ist. Der Gerichtshof hat jedoch festgestellt, dass die Regelung nur unter dem Gesichtspunkt der Kapitalverkehrsfreiheit zu prüfen war(15).

43.      In der vorliegenden Rechtssache trägt die Kommission vor, der Gerichtshof müsse diesmal die streitige Regelung unter dem Gesichtspunkt beider geltend gemachten Verkehrsfreiheiten prüfen.

44.      Die streitige Regelung könne nämlich je nach Lage des Falles die eine oder die andere der genannten Verkehrsfreiheiten verletzen. Einige der von der Regelung betroffenen Bürger hätten ein Nießbrauchsrecht an einer landwirtschaftlichen Fläche in Ungarn in spekulativer Absicht erworben, während andere ihre wirtschaftliche Betätigung mit Hilfe eines solchen Rechts ausübten. Während der erste Fall unter die Kapitalverkehrsfreiheit falle, beziehe sich der zweite Fall auf die Niederlassungsfreiheit. Zwar habe sich der Gerichtshof in dem Urteil SEGRO und Horváth angesichts der Umstände der Rechtssachen, die zu diesem Urteil geführt haben, darauf beschränken können, die genannte Regelung allein unter dem Gesichtspunkt der Kapitalverkehrsfreiheit zu prüfen, doch bestehe diese Möglichkeit nicht im vorliegenden Fall. Im Rahmen des vorliegenden Vertragsverletzungsverfahrens, das seinem Wesen nach objektiv sei(16), müsse diese Regelung allgemein unter Berücksichtigung aller Freiheiten geprüft werden, die in diesen verschiedenen Fällen Geltung haben könnten.

45.      Dagegen ist die ungarische Regierung der Auffassung, dass zu dieser Frage im vorliegenden Fall kein anderer Standpunkt als in dem Urteil SEGRO und Horváth eingenommen werden könne.

46.      Ich teile die Auffassung der ungarischen Regierung. Auch im vorliegenden Fall ist meines Erachtens die streitige Regelung allein unter dem Gesichtspunkt der in Art. 63 AEUV garantierten Kapitalverkehrsfreiheit zu prüfen.

47.      Zwar führt die genannte Regelung zu einer Kumulierung potenziell anwendbarer Verkehrsfreiheiten(17): Zum einen könnte sich ein Bürger, der ein Nießbrauchsrecht an einer landwirtschaftlichen Fläche zwecks Ausübung seiner wirtschaftlichen Betätigung erworben hat, auf die Niederlassungsfreiheit nach Art. 49 AEUV berufen, da „das Recht, im Hoheitsgebiet eines anderen Mitgliedstaats Immobilien zu erwerben, zu nutzen und darüber zu verfügen, die notwendige Ergänzung [dieser Freiheit] dar[stellt]“(18); zum anderen fallen die innerstaatlichen Regelungen der Immobilieninvestitionen unter die in Art. 63 AEUV garantierte Kapitalverkehrsfreiheit, und zwar auch dann, wenn diese Investitionen dazu bestimmt sind, die Ausübung einer wirtschaftlichen Betätigung zu ermöglichen(19).

48.      Liegt ein solcher Fall von Kumulierung anwendbarer Freiheiten vor, prüft jedoch der Gerichtshof – jedenfalls in seiner jüngeren Rechtsprechung –, ob eine dieser beiden Freiheiten der anderen gegenüber zweitrangig ist und ihr zugeordnet werden kann. Ist dies der Fall, folgt er dem Grundsatz „die Nebensache folgt der Hauptsache“ und prüft die streitige Regelung lediglich unter dem Gesichtspunkt der vorrangigen Freiheit(20). In diesem Rahmen wird bei der Prüfung, ob zwischen den betreffenden Freiheiten ein Verhältnis von „Hauptsache/Nebensache“ besteht, nicht auf die am Rechtsstreit beteiligten Bürger, sondern auf den Gegenstand der betreffenden Regelung abgestellt(21).

49.      Was aber eine Regelung wie § 108 Abs. 1 des Gesetzes von 2013 betreffend die Übergangsregelungen angeht, so hat der den freien Kapitalverkehr betreffende Aspekt dieser Regelung Vorrang vor dem Aspekt der Niederlassungsfreiheit. Die genannte Regelung betrifft nämlich das Grundeigentum und gilt allgemein für den Nießbrauch an den landwirtschaftlichen Flächen, ohne dass sie somit auf die Fälle beschränkt wäre, in denen dieses Recht für die Ausübung einer wirtschaftlichen Tätigkeit begründet wurde(22). In diesem Zusammenhang stellen die sich aus dieser Regelung ergebenden etwaigen Beschränkungen der Niederlassungsfreiheit eine unvermeidbare Folge der Beschränkung der Kapitalverkehrsfreiheit dar. Mit anderen Worten, die etwaigen Beschränkungen der Niederlassungsfreiheit sind von denen der Kapitalverkehrsfreiheit nicht zu trennen(23).

50.      Folglich ist keine eigenständige Prüfung der streitigen Regelung im Hinblick auf Art. 49 AEUV vorzunehmen(24). Entgegen den Ausführungen der Kommission ist der objektive Charakter des Vertragsverletzungsverfahrens keine Rechtfertigung dafür, dass der Gerichtshof seine Rechtsprechung zur Kumulierung anwendbarer Freiheiten aufgibt. Abgesehen davon, dass dies schwer mit dem Gebot eines sorgfältigen Umgangs mit den eigenen Mitteln zu vereinbaren wäre, weise ich darauf hin, dass der Gerichtshof das Verhältnis „Hauptsache/Nebensache“ nicht subjektiv anhand der Lage der vom Rechtsstreit betroffenen Bürger, sondern objektiv unter Berücksichtigung des Gegenstands der streitigen Regelung bestimmt. Ich stelle im Übrigen fest, dass der Gerichtshof diese Rechtsprechung in einer bedeutenden Anzahl von Urteilen, in denen eine Vertragsverletzung festgestellt wurde, angewandt hat(25).

51.      Nach diesen Klarstellungen weise ich darauf hin, dass der Gerichtshof im Urteil SEGRO und Horváth festgestellt hat, dass eine Regelung wie § 108 Abs. 1 des Gesetzes von 2013 betreffend die Übergangsregelungen nicht nur den freien Kapitalverkehr behindert, sondern geeignet ist, eine mittelbare Diskriminierung aufgrund der Staatsangehörigkeit oder der Herkunft des Kapitals darzustellen.

52.      Der Gerichtshof hat in diesem Urteil ferner ausgeschlossen, dass die Regelung aus den Gründen, die die ungarische Regierung zu deren Verteidigung angeführt hatte, gerechtfertigt sein kann(26), vor allem angesichts ihrer Unverhältnismäßigkeit.

53.      In den vorliegenden Schlussanträgen braucht daher nicht näher auf die Vereinbarkeit der genannten Regelung mit der in Art. 63 AEUV garantierten Kapitalverkehrsfreiheit eingegangen zu werden. In diesem Punkt ist die erste Rüge der Kommission aus den im Urteil SEGRO und Horváth angeführten Gründen eindeutig begründet, und ich verweise insoweit auf diese Gründe sowie auf meine Schlussanträge in den genannten Rechtssachen(27).

54.      Zwar beruft sich die Kommission in ihrer Klageschrift auf einen Verstoß gegen die im Unionsrecht geltenden allgemeinen Grundsätze der Rechtssicherheit und des Vertrauensschutzes, weil die streitige Regelung im Zusammenhang mit dem Erlöschen ex lege der in Rede stehenden Nießbrauchsrechte weder eine Übergangsfrist noch eine Entschädigung vorgesehen habe(28). Aus der Klageschrift ergibt sich jedoch, dass die Kommission die genannten Grundsätze „hilfsweise“ geltend macht, also als ein nur zusätzliches Argument bei der Beurteilung der Frage, ob die Regelung mit den geltend gemachten Verkehrsfreiheiten vereinbar ist. Da ihre erste Rüge aus anderen Gründen begründet ist, braucht sich der Gerichtshof zu den in Frage stehenden Grundsätzen nicht zu äußern(29). In der mündlichen Verhandlung hat die Kommission zudem bestätigt, dass eine eigenständige Prüfung dieser Grundsätze nicht ihr Ziel sei, und geltend gemacht, dass jedenfalls die Beachtung der genannten Grundsätze nicht unabhängig von der Prüfung anhand der Verkehrsfreiheiten beurteilt werden könne. Ich teile diese Auffassung voll und ganz, wie ich nachstehend erläutern werde(30).

C.      Zum zweiten Klagegrund (Vereinbarkeit der streitigen Vereinbarung mit Art. 17 der Charta)

55.      Mit dem zweiten Klagegrund begehrt die Kommission der Sache nach die Feststellung, dass § 108 Abs. 1 des Gesetzes von 2013 betreffend die Übergangsregelungen gegen das in Art. 17 Abs. 1 der Charta gewährleistete Eigentumsrecht verstößt.

1.      Vorbringen der Verfahrensbeteiligten

56.      Die Kommission macht geltend, die durch die Charta gewährleisteten Grundrechte seien anwendbar, sobald eine nationale Regelung in den Anwendungsbereich des Unionsrechts falle. Dies sei aber der Fall, wenn diese Regelung geeignet sei, eine oder mehrere durch den AEUV gewährleistete Verkehrsfreiheiten zu beeinträchtigen, und sich der betreffende Mitgliedstaat auf zwingende Gründe des Allgemeininteresses berufe, um eine solche Beeinträchtigung zu rechtfertigen.

57.      Der Gerichtshof habe sich zwar in dem Urteil SEGRO und Horváth mit der Frage, ob die Grundrechte gewahrt worden seien, nicht befasst, müsse diese Frage jedoch im vorliegenden Verfahren entscheiden.

58.      Die Kommission macht insoweit geltend, das in Art. 17 der Charta gewährleistete Eigentumsrecht umfasse die aufgrund der streitigen Regelung erloschenen Nießbrauchsrechte. Der genannte Artikel beziehe sich umfassend auf alle vermögenswerte Rechte, aus denen sich im Hinblick auf die Rechtsordnung eine gesicherte Rechtsposition ergebe, die eine selbständige Ausübung dieser Rechte durch und zugunsten ihres Inhabers ermögliche.

59.      Ein Eingriff in dieses Recht erfolge – wie bei einer Enteignung – im Fall der Löschung, des Entzugs oder des tatsächlichen Verlusts eines Rechts, und zwar auch dann, wenn sich die Löschung, wie im vorliegenden Fall, nur auf zwei der drei Bereiche des Eigentums erstrecke, nämlich das Gebrauchs- und das Besitzrecht.

60.      Die im vorliegenden Fall in Frage stehende Löschung könne nicht gerechtfertigt sein. Der Löschung liege zum einen die unzutreffende allgemeine Vermutung zugrunde, dass alle nicht zwischen verwandten Personen geschlossenen Nießbrauchsverträge geschlossen worden seien, um den Vorschriften zu entgehen, die den Eigentumserwerb landwirtschaftlicher Flächen beschränkten. Zum anderen erfolge die Löschung unerwartet und unvorhersehbar, ohne dass die erforderliche Übergangszeit vorgesehen sei, und zugleich werde die den Investoren bereits eingeräumte 20-jährige Übergangszeit verkürzt. Zudem wäre die Löschung, selbst wenn sie gerechtfertigt wäre, nicht verhältnismäßig.

61.      Die ungarische Regierung macht geltend, dass eine Prüfung der streitigen Regelung im Licht der Charta nicht erforderlich sei.

62.      Jedenfalls ergebe sich erstens aus dem Urteil Nr. 25 vom 21. Juli 2015 des Alkotmánybíróság (Verfassungsgericht), dass das Erlöschen der fraglichen Nießbrauchsrechte ex lege nicht mit einer Enteignung vergleichbar sei. Überdies sei das Erlöschen durch das Allgemeininteresse gerechtfertigt. Die zivilrechtlichen Vorschriften, nach denen der Eigentümer verpflichtet sei, mit dem vormaligen Nießbraucher eine Regelung zu treffen, die sofort mit der Löschung des Nießbrauchsrechts verlangt werden könne, erlaubten dem Nießbraucher, eine gerechte, umfassende und rechtzeitige Entschädigung für die erlittenen Verluste zu erlangen.

63.      Zweitens könnten die im vorliegenden Fall in Rede stehenden Nießbrauchsrechte nicht unter Art. 17 Abs. 1 der Charta fallen, weil sie unredlich erworben worden seien.

2.      Bewertung

a)      Einleitende Erwägungen

64.      Der zweite Klagegrund der Kommission ist bemerkenswert. Meines Wissens nämlich ist es das erste Mal, dass die Kommission vom Gerichtshof die Feststellung begehrt, dass ein Mitgliedstaat gegen eine Vorschrift der Charta verstoßen hat(31). Doch war ein Klagegrund dieser Art angekündigt. Bereits in ihrer Mitteilung von 2010 zur Umsetzung der Charta hatte die Kommission erklärt, dass „[s]ie … in jedem Fall, in dem dies notwendig ist, Vertragsverletzungsverfahren gegen Mitgliedstaaten einleiten [wird], die die Charta bei der Durchführung des Unionsrechts missachten“(32). Die Kommission hat jedoch bisher eine deutliche Zurückhaltung gezeigt(33).

65.      Die vorliegende Rechtssache ist die erste in einer Reihe von Klagen(34), in denen die Kommission den Gerichtshof mit einem ersten Klagegrund um Entscheidung ersucht, ob die Regelung eines Mitgliedstaats mit den im AEUV garantierten Verkehrsfreiheiten vereinbar ist, und mit einem weiteren Klagegrund vom Gerichtshof die Prüfung dieser Regelung unter Berücksichtigung der Charta begehrt.

66.      Die Zulässigkeit einer solchen Klage wirft in Bezug auf Art. 258 AEUV keine Fragen auf(35). Nach diesem Artikel kann die Kommission Klage erheben auf Feststellung, dass ein Mitgliedstaat „gegen eine Verpflichtung aus den Verträgen verstoßen [hat]“. Eine Verpflichtung in diesem Sinne kann zweifellos auch eine solche sein, die sich aus den in der Charta garantierten Rechten herleitet. Deren Geltungskraft ergibt sich aus dem Verweis in Art. 6 Abs. 1 Unterabs. 1 EUV, wonach „die Charta der Grundrechte und die Verträge … rechtlich gleichrangig [sind]“.

67.      Demgemäß ist der Gerichtshof für die Feststellung eines Verstoßes gegen die in der Charta garantierten Rechte nur zuständig, wenn die Bestimmungen der Charta diesen Mitgliedstaat im betreffenden Fall binden(36). Die vorliegende Rechtssache wirft somit erneut die Frage auf, ob der Gerichtshof dafür zuständig ist, über die Beachtung der in der Rechtsordnung der Union anerkannten Grundrechte durch die Mitgliedstaaten zu entscheiden.

68.      Es darf nicht der Zusammenhang aus dem Auge gelassen werden, in dem diese Frage steht. Inwieweit die Mitgliedstaaten nach dem Unionsrecht durch die Erfordernisse des Grundrechtsschutzes gebunden sind, ist eine schwierige verfassungsrechtliche Frage von grundlegender Bedeutung, die die Verteilung der Zuständigkeiten innerhalb der Union berührt. Wird von den Mitgliedstaaten verlangt, dass sie bei ihren Handlungen die Grundrechte, wie sie im Unionsrecht geregelt sind, beachten, hat dies zur Folge, dass die politischen und rechtlichen Handlungsmöglichkeiten in diesen Mitgliedstaaten eingeschränkt werden, während die Befugnis der Union, den Bereich des Möglichen zu bestimmen, entsprechend größer wird. Die Grundrechte bergen daher in sich ein Potenzial zur Zentralisierung(37). In institutioneller Hinsicht geht es ferner um die Frage, inwieweit sich der Gerichtshof als höchstes Gericht bei der Kontrolle der Regelungen und Handlungen der Mitgliedstaaten anhand der Grundrechte an die Stelle der nationalen Verfassungsgerichte und des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte(38) setzen darf.

69.      Die Verfasser der Charta, die sich zweifellos dieser Probleme bewusst waren, waren darauf bedacht, die Umstände, unter denen die Charta auf die nationalen Rechtsvorschriften Anwendung finden, ausdrücklich einzuschränken. Laut Art. 51 Abs. 1 der Charta gelten deren Bestimmungen für die Mitgliedstaaten „ausschließlich bei der Durchführung des Rechts der Union“. In der Charta und den Verträgen heißt es zudem, dass die Charta den Geltungsbereich des Unionsrechts nicht über die Zuständigkeiten der Union hinaus ausdehnt und weder neue Zuständigkeiten noch neue Aufgaben für die Union begründet noch die in den Verträgen festgelegten Zuständigkeiten und Aufgaben ändert(39).

70.      In seinem Urteil Åkerberg Fransson(40)hat der Gerichtshof festgestellt, dass „die durch die Charta garantierten Grundrechte zu beachten sind, wenn eine nationale Rechtsvorschrift in den Geltungsbereich des Unionsrechts fällt“, und dass „keine Fallgestaltungen denkbar [sind], die vom Unionsrecht erfasst würden, ohne dass diese Grundrechte anwendbar wären“, so dass „[d]ie Anwendbarkeit des Unionsrechts … die Anwendbarkeit der durch die Charta garantierten Grundrechte [umfasst]“. Damit hat der Gerichtshof die Existenz einer „historischen Kontinuität“(41) zwischen seiner Rechtsprechung, die die Möglichkeit betraf, sich auf die als allgemeine Grundsätze des Unionsrechts anerkannten Grundrechte zu berufen, und dem Anwendungsbereich der Charta bestätigt.

