Language of document : ECLI:EU:C:2019:256

URTEIL DES GERICHTSHOFS (Vierte Kammer)

27. März 2019(*)

„Vertragsverletzung eines Mitgliedstaats – Art. 258 AEUV – Beschluss 2014/699/EU – Grundsatz der loyalen Zusammenarbeit – Art. 4 Abs. 3 EUV – Zulässigkeit – Auswirkungen des vorgeworfenen Verhaltens auf den Ablauf der in der mit Gründen versehenen Stellungnahme gesetzten Frist – Dauerhafte Auswirkungen auf die Einheitlichkeit und Kohärenz des völkerrechtlichen Handelns der Europäischen Union – Hinlänglichkeit der Maßnahmen, die der betroffene Mitgliedstaat ergriffen hat, um der mit Gründen versehenen Stellungnahme nachzukommen – Abstimmung der Bundesrepublik Deutschland entgegen dem im Beschluss 2014/699/EU anlässlich der 25. Sitzung des Revisionsausschusses der Zwischenstaatlichen Organisation für den internationalen Eisenbahnverkehr (OTIF) von der Union festgelegten Standpunkt sowie Widerspruch dieses Mitgliedstaats gegen diesen Standpunkt und gegen die darin festgelegten Regelungen für die Ausübung der Stimmrechte“

In der Rechtssache C‑620/16

betreffend eine Vertragsverletzungsklage nach Art. 258 AEUV, eingereicht am 29. November 2016,

Europäische Kommission, vertreten durch W. Mölls, L. Havas, J. Hottiaux und J. Norris-Usher als Bevollmächtigte,

Klägerin,


unterstützt durch

Rat der Europäischen Union, vertreten durch R. Liudvinaviciute-Cordeiro und J.‑P. Hix als Bevollmächtigte,

Streithelfer,

gegen

Bundesrepublik Deutschland, vertreten durch T. Henze und J. Möller als Bevollmächtigte,

Beklagte,

erlässt

DER GERICHTSHOF (Vierte Kammer)

unter Mitwirkung des Präsidenten der Siebten Kammer T. von Danwitz in Wahrnehmung der Aufgaben des Präsidenten der Vierten Kammer, der Richterin K. Jürimäe sowie der Richter C. Lycourgos, E. Juhász und C. Vajda (Berichterstatter),

Generalanwalt: M. Szpunar,

Kanzler: K. Malacek, Verwaltungsrat,

aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 4. Juli 2018,

nach Anhörung der Schlussanträge des Generalanwalts in der Sitzung vom 9. Januar 2019

folgendes

Urteil

1        Mit ihrer Klageschrift beantragt die Europäische Kommission, festzustellen, dass die Bundesrepublik Deutschland dadurch gegen ihre Verpflichtungen aus dem Beschluss 2014/699/EU des Rates vom 24. Juni 2014 zur Festlegung des im Namen der Europäischen Union anlässlich der 25. Sitzung des OTIF‑Revisionsausschusses zu bestimmten Änderungen des Übereinkommens über den internationalen Eisenbahnverkehr (COTIF) und seiner Anhänge zu vertretenden Standpunkts (ABl. 2014, L 293, S. 26) sowie aus Art. 4 Abs. 3 EUV verstoßen hat, dass sie in der 25. Sitzung des Revisionsausschusses der Zwischenstaatlichen Organisation für den internationalen Eisenbahnverkehr (OTIF) entgegen den in diesem Beschluss festgelegten Standpunkt abgestimmt sowie öffentlich diesem Standpunkt und den darin vorgesehenen Regelungen für die Ausübung der Stimmrechte widersprochen hat.

 Rechtlicher Rahmen

 Völkerrecht

 COTIF

2        Das Übereinkommen über den internationalen Eisenbahnverkehr vom 9. Mai 1980 in der Fassung des Änderungsprotokolls von Vilnius vom 3. Juni 1999 (im Folgenden: COTIF) trat am 1. Juli 2006 in Kraft. Die 49 Staaten, die Parteien des COTIF sind und zu denen alle Mitgliedstaaten der Europäischen Union mit Ausnahme der Republik Zypern und der Republik Malta gehören, bilden die OTIF.

3        Nach Art. 2 § 1 COTIF ist Ziel der OTIF, den internationalen Eisenbahnverkehr in jeder Hinsicht zu fördern, zu verbessern und zu erleichtern, indem sie insbesondere einheitliche Rechtsordnungen für verschiedene, den internationalen Eisenbahnverkehr betreffende Rechtsbereiche aufstellt.

4        Der OTIF‑Revisionsausschuss besteht grundsätzlich aus allen Parteien des COTIF. Nach Art. 17 § 1 Buchst. a und b COTIF entscheidet er im Rahmen seiner Zuständigkeiten über Anträge auf Änderung des COTIF und prüft außerdem die Anträge, die der OTIF‑Generalversammlung zur Entscheidung vorzulegen sind. Die jeweiligen Zuständigkeiten dieser beiden OTIF‑Gremien für Änderungen des COTIF sind in dessen Art. 33 geregelt.

5        Titel VI („Änderung des [COTIF])“ Art. 33 („Zuständigkeiten“) des COTIF lautet:

„…

§ 2      Die Generalversammlung entscheidet über Anträge auf Änderung des [COTIF], soweit in den §§ 4 bis 6 nichts anderes bestimmt ist.

§ 4      Vorbehaltlich einer Feststellung der Generalversammlung gemäß § 3 Satz 1 entscheidet der Revisionsausschuss über Anträge auf Änderung der

a)      Artikel 9 und 27 §§ 2 bis 5;

d)      Einheitlichen Rechtsvorschriften CUV, ausgenommen Artikel 1, 4, 5 und 7 bis 12;

…“

6        Art. 35 COTIF („Beschlüsse der Ausschüsse“) lautet:

„§ 1      Die von den Ausschüssen beschlossenen Änderungen des [COTIF] werden den Mitgliedstaaten vom Generalsekretär mitgeteilt.

§ 2      Die vom Revisionsausschuss beschlossenen Änderungen des [COTIF] selbst treten für alle Mitgliedstaaten am ersten Tage des zwölften Monats nach dem Monat in Kraft, in dem der Generalsekretär sie den Mitgliedstaaten mitgeteilt hat. …

§ 3      Die vom Revisionsausschuss beschlossenen Änderungen der Anhänge zum [COTIF] treten für alle Mitgliedstaaten am ersten Tage des zwölften Monats nach dem Monat in Kraft, in dem der Generalsekretär sie den Mitgliedstaaten mitgeteilt hat. …

…“

7        Nach Art. 38 § 2 COTIF kann die Union als regionale Organisation, die dem COTIF beigetreten ist, die Rechte ausüben, die ihren Mitgliedern aufgrund des COTIF zustehen, soweit sie Gegenstände betreffen, die in die Zuständigkeit der regionalen Organisation fallen. Gemäß Art. 38 § 3 COTIF stehen ihr hinsichtlich der Wahrnehmung des Stimmrechts und des in Art. 35 §§ 2 und 4 dieses Übereinkommens vorgesehenen Widerspruchsrechts so viele Stimmen zu, wie die Zahl ihrer Mitglieder beträgt, die zugleich Mitgliedstaaten der OTIF sind. Letztere dürfen ihre Rechte, insbesondere das Stimmrecht, nur in dem Umfang wahrnehmen, wie Art. 38 § 2 COTIF es zulässt.

 Beitrittsvereinbarung

8        Die am 23. Juni 2011 in Bern unterzeichnete Vereinbarung zwischen der Europäischen Union und der Zwischenstaatlichen Organisation für den internationalen Eisenbahnverkehr über den Beitritt der Europäischen Union zum Übereinkommen über den internationalen Eisenbahnverkehr (COTIF) vom 9. Mai 1980 in der Fassung des Änderungsprotokolls von Vilnius vom 3. Juni 1999 (ABl. 2013, L 51, S. 8) (im Folgenden: Beitrittsvereinbarung) ist gemäß ihrem Art. 9 am 1. Juli 2011 in Kraft getreten.

