Language of document : ECLI:EU:C:2016:84

Rechtssache C‑601/15 PPU

J. N.

gegen

Staatssecretaris van Veiligheid en Justitie

(Vorabentscheidungsersuchen des Raad van State [Niederlande])

„Vorlage zur Vorabentscheidung – Eilvorabentscheidungsverfahren – Normen für die Aufnahme von Personen, die internationalen Schutz beantragen – Richtlinie 2008/115/EG – Legaler Aufenthalt – Richtlinie 2013/32/EU – Art. 9 – Berechtigung zum Verbleib in einem Mitgliedstaat – Richtlinie 2013/33/EU – Art. 8 Abs. 3 Unterabs. 1 Buchst. e – Haft – Gründe der nationalen Sicherheit oder der öffentlichen Ordnung – Gültigkeit – Charta der Grundrechte der Europäischen Union – Art. 6 und 52 – Beschränkung – Verhältnismäßigkeit“

Leitsätze – Urteil des Gerichtshofs (Große Kammer) vom 15. Februar 2016

1.        Grundrechte – Europäische Menschenrechtskonvention – Instrument, das nicht formell in die Unionsrechtsordnung übernommen worden ist

(Art. 6 Abs. 3 EUV; Charta der Grundrechte der Europäischen Union, Art. 52 Abs. 3)

2.        Grenzkontrollen, Asyl und Einwanderung – Asylpolitik – Normen für die Aufnahme von Personen, die internationalen Schutz beantragen – Richtlinie 2013/33 – Art. 8 Abs. 3 Unterabs. 1 Buchst. e – Inhaftnahme aus Gründen der öffentlichen Ordnung und der öffentlichen Sicherheit – Beurteilung der Gültigkeit der genannten Bestimmung im Licht der Art. 6 und 52 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union – Gültigkeit

(Charta der Grundrechte der Europäischen Union, Art. 6 und 52 Abs. 1 und 3; Richtlinie 2013/33 des Europäischen Parlaments und des Rates, Art. 8 Abs. 3 Unterabs. 1 Buchst. e und 9 Abs. 1)

3.        Grenzkontrollen, Asyl und Einwanderung – Einwanderungspolitik – Rückführung illegal aufhältiger Drittstaatsangehöriger – Staatsangehöriger, der Gegenstand eines Rückführungsverfahrens im Sinne der Richtlinie 2008/115 ist – Einzelstaatliche Rechtsprechung, wonach infolge der Stellung eines Asylantrags eine zuvor ergangene Rückkehrentscheidung kraftlos wird – Unzulässigkeit – Pflicht zur Gewährleistung der praktischen Wirksamkeit der Richtlinie 2008/115 – Loyalitätspflicht

(Art. 4 Abs. 3 EUV; Richtlinien des Europäischen Parlaments und des Rates 2008/115, vierter Erwägungsgrund und Art. 8, und 2013/33, Art. 8)

1.        Siehe Text der Entscheidung.

(vgl. Rn. 45, 46)

2.        Die Prüfung von Art. 8 Abs. 3 Unterabs. 1 Buchst. e der Richtlinie 2013/33 zur Festlegung von Normen für die Aufnahme von Personen, die internationalen Schutz beantragen, hat nichts ergeben, was die Gültigkeit dieser Bestimmung, die vorsieht, dass ein Antragsteller aus Gründen der nationalen Sicherheit oder der öffentlichen Ordnung in Haft genommen werden kann, im Licht der Art. 6 und 52 Abs. 1 und 3 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union berühren könnte.

Da mit der genannten Bestimmung das Ziel des Schutzes der nationalen Sicherheit und der öffentlichen Ordnung verfolgt wird, entspricht eine auf ihr beruhende Inhaftierung tatsächlich einer von der Union anerkannten dem Gemeinwohl dienenden Zielsetzung. Darüber hinaus trägt der Schutz der nationalen Sicherheit und der öffentlichen Ordnung auch zum Schutz der Rechte und Freiheiten anderer bei. Insoweit ist festzustellen, dass nach Art. 6 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union jeder Mensch das Recht nicht nur auf Freiheit, sondern auch auf Sicherheit hat.

Was die Verhältnismäßigkeit des durch eine Inhaftierung herbeigeführten Eingriffs in das Recht auf Freiheit angeht, ist die aus Gründen der nationalen Sicherheit oder der öffentlichen Ordnung erforderliche Inhaftnahme eines Antragstellers ihrem Wesen nach eine Maßnahme, die die Öffentlichkeit vor der Gefahr, die das Verhalten einer solchen Person darstellen kann, zu schützen vermag und somit zur Erreichung des mit Art. 8 Abs. 3 Unterabs. 1 Buchst. e der Richtlinie 2013/33 verfolgten Ziels geeignet ist. Überdies ergibt sich sowohl aus dem Wortlaut und dem Kontext als auch aus der Entstehungsgeschichte von Art. 8 der Richtlinie 2013/33, dass die in Art. 8 Abs. 3 Unterabs. 1 Buchst. e vorgesehene Möglichkeit, einen Antragsteller aus Gründen der nationalen Sicherheit oder der öffentlichen Ordnung in Haft zu nehmen, von der Einhaltung einer ganzen Reihe von Voraussetzungen abhängig ist, mit denen der Rückgriff auf eine solche Maßnahme eng begrenzt werden soll. Insoweit bestimmt Art. 9 Abs. 1 der Richtlinie 2013/33, dass ein Antragsteller für den kürzestmöglichen Zeitraum und nur so lange in Haft genommen wird, wie die in Art. 8 Abs. 3 der Richtlinie genannten Gründe gegeben sind.

