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URTEIL DES GERICHTSHOFS (Vierte Kammer)

25. April 2024(*)

„Vorlage zur Vorabentscheidung – Unionsbürgerschaft – Art. 20 AEUV – Staatsangehörigkeit eines Mitgliedstaats und eines Drittstaats – Erwerb der Staatsangehörigkeit eines Drittstaats – Verlust der Staatsangehörigkeit des Mitgliedstaats und der Unionsbürgerschaft kraft Gesetzes – Möglichkeit, die Beibehaltung der Staatsangehörigkeit des Mitgliedstaats vor Erwerb der Staatsangehörigkeit eines Drittstaats zu beantragen – Einzelfallprüfung der Folgen des Verlusts der Staatsangehörigkeit des Mitgliedstaats im Hinblick auf das Unionsrecht – Umfang“

In den verbundenen Rechtssachen C‑684/22 bis C‑686/22

betreffend Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Verwaltungsgericht Düsseldorf (Deutschland) mit Entscheidungen vom 3. November 2022, beim Gerichtshof eingegangen am 8. November 2022, in den Verfahren

S. Ö.

gegen

Stadt Duisburg (C‑684/22)

und


N. Ö.,

M. Ö.

gegen

Stadt Wuppertal (C‑685/22)

sowie

M. S.,

S. S.

gegen

Stadt Krefeld (C‑686/22)

erlässt

DER GERICHTSHOF (Vierte Kammer)

unter Mitwirkung des Kammerpräsidenten C. Lycourgos (Berichterstatter), der Richterin O. Spineanu-Matei, der Richter J.‑C. Bonichot und S. Rodin sowie der Richterin L. S. Rossi,

Generalanwalt: M. Szpunar,

Kanzler: A. Calot Escobar,

aufgrund des schriftlichen Verfahrens,

unter Berücksichtigung der Erklärungen

–        von M. S. und S. S., vertreten durch Rechtsanwältin B. Steeger,

–        der Stadt Krefeld, vertreten durch S. Wolf als Bevollmächtigten,

–        der deutschen Regierung, vertreten durch J. Möller und R. Kanitz als Bevollmächtigte,

–        der estnischen Regierung, vertreten durch M. Kriisa als Bevollmächtigte,

–        der Europäischen Kommission, vertreten durch S. Grünheid und E. Montaguti als Bevollmächtigte,

nach Anhörung der Schlussanträge des Generalanwalts in der Sitzung vom 14. Dezember 2023


folgendes

Urteil

1        Die Vorabentscheidungsersuchen betreffen die Auslegung von Art. 20 AEUV.

2        Diese Ersuchen ergehen im Rahmen von drei Rechtsstreitigkeiten zwischen S. Ö. und der Stadt Duisburg (Deutschland), zwischen N. Ö. und M. Ö. auf der einen und der Stadt Wuppertal (Deutschland) auf der anderen Seite sowie zwischen M. S. und S. S. auf der einen und der Stadt Krefeld (Deutschland) auf der anderen Seite wegen des Verlusts der deutschen Staatsangehörigkeit der Kläger in diesen Rechtsstreitigkeiten.

 Rechtlicher Rahmen

 Völkerrecht

3        Das am 6. November 1997 im Rahmen des Europarats geschlossene und am 1. März 2000 in Kraft getretene Europäische Übereinkommen über die Staatsangehörigkeit (im Folgenden: Übereinkommen über die Staatsangehörigkeit) wurde von der Bundesrepublik Deutschland am 11. Mai 2005 ratifiziert.

4        Art. 7 („Verlust der Staatsangehörigkeit kraft Gesetzes oder auf Veranlassung eines Vertragsstaats“) des Übereinkommens über die Staatsangehörigkeit bestimmt:

„Ein Vertragsstaat darf in seinem innerstaatlichen Recht nicht den Verlust der Staatsangehörigkeit kraft Gesetzes oder auf seine Veranlassung vorsehen, außer in folgenden Fällen:

a)       freiwilliger Erwerb einer anderen Staatsangehörigkeit;

e)      Fehlen einer echten Bindung zwischen dem Vertragsstaat und einem Staatsangehörigen mit gewöhnlichem Aufenthalt im Ausland;

…“

5        Art. 15 („Andere mögliche Fälle von Mehrstaatigkeit“) dieses Übereinkommens sieht in Buchst. b vor, dass dieses Übereinkommen nicht das Recht eines Vertragsstaats beschränkt, in seinem innerstaatlichen Recht zu bestimmen, ob der Erwerb oder die Beibehaltung seiner Staatsangehörigkeit von der Aufgabe oder dem Verlust einer anderen Staatsangehörigkeit abhängt.

 Unionsrecht

6        In Art. 20 AEUV heißt es:

„(1)      Es wird eine Unionsbürgerschaft eingeführt. Unionsbürger ist, wer die Staatsangehörigkeit eines Mitgliedstaats besitzt. Die Unionsbürgerschaft tritt zur nationalen Staatsbürgerschaft hinzu, ersetzt diese aber nicht.

(2)      Die Unionsbürgerinnen und Unionsbürger haben die in den Verträgen vorgesehenen Rechte und Pflichten. Sie haben unter anderem

a)      das Recht, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten frei zu bewegen und aufzuhalten;

…“

 Das deutsche Recht

7        § 25 des Staatsangehörigkeitsgesetzes in seiner bereinigten Fassung (Bundesgesetzblatt, Teil III, Nr. 102-1), geändert durch Art. 1 Nr. 7 des Gesetzes zur Reform des Staatsangehörigkeitsrechts vom 15. Juli 1999 (BGBl. I S. 161) (im Folgenden: StAG), der seit 1. Januar 2000 in Kraft ist und auf die Ausgangsrechtsstreitigkeiten anwendbar ist, sieht vor:

„(1)      Ein Deutscher verliert seine Staatsangehörigkeit mit dem Erwerb einer ausländischen Staatsangehörigkeit, wenn dieser Erwerb auf seinen Antrag oder auf den Antrag des gesetzlichen Vertreters erfolgt, der Vertretene jedoch nur, wenn die Voraussetzungen vorliegen, unter denen nach § 19 die Entlassung beantragt werden könnte. Der Verlust nach Satz 1 tritt nicht ein, wenn ein Deutscher die Staatsangehörigkeit eines anderen Mitgliedstaates der Europäischen Union, der Schweiz oder eines Staates erwirbt, mit dem die Bundesrepublik Deutschland einen völkerrechtlichen Vertrag nach § 12 Abs. 3 abgeschlossen hat.