9        Art. 6 der Beitrittsvereinbarung lautet:

„(1)      Bei Beschlüssen in Angelegenheiten, in denen die Union ausschließlich zuständig ist, nimmt die Union die Stimmrechte ihrer Mitgliedstaaten im Rahmen des [COTIF] wahr.

(2)      Bei Beschlüssen in Angelegenheiten, in denen die Union gemeinsam mit ihren Mitgliedstaaten zuständig ist, nehmen entweder die Union oder ihre Mitgliedstaaten an der Abstimmung teil.

(3)      Vorbehaltlich des Artikels 26 Absatz 7 des [COTIF] verfügt die Union über dieselbe Anzahl von Stimmen wie ihre Mitgliedstaaten, die auch Parteien des [COTIF] sind. Wenn die Union an der Abstimmung teilnimmt, sind ihre Mitgliedstaaten nicht stimmberechtigt.

(4)      Die Union unterrichtet in jedem einzelnen Fall die anderen Parteien des [COTIF], wenn sie bei den verschiedenen Tagesordnungspunkten der Tagungen der Generalversammlung und anderer Entscheidungsgremien die Stimmrechte nach den Absätzen 1 bis 3 ausüben wird. Diese Verpflichtung gilt auch für Beschlüsse, die im schriftlichen Verfahren gefasst werden. Diese Unterrichtung erfolgt frühzeitig genug über das OTIF‑Generalsekretariat, damit die betreffenden Informationen zusammen mit den Sitzungsunterlagen weitergeleitet oder Beschlüsse im schriftlichen Verfahren gefasst werden können.“

 Unionsrecht

 Beschluss 2013/103/EU

10      Die Beitrittsvereinbarung wurde durch den Beschluss 2013/103/EU des Rates vom 16. Juni 2011 über die Unterzeichnung und den Abschluss der Vereinbarung zwischen der Europäischen Union und der Zwischenstaatlichen Organisation für den Internationalen Eisenbahnverkehr über den Beitritt der Europäischen Union zum Übereinkommen über den Internationalen Eisenbahnverkehr (COTIF) vom 9. Mai 1980 in der Fassung des Änderungsprotokolls von Vilnius vom 3. Juni 1999 (ABl. 2013, L 51, S. 1) im Namen der Union genehmigt.

11      Laut Art. 5 dieses Beschlusses „[enthält dessen] Anhang III … die internen Regelungen für die Vorbereitung der OTIF‑Sitzungen sowie für die Abgabe von Erklärungen und die Stimmabgabe in diesen Sitzungen“.

12      Anhang III dieses Beschlusses enthält, wie auch aus dem einleitenden Absatz dieses Anhangs hervorgeht, die internen Regelungen für den Rat der Europäischen Union, die Mitgliedstaaten und die Kommission in Bezug auf die Verfahren im Rahmen der OTIF zur Durchführung „einer geschlossenen völkerrechtlichen Vertretung der Union und ihrer Mitgliedstaaten in Einklang mit dem [EU‑]Vertrag … und dem [AEU‑]Vertrag … und der Rechtsprechung des Gerichtshofs … auch bei der Umsetzung internationaler Verpflichtungen“.

13      Ziff. 2 dieses Anhangs („Koordinierungsverfahren“) sieht vor:

„…

2.2.      In den Koordinierungssitzungen werden die Standpunkte vereinbart, die nur im Namen der Union oder gegebenenfalls im Namen der Union und ihrer Mitgliedstaaten zu vertreten sind. Standpunkte der Mitgliedstaaten in Angelegenheiten, die in deren ausschließliche Zuständigkeit fallen, können in diesen Sitzungen in die Koordinierung einbezogen werden, wenn die Mitgliedstaaten dies vereinbaren.

2.6.      Können die Kommission und die Mitgliedstaaten in Koordinierungssitzungen keinen gemeinsamen Standpunkt – auch wegen Uneinigkeit über die Zuständigkeitsverteilung – erzielen, so wird der Ausschuss der Ständigen Vertreter und/oder der Rat mit der Angelegenheit befasst.“

14      In Ziff. 3 dieses Anhangs („Erklärungen und Abstimmungen in OTIF‑Sitzungen“) heißt es:

„3.1.      Bei Tagesordnungspunkten, die in die ausschließliche Zuständigkeit der Union fallen, ergreift die Kommission im Namen der Union das Wort und stimmt in ihrem Namen ab. Nach entsprechender Koordinierung können auch die Mitgliedstaaten das Wort ergreifen, um den Unionsstandpunkt zu unterstützen und/oder zu ergänzen.

3.2.      Bei Tagesordnungspunkten, die in die ausschließliche Zuständigkeit der Mitgliedstaaten fallen, wird das Rede- und Stimmrecht von den Mitgliedstaaten ausgeübt.

3.3.      Bei Tagesordnungspunkten, die in die Zuständigkeit sowohl der Union als auch der Mitgliedstaaten fallen, tragen der Vorsitz und die Kommission den gemeinsamen Standpunkt vor. Nach entsprechender Koordinierung können auch die Mitgliedstaaten das Wort ergreifen, um den gemeinsamen Standpunkt zu unterstützen und/oder zu ergänzen. Die Mitgliedstaaten bzw. die Kommission stimmen im Namen der Union und ihrer Mitgliedstaaten entsprechend dem gemeinsamen Standpunkt ab. Die Entscheidung darüber, wer das Stimmrecht ausübt, wird je nach dem Überwiegen der Zuständigkeit (d. h. je nachdem, ob überwiegend der Mitgliedstaat oder überwiegend die Union zuständig ist) getroffen.

3.4.      Bei Tagesordnungspunkten, die in die Zuständigkeit sowohl der Union als auch der Mitgliedstaaten fallen und zu denen zwischen der Kommission und den Mitgliedstaaten kein gemeinsamer Standpunkt gemäß Ziffer 2.6 erzielt werden konnte, können die Mitgliedstaaten und die Kommission in Fragen, die eindeutig in ihre jeweilige Zuständigkeit fallen, das Rede- und Stimmrecht ausüben.

3.5.      In Fragen, in denen zwischen Kommission und Mitgliedstaaten keine Einigung über die Zuständigkeitsverteilung erreicht wurde, oder wenn die für einen Unionsstandpunkt erforderliche Mehrheit nicht erreicht werden konnte, bemühen sich alle Seiten nach Kräften, die Lage zu klären oder einen Unionsstandpunkt festzulegen. Bis dahin und nach entsprechender Koordinierung könnten gegebenenfalls die Mitgliedstaaten und/oder die Kommission das Wort ergreifen, sofern der vertretene Standpunkt einem künftigen Standpunkt der Union nicht vorgreift, mit der Unionspolitik sowie früheren Unionsstandpunkten in Einklang steht und dem Unionsrecht entspricht.

3.6.      …

Die Vertreter der Mitgliedstaaten und der Kommission bemühen sich nach Kräften, um zu einem gemeinsamen Standpunkt zu gelangen und diesen bei den Erörterungen in den OTIF‑Arbeitsgruppen zu vertreten.“

 Beschluss 2014/699

15      Gemäß Art. 1 Abs. 1 des Beschlusses 2014/699 „[entspricht d]er Standpunkt, der im Namen der Union anlässlich der 25. Sitzung des [OTIF‑]Revisionsausschusses zu vertreten ist, … dem Anhang dieses Beschlusses“. Nach dessen Art. 1 Abs. 2 „[können g]eringfügige Änderungen der im Anhang dieses Beschlusses genannten Dokumente … ohne weiteren Beschluss des Rates von den Vertretern der Union im Revisionsausschuss vereinbart werden“.