71.      Insoweit weise ich darauf hin, dass nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs die Fallkonstellationen, in denen die Mitgliedstaaten durch die in der Rechtsordnung der Union anerkannten Grundrechte gebunden sind, üblicherweise in – zumindest – zwei Kategorien unterteilt werden können.

72.      Erstens haben die Mitgliedstaaten nach ständiger Rechtsprechung seit dem Urteil Wachauf(42) die Grundrechte bei der Durchführung der gemeinschaftsrechtlichen Regelungen zu beachten, so dass sie diese, soweit irgend möglich, in Übereinstimmung mit diesen Erfordernissen anwenden müssen(43).

73.      Wenn zweitens ein Mitgliedstaat durch eine nationale Regelung von dem Unionsrecht abweicht und sich zur Verteidigung dieser Regelung auf eine vom Unionsrecht anerkannte Rechtfertigung beruft, kann diese Rechtfertigung nach der Rechtsprechung des Urteils ERT(44)für diesen Mitgliedstaat nur dann gelten, wenn die genannte Regelung im Einklang mit den Grundrechten steht.

74.      Die Kommission stützt ihren zweiten Klagegrund auf die letztgenannte Rechtsprechung. Sie ist der Auffassung, Art. 17 Abs. 1 der Charta sei vorliegend anwendbar, weil Ungarn mit der streitigen Regelung eine Ausnahme von der Niederlassungsfreiheit und der Kapitalverkehrsfreiheit zugelassen habe.

75.      Die Kommission begehrt jedoch vom Gerichtshof die Prüfung eines eventuellen Verstoßes gegen die Charta nicht im Rahmen einer möglichen Rechtfertigung der streitigen Regelung aufgrund der geltend gemachten Verkehrsfreiheiten – die Gegenstand des ersten Klagegrundes ist –, sondern unabhängig hiervon, um die selbständige Feststellung eines Verstoßes gegen die Charta zu erreichen. Die Kommission ist nämlich im Wesentlichen der Auffassung, dass der eventuelle Verstoß gegen die Charta gesondert zu prüfen sei, wenn eine nationale Regelung, die eine Ausnahme von einer Verkehrsfreiheit zulässt, auch die von der Charta garantierten Grundrechte beschränken kann.

76.      Ich teile diese Auffassung nicht. Wie ich in den verbundenen Rechtssachen SEGRO und Horváth(45) in Übereinstimmung mit der ERT‑Rechtsprechung ausgeführt habe, kann die Frage eines etwaigen Verstoßes gegen ein von der Charta garantiertes Grundrecht genauso wie die Wahrung der von der Kommission im ersten Klagegrund geltend gemachten Grundsätze der Rechtssicherheit und des berechtigten Vertrauens(46)vom Gerichtshof nicht unabhängig von der Frage des Verstoßes gegen die Verkehrsfreiheiten geprüft werden. Ich halte es daher für erforderlich, in den vorliegenden Schlussanträgen die Gründe für meine Auffassung näher darzulegen.

b)      Die „Ratio“ und die Grenzen der ERTRechtsprechung

77.      Es ist daran zu erinnern, dass die Rechtssache, die zum Urteil ERT führte, eine griechische Regelung betraf, die einem nationalen Wirtschaftsteilnehmer ein Radio- und Fernsehmonopol einräumte. In diesem Zusammenhang war der Gerichtshof mit einer Reihe von Fragen zur Vereinbarkeit eines derartigen Monopols mit dem Unionsrecht und mit Art. 10 der Europäischen Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten(47) befasst, der das Recht auf freie Meinungsäußerung garantiert.

78.      Die betreffende Regelung wirkte sich diskriminierend auf Sendungen aus anderen Mitgliedstaaten aus. Sie war deshalb mit der Dienstleistungsfreiheit nach Art. 59 EG (jetzt Art. 56 AEUV) nicht vereinbar, wenn nicht eine der ausdrücklich in den Art. 56 und 66 EG(48) vorgesehenen Rechtfertigungen, d. h. die öffentliche Ordnung, Sicherheit oder Gesundheit, zum Zuge kommen kann(49).

79.      In diesem Stadium war Art. 10 EMRK für den Gerichtshof von Bedeutung. Er wies darauf hin, dass es nicht Sache des Gerichtshofs ist, die nationalen Regelungen, die nicht in den Anwendungsbereich des Unionsrechts fallen(50), im Hinblick auf die EMRK zu würdigen, vertrat jedoch die Auffassung, dass er in dem betreffenden Fall die Frage der Grundrechte zu prüfen hatte(51).

80.      Soweit die Hellenische Republik sich zur Rechtfertigung der streitigen Regelung auf die Vorschriften der Art. 56 und 66 EG berufen wollte, hat der Gerichtshof festgestellt, dass „diese im Gemeinschaftsrecht vorgesehene Rechtfertigung im Lichte der allgemeinen Rechtsgrundsätze und insbesondere der Grundrechte auszulegen [ist]“. Die in diesen Vorschriften vorgesehenen Ausnahmen können daher für die genannte Regelung nur dann gelten, „wenn sie im Einklang mit den Grundrechten steht, deren Wahrung der Gerichtshof zu sichern hat“(52), einschließlich der Meinungsfreiheit nach Art. 10 EMRK, der als ein allgemeiner Rechtsgrundsatz Bestandteil der Gemeinschaftsrechtsordnung geworden ist(53). Anders gesagt, die Wahrung der Grundrechte geht ein in die Voraussetzungen, die zu erfüllen sind, damit die Rechtfertigungen aufgrund der öffentlichen Ordnung, Sicherheit oder Gesundheit gelten können(54).

81.      Auf den ersten Blick folgt die ERT‑Rechtsprechung nicht einer so einsichtigen Logik wie der, auf der das Urteil Wachauf(55) bezüglich der Fälle beruht, in denen die Mitgliedstaaten das Unionsrecht umsetzen.

82.      Die Wachauf-Rechtsprechung folgt gänzlich der Logik, die den Gerichtshof veranlasste, die Grundrechte als Bestandteil der Rechtsordnung der Union anzuerkennen(56): Zum einen ist es erforderlich, die Bürger vor rechtswidrigen Eingriffen der Union in ihre Rechte zu schützen; zum anderen können die Mitgliedstaaten das Handeln der Union nicht anhand ihrer eigenen Verfassungsgrundsätze überprüfen, da andernfalls die Einheit, der Vorrang und die Wirksamkeit des Unionsrechts beeinträchtigt würden. Die nationalen Standards bleiben somit unberücksichtigt, doch im Gegenzug nimmt der Gerichtshof die Grundrechte, die von „gemeinsamen Verfassungsüberlieferungen der Mitgliedstaaten“ getragen werden, in die allgemeinen Rechtsgrundsätze auf, deren Wahrung er zu sichern hat(57). Da aber die Durchführung der meisten Unionspolitiken von den Mitgliedstaaten getragen wird, ist es notwendig, die Anwendung der in der Rechtsordnung der Union anerkannten Grundrechte auf diese Mitgliedstaaten auszudehnen, wenn diese als „Vertreter“ der Union handeln. Wird eine Politik der Union durchgeführt, fällt es in deren Verantwortlichkeit, sich zu vergewissern, dass die Mitgliedstaaten nicht im Namen der Union gegen die Grundrechte verstoßen(58).

83.      Bei einem „ERT“-Sachverhalt wie der im Urteil ERT führt dagegen der betreffende Mitgliedstaat mit der fraglichen nationalen Regelung nicht eine Politik der Union, sondern eine nationale Politik durch, die in seine Zuständigkeit fällt(59). Dabei „verstößt“ dieser Mitgliedstaat – willentlich oder nicht – gegen eine Regel des Unionsrechts wie die der im AEUV garantierten Verkehrsfreiheiten und versucht die genannte Regelung zu rechtfertigen(60).

84.      Demgemäß liegen meines Erachtens drei miteinander verbundene aber unterschiedliche normative Rechtfertigungsgründe der ERT‑Rechtsprechung zugrunde und bilden deren „Ratio“.

85.      Inwieweit die Mitgliedstaaten Ausnahmen von den Verkehrsfreiheiten wirksam zulassen können, ist zweifellos eine Frage des Unionsrechts(61). Das Ausmaß dieser Möglichkeit bestimmt sich nach der Auslegung der Vorschriften der Verträge bezüglich dieser Freiheiten und kann nicht vom einzelnen Mitgliedstaat anhand seiner eigenen Werte bestimmt werden, da andernfalls die Wirksamkeit und einheitliche Anwendung der genannten Freiheiten innerhalb aller Mitgliedstaaten beeinträchtigt würde. Der genannten Möglichkeit muss unter Berücksichtigung der Grundsätze und der Werte der Union ein Rahmen gesetzt werden(62).

86.      Sodann bringt das Urteil ERT den Grundsatz zum Ausdruck, dass das Unionsrecht – einschließlich der Bestimmungen der Verträge über die Verkehrsfreiheiten – stets im Einklang mit den Grundrechten ausgelegt werden muss, deren Beachtung der Gerichtshof sichert. Hielte nämlich der Gerichtshof in Bezug auf die genannten Freiheiten eine nationale Regelung, die gegen diese Grundrechte verstößt, für zulässig, wäre dies gleichbedeutend damit, es hinzunehmen, dass die in Frage stehenden Freiheiten, anders als nach dem hier wiedergegebenen Auslegungsgrundsatz, eine Bedeutung erhalten könnten, die diese Verstöße duldet(63).

87.      Schließlich ist unter bestimmten Umständen eine Bewertung unter dem Gesichtspinkt der Grundrechte für die Entscheidung eines Rechtsstreits im Bereich der Verkehrsfreiheiten unerlässlich. Bestimmte Rechtfertigungen sind nämlich untrennbar an grundrechtsrelevante Fragen gebunden. Dies ist insbesondere der Fall, wenn sich ein Mitgliedstaat zu seiner Rechtfertigung auf den Schutz der öffentlichen Gesundheit oder auf ein Grundrecht nach seiner nationalen Rechtsordnung beruft(64). Betrachten wir z. B. die Rechtssache, die zum Urteil Society for the Protection of Unborn Children Ireland (SPUC) führte(65). Ich erinnere daran, dass es in dieser Rechtssache um eine irische Regelung ging, die jede Information über die in anderen Mitgliedstaaten erreichbaren Möglichkeiten einer – in Irland bis vor kurzem verfassungsmäßig verbotenen – Abtreibung untersagte. Angenommen, der Gerichtshof wäre in diesem Urteil, anders als er tatsächlich geurteilt hat, davon ausgegangen, dass die genannte nationale Regelung eine Behinderung der Dienstleistungsfreiheit darstellt, dann hätte der Gerichtshof sich mit Irlands Rechtfertigungsgrund befassen müssen, dem das Recht auf Leben zugrunde lag, wie es von der irischen Verfassung verstanden wurde. In diesem Rahmen wäre es in methodischer und normativer Hinsicht ausgesprochen schwierig gewesen, dieses Recht nicht gegen das Recht auf freie Meinungsäußerung abzuwägen(66).

88.      In seinen späteren Urteilen, insbesondere in dem Urteil Familiapress(67), hat der Gerichtshof die ERT‑Rechtsprechung auf die Fälle ausgedehnt, in denen ein Mitgliedstaat eine Ausnahme von den Verkehrsfreiheiten damit zu rechtfertigen versucht, dass er sich nicht auf eine ausdrücklich vom AEUV vorgesehene Ausnahme – öffentliche Ordnung, öffentliche Sicherheit, öffentliche Gesundheit –, sondern auf einen der von der Rechtsprechung des Gerichtshofs zugelassenen ungeschriebenen Rechtfertigungsgründe beruft, nämlich auf „zwingende Erfordernisse“, „zwingende Gründe des Allgemeininteresses“ oder die „dem allgemeinen Wohl dienenden Ziele“.

89.      Es handelte sich um eine erhebliche, meines Erachtens jedoch berechtigte Ausdehnung. Es macht nämlich keinen Unterschied, ob sich ein Mitgliedstaat auf eine ausdrücklich vom AEUV vorgesehene Ausnahme oder auf einen ungeschriebenen Rechtfertigungsgrund beruft(68). In beiden Fällen stützt er sich auf eine Vorschrift des AEUV, die diese Ausnahme zulässt – im Rahmen der ungeschriebenen Rechtfertigungsgründe ist es der Grundsatz der Verkehrsfreiheiten –, und die Logik ist die gleiche: die Vorschrift wird „im Lichte der allgemeinen Rechtsgrundsätze und insbesondere der Grundrechte“ ausgelegt(69).

90.      Aus den vorstehenden Erwägungen folgt, dass die ERT‑Rechtsprechung auf der Auslegung der Vorschriften der Verträge über die Verkehrsfreiheiten unter Berücksichtigung der Grundrechte beruht. Die Prüfung der Grundrechte soll die Frage beantworten, ob die Verkehrsfreiheiten gewahrt wurden(70). Diese Rechtsprechung erlaubt die Zurückweisung eines Rechtfertigungsgrundes, auf den sich ein Mitgliedstaat wegen einer Beeinträchtigung eines von der Rechtsordnung der Union anerkannten Grundrechts berufen hat(71).

91.      Im Rahmen der ERT‑Rechtsprechung sind daher die Frage der Grundrechte und die der Verkehrsfreiheiten untrennbar miteinander verbunden. Hieraus folgt, dass diese beiden Fragen weder auf methodischer noch auf normativer Ebene getrennt behandelt werden können, wie die Kommission es im vorliegenden Fall vorschlägt.

92.      Das Inkrafttreten der Charta hat an dieser Beurteilung in den bisher ergangenen Urteilen des Gerichtshofs nichts geändert. Ich erinnere insoweit daran, dass der Gerichtshof im Urteil Pfleger u. a.(72) bekräftigt hat, dass die ERT‑Rechtsprechung im Rahmen der Charta weiterhin Anwendung findet. Insbesondere hat der Gerichtshof in diesem Urteil festgestellt, dass, wenn „ein Mitgliedstaat im Unionsrecht vorgesehene Ausnahmen in Anspruch [nimmt], um eine Beschränkung einer durch den [AEUV] garantierten Grundfreiheit zu rechtfertigen, … dies … als ‚Durchführung des Rechts der Union‘ im Sinne von Art. 51 Abs. 1 der Charta angesehen werden [muss]“(73).

93.      In den Urteilen Berlington Hungary u. a.(74), AGET Iraklis(75) sowie Global Starnet(76), die vor dem Hintergrund der Charta ergingen, hat der Gerichtshof auf ganz orthodoxe Weise von der ERT‑Rechtsprechung Gebrauch gemacht, indem er die Grundrechte bei der Prüfung einer möglichen Rechtfertigung der betreffenden nationalen Regelung unter Berücksichtigung der geltenden Verkehrsfreiheiten berücksichtigte.

94.      Zwar hat der Gerichtshof im Urteil Pfleger u. a.(77) die Frage, ob die betreffende nationale Regelung mit den Art. 15 bis 17 der Charta im Einklang steht, auf formaler Ebene von der Frage der Verkehrsfreiheiten getrennt. Aus dem Urteil lassen sich jedoch keine eindeutigen Schlussfolgerungen ziehen. Zum einen konnte die betreffende nationale Regelung im Hinblick auf die Verkehrsfreiheiten gerechtfertigt werden, wobei der Gerichtshof dem vorlegenden Gericht die Prüfung der Verhältnismäßigkeit überließ(78). In diesem Zusammenhang war eine zusätzliche Prüfung der genannten Regelung im Hinblick auf die Vorschriften der Charta unter dem „ERT“-Gesichtspunkt gerechtfertigt. Zum anderen schloss der Gerichtshof aus, dass eine getrennte Prüfung dieser Vorschriften der Charta konkret erforderlich war, mit dem Hinweis, dass, wenn die nationale Regelung eine unverhältnismäßige Beschränkung der Dienstleistungsfreiheit darstellen sollte, sie automatisch mit den genannten Vorschriften unvereinbar wäre, so dass diese Prüfung nicht erforderlich sei(79). Wie ich in meinen Schlussanträgen in den verbundenen Rechtssachen SEGRO und Horváth(80) ausgeführt habe, lässt das Urteil Pfleger u. a.(81) daher zumindest Zweifel entstehen, ob ein angeblicher Verstoß gegen die Charta unabhängig von der Frage geprüft werden kann, ob ein Verstoß gegen die Verkehrsfreiheiten vorliegt.

c)      Erwägungen, die meines Erachtens den Gerichtshof veranlassen müssten, nicht über die ERTRechtsprechung hinauszugehen

95.      Der zweite Klagegrund der Kommission folgt meines Erachtens nicht einfach logisch aus der ERT‑Rechtsprechung. Es handelt sich um eine erneute Ausweitung – möglicherweise gar um eine Verfälschung – dieser Rechtsprechung.

96.      Die Kommission begehrt nicht mehr und nicht weniger als eine Entscheidung des Gerichtshofs über ein von der Charta gewährleistetes Grundrecht im Hinblick auf eine nationale Regelung, die bereits gegen das primäre Unionsrecht verstößt. Mit der Bejahung, aber auch mit der Verneinung seiner Zuständigkeit für eine Entscheidung über den zweiten Klagegrund wird der Gerichtshof eine Entscheidung zwischen zwei unterschiedlichen Philosophien über den Ort treffen, an dem die Grundrechte in den Fällen einer „Ausnahme“ anzusiedeln sind.