(2)      Die Staatsangehörigkeit verliert nicht, wer vor dem Erwerb der ausländischen Staatsangehörigkeit auf seinen Antrag die schriftliche Genehmigung der zuständigen Behörde zur Beibehaltung seiner Staatsangehörigkeit erhalten hat. … Bei der Entscheidung über einen Antrag nach Satz 1 sind die öffentlichen und privaten Belange abzuwägen. Bei einem Antragsteller, der seinen gewöhnlichen Aufenthalt im Ausland hat, ist insbesondere zu berücksichtigen, ob er fortbestehende Bindungen an Deutschland glaubhaft machen kann.“

8        § 30 Abs. 1 StAG bestimmt:

„(1)      Das Bestehen oder Nichtbestehen der deutschen Staatsangehörigkeit wird bei Glaubhaftmachung eines berechtigten Interesses auf Antrag von der Staatsangehörigkeitsbehörde festgestellt. Die Feststellung ist in allen Angelegenheiten verbindlich, für die das Bestehen oder Nichtbestehen der deutschen Staatsangehörigkeit rechtserheblich ist. Bei Vorliegen eines öffentlichen Interesses kann die Feststellung auch von Amts wegen erfolgen.“

9        § 38 des Gesetzes über den Aufenthalt, die Erwerbstätigkeit und die Integration von Ausländern im Bundesgebiet vom 30. Juli 2004 (BGBl. 2004 I S. 1950) sieht vor:

„(1)      Einem ehemaligen Deutschen ist

1.      eine Niederlassungserlaubnis zu erteilen, wenn er bei Verlust der deutschen Staatsangehörigkeit seit fünf Jahren als Deutscher seinen gewöhnlichen Aufenthalt im Bundesgebiet hatte,

2.      eine Aufenthaltserlaubnis zu erteilen, wenn er bei Verlust der deutschen Staatsangehörigkeit seit mindestens einem Jahr seinen gewöhnlichen Aufenthalt im Bundesgebiet hatte.

Der Antrag auf Erteilung eines Aufenthaltstitels nach Satz 1 ist innerhalb von sechs Monaten nach Kenntnis vom Verlust der deutschen Staatsangehörigkeit zu stellen.

(2)      Einem ehemaligen Deutschen, der seinen gewöhnlichen Aufenthalt im Ausland hat, kann eine Aufenthaltserlaubnis erteilt werden, wenn er über ausreichende Kenntnisse der deutschen Sprache verfügt.

(3)      In besonderen Fällen kann der Aufenthaltstitel nach Absatz 1 oder 2 abweichend von § 5 erteilt werden.

…“

 Ausgangsverfahren und Vorlagefragen

 Rechtssache C684/22

10      S. Ö., der 1966 in der Türkei geboren wurde, reiste im Jahr 1990 in das deutsche Bundesgebiet ein. Er ist verheiratet und Vater von drei Kindern. Am 10. Mai 1999 erwarb er die deutsche Staatsangehörigkeit durch Einbürgerung, am 13. September 1999 wurde er aus der türkischen Staatsangehörigkeit entlassen.

11      Am 25. Mai 2018 gab S. Ö. im Rahmen der Beantragung eines Reiseausweises für seinen Sohn an, erneut die türkische Staatsangehörigkeit erworben zu haben.

12      Nachdem die deutschen Behörden ernsthafte Zweifel daran geäußert hatten, dass sein Sohn die deutsche Staatsangehörigkeit besitze, beantragte S. Ö. am 25. April 2019 bei der örtlich zuständigen Einbürgerungsbehörde die Ausstellung eines Staatsangehörigkeitsausweises, um den Fortbestand seiner deutschen Staatsangehörigkeit nachweisen zu können. In der Folgezeit verzog S. Ö. in den Zuständigkeitsbereich der Stadt Duisburg.

13      Mit Ordnungsverfügung vom 13. September 2019 stellte die Stadt Duisburg gemäß § 30 Abs. 1 StAG fest, dass S. Ö. nicht mehr die deutsche Staatsangehörigkeit besitze. Nach Ansicht der Stadt Duisburg erfolgte der Wiedererwerb der türkischen Staatsangehörigkeit nach dem 1. Januar 2000 und führte nach § 17 Abs. 1 Nr. 2 und § 25 Abs. 1 Satz 1 StAG zu einem automatischen Verlust der deutschen Staatsangehörigkeit. Etwas anderes könnte nur gelten, wenn die Wiedererlangung der türkischen Staatsangehörigkeit bis zum 31. Dezember 1999 erfolgt wäre, weil § 25 Abs. 1 Satz 1 StAG in seiner bis zu diesem Zeitpunkt geltenden Fassung vorgesehen habe, dass der Verlust der deutschen Staatsangehörigkeit nur bei im Ausland wohnenden Deutschen eintrete. S. Ö. habe einen vor diesem Zeitpunkt erfolgten Wiedererwerb der türkischen Staatsangehörigkeit jedoch nicht nachgewiesen.

14      S. Ö. erhob gegen diese Ordnungsverfügung Klage beim Verwaltungsgericht Düsseldorf (Deutschland), dem vorlegenden Gericht.

 Rechtssache C685/22

15      Die Eheleute M. Ö. und N. Ö., die die türkische Staatsangehörigkeit besitzen und 1959 bzw. 1970 geboren wurden, reisten 1974 in das deutsche Bundesgebiet ein. Sie erwarben die deutsche Staatsangehörigkeit durch Einbürgerung am 27. August 1999, am 2. September 1999 wurden sie aus der türkischen Staatsangehörigkeit entlassen.

16      Am 1. September 2005 gaben sie im Rahmen einer Vorsprache bei der Stadt Wuppertal an, am 24. November 2000 erneut die türkische Staatsangehörigkeit erworben zu haben.

17      Hierzu legten sie eine Bescheinigung des türkischen Generalkonsulats vom 31. August 2005 vor, wonach sie am 2. September 1999 den Wiedererwerb der türkischen Staatsangehörigkeit beantragt und diese mit Beschluss der Ministerratssitzung vom 24. November 2000 wiedererlangt hatten.