16      Abschnitt 3 des Anhangs des Beschlusses 2014/699 enthält in Bezug auf die verschiedenen Tagesordnungspunkte der 25. Sitzung des OTIF‑Revisionsausschusses Ausführungen zur Aufteilung der Zuständigkeiten zwischen der Union und ihren Mitgliedstaaten, zur Ausübung der Stimmrechte und zum empfohlenen abgestimmten Standpunkt.

17      In Bezug auf die Punkte 4 und 7 der Tagesordnung der 25. Sitzung des OTIF‑Revisionsausschusses zu den Änderungsanträgen in Bezug auf Art. 12 COTIF und die Art. 2 und 9 des Anhangs D (CUV) des COTIF über die Einheitlichen Rechtsvorschriften für Verträge über die Verwendung von Wagen im internationalen Eisenbahnverkehr (CUV) (im Folgenden: in Rede stehende Änderungen) sieht Abschnitt 3 des Anhangs des Beschlusses 2014/699 vor:

„Punkt 4: Teilrevision des COTIF – Grundübereinkommen

Zuständigkeit: geteilt.

Ausübung der Stimmrechte: Mitgliedstaaten.

Empfohlener abgestimmter Standpunkt:

Die Änderungen des Artikels 12 (Vollstreckung von Urteilen. Arrest und Pfändung) werden befürwortet, da die Begriffsbestimmung für ‚Halter‘ mit dem Unionsrecht in Einklang gebracht wird.

Punkt 7: Teilrevision von Anhang D (CUV)

Zuständigkeit: geteilt.

Ausübung der Stimmrechte: Union.

Empfohlener Standpunkt der Union: Die Änderungen der Artikel 2 und 9 werden befürwortet, da die Aufgaben des Halters und der für die Instandhaltung zuständigen Stelle im Einklang mit dem Unionsrecht (Richtlinie 2008/110/EG des Europäischen Parlaments und des Rates [vom 16. Dezember 2008 zur Änderung der Richtlinie 2004/49/EG über Eisenbahnsicherheit in der Gemeinschaft (Richtlinie über die Eisenbahnsicherheit) (ABl. 2008, L 345, S. 62)]) präzisiert werden. …

…“

 Vorverfahren und Verfahren vor dem Gerichtshof

18      Mit Schreiben vom 4. August 2014 gab die Kommission der Bundesrepublik Deutschland Gelegenheit, ihr Verhalten in der 25. Sitzung des OTIF‑Revisionsausschusses, die am 25. und 26. Juni 2014 stattfand, zu erläutern.

19      In ihrer Antwort vom 12. November 2014 vertrat die Bundesrepublik Deutschland den Standpunkt, dass ihr Verhalten vollkommen legitimiert und rechtmäßig sei, da keine der in Rede stehenden Änderungen in die Zuständigkeit der Union falle, weil diese ihre interne Zuständigkeit in den betreffenden Bereichen nicht ausgeübt habe.

20      Am 29. Mai 2015 leitete die Kommission ein Vertragsverletzungsverfahren gemäß Art. 258 Abs. 1 AEUV ein, indem sie der Bundesrepublik Deutschland ein Aufforderungsschreiben übermittelte, in dem sie den Standpunkt vertrat, dieser Mitgliedstaat habe durch sein Verhalten in der 25. Sitzung des OTIF‑Revisionsausschusses gegen seine Verpflichtungen aus dem Beschluss 2014/699 und aus Art. 4 Abs. 3 EUV verstoßen. Daraus, dass die Bundesrepublik Deutschland ihren eigenen Ausführungen zufolge ihr Verhalten für ausdrücklich legitimiert erachte, könne ferner geschlossen werden, dass sie wahrscheinlich in Zukunft in einer ähnlichen Situation ebenso handeln würde.

21      In ihrer Antwort vom 7. Juli 2015 wies die Bundesrepublik Deutschland das Vorbringen der Kommission zurück.

22      Anlässlich des Erlasses des Beschlusses (EU) 2015/1734 des Rates vom 18. September 2015 zur Festlegung des im Namen der Europäischen Union auf der 12. Generalversammlung der Zwischenstaatlichen Organisation für den internationalen Eisenbahnverkehr (OTIF) zu bestimmten Änderungen des Übereinkommens über den internationalen Eisenbahnverkehr (COTIF) und seiner Anhänge zu vertretenden Standpunkts (ABl. 2015, L 252, S. 43) gab die Bundesrepublik Deutschland eine Erklärung folgenden Wortlauts ab, die in die Niederschrift der Ratstagung aufgenommen wurde (im Folgenden: Erklärung vom 17. September 2015):

„[Die Bundesrepublik Deutschland] vertritt die Rechtsauffassung, dass [sie] berechtigt ist, in den Punkten 8 (Teilrevision des COTIF – Grundübereinkommen …), 10 (Teilrevision von Anhang D – ER CUV), 13 (Erläuternde Bemerkungen, überarbeitete und konsolidierte Fassung) auch entgegen dem [Beschluss 2015/1734] abzustimmen. Denn eine Zuständigkeit der Union besteht insoweit nicht. Die Aufteilung der Zuständigkeit zwischen der Union und den Mitgliedstaaten ist Gegenstand eines beim EuGH anhängigen Verfahrens C‑600/14 (D./.Rat). Vor einer Entscheidung durch den EuGH wird [die Bundesrepublik Deutschland] in der OTIF‑Generalversammlung unter Beibehaltung [ihrer] Rechtsauffassung und ohne Präjudiz für das laufende Verfahren vor dem EuGH [ihr] Stimmrecht nicht abweichend von diesem Ratsbeschluss ausüben, auch wenn [sie] diesen als rechtswidrig ansieht.“

23      Am 11. Dezember 2015 gab die Kommission eine mit Gründen versehene Stellungnahme ab, in der sie ihren in ihrem Aufforderungsschreiben zum Ausdruck gebrachten Standpunkt wiederholte. Die Kommission forderte die Bundesrepublik Deutschland auf, alle notwendigen Maßnahmen zu ergreifen, um der mit Gründen versehenen Stellungnahme binnen zwei Monaten nach Eingang des Schreibens nachzukommen und insbesondere die darin beschriebene vertragsverletzende Praxis nicht weiter fortzusetzen.

24      Mit Schreiben vom 1. Februar 2016 erwiderte die Bundesrepublik Deutschland auf die mit Gründen versehene Stellungnahme, wobei sie den in ihrer Antwort auf das Aufforderungsschreiben vertretenen Standpunkt wiederholte.

25      Da die Kommission der Auffassung war, dass die Bundesrepublik Deutschland nicht fristgemäß die erforderlichen Maßnahmen ergriffen habe, um der mit Gründen versehenen Stellungnahme nachzukommen, hat sie beschlossen, die vorliegende Klage zu erheben.

26      Mit Beschluss des Präsidenten des Gerichtshofs vom 3. Januar 2018 ist der Rat als Streithelfer zur Unterstützung der Anträge der Kommission zugelassen worden.

 Urteil vom 5. Dezember 2017, Deutschland/Kommission (C600/14, EU:C:2017:935)

27      Am 22. Dezember 2014 erhob die Bundesrepublik Deutschland Klage beim Gerichtshof, um die teilweise Nichtigerklärung des Beschlusses 2014/699 insoweit zu erwirken, als er sich insbesondere auf die streitigen Änderungen bezieht. Ihre Klagegründe bezogen sich auf behauptete Verstöße gegen erstens den Grundsatz der begrenzten Einzelermächtigung gemäß Art. 5 Abs. 2 EUV wegen Unzuständigkeit der Union, gegen zweitens die Begründungspflicht gemäß Art. 296 AEUV und gegen drittens den Grundsatz der loyalen Zusammenarbeit gemäß Art. 4 Abs. 3 EUV in Verbindung mit dem Grundsatz des effektiven Rechtsschutzes.