97.      Nach der ersten Philosophie – die sich in dem Urteil ERT zeigt – löst der Gerichtshof in den Fällen einer „Ausnahme“ ein Grundrechtsproblem als solches nicht wie ein Verfassungsgericht. Es befasst sich mit diesem Problem insoweit, als dies für die Prüfung erforderlich ist, ob ein Mitgliedstaat berechtigt ist, eine Ausnahme insbesondere von einer Verkehrsfreiheit zu machen. Mit anderen Worten, der Gerichtshof nimmt Stellung zu Grundrechtsfragen, wenn diese in ihrer funktionellen Dimension in den Geltungsbereich des Unionsrechts fallen.

98.      Nach einer zweiten Philosophie – die im vorliegenden Fall von der Kommission vertreten wird – unterscheidet sich die Kontrolle der Achtung der Grundrechte von der Frage der Vereinbarkeit mit den Verkehrsfreiheiten. Die Beschränkung der genannten Freiheiten fungiert als Eingangstor zum Geltungsbereich der Charta. Durch ein geringfügiges Öffnen dieses Tores verpflichtet sich der Mitgliedstaat, den dort aufgeführten Grundrechtskatalog zu achten, und der Gerichtshof ist zuständig, um eigenständig über die Vereinbarkeit der betreffenden nationalen Regelung mit jedem einzelnen der Grundrechte zu entscheiden.

99.      Die Kommission ist der Auffassung, dass eine Prüfung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten im Hinblick auf die Charta in den Rechtssachen wie der vorliegenden erforderlich sei, um die Achtung des Rechtsstaats in diesen Staaten zu gewährleisten. Mit der Feststellung in diesen Rechtssachen, dass gegen die Charta verstoßen worden sei, würde sich für die Bürger, die von den fraglichen Rechtsvorschriften betroffen seien, der Rechtsstaat konkretisieren. Eine solche Anwendung der Charta würde zudem ihre Sichtbarkeit hervorheben und in den Augen aller Unionsbürger zu einer Legitimation des Unionsrechts führen.

100. Meines Erachtens sollte sich der Gerichtshof an die erste Philosophie halten und sich nicht auf das Terrain begeben, auf das die Kommission ihn führen möchte.

101. An erster Stelle ist daran zu erinnern, dass in der Rechtsordnung der Union die Achtung der Zuständigkeitsaufteilung zwischen der Union und den Mitgliedstaaten eine genauso wichtige Dimension des Rechtsstaats ist wie die Förderung einer Politik der Grundrechte(82). Hierbei geht es um die Legitimität eines Tätigwerdens des Gerichtshofs im Bereich einer nationalen Politik nach Maßgabe der Grundrechte, deren Wahrung er zu sichern hat.

102. Aus Gründen einer gerechten Zuständigkeitsverteilung bin ich der Auffassung, dass die Union, je mehr sie gemäß ihren Zuständigkeiten über eine Politik und über Instrumente verfügt, um gemeinsame Regelungen in einem bestimmten Bereich aufzustellen, desto berechtigter ist, die Einhaltung der Grundrechte durchzusetzen, wie sie im Unionsrecht vorgesehen sind. Ich weise aber darauf hin, dass in einer Ausnahmesituation der betreffende Mitgliedstaat per definitionem in einem Bereich tätig wird, in dem kein Instrument der Union vorhanden ist, das die Frage vereinheitlicht, harmonisiert oder gar koordiniert. Dieser Mitgliedstaat führt eine nationale Politik durch, die in seine Zuständigkeiten fällt. Anwendbar ist nur eine Verkehrsfreiheit, d. h. eine negative Harmonisierungsnorm, so wichtig sie auch sei. Anders gesagt, das Unionsrecht begrenzt die Zuständigkeit der Mitgliedstaaten für die Durchführung ihrer Entscheidungen in der nationalen Politik. Die Mitgliedstaaten beziehen jedoch diese Zuständigkeit nicht aus dem Unionsrecht(83), und das Unionsrecht bestimmt nicht deren Ausübung(84).

103. Wie in den Nrn. 85 bis 87 dieser Schlussanträge ausgeführt, gibt es für ERT‑Rechtsprechung trotz alledem normative Rechtfertigungsgründe: 1. das Gebot, die Einheitlichkeit und Wirksamkeit der Verkehrsfreiheiten zu gewährleisten, 2. die Verpflichtung, den AEUV unter allen Umständen unter Wahrung der Grundrechte auszulegen, und 3. die Notwendigkeit, sich zu diesen Rechten zu äußern, um den Rechtsstreit über die genannten Freiheiten zu entscheiden.

104. Folgt man der Philosophie, die die Kommission im vorliegenden Fall vorschlägt, haben diese Rechtfertigungsgründe keinen Sinn mehr: 1. Es kann kaum behauptet werden, dass die Einheitlichkeit und Wirksamkeit der Verkehrsfreiheiten einer Gefährdung unterliegen, die es zu beseitigen gilt – die nationale Regelung ist mit diesen Freiheiten ohnehin nicht vereinbar; 2. es geht nicht mehr darum, den AEUV im Licht der Grundrechte auszulegen, sondern darum, ein Grundrecht selbständig anzuwenden; 3. ein Tätigwerden im Bereich der Grundrechte ist für eine Entscheidung des Rechtsstreits über die genannten Freiheiten nicht erforderlich. Es bleibt nur das Argument des „Geltungsbereichs des Unionsrechts“, zwar nicht in seiner funktionellen Dimension, aber rein formal: Es besteht eine Ausnahme vom Unionsrecht, also gilt die Charta. Ich bin jedoch nicht sicher, dass dieses Argument einen hinreichenden normativen Rechtfertigungsgrund darstellt, um zu rechtfertigen, dass der Gerichtshof eine nationale Politik anhand der Grundrechte kontrolliert, deren Wahrung er zu sichern hat(85).

105. An zweiter Stelle kann das Inkrafttreten der Charta eine Ausdehnung der Zuständigkeit des Gerichtshofs im Bereich der Grundrechte in den Fällen einer „Ausnahme“ nicht rechtfertigen. Insoweit kann ich nur darauf hinweisen, dass die Charta die Zuständigkeiten der Union gerade nicht ausdehnen darf(86). Eine Ausdehnung der ERT‑Rechtsprechung wäre angesichts des Verfahrens zum Erlass der Charta historisch gesehen zudem widersinnig.

106. Es ist nämlich daran zu erinnern, dass Art. 51 Abs. 1 der Charta, dem zufolge die Charta die Mitgliedstaaten nur bei der „Durchführung“ des Unionsrechts bindet, Gegenstand eines – milde gesagt – sehr lebhaften redaktionellen Verfahrens war, in dessen Verlauf die Sorge durchschien, der Gerichtshof werde die Charta breit anwenden, um die nationalen Rechtsvorschriften zu kontrollieren(87). Wie jeder weiß, ist das Ergebnis doppeldeutig: Zum einen scheint der Wortlaut dieser Vorschrift in seiner endgültigen Fassung die Fälle einer „Ausnahme“ auszuschließen, zum anderen führen aber die Erläuterungen zur Charta(88) das Urteil ERT an. Aus diesem Verfahren tritt deutlich der Wunsch hervor, dass bei der Anwendung der Charta auf die nationalen Politiken zurückhaltend vorgegangen werde: Die Charta gilt vor allem für die Organe und Einrichtungen der Union und „nur“ in einer bestimmten Anzahl von Fällen für die Mitgliedstaaten. Angesichts des Wortlauts, den die Verfasser der Charta für den genannten Art. 51 Abs. 1 wählten und trotz der Erläuterungen zur Charta ist diese Zurückhaltung vor allem für die Fälle einer „Ausnahme“ geboten.

107. In diesem Zusammenhang hat der Gerichtshof im Urteil Åkerberg Fransson(89)zu Recht die Kontinuität seiner Zuständigkeit im Bereich der Grundrechte bestätigt(90) und damit eine willkommene Kohärenz zwischen dem Anwendungsbereich der Charta und dem der allgemeinen Grundsätze des Unionsrechts sichergestellt. Dagegen entspräche es kaum dem Willen der Verfasser der Charta, im Fall einer „Ausnahme“ über die Befugnisse hinauszugehen, die vor der Charta bestanden. Insbesondere bin ich nicht sicher, dass es der Logik entspräche, die dem von den Verfassern in Art. 51 Abs. 1 der Charta aufgestellten Rahmen zugrunde liegt, eine nationale Regelung anhand der durch die Charta gewährleisteten Grundrechte zu prüfen, obwohl dies für die Entscheidung der Frage der Verkehrsfreiheiten nicht erforderlich ist. Es entspräche dieser Logik z. B. noch weniger, würde man die Gelegenheit einer Behinderung des freien Warenverkehrs nutzen, um eine nationale Rechtsvorschrift gesondert und autonom unter dem Gesichtspunkt eines den Arbeitnehmern zuerkannten Grundrechts wie Art. 31 der Charta („Gerechte und angemessene Arbeitsbedingungen“) zu prüfen.

108. An dritter Stelle ist daran zu erinnern, dass in der Union die Grundrechte durch ein aus mehreren Schichten bestehendes System geschützt werden, das die nationalen Verfassungen und die EMRK umfasst, der alle Mitgliedstaaten als Vertragsparteien angehören(91).

109. Dass der Gerichtshof sich in einem Fall der „Ausnahme“ nicht zu einer Frage der Grundrechte äußert, bedeutet daher in systematischer Hinsicht nicht, dass der Grundrechtsschutz für die Unionsbürger lückenhaft ist. Ihnen steht der nationale Rechtsweg offen, und sie können nach Erschöpfung dieses Rechtswegs Individualbeschwerde beim EGMR erheben.

110. Das Eingreifen des Gerichtshofs im Bereich der Grundrechte sollte sich daher auf die Gebiete konzentrieren, die seiner eigentlichen Verantwortung unterliegen, d. h. in erster Linie auf das Handeln der Union selbst und das Handeln der Mitgliedstaaten beim Umsetzen ihrer Politiken(92). In diesem Bereich muss der Gerichtshof seine Aufgabe mit größtem Nachdruck erfüllen(93). Liegt es aber in einem Fall der „Ausnahme“ wirklich in der Verantwortung der Union und des Gerichtshofs, einzugreifen, wenn dies für die Lösung der Frage der Verkehrsfreiheiten und zur Sicherung der Einheit und Wirksamkeit des Unionsrechts nicht erforderlich ist?

111. Als höchste Auslegungsinstanz für das Unionsrecht hat der Gerichtshof die Achtung dieser Rechte im Bereich der Unionszuständigkeit sicherzustellen(94). Anders als die nationalen Verfassungsgerichte und der EGMR hat der Gerichtshof nicht den spezifischen Auftrag, etwaige Verstöße der Mitgliedstaaten gegen die Grundrechte zu ahnden. Ich kann daher dem Gerichtshof nur empfehlen, in den Fällen einer „Ausnahme“ seine Zuständigkeit insoweit eng auszulegen.

112. All diese Erwägungen veranlassen mich, dem Gerichtshof vorzuschlagen, den zweiten Klagegrund der Kommission zurückzuweisen.

d)      Hilfsweise: Mangelnde Relevanz einer eigenständigen Prüfung des Art. 17 der Charta im vorliegenden Fall

113. Sollte der Gerichtshof seine Zuständigkeit für die Entscheidung über den zweiten Klagegrund bejahen, so äußere ich mich hilfsweise dahin, dass eine getrennte Prüfung des § 108 Abs. 1 des Gesetzes von 2013 betreffend die Übergangsregelungen in Bezug auf Art. 17 der Charta jedenfalls keine eigenständige Bedeutung hat.

114. Aus der Rechtsprechung des Gerichtshofs ergibt sich nämlich, dass eine die Verkehrsfreiheiten beschränkende nationale Regelung auch die in Art. 15 („Berufsfreiheit und Recht zu arbeiten“), Art. 16 („Unternehmerische Freiheit“) und Art. 17 („Eigentumsrecht“) der Charta niedergelegten Rechte beschränkt. Da diese Beschränkung überdies nicht im Rahmen der genannten Verkehrsfreiheiten gerechtfertigt werden kann, ist sie auch nicht nach Art. 52 Abs. 1 der Charta(95) in Bezug auf deren Art. 15 bis 17 zulässig(96).

115. Die Kommission macht indessen geltend, dass zwar eine getrennte Prüfung in Bezug auf die Art. 15 und 16 der Charta im Allgemeinen nicht gerechtfertigt sei – der Inhalt dieser Artikel stimme mit dem der vom AEUV garantierten Verkehrsfreiheiten überein –, eine solche Prüfung im vorliegenden Fall jedoch erforderlich sei, weil der Inhalt von Art. 17 der Charta umfassender sei als der Inhalt der Kapitalverkehrsfreiheit oder der Niederlassungsfreiheit.

116. Dieses Vorbringen überzeugt nicht. Zunächst weise ich darauf hin, dass der Gerichtshof in der Rechtsprechung, die in Nr. 114 dieser Schlussanträge angeführt ist, zwischen den Art. 15, 16 und 17 der Charta keinen Unterschied macht, meines Erachtens aus einem einfachen Grund: Das Eigentumsrecht ist ein wirtschaftliches Recht, das wie die Berufsfreiheit und die unternehmerische Freiheit durch die Verkehrsfreiheiten geschützt ist, so dass sich ihre jeweiligen Inhalte, wenn nicht ganz, so doch zumindest weitgehend überschneiden(97). Wie ich bei der Prüfung des ersten Klagegrundes ausgeführt habe(98), stellen vor allem die nationalen Rechtsvorschriften, die den Zugang zum Eigentum, insbesondere zum Grundeigentum, beschränken oder seinen Gebrauch regeln, Beschränkungen der Kapitalverkehrsfreiheit (primär) und der Niederlassungsfreiheit (sekundär) dar.

117. Im Fall einer Rechtsvorschrift wie § 108 Abs. 1 des Gesetzes von 2013 betreffend die Übergangsregelungen besteht jedoch durchaus eine vollständige Überschneidung zwischen dem Eigentumsrecht und der Kapitalverkehrsfreiheit.

118. In dem Urteil SEGRO und Horváth hat der Gerichtshof nämlich festgestellt, dass eine Regelung, die das Erlöschen vertraglich erworbener Nießbrauchsrechte an landwirtschaftlichen Flächen vorsieht, „schon allein aufgrund ihres Gegenstands“ den freien Kapitalverkehr beschränkt, da durch diese Regelung „dem Betroffenen … sowohl die Möglichkeit genommen [wird], das von ihm erworbene Recht weiterhin auszuüben, … als auch die Möglichkeit, das Recht zu veräußern“(99). Dieselben Gründe führen zu dem Ergebnis, dass die streitige Regelung den nach Art. 17 Abs. 1 der Charta verbotenen „Entzug des Eigentums“ zur Folge hat(100).

119. In dem genannten Urteil hat der Gerichtshof ferner entschieden, dass die streitige Regelung nicht nach den Art. 63 und 65 AEUV gerechtfertigt werden kann, insbesondere angesichts der Umstände, die die Unvereinbarkeit der streitigen Regelung mit Art. 17 und Art. 52 Abs. 1 der Charta belegen, d. h. zum einen der Umstand, dass die die betreffenden Nießbrauchsrechte weniger einschränkenden Maßnahmen hätten erlassen werden können, um die von Ungarn verfolgten Ziele zu erreichen(101), und zum anderen das Fehlen einer angemessenen Entschädigungsregelung zugunsten der betroffenen Nießbrauchsinhaber(102).

120. Anders gesagt, die Prüfungen, die vorzunehmen sind, um sowohl einen Eingriff in die in Art. 63 AEUV und Art. 17 der Charta garantierten Rechte als auch die Unmöglichkeit einer Rechtfertigung dieses Eingriffs zu belegen, beruhen auf denselben Umständen, die zu einem im Wesentlichen identischen Ergebnis führen.

121. Die Künstlichkeit, die sich aus einer gesonderten Prüfung der streitigen Regelung in Bezug auf Art. 17 der Charta zusätzlich zu der zuvor vorgenommenen Prüfung in Bezug auf Art. 63 AEUV ergeben würde, zeigt sich in diesem Zusammenhang ferner daran, dass die Parteien im Rahmen des zweiten Klagegrundes im Wesentlichen dieselben Argumente wie im Rahmen des ersten Klagegrundes vortragen – oder sich gar mit dem Verweis auf diese begnügen.

122. Nicht überzeugend ist für mich auch das Argument der Kommission, wonach eine getrennte Prüfung der streitigen Regelung in Bezug auf Art. 17 der Charta unerlässlich sei, um den Bürgern eine bessere Position vor den nationalen Gerichten zu sichern, insbesondere im Rahmen einer Haftungsklage gegen den ungarischen Staat.

123. Ich bezweifele nämlich den zusätzlichen Nutzen, den ein etwaiges Urteil des Gerichtshofs, mit dem ein Verstoß gegen Art. 17 der Charta festgestellt würde, den betroffenen Bürgern bringen würde. Deren Interessen sind bereits durch Art. 63 AEUV geschützt, der eine Rechtsnorm unmittelbarer Wirkung darstellt, die vor dem nationalen Gericht geltend gemacht werden kann. Der letztgenannte Artikel „beanstandet“ bei der streitigen Regelung dieselben Beschränkungen wie die, die durch Art. 17 der Charta geahndet werden – der entschädigungslose Entzug des Eigentums –, und gewährt ihnen für diesen Entzug das Recht auf eine gerechte Entschädigung. Alles in allem würde der Gerichtshof seine Aufgabe, die Rechte der Bürger nach dem Unionsrecht zu schützen, nicht dadurch verfehlen, dass er über den letztgenannten Artikel keine Entscheidung trifft. Was insbesondere etwaige Staatshaftungsklagen angeht, so können die insoweit vom Unionsrecht vorgesehenen Voraussetzungen(103) angesichts der Unvereinbarkeit der streitigen Regelung mit Art. 63 AEUV bereits erfüllt sein. Im Übrigen können die genannten Bürger nicht deshalb einen größeren Schaden geltend machen, weil sie sich auf eine höhere Anzahl unionsrechtlicher Normen berufen.