18      Mit Ordnungsverfügungen vom 24. Februar 2021 gemäß § 30 Abs. 1 StAG stellte die Stadt Wuppertal fest, dass die deutsche Staatsangehörigkeit von M. Ö. und N. Ö. nicht mehr bestehe. Nach Ansicht der Stadt führte der Wiedererwerb der türkischen Staatsangehörigkeit am 24. November 2000 nach § 17 Abs. 1 Nr. 2 und § 25 Abs. 1 Satz 1 StAG zu einem automatischen Verlust der deutschen Staatsangehörigkeit. Etwas anderes könnte nur gelten, wenn die Wiedererlangung der türkischen Staatsangehörigkeit bis zum 31. Dezember 1999 erfolgt wäre, weil § 25 Abs. 1 Satz 1 StAG in seiner bis zu diesem Zeitpunkt geltenden Fassung vorgesehen habe, dass der Verlust der deutschen Staatsangehörigkeit nur bei im Ausland wohnenden Deutschen eintrete. M. Ö. und N. Ö. hätten einen vor diesem Zeitpunkt erfolgten Wiedererwerb der türkischen Staatsangehörigkeit jedoch nicht nachgewiesen.

19      M. Ö. und N. Ö. erhoben gegen diese Ordnungsverfügungen Klage beim Verwaltungsgericht Düsseldorf.

 Rechtssache C686/22

20      Die Eheleute M. S. und S. S., die die türkische Staatsangehörigkeit besitzen und 1965 bzw. 1971 geboren wurden, reisten 1981 bzw. 1989 in das deutsche Bundesgebiet ein. Sie erwarben die deutsche Staatsangehörigkeit durch Einbürgerung am 10. Juni 1999 und wurden in der Folge aus der türkischen Staatsangehörigkeit entlassen.

21      M. S. und S. S. beantragten den Wiedererwerb der türkischen Staatsangehörigkeit nach Erlangung der deutschen Staatsangehörigkeit.

22      Am 19. Dezember 2017 beantragten M. S. und S. S. bei der Stadt Krefeld die Feststellung, dass sie die deutsche Staatsangehörigkeit besäßen.

23      Mit Ordnungsverfügungen vom 24. Februar 2021 gemäß § 30 Abs. 1 StAG stellte die Stadt Krefeld fest, dass die deutsche Staatsangehörigkeit von M. S. und S. S. nicht mehr bestehe. Der Wiedererwerb der türkischen Staatsangehörigkeit sei nach dem 1. Januar 2000 erfolgt und habe nach § 17 Abs. 1 Nr. 2 und § 25 Abs. 1 Satz 1 StAG in seiner bis zu diesem Zeitpunkt geltenden Fassung zu einem automatischen Verlust der deutschen Staatsangehörigkeit geführt. Etwas anderes könnte nur gelten, wenn die Wiedererlangung der türkischen Staatsangehörigkeit bis zum 31. Dezember 1999 erfolgt sei, weil § 25 Abs. 1 Satz 1 StAG bis dahin vorgesehen habe, dass der Verlust der deutschen Staatsangehörigkeit nur bei im Ausland wohnenden Deutschen eintrete. M. S. und S. S. hätten einen vor diesem Zeitpunkt erfolgten Wiedererwerb der türkischen Staatsangehörigkeit jedoch nicht nachgewiesen.

24      M. S. und S. S. erhoben gegen diese Ordnungsverfügungen Klage beim Verwaltungsgericht Düsseldorf.

 Vorlagefragen

25      In diesen drei verbundenen Rechtssachen möchte das vorlegende Gericht erstens wissen, ob der in § 25 Abs. 1 Satz 1 StAG vorgesehene, automatisch eintretende Verlust der deutschen Staatsangehörigkeit unionsrechtskonform ist.

26      Es bestätigt zunächst, dass § 25 StAG in der auf die Kläger der Ausgangsverfahren anwendbaren Fassung die ab dem 1. Januar 2000 geltende Fassung sei, da sie die türkische Staatsangehörigkeit nach diesem Zeitpunkt wieder erworben hätten, während den von einigen unter ihnen zum Nachweis des Gegenteils vorgelegten Unterlagen kein Beweiswert zukomme. Außerdem hätten die Kläger der Ausgangsverfahren keine Beibehaltungsgenehmigung nach § 25 Abs. 2 Satz 1 StAG beantragt, bevor sie erneut die türkische Staatsangehörigkeit erworben hätten.

27      Dabei sei § 25 Abs. 1 Satz 1 StAG nach der nationalen Rechtsprechung unionsrechtskonform, da die betroffene Person nach § 25 Abs. 2 Satz 1 StAG eine Genehmigung zur Beibehaltung der deutschen Staatsangehörigkeit beantragen könne; im Rahmen dieses Verfahrens sei eine Einzelfallprüfung der Folgen, die der Verlust dieser Staatsangehörigkeit für die Situation der betroffenen Person mit sich bringe, ausdrücklich vorgesehen.

28      Das vorlegende Gericht hegt jedoch Zweifel an der Unionsrechtskonformität. Für den Fall, dass kein Verfahren zur Genehmigung der Beibehaltung der deutschen Staatsangehörigkeit nach § 25 Abs. 2 StAG eingeleitet werde, ergebe sich nämlich aus den Bestimmungen dieses Art. 25, dass der Verlust der deutschen Staatsangehörigkeit und damit der Verlust der Unionsbürgerschaft für Personen, die nicht die Staatsangehörigkeit eines anderen Mitgliedstaats besäßen, automatisch und ohne jede Einzelfallprüfung eintrete.

29      Das vorlegende Gericht führt aus, dass das deutsche Recht keine Möglichkeit einer Inzidentprüfung der Folgen des Verlusts der deutschen Staatsangehörigkeit vorsehe, nachdem dieser Verlust eingetreten sei. Den Betroffenen bleibe in solchen Fällen allein ein erneuter Antrag auf nicht rückwirkende Einbürgerung in den deutschen Staatsverband.

30      Zweitens stellt das vorlegende Gericht zwar fest, dass nach dem Wortlaut von § 25 Abs. 2 StAG ein Antrag auf Genehmigung der Beibehaltung der deutschen Staatsangehörigkeit eine Möglichkeit biete, den Anforderungen des Unionsrechts Rechnung zu tragen, weist aber darauf hin, dass die Folgen des Verlusts des Unionsbürgerstatus in der Praxis weder von den Verwaltungsbehörden noch von den nationalen Gerichten geprüft würden. Die Beibehaltungsgenehmigung werde nämlich nur erteilt, wenn ein besonderes Interesse am Erwerb einer ausländischen Staatsangehörigkeit unter Beibehaltung der deutschen Staatsangehörigkeit vorliege. Somit würden die Folgen des Verlusts der deutschen Staatsangehörigkeit, der zum Verlust des Unionsbürgerstatus führe, nicht im Hinblick auf die sich aus diesem Status ergebenden Rechte geprüft.