28      Mit seinem nach Abschluss des schriftlichen Verfahrens in der vorliegenden Rechtssache ergangenen Urteil vom 5. Dezember 2017, Deutschland/Rat (C‑600/14, EU:C:2017:935), hat der Gerichtshof die Klage der Bundesrepublik Deutschland hinsichtlich aller drei von ihr vorgebrachten Klagegründe abgewiesen.

 Zur Klage

 Zulässigkeit

29      Mit gesondertem Schriftsatz vom 8. Februar 2017 hat die Bundesrepublik Deutschland nach Art. 151 der Verfahrensordnung des Gerichtshofs eine Einrede der Unzulässigkeit der vorliegenden Klage erhoben. Mit Beschluss vom 10. Mai 2017 hat der Gerichtshof nach Anhörung des Generalanwalts die Prüfung dieses Antrags dem Endurteil vorbehalten und die Bundesrepublik Deutschland aufgefordert, eine Klagebeantwortung einzureichen.

 Vorbringen der Parteien

30      Die Bundesrepublik Deutschland hält die Klage für unzulässig.

31      Sie macht geltend, das in dieser Klage beanstandete Verhalten habe nach Ende der 25. Sitzung des OTIF‑Revisionsausschusses – also vor Ablauf der von der Kommission in ihrer mit Gründen versehenen Stellungnahme gesetzten Frist – keine Wirkungen mehr entfaltet. Nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs, die sich aus den Urteilen vom 27. Oktober 2005, Kommission/Italien (C‑525/03, EU:C:2005:648), und vom 11. Oktober 2007, Kommission/Griechenland (C‑237/05, EU:C:2007:592), ergebe, sei eine Vertragsverletzungsklage jedoch unzulässig, wenn die dem betroffenen Mitgliedstaat vorgeworfene Handlung vor Ablauf dieser Frist keine Rechtswirkungen mehr entfalte.

32      Die Bundesrepublik Deutschland macht dazu geltend, dass das Vertragsverletzungsverfahren gemäß Art. 258 AEUV genau darauf gerichtet sei, sicherzustellen, dass die Mitgliedstaaten Verstöße abstellen, deren Wirkungen bei Ablauf der in der mit Gründen versehenen Stellungnahme gesetzten Frist weiter bestünden, oder diese jedenfalls nicht wiederholen. Ihr streitiges Verhalten habe aber zu keinen negativen Folgen geführt, die hätten beseitigt werden können oder müssen.

33      Die Ausübung ihres Stimmrechts habe nämlich, wie die Kommission eingeräumt habe, keinen Einfluss auf die während der 25. Sitzung des OTIF‑Revisionsausschusses getroffenen Entscheidungen gehabt; auch die Reputation, Glaubwürdigkeit oder einheitliche Vertretung der Union gegenüber Mitgliedern der internationalen Gemeinschaft habe dadurch keinen Schaden genommen. Jedenfalls habe die Union das Verfahren zum Erlass des Beschlusses 2014/699 so ausgestaltet, dass der Rechtsschutz gegen diesen Beschluss abgeschnitten gewesen sei, und so zur Meinungsverschiedenheit während dieser Sitzung beigetragen.

34      Darüber hinaus macht die Bundesrepublik Deutschland unter Berufung auf den Wortlaut von Art. 258 Abs. 2 AEUV geltend, dass die Kommission nur dann eine Vertragsverletzungsklage vor dem Gerichtshof erheben könne, wenn der betreffende Mitgliedstaat der mit Gründen versehenen Stellungnahme innerhalb der gesetzten Frist nicht nachkomme. Um Rechtssicherheit zu gewährleisten, sei Art. 258 AEUV als Verfahrensvorschrift nämlich eng auszulegen. In diesem Sinne führt die Bundesrepublik Deutschland die Rechtsprechung des Gerichtshofs an, aus der hervorgehe, dass die Kommission bei diesem keine Vertragsverletzungsklage mehr erheben könne, wenn der betreffende Mitgliedstaat die Vertragsverletzung vor Ablauf der in der mit Gründen versehenen Stellungnahme gesetzten Frist beendet habe (Urteil vom 5. Juni 2003, Kommission/Italien, C‑145/01, EU:C:2003:324, Rn. 15).

35      Die behauptete Schädigung des Ansehens der Europäischen Union sei aber nicht mehr rückgängig zu machen. Abgesehen davon tritt die Bundesrepublik Deutschland dem Vorbringen der Kommission, dass sie keine Maßnahmen ergriffen habe, um zum einen die Folgen ihres im vorliegenden Vertragsverletzungsverfahren beanstandeten Verhaltens zu beseitigen und zum anderen Zweifel in Bezug auf ihr künftiges Verhalten auszuräumen, entgegen. Beim Erlass des Beschlusses 2015/1734 habe sie nämlich mit der Erklärung vom 17. September 2015, obwohl sie der Auffassung gewesen sei, dass dieser Beschluss rechtswidrig und sie berechtigt gewesen sei, in zwei Punkten dagegen zu stimmen, angegeben, dass sie vor der Verkündung des Urteils des Gerichtshofs vom 5. Dezember 2017, Deutschland/Kommission (C‑600/14, EU:C:2017:935), ihr Stimmrecht bei den streitigen Punkten nicht abweichend von den Standpunkten der Union ausüben werde. Damit habe sie die in der mit Gründen versehenen Stellungnahme von der Kommission beanstandete Praxis schon beendet, bevor die darin genannte Frist überhaupt begonnen habe.

36      Die Bundesrepublik Deutschland macht geltend, dass ihr nicht aufgegeben werden könne, sich öffentlich zu entschuldigen oder ihre Rechtsauffassung aufzugeben, um die behauptete Schädigung der Reputation und Glaubwürdigkeit der Union nachträglich zu beseitigen. Jedenfalls spreche weder im Aufforderungsschreiben noch in der mit Gründen versehenen Stellungnahme etwas für die Annahme, dass die Bundesrepublik Deutschland durch die Nichtabgabe solcher Entschuldigungen gegen Unionsrecht verstoßen habe. Zudem genügten nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs fortbestehende rechtliche Meinungsverschiedenheiten zwischen einem Mitgliedstaat und der Kommission für die Zulässigkeit einer Vertragsverletzungsklage nicht, sofern sich der Mitgliedstaat trotz dieser Differenzen der Auffassung der Kommission beuge. Dies gelte erst recht, wenn die zu diesen Meinungsverschiedenheiten führende Rechtsfrage, wie im vorliegenden Fall, bereits Gegenstand eines Verfahrens vor dem Gerichtshof sei.

37      Darüber hinaus rügt die Bundesrepublik Deutschland, dass die Kommission entgegen den Anforderungen an eine hinreichend klare Formulierung einer Klageschrift Zweifel über die genaue Tragweite ihrer Klage habe aufkommen lassen. Die Kommission habe nämlich erstmals in ihrer Erwiderung ausgeführt, dass sie der Bundesrepublik Deutschland nur im Hinblick auf die Punkte 4 und 7 der Tagesordnung der 25. Sitzung des OTIF‑Revisionsausschusses einen Verstoß gegen den Beschluss 2014/699 vorwerfe.

38      Die Kommission beantragt, die von der Bundesrepublik Deutschland erhobene Einrede der Unzulässigkeit zurückzuweisen.

 Würdigung durch den Gerichtshof

39      Vorab ist darauf hinzuweisen, dass aus Art. 258 Abs. 2 AEUV hervorgeht, dass die Kommission den Gerichtshof anrufen kann, wenn der betreffende Mitgliedstaat der mit Gründen versehenen Stellungnahme innerhalb der in ihr gesetzten Frist nicht nachkommt. Nach ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofs ist das Vorliegen einer Vertragsverletzung folglich anhand der Lage zu beurteilen, in der sich der Mitgliedstaat bei Ablauf dieser Frist befand (vgl. u. a. Urteil vom 4. Mai 2017, Kommission/Luxemburg, C‑274/15, EU:C:2017:333, Rn. 47).