124. Diese Prüfung der streitigen Regelung anhand von Art. 17 Abs. 1 der Charta kann auch nicht zu dem alleinigen Zweck erfolgen, der Kommission in einem etwaigen zukünftigen Verfahren einer wiederholten Vertragsverletzung die Geltendmachung einer höheren Geldbuße oder eines höheren Zwangsgelds gegen Ungarn zu ermöglichen. Da die im AEUV gewährleisteten Verkehrsfreiheiten grundlegende Normen des Primärrechts der Union darstellen, wird ein Verstoß gegen eine dieser Freiheiten bei der Berechnung der finanziellen Sanktionen bereits für sich genommen als „schwer“ angesehen(104). Ich sehe nicht, was die Feststellung einer Verletzung des Eigentumsrechts bei der Abwägung in der vorliegenden Sache beisteuern würde.

125. Schließlich kann eine selbständige Prüfung des Art. 17 Abs. 1 der Charta nicht allein deswegen geboten sein, weil es sich bei dem Vertragsverletzungsverfahren um ein objektives Verfahren handelt und die Kommission aus diesem Grund die angeblich vom Mitgliedstaat verletzten Regeln festzustellen hat, während der Gerichtshof zu prüfen hat, ob eine Vertragsverletzung vorliegt(105).

126. Insoweit ist daran zu erinnern, dass mit dem Verfahren nach Art. 258 AEUV festgestellt werden soll, dass das Verhalten eines Mitgliedstaats gegen das Unionsrecht verstößt. Das Verfahren zielt darauf ab, diese Verstöße und deren Folgen tatsächlich zu beseitigen(106). Wie ich versucht habe darzutun, schützen aber im vorliegenden Fall Art. 63 AEUV und Art. 17 Abs. 1 der Charta dieselben Interessen und sanktionieren dieselben Beschränkungen der nationalen Rechtsvorschriften. Eine Antwort unter dem Blickwinkel des Art. 63 AEUV genügt daher, um das genannte Ziel zu erreichen.

127. Im Übrigen prüft der Gerichtshof in einem Vorabentscheidungsverfahren meines Wissens eine nationale Regelung in Bezug auf die Charta nicht vorsorglich, wenn diese Regelung bereits gegen eine andere Regel des Unionsrechts verstößt(107). Das Urteil SEGRO und Horváth ist ein Beispiel für diesen Ansatz. Es handelt sich meines Erachtens um eine gute richterliche Politik(108), und es wäre bedauerlich, diese im Rahmen des Vertragsverletzungsverfahrens aufzugeben.

e)      Äußerst hilfsweise: Prüfung der streitigen Regelung in Bezug auf Art. 17 der Charta

128. Sollte der Gerichtshof meine Auffassung nicht teilen und sich für die Prüfung der streitigen Regelung in Bezug auf Art. 17 der Charta entscheiden, trage ich äußerst hilfsweise wie folgt vor.

1)      Einleitende Erwägungen

129. Das Grundrecht auf Eigentum gehört seit Langem zu den allgemeinen Grundsätzen des Unionsrechts, dessen Wahrung der Gerichtshof sichert(109). Dieses Recht ist inzwischen in Art. 17 der Charta niedergelegt, dessen Abs. 1(110) wie folgt lautet: „Jede Person hat das Recht, ihr rechtmäßig erworbenes Eigentum zu besitzen, zu nutzen, darüber zu verfügen und es zu vererben. Niemandem darf sein Eigentum entzogen werden, es sei denn aus Gründen des öffentlichen Interesses in den Fällen und unter den Bedingungen, die in einem Gesetz vorgesehen sind, sowie gegen eine rechtzeitige angemessene Entschädigung für den Verlust des Eigentums. Die Nutzung des Eigentums kann gesetzlich geregelt werden, soweit dies für das Wohl der Allgemeinheit erforderlich ist.“

130. Die Erläuterungen zur Charta stellen klar, dass das in Art. 17 Abs. 1 der Charta niedergelegte Eigentumsrecht nach Art. 52 Abs. 3 der Charta dieselbe Bedeutung und dieselbe Reichweite hat wie das in Art. 1 des Zusatzprotokolls Nr. 1 zur EMRK(111) gewährleistete Recht. Für die Auslegung der erstgenannten Vorschrift ist somit auf die Bedeutung abzustellen, die der EGMR der letztgenannten Vorschrift gibt(112).

131. Unter Berücksichtigung dieser beiden Texte werde ich im Folgenden darlegen, weshalb meines Erachtens die gemäß § 108 Abs. 1 des Gesetzes von 2013 betreffend die Übergangsregelungen gelöschten Nießbrauchsrechte „Eigentum“ darstellen (2), das „rechtmäßig erworben“ wurde (3), und die streitige Regelung einen Eingriff in diese Rechte bedeutet, der als „Entzug des Eigentums“ anzusehen ist (4), der nicht gerechtfertigt werden kann (5).

2)      Zum Begriff des „Eigentums“

132. Nach der Rechtsprechung des EGMR zu Art. 1 des Zusatzprotokolls Nr. 1 zur EMRK und nach der des Gerichtshofs zu Art. 17 Abs. 1 der Charta hat der Begriff des „Eigentums“, das durch das Grundrecht auf Eigentum geschützt wird, eine eigenständige Bedeutung, d. h. losgelöst von den Einordnungen nach dem nationalen Recht, und beschränkt sich nicht auf das Eigentum im eigentlichen Sinne(113).

133. Für die Feststellung, ob eine Person über „Eigentum“ verfügt, ist nach der Rechtsprechung des EGMR zu prüfen, ob die Gesamtumstände diese Person zu einem Inhaber eines „wesentlichen Interesses“ haben werden lassen, das durch Art. 1 des Zusatzprotokolls Nr. 1 zur EMRK geschützt ist. Nicht nur die „aktuellen Eigentumspositionen“ werden daher geschützt, sondern auch alle „Vermögenswerte“ einschließlich der Forderungen, zu denen die genannte Person zumindest nach dem innerstaatlichen Recht das Bestehen einer berechtigten und angemessenen Erwartung behaupten kann, in den tatsächlichen Genuss eines Eigentumsrechts zu gelangen(114).

134. Der Gerichtshof seinerseits stellt fest, dass das „Eigentum“ im Sinne von Art. 17 Abs. 1 der Charta alle „vermögenswerte Rechte“ beinhaltet, aus denen sich im Hinblick auf die Rechtsordnung „eine gesicherte Rechtsposition ergibt, die eine selbständige Ausübung dieser Rechte durch und zugunsten ihres Inhabers ermöglicht“(115). Dieser Prüfungsmaßstab weicht zwar in seiner Formulierung von dem des EGMR ab, die gewährleisteten Interessen sind meines Erachtens jedoch im Wesentlichen dieselben.

135. Für die Feststellung, ob die vorliegend in Frage stehenden Nießbrauchsrechte geschütztes „Eigentum“ sind, ist im Einklang mit dem vom Gerichtshof zugrunde gelegten Prüfungsmaßstab zu untersuchen, ob die zwei Voraussetzungen erfüllt sind, nämlich zum einen, ob diese Rechte einen Vermögenswert haben, und zum anderen, ob sich aus diesen Rechten eine gesicherte Rechtsposition ergibt, die eine selbständige Ausübung dieser Rechte durch und zugunsten ihres Inhabers ermöglicht.

136. Der Kommission folgend stelle ich bezüglich der ersten Voraussetzung fest, dass ein Nießbrauchsrecht seinem Inhaber eine partielle Herrschaft über die fremde Sache einräumt. Das Recht erlaubt es nämlich, die Sache zu nutzen (usus) und die Erträge zu vereinnahmen (fructus), während das Recht, über die Sache zu verfügen (abusus), beim Eigentümer verbleibt, der mit dieser Beschneidung seiner Rechte ein bloßer Eigentümer ist(116). Aus diesem Grund wurde der Nießbrauch herkömmlicherweise als ein abgespalteter Teil des Eigentums oder als ein beschränktes dingliches Recht angesehen, das als eine persönliche Dienstbarkeit einzustufen ist(117).

137. Ein Recht, das es erlaubt, in den Genuss einer Sache zu gelangen, stellt zweifellos für seinen Inhaber eine Quelle von Reichtum dar und hat folglich einen Vermögenswert. Die hier in Rede stehenden Nießbrauchsrechte bestehen überdies an landwirtschaftlichen Flächen und erlauben deren Bewirtschaftung. Diese Rechte haben folglich einen substanziellen Vermögenswert. Entgegen der Auffassung der ungarischen Regierung sind insoweit die Umstände, wonach der in Rede stehende Nießbrauch vertraglich eingeräumt wurde und seinem Inhaber per definitionem nur eine partielle Herrschaft über die betreffenden Flächen gewährt, ohne Relevanz(118).

138. Diese Auslegung wird nicht durch das von der ungarischen Regierung in der mündlichen Verhandlung vorgebrachte Argument in Frage gestellt, wonach derartige Nießbrauchsrechte nicht übertragbar seien und daher keinen Marktwert hätten.

139. Die etwaigen gesetzlichen oder vertraglichen Beschränkungen der Übertragbarkeit dieser Nießbrauchsrechte(119) ändern nämlich nichts an deren vermögensrechtlichen Charakter. Insoweit genügt der Hinweis, dass die in Rede stehenden Rechte sehr wohl im Rahmen einer vertraglichen Beziehung von den Grundstückseigentümern auf die Nießbraucher übertragen wurden. Wie die ungarische Regierung in der mündlichen Verhandlung eingeräumt hat, führte die Einräumung der genannten Rechte zu einer finanziellen Gegenleistung. Schon diese Umstände sind ein Beleg für den vermögensrechtlichen Charakter(120).

140. In Bezug auf die zweite Voraussetzung braucht, da der Nießbrauch ein dingliches Recht ist, nicht darauf hingewiesen zu werden, dass die Rechte, die der Nießbrauch seinem Inhaber gewährt, ausschließliche Rechte sind, d. h. jedem entgegengehalten werden können(121). Aus den hier fraglichen Nießbrauchsrechten ergibt sich daher eindeutig eine gesicherte Rechtsposition, die eine selbständige Ausübung dieser Rechte durch und zugunsten ihres Inhabers ermöglicht.

3)      Zur Voraussetzung des rechtmäßigen Erwerbs des in Rede stehenden Eigentums

141. Ich erinnere daran, dass nach Auffassung der ungarischen Regierung die durch die streitige Regelung gelöschten Nießbrauchsrechte nicht unter den Schutz des Art. 17 Abs. 1 der Charta fallen, da ihr Erwerb nach den Regeln des geltenden Zivilrechts rechtswidrig und von Anfang an unwirksam war.

142. Da zum einen nämlich diese Rechte vor dem 1. Januar 2002 zugunsten nichtansässiger Personen bestellt worden seien, sei der Erwerb durch diese Personen nach den geltenden nationalen Vorschriften über Devisenkontrollen von einer Genehmigung der mit den Devisenkontrollen betrauten Behörde, der ungarischen Nationalbank, abhängig gewesen. Nach den Angaben dieser Einrichtung sei für den Erwerb von Nießbrauchsrechten an landwirtschaftlichen Flächen indes nie eine solche Genehmigung beantragt worden. Mangels einer solchen Genehmigung seien die in Rede stehenden Nießbrauchsrechte nicht wirksam bestellt worden.

143. Zum anderen seien die Verträge, durch die die genannten Nießbrauchsrechte bestellt worden seien, in betrügerischer Absicht geschlossen worden, um das für natürliche Personen ohne ungarische Staatsangehörigkeit und für juristische Personen bestehende gesetzliche Verbot eines Erwerbs landwirtschaftlicher Flächen zu umgehen.

144. Insoweit ergibt sich aus Art. 17 Abs. 1 der Charta, dass diese Vorschrift nur das „rechtmäßig erworbene“ Eigentum schützt. Diese Voraussetzung ist in Art. 1 des Zusatzprotokolls Nr. 1 zur EMRK nicht enthalten. Sie darf daher meines Erachtens nicht zu weit ausgelegt werden – da sonst das von der letztgenannten Vorschrift gebotene Schutzniveau unterschritten würde. Die genannte Voraussetzung ist meines Erachtens somit als erfüllt anzusehen, wenn der Erwerb des fraglichen Eigentums bis zum Erlass der streitigen Eingriffsmaßnahmen und in Anbetracht der berechtigten Erwartungen der Inhaber dieses Eigentums vernünftigerweise als wirksam und rechtmäßig betrachtet werden konnte.

145. Was im vorliegenden Fall die angebliche von Anfang an bestehende Unwirksamkeit der Nießbrauchsrechte angeht, die durch die streitige Regelung gelöscht werden, bin ich erstens nicht davon überzeugt, dass die ungarische Regierung die Richtigkeit der von ihr vorgeschlagenen Auslegung der zivilrechtlichen Vorschriften wirklich belegt hat.

146. In Bezug auf den Umstand, dass die Inhaber der gelöschten Nießbrauchsrechte keine Genehmigung der mit den Devisenkontrollen betrauten Behörde erhielten, ergibt sich nämlich aus Art. 215 Abs. 1 und 3 des ehemaligen Zivilgesetzbuchs zwar, dass, wenn die Zustimmung einer öffentlichen Behörde für das Wirksamwerden eines Vertrags erforderlich ist, der Vertrag unwirksam ist, wenn die Zustimmung nicht erteilt wird.

147. Wie jedoch die Kommission ausführt und die ungarische Regierung in ihrer Antwort auf die mit Gründen versehene Stellungnahme selbst eingeräumt hat, ist zum einen das Fehlen einer devisenrechtlichen Genehmigung in keinem Urteil eines ungarischen Gerichts als ein Mangel angesehen worden, der einen Nießbrauchsvertrag als von Anfang an nichtig sein ließe.

148. Zum anderen macht die Kommission geltend, aus der Rechtsprechung der ungarischen Gerichte zu Art. 237 Abs. 1 und 2 des ehemaligen Zivilgesetzbuchs ergebe sich, dass das Gericht, bevor es einen Vertrag für nichtig erkläre, zunächst prüfen müsse, ob der fragliche Vertrag für wirksam erklärt werden könne, was der Fall sei, wenn der Grund für die Unwirksamkeit nach dessen Abschluss entfallen sei, insbesondere im Fall einer Änderung der geltenden Regeln. Die Pflicht, eine Devisengenehmigung einzuholen, sei aber mit Wirkung vom 16. Juni 2001 für den Erwerb von Vermögenswerten aufgehoben worden(122). Selbst wenn man daher unterstellt, die Verträge, mit denen die fraglichen Nießbrauchsrechte bestellt worden seien, hätten zu einem bestimmten Zeitpunkt mangels einer solchen Genehmigung unwirksam sein können, hätten diese Verträge rückwirkend auf diesen Zeitpunkt für wirksam erklärt werden können(123). Diese Auslegung des nationalen Rechts scheint mir durchaus angemessen zu sein.

149. Was den angeblichen Nichtigkeitsgrund betrifft, der sich aus der Umgehung der Beschränkungen des Erwerbs landwirtschaftlicher Flächen herleitet, hat die ungarische Regierung auch hier nicht vorgetragen, dass es ein Urteil gibt, mit dem ein Nießbrauchsrecht aus dem genannten Grund für rechtswidrig erklärt wurde. Die Kommission dagegen hat sich auf ein Urteil der Kúria (Oberster Gerichtshof, Ungarn) gestützt, in dem diese der Sache nach feststellte, dass die bloße Bestellung eines Nießbrauchsrechts an einer landwirtschaftlichen Fläche für sich genommen nicht als eine solche Umgehung angesehen werden könne.

150. Selbst wenn man zweitens annimmt, dass die von der ungarischen Regierung vorgeschlagene Auslegung der Vorschriften des nationalen Zivilrechts zutreffend wäre, wäre es nicht ausgeschlossen, die Nießbrauchsrechte angesichts der berechtigten Erwartungen, die aufgrund der Umstände bei ihren Inhabern entstehen konnten, als „rechtmäßig erworbenes“ Eigentum anzusehen.

151. Insoweit weise ich darauf hin, dass es nach den Gesetzesänderungen in den Jahren 1991 und 1994, die das Ziel hatten, natürlichen Personen, die keine ungarische Staatsangehörigkeit besaßen, sowie juristischen Personen den Erwerb landwirtschaftlicher Flächen zu verbieten, aller Wahrscheinlichkeit nach jedermann freistand, ein Nießbrauchsrecht an diesen Flächen zu erwerben. Erst mit Wirkung vom 1. Januar 2002 wurde das Gesetz von 1994 betreffend das Agrarland geändert, um auch die Möglichkeit der vertraglichen Bestellung eines Nießbrauchsrechts an landwirtschaftlichen Flächen zugunsten dieser natürlichen oder juristischen Personen auszuschließen. Die Rechte aber, auf die sich die vorliegende Klage bezieht, sind solche, die vor diesem Zeitpunkt bestellt wurden.