31      Unter diesen Umständen hat das Verwaltungsgericht Düsseldorf beschlossen, das Verfahren in den drei Ausgangsverfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen:

1.      Steht Art. 20 AEUV einer Norm entgegen, die vorsieht, dass im Fall des freiwilligen Erwerbs einer (nicht privilegierten) Staatsangehörigkeit eines Drittstaats die Staatsangehörigkeit des Mitgliedstaats und damit die Unionsbürgerschaft kraft Gesetzes verloren gehen, wenn eine Einzelfallprüfung der Folgen des Verlusts nur erfolgt, sofern der betroffene Ausländer zuvor einen Antrag auf Erteilung einer Beibehaltungsgenehmigung gestellt hat und dieser Antrag vor Erwerb der ausländischen Staatsangehörigkeit positiv beschieden wird?

2.      Falls die Frage zu 1. zu verneinen ist: Ist Art. 20 AEUV dahin gehend auszulegen, dass im Verfahren zur Erteilung der Beibehaltungsgenehmigung keine Voraussetzungen statuiert werden dürfen, die im Ergebnis dazu führen, dass eine Beurteilung der individuellen Situation der betroffenen Person sowie der ihrer Familie im Hinblick auf die Folgen des Verlusts des Unionsbürgerstatus nicht stattfindet oder überlagert wird?

32      Mit Beschluss vom 7. Dezember 2022 hat der Präsident des Gerichtshofs die Rechtssachen C‑684/22 bis C‑686/22 zu gemeinsamem schriftlichen und mündlichen Verfahren und zu gemeinsamer Entscheidung verbunden.

 Zu den Vorlagefragen

33      Mit seinen Fragen, die zusammen zu prüfen sind, möchte das vorlegende Gericht im Wesentlichen wissen, ob Art. 20 AEUV dahin auszulegen ist, dass er der Regelung eines Mitgliedstaats entgegensteht, die vorsieht, dass im Fall des freiwilligen Erwerbs einer Staatsangehörigkeit eines Drittstaats die Staatsangehörigkeit dieses Mitgliedstaats kraft Gesetzes verloren geht, was für Personen, die nicht die Staatsangehörigkeit eines anderen Mitgliedstaats besitzen, zum Verlust der Unionsbürgerschaft führt, es sei denn, diese Personen erhalten von den zuständigen Behörden nach einer Einzelfallprüfung ihrer Situation, bei der die betroffenen öffentlichen und privaten Belange abgewogen werden, vor dem Erwerb der Staatsangehörigkeit des Drittstaats die Genehmigung, ihre Staatsangehörigkeit beizubehalten.

34      Nach ständiger Rechtsprechung schließt, auch wenn die Festlegung der Voraussetzungen für den Erwerb und den Verlust der Staatsangehörigkeit nach dem Völkerrecht in die Zuständigkeit der einzelnen Mitgliedstaaten fällt, die Tatsache, dass für ein Rechtsgebiet die Mitgliedstaaten zuständig sind, nicht aus, dass die betreffenden nationalen Vorschriften in Situationen, die unter das Unionsrecht fallen, dieses Recht beachten müssen (Urteile vom 2. März 2010, Rottmann, C‑135/08, EU:C:2010:104, Rn. 39 und 41, sowie vom 5. September 2023, Udlændinge- og Integrationsministeriet [Verlust der dänischen Staatsangehörigkeit], C‑689/21, EU:C:2023:626, Rn. 28).

35      Art. 20 AEUV verleiht jeder Person, die die Staatsangehörigkeit eines Mitgliedstaats besitzt, den Status eines Unionsbürgers, der dazu bestimmt ist, der grundlegende Status der Angehörigen der Mitgliedstaaten zu sein (Urteile vom 20. September 2001, Grzelczyk, C‑184/99, EU:C:2001:458, Rn. 31, und vom 5. September 2023, Udlændinge- og Integrationsministeriet [Verlust der dänischen Staatsangehörigkeit], C‑689/21, EU:C:2023:626, Rn. 29).

36      Die Situation von Unionsbürgern, die, wie die Kläger der Ausgangsverfahren, die Staatsangehörigkeit nur eines einzigen Mitgliedstaats besitzen und die durch den Verlust dieser Staatsangehörigkeit auch mit dem Verlust des durch Art. 20 AEUV verliehenen Status und der damit verbundenen Rechte konfrontiert werden, fällt daher ihrem Wesen und ihren Folgen nach unter das Unionsrecht. Infolgedessen haben die Mitgliedstaaten bei der Ausübung ihrer Zuständigkeit im Bereich der Staatsangehörigkeit das Unionsrecht und insbesondere den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit zu beachten (Urteile vom 2. März 2010, Rottmann, C‑135/08, EU:C:2010:104, Rn. 42 und 45, sowie vom 5. September 2023, Udlændinge- og Integrationsministeriet [Verlust der dänischen Staatsangehörigkeit], C‑689/21, EU:C:2023:626, Rn. 30).

37      In diesem Zusammenhang hat der Gerichtshof bereits entschieden, dass es legitim ist, dass ein Mitgliedstaat das zwischen ihm und seinen Staatsbürgern bestehende Verhältnis besonderer Verbundenheit und Loyalität sowie die Gegenseitigkeit der Rechte und Pflichten, die dem Staatsangehörigkeitsband zugrunde liegen, schützen will (Urteile vom 2. März 2010, Rottmann, C‑135/08, EU:C:2010:104, Rn. 51, sowie vom 5. September 2023, Udlændinge- og Integrationsministeriet [Verlust der dänischen Staatsangehörigkeit], C‑689/21, EU:C:2023:626, Rn. 31).

38      Es ist auch legitim, dass ein Mitgliedstaat in Ausübung seiner Zuständigkeit für die Festlegung der Voraussetzungen für den Erwerb und den Verlust seiner Staatsangehörigkeit davon ausgeht, dass Mehrstaatigkeit zu vermeiden ist (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 18. Januar 2022, Wiener Landesregierung [Widerruf einer Einbürgerungszusicherung], C‑118/20, EU:C:2022:34, Rn. 54).