40      Aus der Rechtsprechung des Gerichtshofs geht auch hervor, dass das Verfahren nach Art. 258 AEUV auf der objektiven Feststellung des Verstoßes eines Mitgliedstaats gegen seine Verpflichtungen aus dem AEU-Vertrag oder einem sekundären Rechtsakt beruht und auch die Feststellung ermöglicht, ob ein Mitgliedstaat in einem konkreten Fall gegen Unionsrecht verstoßen hat (Urteil vom 22. Februar 2018, Kommission/Polen, C‑336/16, EU:C:2018:94, Rn. 61 und 62 sowie die dort angeführte Rechtsprechung).

41      Die Bundesrepublik Deutschland stellt die Zulässigkeit der vorliegenden Vertragsverletzungsklage aus zwei Gründen in Frage.

42      Erstens betreffe die ihr vorgeworfene Vertragsverletzung ein vergangenes Verhalten, das vor Ablauf der in der mit Gründen versehenen Stellungnahme gesetzten Frist keine Wirkungen mehr entfaltet habe, so dass es ihr nicht möglich gewesen sei, sie innerhalb dieser Frist zu beenden.

43      Hierzu ist festzustellen, dass die Kommission der Bundesrepublik Deutschland ihr Verhalten in der 25. Sitzung des OTIF‑Revisionsausschusses vorwirft, nämlich die Abstimmung durch diesen Mitgliedstaat in diesem Ausschuss und den Standpunkt, den er, unter Verstoß gegen zum einen den Beschluss 2014/699 und gegen zum anderen Art. 4 Abs. 3 EUV, vertreten hat.

44      Die damit vorgeworfene Vertragsverletzung besteht in der Nichtbeachtung eines Standpunkts der Union, wie er in einem gemäß Art. 218 Abs. 9 AEUV erlassenen Beschluss des Rates enthalten ist, also eine Bestimmung, die für die Festlegung von Standpunkten, die im Namen der Union zu vertreten sind, ein vereinfachtes Verfahren vorsieht, wenn die Union innerhalb des durch die betreffende internationale Übereinkunft eingesetzten Entscheidungsgremiums am Erlass von Akten teilnimmt, die zur Anwendung oder Durchführung dieser Übereinkunft ergehen (Urteil vom 6. Oktober 2015, Rat/Kommission, C‑73/14, EU:C:2015:663, Rn. 65). Die behauptete Vertragsverletzung betrifft somit den Bereich des auswärtigen Handelns der Union und bezieht sich, konkreter, auf den Entscheidungsprozess eines internationalen Gremiums, das durch eine Übereinkunft, bei der die Union Vertragspartei ist, geschaffen wurde und in dem die Union durch den Beschluss 2014/699 zur Abgabe von Beiträgen ermächtigt worden war.

45      Ein Verstoß gegen einen gemäß Art. 218 Abs. 9 AEUV erlassenen Beschluss des Rates, wie er der Bundesrepublik Deutschland im vorliegenden Fall vorgeworfen wird, hat jedoch nicht nur intern, sondern auch international Auswirkungen auf die Einheitlichkeit und Kohärenz des auswärtigen Handelns der Union, also Interessen, die ein Beschluss auf dieser Grundlage gerade gewährleisten soll (vgl. in diesem Sinne Gutachten 1/94 (WTO-Abkommen) vom 15. November 1994, EU:C:1994:384, Rn. 108, Urteile vom 2. Juni 2005, Kommission/Luxemburg, C‑266/03, EU:C:2005:341, Rn. 60, vom 14. Juli 2005, Kommission/Deutschland, C‑433/03, EU:C:2005:462, Rn. 66, und vom 20. April 2010, Kommission/Schweden, C‑246/07, EU:C:2010:203, Rn. 73).

46      Hinzu kommt, dass die nachteiligen Auswirkungen eines Verstoßes gegen einen gemäß Art. 218 Abs. 9 AEUV erlassenen Beschluss des Rates entgegen dem Vorbringen der Bundesrepublik Deutschland nicht auf den Entscheidungsprozess des Gremiums der internationalen Organisation, zu dem das streitige Verhalten gehört, beschränkt sind, sondern sich in allgemeinerer Weise im völkerrechtlichen Handeln der Union innerhalb dieser internationalen Organisation niederschlagen.

47      Eine solche Vertragsverletzung kann über den betreffenden konkreten Entscheidungsprozess hinaus insbesondere die Einheitlichkeit und Kohärenz des auswärtigen Handelns der Union in Frage stellen.

48      Folgte man unter diesen Umständen der Auffassung der Bundesrepublik Deutschland, so könnten alle Mitgliedstaaten, die durch ihr Verhalten die Verwirklichung des Ziels eines gemäß Art. 218 Abs. 9 AEUV erlassenen Beschlusses gefährdeten, einem Vertragsverletzungsverfahren entgehen, da alle Wirkungen dieser Vertragsverletzung bereits entfallen wären, so dass die Mitgliedstaaten aus ihrem eigenen Fehler einen Vorteil ziehen könnten.

49      In diesem Fall könnte die Kommission somit im Rahmen der ihr in Art. 258 AEUV eingeräumten Befugnisse nicht Klage gegen den betreffenden Mitgliedstaat vor dem Gerichtshof erheben, um eine solche Vertragsverletzung feststellen zu lassen und die ihr in Art. 17 EUV übertragene Aufgabe als Hüterin der Verträge vollständig zu erfüllen.

50      Darüber hinaus wäre die Feststellung der Unzulässigkeit einer Vertragsverletzungsklage gegen einen Mitgliedstaat wegen des Verstoßes gegen einen gemäß Art. 218 Abs. 9 AEUV erlassenen Beschluss sowohl dem verbindlichen Charakter dieser Beschlüsse gemäß Art. 288 Abs. 4 AEUV als auch allgemein der Achtung der Werte, auf die sich die Union gemäß Art. 2 EUV gründet, und zu denen insbesondere die Rechtsstaatlichkeit gehört, abträglich.

51      Die Bundesrepublik Deutschland könnte sich nämlich, nachdem sie an den Verhandlungen und der Abstimmung im Rat über einen Beschluss zur Festlegung eines Standpunkts der Union, wie der Beschluss 2014/699, teilgenommen hat, von diesem Beschluss nach seinem Erlass in der Gewissheit lösen, dass die Kommission gegen eine solche Vertragsverletzung keine Klage gemäß Art. 258 AEUV vor dem Gerichtshof erheben könnte.

52      Demnach können die Wirkungen des streitigen Verhaltens der Bundesrepublik Deutschland in der 25. Sitzung des OTIF‑Revisionsausschusses nicht so betrachtet werden, als ob sie am Ende dieser Sitzung entfallen wären. Dieses Verhalten ist so zu betrachten, dass es über diese Sitzung hinaus Auswirkungen auf die Einheitlichkeit und Kohärenz des völkerrechtlichen Handelns der Union in der OTIF hat.

53      Daraus folgt, dass sich die Bundesrepublik Deutschland, um die Zulässigkeit der vorliegenden Klage in Frage zu stellen, in Anbetracht der besonderen Umstände des streitigen Verhaltens nicht auf die Rechtsprechung zu Verfahren zur Vergabe von öffentlichen Aufträgen, die in rein unionsinternen Zusammenhängen ergangen ist, berufen kann, aus der hervorgeht, dass eine Klage auf Feststellung eines Verstoßes gegen die Unionsbestimmungen zur Vergabe von öffentlichen Aufträgen unzulässig ist, wenn bei Ablauf der in der mit Gründen versehenen Stellungnahme gesetzten Frist alle Wirkungen der Vergabebekanntmachung oder der streitigen Verträge bereits entfallen waren (Urteile vom 27. Oktober 2005, Kommission/Italien, C‑525/03, EU:C:2005:648, Rn. 12 bis 17, und vom 11. Oktober 2007, Kommission/Griechenland, C‑237/05, EU:C:2007:592, Rn. 33 bis 35).