152. Wie die Kommission geltend macht, waren die fraglichen Nießbrauchsrechte daher – zumindest dem Anschein nach – rechtmäßig bestellt und ohne Einschränkung von den zuständigen Behörden in das Grundbuch eingetragen worden. Diese Eintragung stellt einen maßgebenden Umstand dar(124) in Anbetracht ihrer Bedeutung hinsichtlich der Beweisfunktion(125) und der Wirkung der fraglichen Rechte gegenüber Dritten(126). Zudem hat bis zum Erlass der streitigen Regelung niemand die Rechtmäßigkeit dieser Nießbrauchsrechte in Zweifel gezogen – also möglicherweise jahrelang(127).

153. Die ungarische Regierung kann in diesem Zusammenhang das Bestehen dieser berechtigten Erwartungen nicht damit widerlegen, dass sie sich auf die Unredlichkeit der betreffenden Nießbrauchsinhaber beruft. Die Unredlichkeit wird nämlich nicht vermutet, sie ist zu beweisen(128). Wie die Kommission geltend macht, kann die genannte Regierung nicht lediglich abstrakt ohne Prüfung des Einzelfalls behaupten, dass jeder Nießbraucher, der zum Grundstückseigentümer in keinem engen Verwandtschaftsverhältnis stehe und der nur die Möglichkeiten genutzt habe, die ihm der bestehende rechtliche Rahmen biete, unredlich gehandelt habe.

4)      Zum Begriff „Entzug des Eigentums“

154. Ebenso wie Art. 1 des Zusatzprotokolls Nr. 1 zur EMRK(129) enthält Art. 17 Abs. 1 der Charta drei verschiedene Normen, nämlich eine allgemeine Vorschrift (Satz 1: „Jede Person hat das Recht, ihr rechtmäßig erworbenes Eigentum zu besitzen …“), eine Vorschrift über den Entzug des Eigentums (Satz 2: „Niemandem darf sein Eigentum entzogen werden …“) und eine Vorschrift über die Regelung der Nutzung des Eigentums (Satz 3: „Die Nutzung des Eigentums kann gesetzlich geregelt werden …).

155. Wie dargelegt, bedeutet die streitige Regelung meines Erachtens einen Eingriff in das Grundrecht auf Eigentum der von dieser Regelung betroffenen Nießbrauchsrechtsinhaber, der als ein Entzug des Eigentums anzusehen ist (Art. 17 Abs. 1 Satz 2 der Charta).

156. Aus der Rechtsprechung des EGMR ergibt sich nämlich, dass ein solcher Entzug im Fall einer Übertragung des Eigentums als Folge einer förmlichen Enteignung vorliegt(130).

157. Zum einen aber hat die streitige Regelung dadurch, dass sie bestimmte an landwirtschaftlichen Flächen bestehende Nießbrauchsrechte ex lege löschte, die Inhaber der fraglichen Rechte enteignet. Diesen Personen wurde in der Tat das Recht entzogen, die betreffenden Flächen zu nutzen (usus) und deren Erträge zu vereinnahmen (fructus)(131).

158. Zum anderen wurden die Eigentumsrechte, die diese Personen an den fraglichen landwirtschaftlichen Flächen besaßen (usus und fructus), infolge der Löschung der in Rede stehenden Nießbrauchsrechte auf die Eigentümer der Flächen übertragen – oder genauer gesagt, zurückübertragen. Wie die Kommission zu Recht ausführt, ist der Umstand, dass diese Übertagung nicht dem Staat selbst zugute kam, sondern Privatpersonen – den genannten Eigentümern –, ohne Relevanz(132).

159. Die beiden Bestanteile des Eigentumsentzugs – Enteignung und Übertragung – liegen daher meines Erachtens im vorliegenden Fall vor.

5)      Zur möglichen Rechtfertigung eines solchen Eigentumsentzugs

160. Bevor die Frage beantwortet wird, ob die streitige Regelung gerechtfertigt werden kann, muss klargestellt werden, welche Methode anzuwenden ist.

161. Insoweit ist im Rahmen von Art. 1 des Zusatzprotokolls Nr. 1 zur EMRK bei der Frage nach der Rechtfertigung einer Maßnahme, die den Entzug des Eigentums zur Folge hat, zunächst – nach Maßgabe des Wortlauts – zu prüfen, ob dieser Entzug aufgrund eines „öffentlichen Interesses“ und „unter den durch Gesetz und durch die allgemeinen Grundsätze des Völkerrechts vorgesehenen Bedingungen“ erfolgte.

162. Sodann ist gemäß den in der Rechtsprechung des EGMR aufgestellten Anforderungen zu prüfen, ob der Gesetzgeber ein „ausgewogenes Verhältnis zwischen den Erfordernissen des Allgemeininteresses der Gemeinschaft und den Erfordernissen des Schutzes der Grundrechte des Einzelnen“ hergestellt hat, was die Prüfung voraussetzt, ob „bei einer Maßnahme, mit der einer Person das Eigentum entzogen wird, ein vernünftiges Verhältnis zwischen den eingesetzten Mitteln und dem angestrebten Ziel“ besteht(133).

163. Für die Feststellung, ob der fragliche Eigentumsentzug das angestrebte ausgewogene Verhältnis wahrt, hat der Gerichtshof insbesondere zu prüfen, ob mit dem Entzug dem betroffenen Bürger nicht eine „unverhältnismäßige Belastung“ auferlegt wird(134). Bei der Würdigung, ob dies der Fall ist, zieht der EGMR die Voraussetzungen für eine Entschädigung heran(135). Nach ständiger Rechtsprechung des EGMR stellt der Entzug von Eigentum ohne die Leistung einer „im vernünftigem Verhältnis zum Wert des Eigentums stehenden Entschädigung“ normalerweise eine übermäßige Beeinträchtigung dar(136), und das Fehlen jeglicher Entschädigung im Bereich des Art. 1 kann nur bei Vorliegen außergewöhnlicher Umstände gerechtfertigt sein(137). Zudem genügt die Entschädigung dem Erfordernis der Verhältnismäßigkeit nur, wenn sie innerhalb angemessener Frist erfolgt(138).

164. Im System der Charta liegen die Dinge komplizierter. Zum einen kann nach Art. 17 Abs. 1 der Charta eine Maßnahme, die den Entzug des Eigentums zur Folge hat, nur 1. aus Gründen des öffentlichen Interesses, 2. aufgrund eines Gesetzes und 3. gegen eine „rechtzeitige“ und „angemessene“ Entschädigung erfolgen – wobei die beiden letztgenannten Voraussetzungen eine Kodifizierung der in der Rechtsprechung des EGMR aufgestellten Erfordernisse sind.

165. Zum anderen findet Art. 52 Abs. 1 der Charta als „allgemeine Ausnahmeklausel“ Anwendung. Nach dieser Vorschrift muss jede Einschränkung der Ausübung des Eigentumsrechts 4. gesetzlich vorgesehen sein, 5. den „Wesensgehalt“ dieses Rechts achten und 6. dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit gerecht werden, der verlangt, dass diese Einschränkung a) erforderlich ist und b) den von der Union anerkannten dem Gemeinwohl dienenden Zielsetzungen oder den Erfordernissen des Schutzes der Rechte und Freiheiten anderer tatsächlich entspricht.

166. Unter Berücksichtigung des sich aus Art. 52 Abs. 3 der Charta ergebenden Gebots, kein Schutzniveau einzuführen, das niedriger als das vom EGMR vorgesehene Schutzniveau ist, können meines Erachtens die mehreren Voraussetzungen wie folgt untergliedert werden:

–        Der Eigentumsentzug muss gesetzlich vorgesehen sein (Voraussetzungen 2 und 4);

–        der Eigentumsentzug muss ein dem Gemeinwohl dienendes Ziel verfolgen (Voraussetzungen 1 und 6b);

–        der Eigentumsentzug muss diesem Ziel angemessen sein (Voraussetzung 6a), und

–        eine in vernünftigem Verhältnis zum Wert des Eigentums stehende Entschädigung muss innerhalb angemessener Frist geleistet werden (Voraussetzungen 3 und 5(139)).

167. Im vorliegenden Fall ist die streitige Regelung somit anhand dieser vier Voraussetzungen zu prüfen.

i)      Das Erfordernis der Gesetzmäßigkeit

168. Nach der Rechtsprechung des EGMR beinhaltet die Wendung „gesetzlich vorgesehen“, dass die Bedingungen und Modalitäten des betreffenden Eigentumsentzugs in den innerstaatlichen Rechtsvorschriften hinreichend zugänglich, bestimmt und vorhersehbar definiert sind(140).

169. Im vorliegenden Fall ist die Löschung der Nießbrauchsrechte, die an landwirtschaftlichen Flächen zugunsten von Personen ohne engem Verwandtschaftsverhältnis zu den Grundstückseigentümern bestellt wurden, in der streitigen Regelung zugänglich, bestimmt und vorhersehbar bezeichnet. Das ungarische Gesetz definiert auch genau die Personen, die in einem solchen Verwandtschaftsverhältnis stehen(141). Die erste Voraussetzung ist somit erfüllt.

ii)    Das Vorliegen einer dem Gemeinwohl dienenden Zielsetzung

170. Was das Vorliegen eines „öffentlichen Interesses“ angeht, das den Eigentumsentzug rechtfertigt, so räumt der EGMR den Vertragsparteien der EMRK einen weiten Beurteilungsspielraum ein. Er respektiert die Vorstellungen des nationalen Gesetzgebers, die dieser von dem „öffentlichen Interesse“ hat, es sei denn, seine Entscheidung „entbehrt offensichtlich einer vernünftigen Grundlage“(142).

171. Ich erinnere daran, dass die ungarische Regierung drei verschiedene Rechtfertigungsgründe für die streitige Entscheidung vorgebracht hat, nämlich ein agrarpolitisches Ziel, das Bestreben, Verstöße gegen die nationalen Vorschriften über Devisenkontrollen zu ahnden, und das Ziel, aus Gründen der öffentlichen Ordnung missbräuchliche Erwerbspraktiken zu bekämpfen(143).

172. Angesichts des Beurteilungsspielraums, der den Mitgliedstaaten insoweit einzuräumen ist, können diese Ziele meines Erachtens als von der Union anerkannte dem Gemeinwohl dienende Zielsetzungen im Sinne von Art. 17 Abs. 1 und Art. 52 Abs. 1 der Charta angesehen werden.

iii) Die Verhältnismäßigkeit der streitigen Regelung

173. Im Allgemeinen sollte der Gerichtshof ebenso wie der EGMR dem nationalen Gesetzgeber in Bezug auf die Verhältnismäßigkeit eines Eigentumsentzugs einen Beurteilungsspielraum zuerkennen(144).

174. Auch unter Berücksichtigung dieses Beurteilungsspielraums kann meines Erachtens der streitige Eigentumsentzug im Hinblick auf die von Ungarn angestrebten Ziele nicht als verhältnismäßig angesehen werden.

175. Zum einen lag die Beweislast für die Verhältnismäßigkeit der Löschung ex lege der betreffenden Nießbrauchsrechte bei dem genannten Mitgliedstaat. Dieser hat jedoch hierzu nicht wirklich Beweise beigebracht und sich im Wesentlichen darauf beschränkt, sich auf die Rechtswidrigkeit der in Rede stehenden Nießbrauchsrechte zu berufen.

176. Zum anderen und auf jeden Fall hat die Kommission dargelegt, dass das von Ungarn angestrebte Ziel durch eine Reihe weniger drastischer Maßnahmen als eine Löschung ex lege hätte erreicht werden können. Bezüglich des agrarpolitischen Ziels wäre es möglich gewesen, vom Nießbraucher zu verlangen, dass er die landwirtschaftliche Nutzung der betreffenden Fläche beibehält, gegebenenfalls indem er selbst ihre effektive Bewirtschaftung unter Bedingungen sicherstellt, die ihren Fortbestand gewährleisten. In Bezug auf das Ziel, etwaige Verstöße gegen die nationalen Vorschriften über Devisenkontrollen zu ahnden, wären einfache Geldbußen ausreichend gewesen. Was das Ziel betrifft, aus Gründen der öffentlichen Ordnung missbräuchliche Erwerbspraktiken zu bekämpfen, kann dieses Ziel eine Löschung der betreffenden Nießbrauchsrechte nicht rechtfertigen, sofern nicht im Einzelfall geprüft wird, ob sie tatsächlich betrügerisch sind(145). Überdies waren diese Ziele keine Rechtfertigung für die Löschung der fraglichen Nießbrauchsrechte innerhalb eines derartig kurzen Übergangszeitraums(146).

iv)    Die Entschädigungsmodalitäten

177. Ich erinnere daran, dass die streitige Regelung keine besondere Entschädigungsregelung für die enteigneten Nießbraucher vorsieht. Diese können eine Entschädigung vom Grundstückseigentümer nur im Rahmen der Regelung erhalten, die bei Löschung des Nießbrauchs nach den Vorschriften des Zivilrechts erfolgen muss(147).

178. Die Kommission und die ungarische Regierung sind sich weder über die anzuwendenden besonderen Vorschriften noch über den Umfang der Entschädigung einig, die der Nießbraucher vom Eigentümer verlangen kann. Die Kommission ist der Auffassung, zur Anwendung komme § 5:150 Abs. 2 des neuen Zivilgesetzbuchs(148), der bei Löschung des Nießbrauchs nur die Erstattung der Kosten für außergewöhnliche Renovierungs- und Instandsetzungsarbeiten vorsehe, die der Nießbraucher vorgenommen habe und die grundsätzlich Sache des Eigentümers seien. Die ungarische Regierung dagegen trägt vor, dass die Bestimmungen des § 6:180 Abs. 1 des neuen Zivilgesetzbuchs(149) über die Folgen einer rechtlichen Unmöglichkeit der Vertragserfüllung Anwendung fänden, gegebenenfalls in Verbindung mit einer Regelung nach § 5:150 Abs. 2. Insgesamt könne der Nießbraucher eine Entschädigung erhalten, die der Höhe nach einem Teil der von ihm ursprünglich für den Nießbrauch erbrachten finanziellen Gegenleistung sowie den von ihm getätigten werterhöhenden Investitionen in das Grundstück – Werkzeuge, Pflanzungen usw. – entspreche. Die Kommission erwidert, eine solche Entschädigung enthalte jedenfalls weder die Investitionen, die nicht unmittelbar bezifferbar seien, die der Nießbraucher aber in Erwartung einer weiteren Nutzung des Grundstücks vorgenommen habe, noch den entgangenen Gewinn.

179. Meines Erachtens stehen unabhängig von der Frage, welche Vorschrift des ungarischen Zivilrechts Anwendung findet, die vorgesehenen Entschädigungsmodalitäten mit den Erfordernissen des Art. 17 Abs. 1 der Charta nicht im Einklang – und zwar wiederum trotz des Beurteilungsspielraums, der den Mitgliedstaaten insoweit einzuräumen ist.

180. Zunächst nämlich bleibt es nach den geltend gemachten zivilrechtlichen Vorschriften dem Nießbraucher überlassen, die ihm zustehende Entschädigung in Verfahren beizutreiben, die langwierig und kostspielig sein können(150). Der EGMR weist jedoch in seiner Rechtsprechung darauf hin, dass eine nationale Regelung, die nicht die automatische Auszahlung der erforderlichen Entschädigung vorsieht, und den betroffenen Bürger zwingt, seinen Anspruch in einem derartigen gerichtlichen Verfahren geltend zu machen, nicht den Erfordernissen des Art. 1 des Zusatzprotokolls Nr. 1 zur EMRK entspricht(151).

181. Sodann bieten die zivilrechtlichen Vorschriften dem Nießbraucher keine Sicherheit, dass er eine in vernünftigem Verhältnis zum Wert des Eigentums stehende Entschädigung erhält(152). Sie ermöglichen allenfalls, dass er einen Teil der ursprünglich erbrachten Gegenleistung – der folglich nicht den tatsächlichen Wert des Nießbrauchs zum Zeitpunkt dessen Löschung ex lege berücksichtigt – sowie einen Betrag in Höhe bestimmter Investitionen in das Grundstück zurückerhält. Soweit überdies der Nießbrauch, der den Nießbrauchern im Wege der Enteignung entzogen wurde, ihr „Arbeitsmittel“ war, muss die Entschädigung auch unbedingt diesen besonderen Verlust abdecken, was nicht nur einen Ausgleich der am Tag der Löschung realisierten Verluste, sondern auch eine angemessene Bewertung des Verlustes zukünftiger Einnahmen voraussetzt, die die Nießbraucher aus der Nutzung des Grundstücks erhalten würden, wenn ihre Rechte nicht gelöscht worden wären(153).

182. Schließlich bürden diese Entschädigungsmodalitäten dem Nießbraucher das Risiko auf, dass der Eigentümer insolvent ist und die genannte Entschädigung nicht leisten kann(154).

183. Nach alledem bin ich der Auffassung, dass § 108 Abs. 1 des Gesetzes von 2013 betreffend die Übergangsregelungen mit Art. 17 Abs. 1 der Charta unvereinbar ist.