39      Im vorliegenden Fall verlieren deutsche Staatsangehörige gemäß § 25 Abs. 1 StAG ihre Staatsangehörigkeit, wenn sie freiwillig die Staatsangehörigkeit bestimmter Drittstaaten erwerben. Diese Bestimmung stellt außerdem klar, dass der Verlust der deutschen Staatsangehörigkeit nicht eintritt, wenn ein deutscher Staatsangehöriger u. a. die Staatsangehörigkeit eines anderen Mitgliedstaats erwirbt. Wie die deutsche Regierung ausgeführt hat, soll diese Bestimmung im Wesentlichen der Mehrstaatigkeit vorbeugen.

40      Die grundsätzliche Legitimität dieses Ziels wird bestätigt in Art. 7 Abs. 1 Buchst. a des Europäischen Übereinkommens über die Staatsangehörigkeit, wonach ein Vertragsstaat in seinem innerstaatlichen Recht nicht den Verlust der Staatsangehörigkeit kraft Gesetzes oder auf seine Veranlassung vorsehen darf, außer u. a. im Fall des freiwilligen Erwerbs einer anderen Staatsangehörigkeit, sowie in Art. 15 Buchst. b dieses Übereinkommens, wonach die Bestimmungen dieses Übereinkommens nicht das Recht eines Vertragsstaats beschränken, in seinem innerstaatlichen Recht zu bestimmen, ob der Erwerb oder die Beibehaltung seiner Staatsangehörigkeit von der Aufgabe oder dem Verlust einer anderen Staatsangehörigkeit abhängt (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 18. Januar 2022, Wiener Landesregierung [Widerruf einer Einbürgerungszusicherung], C‑118/20, EU:C:2022:34, Rn. 55).

41      Daher verbietet es das Unionsrecht grundsätzlich nicht, dass ein Mitgliedstaat in Situationen wie den von § 25 Abs. 1 StAG erfassten aus Gründen des Allgemeininteresses den Verlust der Staatsangehörigkeit kraft Gesetzes vorsieht, sobald seine Staatsangehörigen freiwillig die Staatsangehörigkeit eines Drittstaats erwerben, auch wenn dieser Verlust für die betroffenen Personen den Verlust ihres Unionsbürgerstatus nach sich zieht.

42      Gleichwohl ist es in Anbetracht der Bedeutung, die das Primärrecht der Union dem Unionsbürgerstatus beimisst, der, wie in Rn. 34 des vorliegenden Urteils ausgeführt, der grundlegende Status der Angehörigen der Mitgliedstaaten ist, Sache der zuständigen nationalen Behörden und der nationalen Gerichte, zu prüfen, ob mit dem Verlust der Staatsangehörigkeit des betreffenden Mitgliedstaats, wenn er zum Verlust des Unionsbürgerstatus und der damit verbundenen Rechte führt, hinsichtlich seiner Auswirkungen auf die unionsrechtliche Stellung der betroffenen Person und gegebenenfalls der ihrer Familienangehörigen der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit gewahrt wird (Urteile vom 2. März 2010, Rottmann, C‑135/08, EU:C:2010:104, Rn. 55 und 56, sowie vom 5. September 2023, Udlændinge- og Integrationsministeriet [Verlust der dänischen Staatsangehörigkeit], C‑689/21, EU:C:2023:626, Rn. 38).

43      Der Gerichtshof hat entschieden, dass der Verlust der Staatsangehörigkeit eines Mitgliedstaats kraft Gesetzes gegen den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit verstieße, wenn die relevanten innerstaatlichen Rechtsvorschriften zu keinem Zeitpunkt eine Einzelfallprüfung der Folgen dieses Verlusts für die Situation der Betroffenen aus unionsrechtlicher Sicht erlaubten (Urteile vom 12. März 2019, Tjebbes u. a., C‑221/17, EU:C:2019:189, Rn. 41, und vom 5. September 2023, Udlændinge- og Integrationsministeriet [Verlust der dänischen Staatsangehörigkeit], C‑689/21, EU:C:2023:626, Rn. 39).

44      Daraus folgt, dass die zuständigen nationalen Behörden und Gerichte in Situationen, in denen der Verlust der Staatsangehörigkeit eines Mitgliedstaats im Fall des freiwilligen Erwerbs der Staatsangehörigkeit eines Drittstaats kraft Gesetzes eintritt und den Verlust des Unionsbürgerstatus nach sich zieht, in der Lage sein müssen, die Folgen dieses Verlusts der Staatsangehörigkeit zu prüfen und diesen Personen gegebenenfalls die Beibehaltung oder die rückwirkende Wiedererlangung der Staatsangehörigkeit zu ermöglichen (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 12. März 2019, Tjebbes u. a., C‑221/17, EU:C:2019:189, Rn. 42, und vom 5. September 2023, Udlændinge- og Integrationsministeriet [Verlust der dänischen Staatsangehörigkeit], C‑689/21, EU:C:2023:626, Rn. 40).

45      Wie im vorliegenden Fall aus den Vorabentscheidungsersuchen hervorgeht, sieht § 25 Abs. 2 StAG vor, dass die Staatsangehörigkeit nicht verliert, wer vor dem Erwerb der Staatsangehörigkeit eines Drittstaats auf seinen Antrag die schriftliche Genehmigung der zuständigen Behörde zur Beibehaltung seiner Staatsangehörigkeit erhalten hat. In dieser Bestimmung heißt es weiter, dass bei der Entscheidung über einen solchen Antrag die öffentlichen und privaten Belange abzuwägen sind.

46      Wie der Generalanwalt in Nr. 58 seiner Schlussanträge im Wesentlichen ausgeführt hat, verwehrt es das Unionsrecht einem Mitgliedstaat grundsätzlich nicht, vorzusehen, dass die Einzelfallprüfung der Folgen, die der Verlust der Staatsangehörigkeit eines Mitgliedstaats für die betroffenen Personen im Hinblick auf das Unionsrecht mit sich bringt, im Hinblick auf den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit im speziellen Rahmen eines Vorabgenehmigungsverfahrens, wie es in § 25 Abs. 2 StAG vorgesehen ist, durchgeführt wird.