54      Was den von der Bundesrepublik Deutschland geltend gemachten Umstand anbelangt, dass die Union das Verfahren zum Erlass des Beschlusses 2014/699 so ausgestaltet habe, dass der Rechtsschutz gegen diesen Beschluss abgeschnitten gewesen sei, fällt diese Rüge in die Prüfung der Begründetheit und nicht in die der Zulässigkeit der vorliegenden Klage.

55      Zweitens macht die Bundesrepublik Deutschland geltend, sie habe alle nach Art. 258 Abs. 2 AEUV erforderlichen Maßnahmen ergriffen, um der mit Gründen versehenen Stellungnahme innerhalb der dort festgelegten Frist nachzukommen, so dass die Vertragsverletzungsklage der Kommission unzulässig sei.

56      Hierzu ist festzustellen, dass eine solche Behauptung der materiell-rechtlichen Prüfung der Vertragsverletzung unterliegt, da deren Prüfung bedeutet, das Verhalten der Bundesrepublik Deutschland nach der 25. Sitzung des OTIF‑Revisionsausschusses zu überprüfen (vgl. entsprechend Urteil vom 14. April 2005, Kommission/Luxemburg, C‑519/03, EU:C:2005:234, Rn. 20). Folglich wird die Begründetheit dieser Behauptung Gegenstand der materiell-rechtlichen Prüfung der Vertragsverletzung sein.

57      Was den von der Bundesrepublik Deutschland geltend gemachten Umstand angeht, wonach es nicht mehr möglich sei, der behaupteten Schädigung der Reputation und Glaubwürdigkeit der Union abzuhelfen, kann dieser, selbst wenn er erwiesen wäre, nicht zur Unzulässigkeit der vorliegenden Klage führen. Wie der Generalanwalt in Nr. 62 seiner Schlussanträge hervorgehoben hat, kann nämlich nicht hingenommen werden, dass sich ein Mitgliedstaat auf eine von ihm geschaffene Tatsache beruft, um sich einer Vertragsverletzungsklage vor dem Gerichtshof zu entziehen (Urteil vom 7. Februar 1973, Kommission/Italien, 39/72, EU:C:1973:13, Rn. 10).

58      Im Übrigen ist die Rüge der Bundesrepublik Deutschland in Bezug auf die Ungenauigkeit der Klageschrift der Kommission zurückzuweisen.

59      Dazu ist aus den Rn. 15 bis 19 der Klageschrift klar ersichtlich, dass die Kommission diesem Mitgliedstaat nur in Bezug auf die Punkte 4 und 7 der Tagesordnung der 25. Sitzung des OTIF‑Revisionsausschusses einen Verstoß gegen den Beschluss 2014/699 und gegen Art. 4 Abs. 3 EUV vorwirft. Die Kommission hat sich nämlich in ihrer Klageschrift nur insoweit auf den Anhang des Beschlusses 2014/699 bezogen, als dieser Anhang die in den Punkten 4 und 7 der Tagesordnung dieser Sitzung genannten Änderungen des COTIF betrifft, und in ihrer Zusammenfassung des von der Bundesrepublik Deutschland nicht bestrittenen Sachverhalts auf diese beiden Punkte in der Tagesordnung verwiesen.

60      Nach alledem ist die Klage der Kommission zulässig.

 Begründetheit

 Vorbringen der Parteien

61      Mit ihrer ersten Rüge wirft die Kommission der Bundesrepublik Deutschland vor, dadurch gegen den Beschluss 2014/699 verstoßen zu haben, dass sie in der 25. Sitzung des OTIF‑Revisionsausschusses entgegen dem in diesem Beschluss von der Union zu den Punkten 4 und 7 der Tagesordnung dieser Sitzung festgelegten Standpunkt abgestimmt und öffentlich der Ausübung des Stimmrechts durch die Union widersprochen hat.

62      Gemäß Art. 288 Abs. 4 AEUV sei der Beschluss 2014/699 sowohl für die Unionsorgane als auch für die Mitgliedstaaten in allen seinen Teilen verbindlich. Der Umstand, dass die Bundesrepublik Deutschland im Rat gegen den Beschluss gestimmt und diesen mit einer Nichtigkeitsklage vor dem Gerichtshof angefochten habe, ändere weder etwas an der Verbindlichkeit dieses Beschlusses noch an den sich für die Mitgliedstaaten daraus ergebenden Verpflichtungen.

63      Nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs seien die Mitgliedstaaten nämlich nicht berechtigt, einseitig Ausgleichs- oder Abwehrmaßnahmen zu ergreifen, um einer möglichen Missachtung des Unionsrechts durch das Organ, das den streitigen Beschluss erlassen hat, abzuhelfen. Solange also der Gerichtshof den Beschluss 2014/699 nicht für nichtig erklärt oder dessen Durchführung ausgesetzt habe, habe sich die Bundesrepublik Deutschland daran zu halten. Andernfalls würde die kohärente und einheitliche Anwendung des Unionsrechts, ein grundlegendes Merkmal des Unionssystems, in Gefahr gebracht.

64      Auch dem Argument, es sei für die Bundesrepublik Deutschland weder möglich noch zweckmäßig gewesen, vorläufigen Rechtsschutz zu beantragen, kann die Kommission nicht folgen. Sie betont, dass durch den AEU‑Vertrag ein umfassendes Rechtsschutzsystem geschaffen worden sei, das es – wie sich aus den Art. 278 und 279 AEUV ergebe – erlaube, auch eilbedürftigen Situationen zu begegnen. Etwaige hiermit verbundene Schwierigkeiten wie die von diesem Mitgliedstaat geltend gemachten berechtigten die Mitgliedstaaten nicht, eigenmächtig im Widerspruch zum Unionsrecht zu handeln.

65      In diesem Zusammenhang führt die Kommission weiter aus, dass es der Bundesrepublik Deutschland möglich gewesen wäre, rechtzeitig einstweiligen Rechtsschutz zu erlangen.

66      Zu der von der Bundesrepublik Deutschland gegen den Beschluss 2014/699 erhobenen Einrede der Rechtswidrigkeit verweist die Kommission darauf, dass sich die Mitgliedstaaten nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs in einem Vertragsverletzungsverfahren über die Nichtdurchführung eines Rechtsakts nicht auf die Rechtswidrigkeit dieses Rechtsakts berufen könnten. Diese Rechtsprechung gelte für alle Akte mit allgemeiner Geltung unabhängig davon, ob der betroffene Mitgliedstaat Adressat gewesen sei oder nicht.

67      Mit ihrer zweiten Rüge, dem Verstoß gegen Art. 4 Abs. 3 AEUV, macht die Kommission geltend, der Umstand, dass die Bundesrepublik Deutschland in der 25. Sitzung des OTIF‑Revisionsausschusses entgegen dem Standpunkt der Union abgestimmt, sich von der Stimmabgabe der Union distanziert und auf der Ausübung ihres Stimmrechts bestanden habe, obwohl dieses Recht auf die Union übertragen gewesen sei, habe Anlass zu Verwirrung hinsichtlich des Abstimmungsergebnisses gegeben und die Glaubwürdigkeit und Reputation der Union, die Geschlossenheit ihrer völkerrechtlichen Vertretung und ihr Image im Allgemeinen beeinträchtigt. Dieses Verhalten habe folglich den in Art. 4 Abs. 3 EUV verankerten Grundsatz der loyalen Zusammenarbeit verletzt.