VI.    Ergebnis

184. Nach alledem schlage ich dem Gerichtshof vor,

1.      festzustellen, dass Ungarn gegen seine Verpflichtungen aus Art. 63 AEUV dadurch verstoßen hat, dass es nach § 108 Abs. 1 des Mező- és erdőgazdasági földek forgalmáról szóló 2013. évi CXXII. törvénnyel összefüggő egyes rendelkezésekről és átmeneti szabályokról szóló 2013. évi CCXII. törvény (Gesetz Nr. CCXII von 2013 mit verschiedenen Vorschriften und Übergangsregelungen betreffend das Gesetz Nr. CXXII von 2013 betreffend den Verkauf land- und forstwirtschaftlicher Flächen) die Nießbrauchsrechte und Nutzungsrechte an land- und forstwirtschaftlichen Flächen, die in der Vergangenheit zugunsten von juristischen Personen oder natürlichen Personen ohne nachgewiesenes nahes Angehörigenverhältnis zum Eigentümer der Grundstücke bestellt wurden, ex lege gelöscht hat;

2.      die Klage im Übrigen abzuweisen.


1      Originalsprache: Französisch.


2      Im Folgenden werde ich der Einfachheit halber zum einen die Begriffe „Nießbrauch“ oder „Nießbrauchsrecht“ zur Bezeichnung sowohl der Nießbrauchsrechte im engeren Sinne als auch der Nutzungsrechte und zum anderen den Ausdruck „landwirtschaftliche Fläche“ zur Bezeichnung sowohl der landwirtschaftlichen Flächen als auch der forstwirtschaftlichen Flächen benutzen.


3      C‑52/16 und C‑113/16, EU:C:2018:157, im Folgenden: Urteil SEGRO und Horváth.


4      Schlussanträge in den verbundenen Rechtssachen SEGRO und Horváth (C‑52/16 und C‑113/16, EU:C:2017:410).


5      § 38 Abs. 1 des Földről szóló 1987. évi I. törvény (Gesetz Nr. I von 1987 über Grundbesitz) in der Form des 26/1987. (VII. 30.) MT rendelet a földről szóló 1987. évi I. törvény végrehajtásáról (Verordnung Nr. 26 des Ministerrats vom 30. Juli 1987 zur Anwendung des Gesetzes Nr. I von 1987 über Grundbesitz) und sodann des A földről szóló 1987. évi I. törvény végrehajtásáról rendelkező 26/1987. (VII. 30.) MT rendelet módosításáról szóló 73/1989. (VII. 7.) (Verordnung Nr. 73 des Ministerrats vom 7. Juli 1989).


6      § 1 Abs. 5 des A külföldiek ingatlanszerzéséről 171/1991. (XII. 27.) Korm. (Regierungsverordnung Nr. 171 vom 27. Dezember 1991).


7      Gesetz in der durch das Gesetz Nr. CXVII von 2001 zur Änderung des [Gesetzes von 1994 betreffend das Agrarland] geänderten Fassung.


8      Gemäß Kapitel 3 Nr. 2 des Anhangs X der Akte über die Bedingungen des Beitritts der Tschechischen Republik, der Republik Estland, der Republik Zypern, der Republik Lettland, der Republik Litauen, der Republik Ungarn, der Republik Malta, der Republik Polen, der Republik Slowenien und der Slowakischen Republik und die Anpassungen der die Europäische Union begründenden Verträge (ABl. 2003, L 236, S. 33) sowie gemäß Beschluss 2010/792/EU der Kommission vom 20. Dezember 2010 zur Verlängerung des Übergangszeitraums für den Erwerb landwirtschaftlicher Flächen in Ungarn (ABl. 2010, L 336, S. 60).


9      Gesetz Nr. CCXIII von 2012 zur Änderung bestimmter Gesetze über die Landwirtschaft.


10      Gemäß § 37 Abs. 1 dieses Gesetzes.


11      In dem Mahnschreiben hatte die Kommission auch beanstandet, Ungarn habe gemäß § 60 Abs. 5 des Gesetzes von 2013 betreffend die Übergangsregelungen ab 25. Februar 2014 erlaubt, dass vor dem 27. Juli 1994 geschlossene Pachtverträge an landwirtschaftlichen Flächen mit einer Laufzeit von mehr als 20 Jahren einseitig gekündigt werden. Die Kommission verzichtete später offensichtlich auf diese Rüge, die in der mit Gründen versehenen Stellungnahme fehlt.


12      Vgl. insbesondere Urteile vom 9. September 2004, Kommission/Griechenland (C‑417/02, EU:C:2004:503, Rn. 16), vom 1. Februar 2007, Kommission/Vereinigtes Königreich (C‑199/04, EU:C:2007:72, Rn. 20), und vom 22. Februar 2018, Kommission/Polen (C‑336/16, EU:C:2018:94, Rn. 42). Die Rechtsprechung des Gerichtshofs hat sich nicht festgelegt, ob die von Amts wegen zu erfolgende Prüfung der unverzichtbaren Prozessvoraussetzungen obligatorisch oder fakultativ ist. Sowohl der zwingende Charakter der Vorschriften der öffentlichen Ordnung als auch Erwägungen bezüglich der Gleichheit der Bürger vor dem Richter und der Waffengleichheit der Parteien sprechen jedoch für ihren obligatorischen Charakter (vgl. Clausen, F., Les moyens d’ordre public devant la Cour de justice de l’Union européenne, Thèses, Bruylant, 2018, S. 455 bis 472).


13      Der Gegenstand einer Klage nach Art. 258 AEUV wird durch das dort vorgesehene Vorverfahren eingegrenzt und kann daher im gerichtlichen Verfahren nicht erweitert werden. Die mit Gründen versehene Stellungnahme und die Klage müssen auf die gleichen Gründe und das gleiche Vorbringen gestützt sein, so dass der Gerichtshof eine Rüge, die nicht in der mit Gründen versehenen Stellungnahme erhoben wurde, nicht prüfen kann. Vgl. insbesondere Urteile vom 9. Februar 2006, Kommission/Vereinigtes Königreich (C‑305/03, EU:C:2006:90, Rn. 22), vom 29. April 2010, Kommission/Deutschland (C‑160/08, EU:C:2010:230, Rn. 43), und vom 10. Mai 2012, Kommission/Niederlande (C‑368/10, EU:C:2012:284, Rn. 78).


14      § 11 Abs. 1 des Gesetzes von 1994 betreffend das Agrarland in der am 1. Januar 2013 geltenden Fassung und § 37 Abs. 1 des Gesetzes von 2013 über landwirtschaftliche Flächen betreffen nämlich die Bestellung (neuer) Nießbrauchsrechte an landwirtschaftlichen Flächen.


15      Vgl. Rn. 50 bis 60 des Urteils.


16      Nach ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofs hat eine Klage wegen Vertragsverletzung einen objektiven Charakter. Es ist Sache der Kommission, zu beurteilen, ob ein Einschreiten gegen einen Mitgliedstaat zweckmäßig ist, und die ihrer Ansicht nach verletzten Bestimmungen zu benennen, während der Gerichtshof zu prüfen hat, ob die gerügte Vertragsverletzung vorliegt. Vgl. in diesem Sinne Urteile vom 21. Juni 1988 (Kommission/Vereinigtes Königreich, 416/85, EU:C:1988:321, Rn. 9), vom 11. August 1995 (Kommission/Deutschland, C‑431/92, EU:C:1995:260, Rn. 22), und vom 8. Dezember 2005 (Kommission/Luxemburg, C‑33/04, EU:C:2005:750, Rn. 66).


17      Vgl. in diesem Sinne Urteil SEGRO und Horváth, Rn. 55.


18      Urteile vom 30. Mai 1989, Kommission/Griechenland (305/87, EU:C:1989:218, Rn. 22), sowie vom 5. März 2002, Reisch u. a. (C‑515/99, C‑519/99 bis C‑524/99 und C‑526/99 bis C‑540/99, EU:C:2002:135, Rn. 29).


19      Vgl. insbesondere Urteile vom 5. März 2002, Reisch u. a. (C‑515/99, C‑519/99 bis C‑524/99 und C‑526/99 bis C‑540/99, EU:C:2002:135, Rn. 28 bis 31), vom 23. September 2003, Ospelt und Schlössle Weissenberg (C‑452/01, EU:C:2003:493, Rn. 24), sowie vom 25. Januar 2007, Festersen (C‑370/05, EU:C:2007:59, Rn. 22 bis 24). Vgl. auch meine Schlussanträge in den verbundenen Rechtssachen SEGRO und Horváth (C‑52/16 und C‑113/16, EU:C:2017:410, Nrn. 48 bis 63).


20      Vgl. insbesondere Urteile vom 3. Oktober 2006, Fidium Finanz (C‑452/04, EU:C:2006:631, Rn. 34), und vom 17. September 2009, Glaxo Wellcome (C‑182/08, EU:C:2009:559, Rn. 37).


21      Vgl. insbesondere Urteile vom 17. September 2009, Glaxo Wellcome (C‑182/08, EU:C:2009:559, Rn. 36), vom 5. Februar 2014, Hervis Sport- és Divatkereskedelmi (C‑385/12, EU:C:2014:47, Rn. 21), sowie SEGRO und Horváth, Rn. 53.


22      Vgl. entsprechend Urteil vom 17. September 2009, Glaxo Wellcome (C‑182/08, EU:C:2009:559, Rn. 49 bis 52).


23      Vgl. in diesem Sinne Urteil SEGRO und Horváth, Rn. 55.


24      Sollte der Gerichtshof nicht meiner Ansicht sein, so bin ich der Auffassung, dass die Ausführungen zum freien Kapitalverkehr im Urteil SEGRO und Horváth in jedem Fall sowohl bezüglich des Vorliegens einer Beschränkung als auch bezüglich der mangelnden Rechtfertigung auf die Niederlassungsfreiheit übertragbar sind.


25      Vgl. unter zahlreichen Beispielen Urteile vom 9. Juni 1982, Kommission/Italien (95/81, EU:C:1982:216, Rn. 30), vom 4. Juni 2002, Kommission/Portugal (C‑367/98, EU:C:2002:326, Rn. 56), vom 28. September 2006, Kommission/Niederlande (C‑282/04 und C‑283/04, EU:C:2006:608, Rn. 43), vom 8. Juli 2010, Kommission/Portugal (C‑171/08, EU:C:2010:412, Rn. 80), sowie vom 10. Mai 2012, Kommission/Belgien (C‑370/11, nicht veröffentlicht, EU:C:2012:287, Rn. 21).


26      Es handelt sich zum einen um einen zwingenden Grund des Allgemeininteresses, der darin bestehe, das Eigentum an landwirtschaftlichen Flächen den Personen vorzubehalten, die sie bewirtschafteten, und ihren Erwerb zu reinen Spekulationszwecken zu verhindern sowie ihre Bewirtschaftung durch neue Unternehmen zu ermöglichen, die Schaffung von Eigentum in einer Größe, die eine lebens- und wettbewerbsfähige landwirtschaftliche Produktion ermögliche, zu erleichtern und eine Zerstückelung von Agrarflächen sowie Landflucht und Abwanderung aus ländlichen Gebieten zu verhindern. Zum anderen beruft sich die ungarische Regierung auf Art. 65 AEUV, insbesondere aber darauf, dass sie Verstöße gegen die nationalen Vorschriften über Devisenkontrollen ahnden wolle und dass sie aus Gründen der öffentlichen Ordnung missbräuchliche Erwerbspraktiken bekämpfen wolle.


27      Schlussanträge in den verbundenen Rechtssachen SEGRO und Horváth (C‑52/16 und C‑113/16, EU:C:2017:410, Nrn. 31 bis 118).


28      Vgl. Urteil vom 11. Juni 2015, Berlington Hungary u. a. (C‑98/14, EU:C:2015:386, Rn. 74 bis 88 sowie 92).


29      Gegebenenfalls sind die Ausführungen in den Nrn. 173 bis 182 der vorliegenden Schlussanträge, die sich mit dem in Art. 17 der Charta garantierten Eigentumsrecht befassen, auf die genannten Grundsätze übertragbar.


30      Vgl. Nrn. 76 ff. dieser Schlussanträge.


31      Zudem hat die Kommission, wenn ich mich nicht irre, in der Geschichte der Vertragsverletzungsverfahren eine Klage, mit der die Feststellung eines Verstoßes gegen ein in der Rechtsordnung der Union anerkanntes Grundrecht begehrt wurde, nur in der Rechtssache erhoben, die zum Urteil vom 27. April 2006, Kommission/Deutschland (C‑441/02, EU:C:2006:253), führte. Zur Rechtsprechung des Gerichtshofs zählen jedoch eine Reihe von Urteilen, in denen die Grundrechte herangezogen wurden, um die Auslegung der angeblich vom Mitgliedstaat verletzten Vorschrift des Unionsrechts zu stützen.


32      „Strategie zur wirksamen Umsetzung der Charta der Grundrechte durch die Europäische Union“ (KOM[2010] 573 endg., S. 10).


33      Die verschiedenen Jahresberichte der Kommission zur Anwendung der Charta erwähnen die Einleitung mehrerer Vorverfahren, die u. a. einen Verstoß bestimmter Mitgliedstaaten gegen die Charta betreffen. Keines dieser Verfahren gelangte jedoch vor den Gerichtshof. Vgl. Łazowski, A., „Decoding a Legal Enigma: the Charter of Fundamental Rights of the European Union and infringement proceedings“, ERA Forum, 2013, Nr. 14, S. 573 bis 587, der anmerkt, dass diese Zurückhaltung der Kommission zweifellos die Folge einer strategischen Entscheidung gewesen sei, verbunden mit der Unsicherheit in der Frage, ob die Charta auf die Mitgliedstaaten Anwendung finde.


34      Vgl. neben der vorliegenden Rechtssache die anhängigen Rechtssachen Kommission/Ungarn, C‑66/18, und Kommission/Ungarn, C‑78/18.


35      Dieselbe Feststellung gilt meines Erachtens für die als allgemeine Grundsätze des Unionsrechts anerkannten Grundrechte. Vgl. Barav, A., „Failure of Member Statesto Fulfil their Obligations under Community Law“, Common Market Law Review, 1975, Nr. 12, S. 369 bis 383, insbesondere S. 377.


36      Da sich ein Vertragsverletzungsverfahren nur auf einer Verpflichtung gründen kann, die in Kraft getreten ist und auf den betreffenden Fall zeitlich anwendbar ist, kann der Gerichtshof selbstverständlich eine Verletzung der in der Charta garantierten Rechte nur für einen Sachverhalt feststellen, der sich nach deren Inkrafttreten ereignet hat, – also nach dem 1. Dezember 2009, dem Inkrafttreten des Vertrags von Lissabon. Dies ist hier der Fall, da sich die vorliegende Rechtssache mit den Wirkungen des § 108 Abs. 1 des Gesetzes von 2013 betreffend die Übergangsregelungen befasst, eine Vorschrift, die nach dem genannten Datum erlassen wurde und in Kraft getreten ist (vgl. entsprechend Urteil SEGRO und Horváth, Rn. 38 bis 49).


37      Vgl. u. a. Bogdandy, A., „The European Union as a Human Rights Organization? Human Rights and the core of the European Union“, Common Market Law Review, 2000, Nr. 37, S. 1307 bis 1338, insbesondere S. 1316 und 1317, sowie Dougan, M., „Judicial review of Member State action under the General principles and the Charter: Defining the ‘Scope of Union Law’“, Common Market Law Review, 2015, Nr. 52, S. 1201 bis 1246, insbesondere S. 1204 bis 1210.


38      Im Folgenden: EGMR.


39      Vgl. Art. 6 Abs. 1 EUV, Art. 51 Abs. 2 der Charta sowie Erklärung zur Charta der Grundrechte der Europäischen Union im Anhang des AEUV.


40      Urteil vom 26. Februar 2013 (C‑617/10, EU:C:2013:105, Rn. 21).


41      Dougan, M., a. a. O., S. 1206.


42      Urteil vom 13. Juli 1989 (5/88, EU:C:1989:321, Rn. 17 bis 19).


43      Diese Rechtsprechung erfasst sowohl die Anwendung der Verordnungen (Urteil vom 24. März 1994, Bostock, C‑2/92, EU:C:1994:116) als auch die Umsetzung der Richtlinien (Urteil vom 10. Juli 2003, Booker Aquaculture und Hydro Seafood, C‑20/00 und C‑64/00, EU:C:2003:397), die Umsetzung der Rahmenbeschlüsse (Urteil vom 5. April 2016, Aranyosi und Căldăraru, C‑404/15 und C‑659/15 PPU, EU:C:2016:198) und die Anwendung der Verpflichtungen aus den Verträgen (Urteil vom 5. Dezember 2017, M.A.S. und M.B., C‑42/17, EU:C:2017:936). Für eine eingehende Erörterung der verschiedenen Hypothesen vgl. Schlussanträge des Generalanwalts Bobek in der Rechtssache Ispas (C‑298/16, EU:C:2017:650, Nrn. 32 bis 65).


44      Urteil vom 18. Juni 1991 (C‑260/89, EU:C:1991:254, Rn. 43 bis 45) (im Folgenden: Urteil ERT).


45      C‑52/16 und C‑113/16, EU:C:2017:410, Nr. 121.


46      Vgl. Nr. 54 dieser Schlussanträge.


47      Unterzeichnet am 4. November 1950 in Rom (im Folgenden: EMRK).


48      Diese Rechtfertigungen sind in Art. 56 EG (jetzt Art. 52 AEUV) aufgeführt und finden aufgrund des Verweises in Art. 66 EG (jetzt Art. 62 AEUV) auf die Dienstleistungsfreiheit Anwendung.


49      Urteil ERT, Rn. 26.


50      Die Wendung war vom Gerichtshof erstmals einige Jahre zuvor im Urteil vom 30. September 1987, Demirel (12/86, EU:C:1987:400), benutzt worden.