Schließlich wird der enge Rahmen für die Ausübung der den zuständigen nationalen Behörden zuerkannten Befugnis, einen Antragsteller auf der Grundlage von Art. 8 Abs. 3 Unterabs. 1 Buchst. e der Richtlinie 2013/33 in Haft zu nehmen, auch durch die in der Rechtsprechung des Gerichtshofs vorgenommene Auslegung der Begriffe „nationale Sicherheit“ und „öffentliche Ordnung“ in anderen Richtlinien gewährleistet, die auch für die Richtlinie 2013/33 gilt.

Der Begriff der öffentlichen Ordnung setzt jedenfalls voraus, dass außer der sozialen Störung, die jeder Gesetzesverstoß darstellt, eine tatsächliche, gegenwärtige und erhebliche Gefahr vorliegt, die ein Grundinteresse der Gesellschaft berührt.

Der Begriff der öffentlichen Sicherheit umfasst sowohl die innere als auch die äußere Sicherheit eines Mitgliedstaats, so dass die Beeinträchtigung des Funktionierens der Einrichtungen des Staates und seiner wichtigen öffentlichen Dienste sowie das Überleben der Bevölkerung ebenso wie die Gefahr einer erheblichen Störung der auswärtigen Beziehungen oder des friedlichen Zusammenlebens der Völker oder eine Beeinträchtigung der militärischen Interessen die öffentliche Sicherheit berühren können.

(vgl. Rn. 53-55, 57, 62, 64-66, 82 und Tenor)

3.        Im Rahmen einer einzelstaatlichen Rechtsprechung, wonach infolge der Stellung eines Asylantrags durch eine Person, die Gegenstand eines Rückführungsverfahrens ist, eine zuvor im Rahmen dieses Verfahrens ergangene Rückkehrentscheidung von Rechts wegen kraftlos wird, verlangt die praktische Wirksamkeit der Richtlinie 2008/115 über gemeinsame Normen und Verfahren in den Mitgliedstaaten zur Rückführung illegal aufhältiger Drittstaatsangehöriger, dass ein nach dieser Richtlinie eingeleitetes Verfahren, in dessen Rahmen eine Rückkehrentscheidung, gegebenenfalls einhergehend mit einem Einreiseverbot, ergangen ist, in dem Stadium, in dem es wegen der Stellung eines Antrags auf internationalen Schutz unterbrochen wurde, wieder aufgenommen werden kann, sobald dieser Antrag erstinstanzlich abgelehnt wurde. Die Mitgliedstaaten dürfen nämlich die Erreichung des mit dieser Richtlinie verfolgten Ziels, das darin besteht, eine wirksame Rückkehr- und Rückübernahmepolitik für illegal aufhältige Drittstaatsangehörige zu schaffen, nicht beeinträchtigen.

Insoweit ergibt sich sowohl aus der Loyalitätspflicht der Mitgliedstaaten, die aus Art. 4 Abs. 3 EUV folgt, als auch aus den u. a. im vierten Erwägungsgrund der Richtlinie 2008/115 angesprochenen Erfordernissen der Wirksamkeit, dass die den Mitgliedstaaten durch Art. 8 dieser Richtlinie auferlegte Pflicht, in den in Art. 8 Abs. 1 genannten Fällen die Abschiebung vorzunehmen, binnen kürzester Frist zu erfüllen ist. Dieser Pflicht würde aber nicht genügt, wenn die Abschiebung dadurch verzögert würde, dass nach der erstinstanzlichen Ablehnung des Antrags auf internationalen Schutz ein Verfahren wie das oben beschriebene nicht in dem Stadium, in dem es unterbrochen wurde, fortgeführt würde, sondern von vorne beginnen müsste.

Aus dem Vorstehenden folgt, dass der Unionsgesetzgeber beim Erlass des die Möglichkeit, einen Antragsteller aus Gründen der nationalen Sicherheit oder der öffentlichen Ordnung in Haft zu nehmen, vorsehenden Art. 8 Abs. 3 Unterabs. 1 Buchst. e der Richtlinie 2013/33 zur Festlegung von Normen für die Aufnahme von Personen, die internationalen Schutz beantragen, das durch Art. 5 Abs. 1 Buchst. f zweiter Satzteil der Europäischen Menschenrechtskonvention, der die rechtmäßige Freiheitsentziehung bei einer Person, gegen die ein Ausweisungs- oder Auslieferungsverfahren im Gange ist, gestattet, gebotene Schutzniveau nicht verkannt hat.

(vgl. Rn. 75-78)