68      Was die erste Rüge der Kommission betrifft, bestreitet die Bundesrepublik Deutschland nicht, gegen den Beschluss 2014/699 verstoßen zu haben, soweit dieser die in Rede stehenden Änderungen betrifft. Jedoch könnten ihr die entsprechenden Bestimmungen dieses Beschlusses nicht entgegengehalten werden, da sie aus den Gründen rechtswidrig seien, die bereits im Rahmen der Rechtssache vorgetragen worden seien, in der das Urteil vom 5. Dezember 2017, Deutschland/Rat (C‑600/14, EU:C:2017:935), ergangen sei.

69      In diesem Zusammenhang führt die Bundesrepublik Deutschland aus, dass die Rechtsprechung des Gerichtshofs, aus der hervorgehe, dass die Rechtswidrigkeit einer Richtlinie oder eines an die Mitgliedstaaten gerichteten Beschlusses von den Mitgliedstaaten nicht als Verteidigungsmittel gegen eine auf die Nichtdurchführung eines solchen Rechtsakts gestützte Vertragsverletzungsklage herangezogen werden könne, dem nicht entgegenstehe, dass sie gemäß Art. 277 AEUV im Rahmen des Vertragsverletzungsverfahrens wegen Nichtbeachtung des Beschlusses 2014/699 die Einrede der Rechtswidrigkeit in Bezug auf diesen Beschluss erheben könne, d. h. in Bezug auf einen Akt mit allgemeiner Geltung, der seinen Adressaten nicht bekannt gegeben worden sei.

70      Die Bundesrepublik Deutschland macht geltend, sie könne sich im Vertragsverletzungsverfahren inzident auf die Rechtswidrigkeit des Beschlusses 2014/699 insbesondere im Hinblick auf die Tatsache berufen, dass es ihr faktisch nicht möglich gewesen sei, vor Beginn der 25. Sitzung des OTIF‑Revisionsausschusses Rechtsschutz in Bezug auf diesen Beschluss zu erlangen.

71      In der mündlichen Verhandlung hat die Bundesrepublik Deutschland die Einrede der Rechtswidrigkeit nach Art. 277 AEUV förmlich zurückgenommen. Sie hat jedoch angegeben, dass sie wegen der Unmöglichkeit, vor Beginn der 25. Sitzung des OTIF‑Revisionsausschusses in Bezug auf den Beschluss 2014/699 Rechtsschutz zu erlangen, weiter inzident die Rechtswidrigkeit dieses Beschlusses geltend machen wolle.

72      Jedenfalls habe sie in Bezug auf die Änderung von Art. 12 COTIF, den Punkt 4 der Tagesordnung der 25. Sitzung des OTIF‑Revisionsausschusses, nicht gegen den Beschluss 2014/699 verstoßen, da dieser nur einen „empfohlenen abgestimmten Standpunkt“ festlege und vorsehe, dass im Hinblick auf Punkt 4 dieser Tagesordnung die Mitgliedstaaten das Stimmrecht ausübten. Gemäß Art. 288 Abs. 5 AEUV seien Empfehlungen nicht verbindlich. Hinsichtlich der Änderung der Art. 2 und 9 des Anhangs D (CUV), Punkt 7 der Tagesordnung der 25. Sitzung des OTIF‑Revisionsausschusses, habe der Beschluss 2014/699 zwar die Ausübung der Stimmrechte durch die Union vorgesehen, doch sei dieser darauf beschränkt gewesen, Empfehlungen – ohne jede Bindungswirkung – für Standpunkte festzulegen.

73      Darüber hinaus hält es die Bundesrepublik Deutschland für möglich, den Beschluss 2014/699 wegen seiner schwerwiegenden Mängel als inexistent anzusehen, der als solcher vom Gerichtshof von Amts wegen geprüft werden müsse.

74      Zur zweiten Rüge der Kommission, dem Verstoß gegen Art. 4 Abs. 3 EUV, ist die Bundesrepublik Deutschland der Ansicht, die Kommission habe weder für eine tatsächliche Beeinträchtigung der Glaubwürdigkeit und Reputation der Union noch für die Verursachung einer solchen Beeinträchtigung durch das streitige Verhalten einen Nachweis erbracht. Ursache für die Verwirrung bei der Abstimmung im OTIF‑Revisionsausschuss seien, im Gegenteil, der Beitritt der Union zur OTIF, der die OTIF vor neue Herausforderungen gestellt habe, und die überstürzte Art und Weise der Vorbereitung der 25. Sitzung des OTIF‑Revisionsausschusses durch die Unionsorgane gewesen.

 Würdigung durch den Gerichtshof

75      Was die erste Rüge, die Nichtbeachtung des Beschlusses 2014/699, betrifft, geht aus den S. 31 bis 36 der im Anhang zur Klageschrift der Kommission beigefügten Niederschrift der 25. Sitzung des OTIF‑Revisionsausschusses hervor, dass die Bundesrepublik Deutschland zu den Punkten 4 und 7 der Tagesordnung dieser Sitzung eine von der im Beschluss 2014/699 festgelegten Ansicht der Union abweichende Auffassung geäußert und entgegen diesem Standpunkt abgestimmt hat. Darüber hinaus geht aus den S. 33 bis 36 des Protokolls dieser Sitzung hervor, dass dieser Mitgliedstaat zu Punkt 7 dieser Tagesordnung der in diesem Beschluss vorgesehenen Ausübung der Stimmrechte durch die Union widersprochen hat.

76      Die Bundesrepublik Deutschland bestreitet dies nicht. Sie macht jedoch erstens geltend, dass sie nicht gegen den Beschluss 2014/699 verstoßen habe, da dort in Bezug auf die Punkte 4 und 7 der Tagesordnung der 25. Sitzung des OTIF‑Revisionsausschusses festgelegt sei, dass es sich um „empfohlene abgestimmte Standpunkte“ handele und im Hinblick auf Punkt 4 dieser Tagesordnung das Stimmrecht den Mitgliedstaaten zugewiesen sei.

77      Dieses Argument kann nicht durchgreifen.

78      Zwar beginnen die Standpunkte in Abschnitt 3 des Anhangs des Beschlusses 2014/699 mit den Worten „Empfohlener abgestimmter Standpunkt“, doch ist dieser Beschluss nach Art. 218 Abs. 9 AEUV erlassen worden, der den Erlass eines „Beschlusses“ zur Festlegung der Standpunkte vorsieht, die im Namen der Union in einem durch eine Übereinkunft eingesetzten Gremium zu vertreten sind. Nach Art. 288 Abs. 4 AEUV jedoch „[sind] Beschlüsse … in allen ihren Teilen verbindlich“.

79      Außerdem ergibt sich aus der Prüfung des Inhalts des Beschlusses 2014/699, dass darin gemäß seinem Art. 1 Abs. 1 „[d]er Standpunkt, der im Namen der Union anlässlich der 25. Sitzung des [OTIF‑]Revisionsausschusses … zu vertreten ist“, wie aus der Verwendung der Ausdrücke „[d]ie Änderungen … werden befürwortet“, „[die] Union kann … nicht zustimmen und schlägt vor“ oder „vertritt die Union“ hervorgeht, zwingend formuliert ist, um den Standpunkt der Union in Abschnitt 3 des Anhangs des Beschlusses 2014/699 in Bezug auf die Punkte 4 und 7 der Tagesordnung dieser Sitzung festzulegen.

80      Die Verbindlichkeit des in diesem Beschluss festgelegten Standpunkts der Union wird durch Art. 1 Abs. 2 dieses Beschlusses bestätigt, der den Vertretern der Union im OTIF‑Revisionsausschuss nur erlaubt, „[g]eringfügige Änderungen“ an den im Anhang dieses Beschlusses genannten Dokumenten zu vereinbaren. Hinzu kommt im Übrigen, dass der Beschluss 2014/699 in der Reihe L des Amtsblatts der Europäischen Union als verbindlicher Rechtsakt veröffentlicht wurde.