51      Urteil ERT, Rn. 42.


52      Urteil ERT, Rn. 43 (Hervorhebung nur hier).


53      Vgl. Urteil ERT, Rn. 44.


54      Vgl. in diesem Sinne Urteil ERT, Rn. 45.


55      Urteil vom 13. Juli 1989 (5/88, EU:C:1989:321).


56      Eingeleitet durch die Urteile vom 12. November 1969, Stauder (29/69, EU:C:1969:57), vom 17. Dezember 1970, Internationale Handelsgesellschaft (11/70, EU:C:1970:114), sowie vom 14. Mai 1974, Nold/Kommission (4/73, EU:C:1974:51).


57      Vgl. in diesem Sinne Urteile vom 17. Dezember 1970, Internationale Handelsgesellschaft (11/70, EU:C:1970:114, Rn. 3), vom 13. Dezember 1979, Hauer (44/79, EU:C:1979:290, Rn. 14), vom 26. Februar 2013, Melloni (C‑399/11, EU:C:2013:107, Rn. 60), sowie vom 6. März 2014, Siragusa (C‑206/13, EU:C:2014:126, Rn. 31 und 32).


58      Weiler, J. H. H., und Lockhart, N. J. S., „’Taking rights seriously’ seriously: the European court and its fundamental rights jurisprudence – part II“, Common Market Law Review, 1995, Nr. 32, S. 579 bis 627, insbesondere S. 583 und 610.


59      Aus diesem Grund findet die ERT‑Rechtsprechung weit weniger Zustimmung als die Wachauf-Rechtsprechung. Der Gerichtshof wird daher regelmäßig aufgefordert, seine ERT‑Rechtsprechung aufzugeben (Jacobs, J. G., „Human Rights in the European Union: the role of the Court of Justice“, European Law Review, 2001, Nr. 26, S. 331 bis 341; Huber, P. M., „The Unitary Effect of the Community’s Fundamental Rights: The ERT‑Doctrine Needs to be Reviewed“, European Public Law, 2008, Nr. 14, S. 323 bis 333; Kühn, Z., „Wachauf and ERT: On the Road from the Centralised to the Decentralised System of Judicial Review“, Poiares Maduro, J., Azoulai, L. [Hrsg.], The Past and Future of EU Law, Oxford und Portland, Oregon, 2010, S. 151 bis 161, insbesondere S. 157) oder bei ihrer Anwendung Vorsicht an den Tag zu legen (vgl. Weiler, J. H. H., „Fundamental rights and fundamental boundaries“, The constitution of Europe, Kapitel 3, Cambridge University Press, 1999, der dem Gerichtshof vorschlägt, sich darauf zu beschränken, die Mitgliedstaaten auf ihre Pflichten nach der EMRK hinzuweisen, sowie Snell, J., „Fundamental Rights Review of National Measures: Nothing New under the Charte?“, European Public Law, 2015, Bd. 21, Nr. 2, S. 285 bis 308, insbesondere S. 306).


60      Nach ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofs müssen die Mitgliedstaaten, selbst wenn sie innerhalb der Grenzen ihrer ausschließlichen Befugnisse tätig werden, bei Ausübung dieser Befugnisse das Unionsrecht einhalten, vor allem die in den Verträgen verankerten Verkehrsfreiheiten. Vgl. insbesondere Urteile vom 2. Oktober 2003, Garcia Avello (C‑148/02, EU:C:2003:539, Rn. 25), vom 11. Dezember 2007, International Transport Workers’ Federation und Finnish Seamen’s Union (C‑438/05, EU:C:2007:772, Rn. 40), und vom 5. Juni 2018, Coman u. a. (C‑673/16, EU:C:2018:385, Rn. 37 und 38).


61      Vgl. Schlussanträge der Generalanwältin Sharpston in der Rechtssache Pfleger u. a. (C‑390/12, EU:C:2013:747, Nr. 45), Tridimas, T., The General Principles of EC Law, Oxford University Press, 1999, S. 230, Craig, P., „The ECJ and ultra vires action: a conceptual analysis“, Common Market Law Review, 2011, Nr. 48, S. 395 bis 437, insbesondere S. 431, Eriksen, C. C., Stubberud, J. A., „Legitimacy and the Charter of Fundamental Rights Post-Lisbon“, Andenas, M., Bekkedal, T., Pantaleo, L., The Reach of Free Movement, Springler, 2017, S. 229 bis 252, insbesondere S. 240.


62      Vgl. Schlussanträge des Generalanwalts Van Gerven in der Rechtssache Society for the Protection of Unborn Children Ireland (C‑159/90, EU:C:1991:249, Nr. 31), Weiler, J. H. H., Fries, S. C., „A human right policy for the European Community and Union: The question of competences“, Alston, P. (Hrsg.), The EU and Human Rights, Oxford University Press, 1999, S. 163, sowie Dougan, M., a. a. O., S. 1216, der betont, dass die Wachauf- und die ERT‑Rechtsprechung letztlich durch dasselbe Gebot der Einheit und Wirksamkeit des Unionsrechts gebunden seien.


63      Vgl. Schlussanträge des Generalanwalts Tesauro in der Rechtssache Familiapress (C‑368/95, EU:C:1997:150, Nr. 26) und Eeckhout, P., „The EU Charter of Fundamental Rights and the Federal Question“, Common Market Law Review, 2002, Nr. 39, S. 945 bis 994, insbesondere S. 978.


64      Ein Fall, um den es insbesondere in den Urteilen vom 12. Juni 2003, Schmidberger (C‑112/00, EU:C:2003:333), und vom 14. Oktober 2004, Omega (C‑36/02, EU:C:2004:614), ging.


65      Urteil vom 4. Oktober 1991 (C‑159/90, EU:C:1991:378).


66      Vgl. Eeckhout, P., a. a. O., S. 978 (das Beispiel ist diesem Artikel entnommen), und von Danwitz, T., Paraschas, K., „A Fresh Start for the Charter: Fundamental Questions on the Application of the European Charter of Fundamental Rights“, Fordham International Law Journal, 2017, Nr. 35, S. 1396 bis 1425, insbesondere S. 1406.


67      Urteil vom 26. Juni 1997 (C‑368/95, EU:C:1997:325, Rn. 24).


68      Anderer Ansicht ist Besselink, L. F. M., „The member States, the National Constitutions and the Scope of the Charter“, Maastricht Journal, 2001, Nr. 8, S. 68 bis 80, insbesondere S. 77.


69      Urteil vom 26. Juni 1997, Familiapress (C‑368/95, EU:C:1997:325, Rn. 24). Wie hier Tridimas, T., a. a. O., S. 326.


70      Dieser Zweck wird deutlich in den Schlussanträgen des Generalanwalts Tesauro in der Rechtssache Familiapress (C‑368/95, EU:C:1997:150, Nr. 26): „[D]as Problem der Vereinbarkeit der betreffenden nationalen Regelung mit Artikel 10 der [EMRK], das im Verfahren aufgeworfen worden ist, [verdient] eine Antwort durch den Gerichtshof. Dies gilt selbstverständlich für den Fall, dass der Gerichtshof zu dem Ergebnis gelangt, dass die fragliche Regelung durch die soeben geprüften zwingenden Erfordernisse gerechtfertigt werden kann“.


71      Vgl. meine Schlussanträge in den verbundenen Rechtssachen SEGRO und Horváth (C‑52/16 und C‑113/16, EU:C:2017:410, Nr. 129).


72      Urteil vom 30. April 2014 (C‑390/12, EU:C:2014:281).


73      Urteil vom 30. April 2014, Pfleger u. a. (C‑390/12, EU:C:2014:281, Rn. 36).


74      Urteil vom 11. Juni 2015 (C‑98/14, EU:C:2015:386, Rn. 74 bis 91).


75      Urteil vom 21. Dezember 2016 (C‑201/15, EU:C:2016:972, Rn. 61 bis 70 sowie 102 und 103).


76      Urteil vom 20. Dezember 2017 (C‑322/16, EU:C:2017:985, Rn. 44 bis 50).


77      Urteil vom 30. April 2014 (C‑390/12, EU:C:2014:281).


78      Vgl. Urteil vom 30. April 2014, Pfleger u. a. (C‑390/12, EU:C:2014:281, Rn. 48 bis 55).


79      Vgl. Urteil vom 30. April 2014, Pfleger u. a. (C‑390/12, EU:C:2014:281, Rn. 59 und 60).


80      C‑52/16 und C‑113/16, EU:C:2017:410, Nr. 141.


81      Urteil vom 30. April 2014 (C‑390/12, EU:C:2014:281).


82      Vgl. Schlussanträge der Generalanwältin Sharpston in der Rechtssache Ruiz Zambrano (C‑34/09, EU:C:2010:560, Nr. 162) sowie Weiler, J. H. H., Fries, S. C., a. a. O.


83      Die Fälle einer „Ausnahme“ sind daher von denen zu unterscheiden, in denen eine Regelung der Union den Mitgliedstaaten einen Ermessensspielraum gewährt: Die Anwendung der Grundrechte der Union in dem zuletzt genannten Zusammenhang ist in vollem Umfang gerechtfertigt, da dieser Spielraum in den Rahmen einer Unionspolitik fällt (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 21. Dezember 2011, N. S. u. a., C‑411/10 und C‑493/10, EU:C:2011:865, Rn. 68, sowie vom 9. März 2017, Milkova, C‑406/15, EU:C:2017:198, Rn. 52 und 53) und der Gesetzgeber der Union den Mitgliedstaaten nicht ein Ermessen einräumen kann, um gegen die Grundrechte zu verstoßen.


84      Ich stelle daher fest, dass im vorliegenden Fall durch die streitige Regelung keine Vorschrift der Union im engeren Sinne durchgeführt wurde. Insbesondere ist diese Regelung nicht auf eine Durchführung des Anhangs X der Akte über die Bedingungen des Beitritts u. a. von Ungarn zurückzuführen, da die Akte die Bedingungen des Eigentumserwerbs, nicht aber den Nießbrauch betraf. Es handelt sich auch nicht um eine fehlerhafte Umsetzung der Richtlinie 88/361/EWG des Rates vom 24. Juni 1988 zur Durchführung von Artikel 67 des [EG‑]Vertrags (der Artikel wurde durch den Vertrag von Amsterdam aufgehoben) (ABl. 1988, L 178, S. 5), vor allem, weil diese Richtlinie nicht mehr in Kraft ist.


85      Vgl. Eeckhout, P., a. a. O., S. 975.


86      Vgl. Nr. 69 dieser Schlussanträge.


87      Vgl. insbesondere den Vermerk des Konventspräsidiums vom 15. Februar 2000 (CHARTE 4123/1/00 REV 1), in dem es heißt, dass die Charta auf die Mitgliedstaaten nur Anwendung findet, wenn sie das Unionsrecht umsetzen oder anwenden, und damit verhindert werden soll, dass die Mitgliedstaaten an die Charta gebunden sind, wenn sie in ihrem eigenen Zuständigkeitsbereich tätig werden. Die späteren Fassungen variieren zwischen der „Durchführung des Unionsrechts“ (CHARTE 4149/00 und CHARTE 4235/00) und dem „Anwendungsbereich des Unionsrechts“ (CHARTE 4316/00).


88      Erläuterungen zur [Charta] (ABl. 2007, C 303, S. 17).


89      Urteil vom 26. Februar 2013 (C‑617/10, EU:C:2013:105).


90      Vgl. Nr. 70 dieser Schlussanträge.


91      Vgl. XXV. Kongress der Internationalen Vereinigung für Europarecht (FIDE), Einführung von J. M. Sauvé am 30. Mai 2012 in Tallinn (Estland), der darauf hinweist, dass im Zusammenhang mit den Grundrechten auf dem europäischen Festland drei Bewegungen wirksam seien, nämlich die Ausweitung der Rechte, die Zunahme ihrer Quellen und die Pluralität der sie auslegenden Stellen.


92      Vgl. Nr. 82 dieser Schlussanträge. Zu dieser Kontrolle der Umsetzung der Politiken der Union durch die Mitgliedstaaten gehört die Kontrolle der Rechtsbehelfe, die die Mitgliedstaaten gemäß Art. 19 EUV vorsehen, damit sichergestellt ist, dass die Bürger in den vom Unionsrecht erfassten Bereichen die reale Möglichkeit haben, die Rechtmäßigkeit jeder nationalen Handlung, mit der das Unionsrecht umgesetzt wird, anzufechten. Vgl. in diesem Sinne Urteil vom 27. Februar 2018, Associação Sindical dos Juízes Portugueses (C‑64/16, EU:C:2018:117, Rn. 29 bis 37).


93      Die in Nr. 64 dieser Schlussanträge angeführte Erklärung der Kommission, dass „[s]ie … in jedem Fall, in dem dies notwendig ist, Vertragsverletzungsverfahren gegen Mitgliedstaaten einleiten [wird], die die Charta bei der Durchführung des Unionsrechts missachten“, stand selbst in einem Zusammenhang, in dem die Kommission sicherstellen wollte, dass die Tätigkeit der Union keinerlei Angriffspunkte in Bezug auf die Grundrechte bieten dürfe, da die Charta als Richtschnur für die EU-Politiken und für deren Umsetzung durch die Mitgliedstaaten dienen müsse (vgl. „Strategie zur wirksamen Umsetzung der Charta der Grundrechte durch die Europäische Union“ (KOM[2010] 573 endg., S. 4).


94      Vgl. Schlussanträge der Generalanwältin Sharpston in der Rechtssache Ruiz Zambrano (C‑34/09, EU:C:2010:560, Nr. 155).


95      Nach dieser Vorschrift „[muss] [j]ede Einschränkung der Ausübung der in dieser Charta anerkannten Rechte und Freiheiten … gesetzlich vorgesehen sein und den Wesensgehalt dieser Rechte und Freiheiten achten. Unter Wahrung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit dürfen Einschränkungen nur vorgenommen werden, wenn sie erforderlich sind und den von der Union anerkannten dem Gemeinwohl dienenden Zielsetzungen oder den Erfordernissen des Schutzes der Rechte und Freiheiten anderer tatsächlich entsprechen“.


96      Urteile vom 30. April 2014, Pfleger u. a. (C‑390/12, EU:C:2014:281, Rn. 57 bis 60), vom 11. Juni 2015, Berlington Hungary u. a. (C‑98/14, EU:C:2015:386, Rn. 90 und 91), vom 21. Dezember 2016, AGET Iraklis (C‑201/15, EU:C:2016:972, Rn. 102 und 103), sowie vom 20. Dezember 2017, Global Starnet (C‑322/16, EU:C:2017:985, Rn. 50).


97      Vgl. Kovar, R., „Droit de propriété“, Répertoire du droit européen, Januar 2007, § 4, und Gauthier, C., Platon, S., Szymczak, D., Droit européen des droits de l’Homme, Sirey, 2017, S. 215.


98      Vgl. die in Nr. 47 dieser Schlussanträge angeführte Rechtsprechung.


99      Urteil SEGRO und Horváth, Rn. 62 und 63.


100      Vgl. Nrn. 157 bis 159 dieser Schlussanträge.


101      Vgl. zum einen Rn. 92 und 106 des Urteils SEGRO und Horváth und zum anderen Nr. 176 dieser Schlussanträge.


102      Vgl. zum einen Rn. 91 des Urteils SEGRO und Horváth und zum anderen die Nrn. 179 bis 182 dieser Schlussanträge.


103      Die Rechtsnorm, gegen die verstoßen worden ist, muss bezwecken, dem Einzelnen Rechte zu verleihen, der Verstoß muss hinreichend qualifiziert sein und zwischen diesem Verstoß und dem entstandenen Schaden muss ein unmittelbarer Kausalzusammenhang bestehen. Vgl. Urteil vom 5. März 1996, Brasserie du pêcheur und Factortame (C‑46/93 und C‑48/93, EU:C:1996:79, Rn. 51), sowie bezüglich einer Anwendung in jüngster Zeit Urteil vom 4. Oktober 2018, Kantarev (C‑571/16, EU:C:2018:807, Rn. 94).


104      Vgl. insbesondere Urteil vom 30. Mai 2013, Kommission/Schweden (C‑270/11, EU:C:2013:339, Rn. 49). Vgl. auch Mitteilung der Kommission über die Anwendung von Art. 228 EG-Vertrag (SEK[2005] 1658), Rn. 16.1: „Um zu beurteilen, wie bedeutend die Vorschriften der Gemeinschaft sind, gegen die der betreffende Mitgliedstaat verstoßen hat, wird sich die Kommission an der Rechtsnatur und der Tragweite der Vorschriften und weniger an deren Stellung in der Normenhierarchie orientieren. … Verstöße gegen die Grundrechte oder die im EG-Vertrag festgelegten vier Grundfreiheiten [stellen] schwere Verstöße dar, die mit einer der Schwere entsprechenden finanziellen Sanktion zu ahnden sind“ (Hervorhebung nur hier).


105      Vgl. Rechtsprechung in Fn. 16 dieser Schlussanträge.


106      Vgl. Urteile vom 12. Juli 1973, Kommission/Deutschland (70/72, EU:C:1973:87, Rn. 13), und vom 16. Oktober 2012, Ungarn/Slowakei (C‑364/10, EU:C:2012:630, Rn. 68).