47      Um die Wahrung der den Unionsbürgern aus Art. 20 AEUV erwachsenden Rechte zu gewährleisten, muss es dieses Verfahren allerdings wirksam ermöglichen, dass diese Einzelfallprüfung der Verhältnismäßigkeit im Einklang mit den Anforderungen dieses Artikels in seiner Auslegung durch den Gerichtshof erfolgt.

48      Insoweit weist das vorlegende Gericht erstens darauf hin, dass im Rahmen dieses Vorabgenehmigungsverfahrens die von der nationalen Rechtsprechung bestätigte Praxis der Verwaltungsbehörden darin bestehe, die Folgen des Verlusts der deutschen Staatsangehörigkeit der betreffenden Person im Hinblick auf das Unionsrecht nicht zu prüfen, wenn dieser Verlust den Verlust des Unionsbürgerstatus nach sich ziehe. Die Genehmigung zur Beibehaltung der deutschen Staatsangehörigkeit werde nämlich nur erteilt, wenn ein besonderes Interesse am Erwerb der Staatsangehörigkeit eines Drittstaats bestehe.

49      Wenn aber die zuständigen Behörden diese Verhältnismäßigkeitsprüfung nicht durchführen oder aus der Begründung in der auf § 25 Abs. 2 StAG gestützten Entscheidung dieser Behörden nicht klar hervorgeht, dass diese Prüfung stattgefunden hat, ist es Sache des gegebenenfalls angerufenen Gerichts, eine solche Prüfung vorzunehmen oder dafür zu sorgen, dass sie von diesen Behörden durchgeführt wird (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 5. September 2023, Udlændinge- og Integrationsministeriet [Verlust der dänischen Staatsangehörigkeit], C‑689/21, EU:C:2023:626, Rn. 53).

50      Bei der fraglichen Prüfung ist die individuelle Situation der betroffenen Person sowie die ihrer Familie zu beurteilen, um zu bestimmen, ob der Verlust der deutschen Staatsangehörigkeit, wenn er den Verlust des Unionsbürgerstatus mit sich bringt, Folgen hat, die die normale Entwicklung ihres Familien- und Berufslebens – gemessen an dem vom nationalen Gesetzgeber verfolgten Ziel – aus unionsrechtlicher Sicht unverhältnismäßig beeinträchtigen würden. Dabei darf es sich nicht um nur hypothetische oder potenzielle Folgen handeln (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 12. März 2019, Tjebbes u. a., C‑221/17, EU:C:2019:189, Rn. 44, und vom 5. September 2023, Udlændinge- og Integrationsministeriet [Verlust der dänischen Staatsangehörigkeit], C‑689/21, EU:C:2023:626, Rn. 54).

51      Im Rahmen dieser Verhältnismäßigkeitsprüfung ist es Sache insbesondere der zuständigen nationalen Behörden und gegebenenfalls der nationalen Gerichte, sich Gewissheit darüber zu verschaffen, dass ein solcher Verlust der Staatsangehörigkeit mit den Grundrechten der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (im Folgenden: Charta), deren Wahrung der Gerichtshof sichert, im Einklang steht, und insbesondere mit dem Recht auf Achtung des Familienlebens, das in Art. 7 der Charta niedergelegt ist. Dieser Artikel ist gegebenenfalls in Zusammenschau mit der Verpflichtung auszulegen, das in Art. 24 Abs. 2 der Charta anerkannte Kindeswohl zu berücksichtigen (Urteile vom 12. März 2019, Tjebbes u. a., C‑221/17, EU:C:2019:189, Rn. 45, und vom 5. September 2023, Udlændinge- og Integrationsministeriet [Verlust der dänischen Staatsangehörigkeit], C‑689/21, EU:C:2023:626, Rn. 55).

52      Zweitens geht aus den Vorabentscheidungsersuchen hervor, dass § 25 Abs. 2 StAG verlangt, dass die betroffene Person die Staatsangehörigkeit eines Drittstaats nicht erworben hat, bevor sie die Beibehaltung der deutschen Staatsangehörigkeit beantragt und gegebenenfalls erhalten hat.

53      Insoweit hat der Gerichtshof bereits entschieden, dass die Mitgliedstaaten gestützt auf den Grundsatz der Rechtssicherheit verlangen können, dass ein Antrag auf Beibehaltung der Staatsangehörigkeit bei den zuständigen Behörden innerhalb einer angemessenen Frist gestellt wird (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 5. September 2023, Udlændinge- og Integrationsministeriet [Verlust der dänischen Staatsangehörigkeit], C‑689/21, EU:C:2023:626, Rn. 43).

54      Wie der Generalanwalt in Nr. 63 seiner Schlussanträge ausgeführt hat, wahrt das Erfordernis, dass die Genehmigung für die Beibehaltung der Staatsangehörigkeit vor dem Erwerb der Staatsangehörigkeit eines Drittstaats beantragt und erteilt werden muss, die Grenzen einer angemessenen Frist, da es im Interesse der Rechtssicherheit, die die Mitgliedstaaten schützen dürfen, die betroffenen Personen grundsätzlich nicht daran hindert, die sich aus ihrem Unionsbürgerstatus ergebenden Rechte wirksam auszuüben, insbesondere das Recht, dass die zuständigen nationalen Behörden eine Einzelfallprüfung der Verhältnismäßigkeit der Folgen, die der Verlust der Staatsangehörigkeit mit sich bringt, im Hinblick auf das Unionsrecht durchführen.

55      Es ist zu betonen, dass im Fall eines deutschen Staatsangehörigen, der nicht die Staatsangehörigkeit eines anderen Mitgliedstaats besitzt und freiwillig die Staatsangehörigkeit eines Drittstaats erworben hat, es aber zuvor versäumt hat, das Verfahren nach § 25 Abs. 2 StAG einzuhalten, um die Genehmigung für die Beibehaltung der deutschen Staatsangehörigkeit zu beantragen und zu erhalten, die Annahme legitim ist, dass er zum Zeitpunkt dieses Erwerbs seinen Willen, nicht mehr Unionsbürger zu sein, gezeigt hat.