107      Vgl. insbesondere Urteile vom 6. November 2012, K (C‑245/11, EU:C:2012:685), vom 18. April 2013, Irimie (C‑565/11, EU:C:2013:250), vom 4. Juli 2013, Gardella (C‑233/12, EU:C:2013:449, Rn. 37 bis 41), vom 5. Juni 2014, Mahdi (C‑146/14 PPU, EU:C:2014:1320, Rn. 64), vom 4. September 2014, Zeman (C‑543/12, EU:C:2014:2143, Rn. 39), vom 4. Februar 2015, Melchior (C‑647/13, EU:C:2015:54, Rn. 29), vom 25. Juni 2015, Loutfi Management Propriété intellectuelle (C‑147/14, EU:C:2015:420, Rn. 27), und vom 10. September 2015, Wojciechowski (C‑408/14, EU:C:2015:591, Rn. 53).


108      Sei es auch nur, weil die Auslegung des Inhalts eines Grundrechts, einer Norm höchsten Ranges, die insbesondere den Gesetzgeber der Union in seiner Regelungszuständigkeit bindet, keine unbedeutende Übung ist.


109      Urteile vom 14. Mai 1974, Nold/Kommission (4/73, EU:C:1974:51), und vom 13. Dezember 1979, Hauer (44/79, EU:C:1979:290).


110      Art.17 Abs. 2 der Charta betrifft das geistige Eigentum und steht somit in der vorliegenden Rechtssache nicht zur Diskussion.


111      Diese Bestimmung („Schutz des Eigentums“) lautet: „Jede natürliche oder juristische Person hat ein Recht auf Achtung ihres Eigentums. Niemandem darf sein Eigentum entzogen werden, es sei denn, dass das öffentliche Interesse es verlangt, und nur unter den durch Gesetz und durch die allgemeinen Grundsätze des Völkerrechts vorgesehenen Bedingungen. Die vorstehenden Bestimmungen beeinträchtigen jedoch in keiner Weise das Recht des Staates, diejenigen Gesetze anzuwenden, die er für die Regelung der Benutzung des Eigentums in Übereinstimmung mit dem Allgemeininteresse oder zur Sicherung der Zahlung der Steuern, sonstiger Abgaben oder von Geldstrafen für erforderlich hält.“


112      Vgl. Urteile vom 3. September 2008, Kadi und Al Barakaat International Foundation/Rat und Kommission (C‑402/05 P und C‑415/05 P, EU:C:2008:461, Rn. 356), und vom 13. Juni 2017, Florescu u. a. (C‑258/14, EU:C:2017:448, Rn. 49).


113      Bezüglich der Rechtsprechung des EGMR vgl. in diesem Sinne EGMR, 23. Februar 1995, Gasus Dosier- und Fördertechnik GmbH/Niederlande (CE:ECHR:1995:0223JUD001537589, § 53), EGMR, 12. Dezember 2002, Wittek/Deutschland (CE:ECHR:2002:1212JUD003729097, § 42), und EGMR, 18. November 2010, Consorts Richet und Le Ber/Frankreich (CE:ECHR:2010:1118JUD001899007, § 89). Bezüglich der Rechtsprechung des Gerichtshofs vgl. in diesem Sinne Urteil vom 22. Januar 2013, Sky Österreich (C‑283/11, EU:C:2013:28, Rn. 34).


114      Vgl. in diesem Sinne EGMR, 29. November 1991, Pine Valley Developments Ltd u. a./Irlan, (CE:ECHR:1991:1129JUD001274287, § 51), EGMR, 20. November 1995, Pressos Compania Naviera S.A. u. a./Belgien (CE:ECHR:1995:1120JUD001784991, § 29), sowie EGMR, 18. April 2002, Ouzounis u. a./Griechenland (CE:ECHR:2002:0418JUD004914499, § 24).


115      Urteile vom 22. Januar 2013, Sky Österreich (C‑283/11, EU:C:2013:28, Rn. 34), sowie vom 3. September 2015, Inuit Tapiriit Kanatami u. a./Kommission (C‑398/13 P, EU:C:2015:535, Rn. 60).


116      Bei dem Nutzungsrecht wird nur der usus auf den Inhaber übertragen, während der fructus und der abusus beim Eigentümer verbleibt.


117      Vgl. wegen einer Darstellung der Merkmale des Nießbrauchs, wie er im römischen Recht und im Recht verschiedener Mitgliedstaaten geregelt war bzw. ist, Schlussanträge des Generalanwalts Jacobs in der Rechtssache „Goed Wonen“ (C‑326/99, EU:C:2001:115, Nrn. 54 bis 56).


118      Im Rahmen von Art. 1 des Zusatzprotokolls Nr. 1 zur EMRK hat der EGMR beispielsweise als „Eigentum“ angesehen: den Nießbrauch (EGMR, 12. Dezember 2002, Wittek/Deutschland, CE:ECHR:2002:1212JUD003729097, §§ 43 und 44, sowie EGMR, 16. November 2004, Bruncrona/Finnland, CE:ECHR:2004:1116JUD004167398, § 78), andere Formen von Dienstbarkeiten (Europäische Kommission für Menschenrechte, 13. Dezember 1984, S/Vereinigtes Königreich, CE:ECHR:1984:1213DEC001074184, §§ 238 und 239), und das persönliche Recht auf Nutzung der Sache als Folge eines Pachtvertrags (EGMR, 24. Juni 2003, Stretch/Vereinigtes Königreich, CE:ECHR:2003:0624JUD004427798, § 35).


119      Hierzu weise ich darauf hin, dass in zahlreichen nationalen Rechtsordnungen die Übertragung des Nießbrauchsrechts gesetzlich ausgeschlossen ist oder zumindest der Genehmigung des Eigentümers unterliegt. Zudem wird der Nießbrauch als persönliche Dienstbarkeit längstens auf Lebenszeit bestellt, so dass es beim Tod des Nießbrauchers nicht auf dessen Erben übergeht, sondern auf den Eigentümer zurückfällt. Vgl. Schlussanträge des Generalanwalts Jacobs in der Rechtssache „Goed Wonen“ (C‑326/99, EU:C:2001:115, Nr. 56).


120      Vgl. entsprechend Urteil vom 22. Januar 2013, Sky Österreich (C‑283/11, EU:C:2013:28, Rn. 35). Mit anderen Worten, der Umstand, dass der Nießbrauch vom Nießbraucher nicht auf einen Dritten übertragen werden kann, macht dieses nicht zu einem Recht, das kein Vermögensrecht ist und keinen bezifferbaren Wert hat.


121      Vgl. Schlussanträge des Generalanwalts Jacobs in der Rechtssache „Goed Wonen“ (C‑326/99, EU:C:2001:115, Nr. 56).


122      Vgl. Art. 1 des Dekrets Nr. 88 vom 15. Juni 2001 zur Ausführung des Gesetzes Nr. XCV von 1995 über die Devisen.


123      Die §§ 6:110 und 6:111 des neuen Zivilgesetzbuchs stützen diese Lösung.


124      Vgl. entsprechend Urteil SEGRO und Horváth, Rn. 103. Vgl. auch EGMR, 29. November 1991, Pine Valley Developments Ltd u. a./Irland (CE:ECHR:1991:1129JUD001274287, § 51), sowie EGMR, 22. Juli 2008, Köktepe/Türkei (CE:ECHR:2008:0722JUD003578503, § 89): „der Kläger erwarb 1993 gutgläubig das streitige Grundstück, das zu diesem Zeitpunkt unstreitig als landwirtschaftliche Fläche ausgewiesen war … und das frei von jeder beschränkenden Eintragung in dem nach türkischem Recht allein verbindlichen Grundbuch war … Der Erwerb des Grundstücks durch den Kläger war somit nicht mit Fehlern behaftet, die ihm entgegengehalten werden können; wäre dem nicht so gewesen, hätte die Generaldirektion für Eigentumstitel und Kataster ihm den ordnungsgemäß erstellten Eigentumstitel mit Sicherheit nicht ausgehändigt …“ (Hervorhebung nur hier).


125      Nach § 5 Abs. 1 des Gesetzes über das Grundbuch „wird bis zum Beweis des Gegenteils vermutet, dass ein im Grundbuch eingetragener Umstand besteht und ein im Grundbuch gestrichener Umstand nicht besteht“.


126      § 3 des Gesetzes über das Grundbuch, aufgehoben mit Wirkung vom 15. März 2014 durch § 12 Buchst. a des Gesetzes Nr. CCIV von 2013 zur Änderung des (Gesetzes über das Grundbuch), sah bis zu diesem Zeitpunkt vor, dass ein Recht erst mit seiner Eintragung in das Grundbuch entsteht und dass jede Änderung eine neue Eintragung erfordert.


127      Vgl. entsprechend Urteil SEGRO und Horváth, Rn. 109 und 110. Vgl. auch EGMR, 23. September 2014, Valle Pierimpiè Società Agricola S.p.a./Italien (CE:ECHR:2014:0923JUD004615411, §§ 48 bis 51).


128      Vgl. in diesem Sinne Urteil SEGRO und Horváth, Rn. 116, 117 und 121.


129      Vgl. EGMR, 23. September 1982, Sporrong und Lönnroth/Schweden (CE:ECHR:1982:0923JUD000715175, § 67), EGMR, 21. Februar 1986, James u. a./Vereinigtes Königreich (CE:ECHR:1986:0221JUD000879379, § 37), und EGMR, 12. Dezember 2002, Wittek/Deutschland (CE:ECHR:2002:1212JUD003729097, § 41).


130      Vgl. in diesem Sinne EGMR, 23. September 1982, Sporrong und Lönnroth/Schweden (CE:ECHR:1982:0923JUD000715175, §§ 62 und 63), sowie EGMR, 21. Februar 1986, James u. a./Vereinigtes Königreich (CE:ECHR:1986:0221JUD000879379, § 40).


131      Vgl. entsprechend Urteil SEGRO und Horváth, Rn. 63.


132      Der EGMR hat daher die einem Bürger auferlegte Verpflichtung, sein Grundstück an einen anderen Bürger zu übertragen, als „Übertragung von Eigentum“ und damit als „Entzug“ anerkannt (vgl. EGMR, 21. Februar 1986, James u. a./Vereinigtes Königreich, CE:ECHR:1986:0221JUD000879379, EGMR, 21. Februar 1990, Håkansson und Sturesson/Schweden, CE:ECHR:1990:0221JUD001185585, sowie EGMR, 10. Juli 2014, Milhau/Frankreich, CE:ECHR:2014:0710JUD000494411).


133      Vgl. insbesondere EGMR, 23. September 1982, Sporrong und Lönnroth/Schweden (CE:ECHR:1982:0923JUD000715175, § 69), sowie EGMR, 12. Dezember 2002, Wittek/Deutschland (CE:ECHR:2002:1212JUD003729097, § 53).


134      Vgl. insbesondere EGMR, 12. Dezember 2002, Wittek/Deutschland (CE:ECHR:2002:1212JUD003729097, § 54).


135      Vgl. insbesondere EGMR, 21. Februar 1986, James u. a./Vereinigtes Königreich (CE:ECHR:1986:0221JUD000879379, § 54). Es ist darauf hinzuweisen, dass Art. 1 des Zusatzprotokolls Nr. 1 zur EMRK keinen Verweis auf eine solche Entschädigung enthält. Wie der EGMR in dem genannten Urteil jedoch festgestellt hat, wäre der Schutz des Eigentumsrechts ohne eine Entschädigungspflicht „weitgehend illusorisch und wirkungslos“. Der EGMR hat daher dem Schweigen der Vorschrift abgeholfen, indem er entschied, dass sich das Erfordernis einer Entschädigung „implizit aus Art. 1 des Zusatzprotokolls Nr. 1 in einer Gesamtschau“ ergibt (EGMR, 8. Juli 1986, Lithgow u. a./Vereinigtes Königreich, CE:ECHR:1986:0708JUD000900680, § 109).


136      Art. 1 des Zusatzprotokolls Nr. 1 zur EMRK gewährleistet keinen Anspruch auf eine vollständige Ausgleichsleistung, da die legitimen Ziele des Gemeinwohls für eine Erstattung unter dem vollen Marktwert sprechen können. Überdies billigt der EGMR dem Staat in dieser Frage einen weiten Beurteilungsspielraum zu (EGMR, 21. Februar 1986, James u. a./Vereinigtes Königreich, CE:ECHR:1986:0221JUD000879379, § 54).


137      Vgl. insbesondere EGMR, 21. Februar 1986, James u. a./Vereinigtes Königreich (CE:ECHR:1986:0221JUD000879379, § 54), EGMR, 9. Dezember 1994, Les saints monastères/Griechenland (CE:ECHR:1994:1209JUD001309287, § 71), sowie EGMR, 23. November 2000, Ex‑König von Griechenland u. a./Griechenland (CE:ECHR:2000:1123JUD002570194, § 89).


138      Vgl. insbesondere EGMR, 21. Februar 1997, Guillemin/Frankreich (CE:ECHR:1997:0221JUD001963292, § 54).


139      Meines Erachtens sind die Voraussetzungen 3 und 5 untrennbar miteinander verbunden. Eine Maßnahme, die einen Eigentumsentzug zur Folge hat, kann nicht den Wesensgehalt des Eigentumsrechts achten, wenn sie nicht im Gegenzug zu dieser Enteignung eine angemessene Entschädigung innerhalb angemessener Frist vorsieht – außer bei Vorliegen außergewöhnlicher Umstände.


140      Vgl. in diesem Sinne EGMR, 1. Dezember 2005, Păduraru/Rumänien (CE:ECHR:2005:1201JUD006325200, § 77).


141      Vgl. § 5 Nr. 13 des Gesetzes von 2013 über landwirtschaftliche Flächen.


142      Vgl. insbesondere EGMR, 21. Februar 1986, James u. a./Vereinigtes Königreich (CE:ECHR:1986:0221JUD000879379, § 46), EGMR, 22. Juni 2004, Broniowski/Polen (CE:ECHR:2004:0622JUD003144396, § 149), sowie EGMR, 14. Februar 2006, Lecarpentier u. a./Frankreich (CE:ECHR:2006:0214JUD006784701, § 44).


143      Vgl. Fn. 26 dieser Schlussanträge.


144      Vgl. entsprechend Urteil vom 13. Juni 2017, Florescu u. a. (C‑258/14, EU:C:2017:448, Rn. 57).


145      Vgl. entsprechend Urteil SEGRO und Horváth, Rn. 92, 93, 106, 121 und 122.


146      Ich erinnere daran, dass dieser ursprünglich auf 20 Jahre festgesetzte Übergangszeitraum letztlich auf 4 Monate und 15 Tage verkürzt wurde (vgl. Nrn. 24 und 25 dieser Schlussanträge).


147      Wie in den Nrn. 29 und 62 dieser Schlussanträge ausgeführt, hat der Alkotmánybíróság (Verfassungsgericht) in seinem Urteil Nr. 25 vom 21. Juli 2015 festgestellt, dass diese Entschädigungsmodalitäten mit dem ungarischen Grundgesetz vereinbar seien, sofern der Eigentümer seinerseits eine Entschädigung vom Staat erhalten könne.


148      Diese Bestimmung lautet: „Wird der Nießbrauch aufgehoben, kann der Nießbraucher vom Eigentümer nach den Vorschriften über die ungerechtfertigte Bereicherung die Erstattung eines Betrages in Höhe des Wertzuwachses des Eigentums infolge außergewöhnlicher Restaurierungs- oder Instandsetzungsarbeiten verlangen, die der Nießbraucher auf seine Kosten durchgeführt hat.“


149      Die Bestimmung lautet: „Ist die Unmöglichkeit der Vertragserfüllung von keiner der Parteien zu vertreten, muss der Gegenwert der bis zum Zeitpunkt der Beendigung des Vertrags erbrachten Leistung vergütet werden. Hat die andere Partei die Dienstleistung nicht erbracht, für die die finanzielle Gegenleistung bereits erfolgte, so wird diese Gegenleistung erstattet.“ Wie die Kommission darlegt, ist es zumindest merkwürdig, dass sich Ungarn angesichts seiner Ausführungen über die angeblich von Anfang an bestehende Unwirksamkeit der fraglichen Nießbrauchsverträge hier auf die zivilrechtlichen Vorschriften über die Unmöglichkeit der Vertragserfüllung eines – jedenfalls wirksamen – Vertrags statt auf die Vorschriften über die restitutio in integrum im Fall der Nichtigkeit des Vertrags beruft.


150      Vgl. entsprechend Urteil SEGRO und Horváth, Rn. 91.


151      Vgl. in diesem Sinne EGMR, 30. Mai 2000, Carbonara und Ventura/Italien (CE:ECHR:2000:0530JUD002463894, § 67), sowie EGMR, 9. Oktober 2003, Biozokat A.E./Griechenland (CE:ECHR:2003:1009JUD006158200, § 29). Vgl. auch Kjølbro, J. F., Den Europæiske Menneskerettighedskonvention: for praktikere, 4. Aufl., S. 1230.


152      Vgl. entsprechend Urteil SEGRO und Horváth, S. 91.


153      Vgl. entsprechend EGMR, 12. Juni 2003, Lallement/Frankreich (CE:ECHR:2003:0612JUD004604499, § 10).


154      Vgl. entsprechend Urteil SEGRO und Horváth, Rn. 91. Zu dem Argument von Ungarn, dass die Personen, denen ihre Nießbrauchsrechte entzogen worden seien, die betreffenden Grundstücke weiterhin nutzen könnten, indem sie z. B. mit den Grundstückseigentümern einen Pachtvertrag schlössen, ist der Kommission folgend lediglich darauf hinzuweisen, dass diese Lösung den Ersteren keine Sicherheit bietet, da die Letzteren zum Abschluss eines solchen Vertrags nicht verpflichtet sind.