56      Der Gerichtshof hat allerdings entschieden, dass in Anbetracht der schwerwiegenden Folgen, die sich aus dem Verlust der Staatsangehörigkeit eines Mitgliedstaats, mit dem der Verlust des Unionsbürgerstatus verbunden ist, für die wirksame Ausübung der dem Unionsbürger nach Art. 20 AEUV zustehenden Rechte ergeben, nicht davon ausgegangen werden kann, dass nationale Vorschriften oder Praktiken, die bewirken können, dass die dem Verlust der Staatsangehörigkeit ausgesetzte Person daran gehindert wird, zu beantragen, dass die Verhältnismäßigkeit der Folgen dieses Verlusts aus unionsrechtlicher Sicht geprüft wird, und zwar deshalb, weil die Frist für die Beantragung dieser Prüfung abgelaufen ist, mit dem Grundsatz der Effektivität im Einklang stehen, wenn diese Person nicht ordnungsgemäß über das Recht, eine solche Prüfung zu beantragen, und die für die Stellung des Antrags geltende Frist unterrichtet wurde (Urteil vom 5. September 2023, Udlændinge- og Integrationsministeriet [Verlust der dänischen Staatsangehörigkeit], C‑689/21, EU:C:2023:626, Rn. 48).

57      Es ist daher Sache des vorlegenden Gerichts, festzustellen, ob die Kläger der Ausgangsverfahren ordnungsgemäß über das seit dem 1. Januar 2000 geltende Verfahren nach § 25 StAG, das nach Ansicht dieses Gerichts auf sie anwendbar ist, unterrichtet wurden. Dabei wird das vorlegende Gericht zum einen zu berücksichtigen haben, dass diese Personen vor diesem Zeitpunkt auf ihre türkische Staatsangehörigkeit verzichten mussten, um die deutsche Staatsangehörigkeit zu erwerben, was vermuten lässt, dass sie nicht nur über die vor diesem Zeitpunkt auf sie anwendbare deutsche Regelung informiert waren, sondern zumindest auch darüber, dass diese Regelung die Mehrstaatigkeit verhindern soll und insbesondere grundsätzlich keine Kumulierung der deutschen Staatsangehörigkeit mit der eines Drittstaats erlaubt.

58      Zum anderen wird es den Kontext zu berücksichtigen haben, in dem diese Personen die türkische Staatsangehörigkeit beantragt und wiedererlangt haben. Aus den Vorlageentscheidungen geht nämlich hervor, dass die Kläger der Ausgangsverfahren versucht haben, sowohl die türkische als auch die deutsche Staatsangehörigkeit gemäß der bis zum 31. Dezember 1999 für deutsche Staatsangehörige mit Wohnsitz in Deutschland geltenden Fassung von § 25 StAG beizubehalten. Zwar haben sie vor diesem Zeitpunkt auf ihre türkische Staatsangehörigkeit verzichtet, um die deutsche Staatsangehörigkeit zu erhalten, und dann die Wiedererlangung ihrer türkischen Staatsangehörigkeit beantragt, aber das vorlegende Gericht führt aus, dass ihnen die türkische Staatsangehörigkeit nach diesem Zeitpunkt wieder verliehen wurde.

59      Hierzu führen die Kläger des Ausgangsverfahrens in der Rechtssache C‑686/22 in ihren schriftlichen Erklärungen aus, dass sie keinen Grund gehabt hätten, vor der Reform von § 25 StAG einen Antrag auf Vorabgenehmigung der Beibehaltung der deutschen Staatsangehörigkeit zu stellen, und dass diese Reform jedenfalls nicht klar erläutert oder ihnen zur Kenntnis gebracht worden sei.

60      In einer solchen Situation hätten die Kläger der Ausgangsverfahren, wie der Generalanwalt in Nr. 71 seiner Schlussanträge ausgeführt hat, in Anbetracht der schwerwiegenden Folgen, die der Verlust der deutschen Staatsangehörigkeit mit sich bringt, der den Verlust des Unionsbürgerstatus für die tatsächliche Ausübung der Rechte des Unionsbürgers aus Art. 20 AEUV nach sich zieht, in die Lage versetzt werden müssen, gegebenenfalls im Rahmen einer Übergangsregelung das in § 25 Abs. 2 StAG vorgesehene Verfahren der Vorabgenehmigung in effektiver Weise einzuleiten, um die deutsche Staatsangehörigkeit zu behalten.

61      Um festzustellen, ob die Kläger der Ausgangsverfahren in der Lage waren, dieses Verfahren und eine Einzelfallprüfung der Folgen des Verlusts der deutschen Staatsangehörigkeit im Hinblick auf das Unionsrecht in effektiver Weise in Anspruch zu nehmen, ist es wichtig, dass das vorlegende Gericht auch die Zeitpunkte berücksichtigt, zu denen sie die türkische Staatsangehörigkeit wieder erworben haben. Es ist nämlich nicht ausgeschlossen, dass es diesen Klägern in den Fällen, in denen der Zeitpunkt der Wiedererlangung dieser Staatsangehörigkeit nahe am 1. Januar 2000 liegt, dem Zeitpunkt des Inkrafttretens der Reform des in § 25 StAG vorgesehenen Verfahrens, praktisch unmöglich war, dieses Verfahren durchzuführen, da dieses es erfordert, vor dem Erwerb der Staatsangehörigkeit eines Drittstaats die Genehmigung zur Beibehaltung der deutschen Staatsangehörigkeit zu beantragen und zu erhalten. In einem solchen Fall konnten die Kläger im Gegensatz zu Personen, die die Verleihung der Staatsangehörigkeit eines Drittstaats nach diesem Zeitpunkt beantragt haben, nicht die Aufrechterhaltung der deutschen Staatsangehörigkeit beantragen und deren Antwort abwarten, bevor die Behörden des betreffenden Drittstaats ihrem Antrag stattgeben.

62      Es sei hinzugefügt, dass, falls das vorlegende Gericht zu dem Ergebnis kommt, dass die Kläger der Ausgangsverfahren nicht in die Lage versetzt worden sind, das in § 25 Abs. 2 StAG vorgesehene Verfahren der Vorabgenehmigung für die Beibehaltung der deutschen Staatsangehörigkeit in effektiver Weise einzuleiten und eine Einzelfallprüfung der Folgen des Verlusts der deutschen Staatsangehörigkeit im Hinblick auf das Unionsrecht in Anspruch zu nehmen, eine solche Prüfung inzident bei der Beantragung eines Reisedokuments oder jeglichen anderen Dokuments zur Bescheinigung der Staatsangehörigkeit durch die betroffene Person und allgemeiner im Rahmen eines Verfahrens zur Feststellung der Staatsangehörigkeit erfolgen können muss, wobei die zuständigen Behörden gegebenenfalls in der Lage sein müssen, die Staatsangehörigkeit des Mitgliedstaats rückwirkend wiederherzustellen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 12. März 2019, Tjebbes u. a., C‑221/17, EU:C:2019:189, Rn. 42).

63      Im vorliegenden Fall muss eine solche inzidente Prüfung mit der Möglichkeit einer rückwirkenden Wiederherstellung der deutschen Staatsangehörigkeit von dem vorlegenden Gericht in den Ausgangsverfahren vorgenommen werden können, die Klagen gegen Ordnungsverfügungen betreffen, mit denen der Verlust der Staatsangehörigkeit der Betroffenen festgestellt wurde und die im Rahmen von Anträgen auf Ausstellung eines Reisedokuments oder von Verfahren zur Feststellung der Staatsangehörigkeit erlassen wurden.

64      Insoweit ist klarzustellen, dass der für die Prüfung der Verhältnismäßigkeit der Folgen des Verlusts der deutschen Staatsangehörigkeit im Hinblick auf das Unionsrecht zu berücksichtigende Zeitpunkt jener Zeitpunkt ist, zu dem die betreffende Person die Staatsangehörigkeit eines Drittstaats erworben oder wiedererlangt hat, da nach § 25 Abs. 1 StAG der Zeitpunkt, zu dem diese Staatsangehörigkeit erworben oder wiedererlangt wird, zu den von der Bundesrepublik Deutschland festgelegten legitimen Kriterien gehört, von denen der Verlust der deutschen Staatsangehörigkeit abhängt (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 5. September 2023, Udlændinge- og Integrationsministeriet [Verlust der dänischen Staatsangehörigkeit], C‑689/21, EU:C:2023:626, Rn. 56).

65      Nach alledem ist Art. 20 AEUV dahin auszulegen, dass er einer Regelung eines Mitgliedstaats nicht entgegensteht, die vorsieht, dass im Fall des freiwilligen Erwerbs der Staatsangehörigkeit eines Drittstaats die Staatsangehörigkeit dieses Mitgliedstaats kraft Gesetzes verloren geht, was für Personen, die nicht die Staatsangehörigkeit eines anderen Mitgliedstaats besitzen, zum Verlust der Unionsbürgerschaft führt, es sei denn, diese Personen erhalten von den zuständigen Behörden nach einer Einzelfallprüfung ihrer Situation, bei der die betroffenen öffentlichen und privaten Belange abgewogen werden, vor dem Erwerb der Staatsangehörigkeit des Drittstaats die Genehmigung, ihre Staatsangehörigkeit beizubehalten. Die Vereinbarkeit mit dem Unionsrecht setzt jedoch zum einen voraus, dass diese Personen innerhalb einer angemessenen Frist effektiven Zugang zu dem in dieser Regelung vorgesehenen Verfahren für die Beibehaltung der Staatsangehörigkeit hatten und ordnungsgemäß über dieses Verfahren unterrichtet wurden, und zum anderen, dass dieses Verfahren eine Prüfung der Verhältnismäßigkeit der Folgen des Verlusts dieser Staatsangehörigkeit im Hinblick auf das Unionsrecht durch die zuständigen Behörden umfasst. Andernfalls müssen diese Behörden sowie die gegebenenfalls angerufenen Gerichte in der Lage sein, eine solche Prüfung inzident im Rahmen eines Antrags der betroffenen Personen auf Ausstellung eines Reisedokuments oder jeglichen anderen Dokuments zur Bescheinigung ihrer Staatsangehörigkeit oder gegebenenfalls im Rahmen eines Verfahrens zur Feststellung des Verlusts der Staatsangehörigkeit durchzuführen, wobei die genannten Behörden und Gerichte gegebenenfalls in der Lage sein müssen, diese Staatsangehörigkeit rückwirkend wiederherzustellen.

 Kosten

66      Für die Beteiligten der Ausgangsverfahren ist das Verfahren Teil der beim vorlegenden Gericht anhängigen Verfahren; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig.

Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Vierte Kammer) für Recht erkannt:

Art. 20 AEUV ist dahin auszulegen, dass er einer Regelung eines Mitgliedstaats nicht entgegensteht, die vorsieht, dass im Fall des freiwilligen Erwerbs der Staatsangehörigkeit eines Drittstaats die Staatsangehörigkeit dieses Mitgliedstaats kraft Gesetzes verloren geht, was für Personen, die nicht die Staatsangehörigkeit eines anderen Mitgliedstaats besitzen, zum Verlust der Unionsbürgerschaft führt, es sei denn, diese Personen erhalten von den zuständigen Behörden nach einer Einzelfallprüfung ihrer Situation, bei der die betroffenen öffentlichen und privaten Belange abgewogen werden, vor dem Erwerb der Staatsangehörigkeit des Drittstaats die Genehmigung, ihre Staatsangehörigkeit beizubehalten. Die Vereinbarkeit mit dem Unionsrecht setzt jedoch zum einen voraus, dass diese Personen innerhalb einer angemessenen Frist effektiven Zugang zu dem in dieser Regelung vorgesehenen Verfahren für die Beibehaltung der Staatsangehörigkeit hatten und ordnungsgemäß über dieses Verfahren unterrichtet wurden, und zum anderen, dass dieses Verfahren eine Prüfung der Verhältnismäßigkeit der Folgen des Verlusts dieser Staatsangehörigkeit im Hinblick auf das Unionsrecht durch die zuständigen Behörden umfasst. Andernfalls müssen diese Behörden sowie die gegebenenfalls angerufenen Gerichte in der Lage sein, eine solche Prüfung inzident im Rahmen eines Antrags der betroffenen Personen auf Ausstellung eines Reisedokuments oder jeglichen anderen Dokuments zur Bescheinigung ihrer Staatsangehörigkeit oder gegebenenfalls im Rahmen eines Verfahrens zur Feststellung des Verlusts der Staatsangehörigkeit durchzuführen, wobei die genannten Behörden und Gerichte gegebenenfalls in der Lage sein müssen, diese Staatsangehörigkeit rückwirkend wiederherzustellen.

Lycourgos

Spineanu-Matei

Bonichot

Rodin

 

Rossi

Verkündet in öffentlicher Sitzung in Luxemburg am 25. April 2024.

Der Kanzler

 

Der Kammerpräsident

A. Calot Escobar

 

C. Lycourgos


*      Verfahrenssprache: Deutsch.