81      Zudem setzt die Prüfung der Rechtmäßigkeit dieses Beschlusses durch den Gerichtshof im Urteil vom 5. Dezember 2017, Deutschland/Rat (C‑600/14, EU:C:2017:935), im Hinblick auf die von der Bundesrepublik Deutschland zur Stützung der jenem Urteil zugrunde liegenden Klage geltend gemachten Klagegründe tatsächlich voraus, dass dieser Beschluss eine anfechtbare Handlung darstellt, indem er dazu bestimmt ist, verbindliche Rechtswirkungen zu erzeugen.

82      Daraus folgt, dass der Beschluss 2014/699 eine Handlung ist, die verbindliche Rechtswirkungen erzeugt, indem er den Standpunkt der Union im Rahmen der 25. Sitzung des OTIF‑Revisionsausschusses festlegt, und zwar zum einen für die Kommission und zum anderen für die Mitgliedstaaten, indem er sie verpflichtet, diesen Standpunkt zu vertreten (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 1. Oktober 2009, Kommission/Rat, C‑370/07, EU:C:2009:590, Rn. 44).

83      Folglich hat die Bundesrepublik Deutschland aufgrund ihres in Rn. 75 des vorliegenden Urteils beschriebenen Verhaltens gegen den in diesem Beschluss festgelegten Standpunkt der Union verstoßen und, was Punkt 7 der Tagesordnung dieser Sitzung anbelangt, gegen die in diesem Beschluss festgelegten Regelungen für die Ausübung des Stimmrechts.

84      Zweitens kann das Argument der Rechtswidrigkeit des Beschlusses 2014/699 mit der Begründung, dass es der Bundesrepublik Deutschland nicht möglich gewesen sei, vor Beginn der 25. Sitzung des OTIF‑Revisionsausschusses Rechtsschutz gegen diesen Beschluss zu erlangen, nicht durchgreifen.

85      Wie der Generalanwalt in Nr. 84 seiner Schlussanträge festgestellt hat, gilt in der Union, die auf Rechtsstaatlichkeit gründet, für Handlungen der Organe die Vermutung der Rechtmäßigkeit. Nachdem der Beschluss 2014/699 erlassen worden war, war die Bundesrepublik Deutschland daher verpflichtet, ihn zu beachten und durchzuführen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 20. September 2007, Kommission/Spanien, C‑177/06, EU:C:2007:538, Rn. 36 und 38).

86      Der Umstand, dass die Bundesrepublik Deutschland anschließend zudem die Rechtmäßigkeit des Beschlusses 2014/699 nach Art. 263 AEUV insbesondere wegen eines behaupteten Verstoßes gegen den Grundsatz des effektiven Rechtsschutzes vor dem Gerichtshof angefochten hat, ändert nichts an der Verbindlichkeit dieses Beschlusses.

87      Das streitige Verhalten lag nämlich vor der Erhebung der Nichtigkeitsklage durch die Bundesrepublik Deutschland gegen den Beschluss 2014/699. Im Übrigen hat dieser Mitgliedstaat weder die Aussetzung der Vollziehung dieses Beschlusses noch den Erlass einstweiliger Anordnungen durch den Gerichtshof gemäß Art. 278 bzw. Art. 279 AEUV beantragt, so dass die Nichtigkeitsklage nach Art. 278 AEUV keine aufschiebende Wirkung hatte.

88      Nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs ist ein Mitgliedstaat jedoch nicht berechtigt, einseitig Ausgleichs- oder Abwehrmaßnahmen zu ergreifen, um einer behaupteten Missachtung unionsrechtlicher Vorschriften durch ein Organ abzuhelfen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 12. Februar 2009, Kommission/Griechenland, C‑45/07, EU:C:2009:81, Rn. 26).

89      Jedenfalls hat der Gerichtshof bereits entschieden, dass das Klagesystem des AEU-Vertrags zwischen den in den Art. 258 und 259 AEUV vorgesehenen Klagen, die auf die Feststellung gerichtet sind, dass ein Mitgliedstaat gegen seine Verpflichtungen verstoßen hat, und den in den Art. 263 und 265 AEUV vorgesehenen Klagen, mit denen die Rechtmäßigkeit von Handlungen oder Unterlassungen der Unionsorgane überprüft werden soll, unterscheidet. Diese Klagemöglichkeiten haben unterschiedliche Zwecke und unterliegen unterschiedlichen Voraussetzungen. Ein Mitgliedstaat kann sich daher mangels einer Vorschrift dieses Vertrags, die ihn dazu ausdrücklich ermächtigte, zur Verteidigung gegenüber einer auf die Nichtdurchführung eines an ihn gerichteten Beschlusses oder einer an gerichteten Richtlinie gestützten Vertragsverletzungsklage nicht mit Erfolg auf die Rechtswidrigkeit dieses Beschlusses oder dieser Richtlinie berufen. Etwas anderes könnte nur gelten, wenn der fragliche Rechtsakt mit besonders schweren und offensichtlichen Fehlern behaftet wäre, so dass er als inexistenter Rechtsakt qualifiziert werden könnte (Urteile vom 18. Oktober 2012, Kommission/Tschechische Republik, C‑37/11, EU:C:2012:640, Rn. 46, und vom 11. Oktober 2016, Kommission/Italien, C‑601/14, EU:C:2016:759, Rn. 33).

90      Entgegen dem Vorbringen der Bundesrepublik Deutschland gilt diese Rechtsprechung für den vorliegenden Fall in Bezug auf den Beschluss 2014/699 entsprechend, obwohl dieser Mitgliedstaat nicht formell Adressat dieses Beschlusses war. Die Bundesrepublik Deutschland hatte nämlich als Mitglied des Rates, der diesen Beschluss gefasst hat, zwangsläufig Kenntnis von diesem und war durchaus in der Lage, innerhalb der in Art. 263 Abs. 6 AEUV festgelegten Frist von zwei Monaten eine Nichtigkeitsklage gegen diesen Beschluss zu erheben, wie sie es im Übrigen im Rahmen der Rechtssache getan hat, in der das Urteil vom 5. Dezember 2017, Deutschland/Rat (C‑600/14, EU:C:2017:935), ergangen ist.

91      Zum Vorbringen der Bundesrepublik Deutschland, dass der Beschluss 2014/699 ein inexistenter Rechtsakt sei, weil er nur den Wert bloßer Empfehlungen ohne Bindungswirkung zu den Punkten 4 und 7 der Tagesordnung der 25. Sitzung des OTIF‑Revisionsausschusses habe, ist festzustellen, dass der Gerichtshof mit seinem Urteil vom 5. Dezember 2017, Deutschland/Rat (C‑600/14, EU:C:2017:935), die von diesem Mitgliedstaat erhobene Klage auf teilweise Nichtigerklärung abgewiesen hat, ohne, wie er dies von Amts wegen hätte tun können, die Inexistenz dieses Beschlusses festzustellen. Unter diesen Umständen kann dieser Beschluss nicht als inexistenter Rechtsakt im Sinne der in Rn. 89 des vorliegenden Urteils angeführten Rechtsprechung angesehen werden. Jedenfalls ist hinzuzufügen, dass dieses Argument zurückzuweisen ist, da es aus den in den Rn. 78 bis 82 des vorliegenden Urteils bereits dargelegten Gründen von einem unzutreffenden Verständnis des Beschlusses 2014/699 ausgeht.

92      Zur zweiten Rüge, dem Verstoß gegen Art. 4 Abs. 3 EUV, ist darauf hinzuweisen, dass aus dieser Bestimmung, in der der Grundsatz der loyalen Zusammenarbeit niedergelegt ist, hervorgeht, dass sich die Union und die Mitgliedstaaten gegenseitig bei der Erfüllung der Aufgaben, die sich aus den Verträgen ergeben, achten und unterstützen (Urteil vom 5. Dezember 2017, Deutschland/Rat, C‑600/14, EU:C:2017:935‚ Rn. 105).

93      Aus ständiger Rechtsprechung, insbesondere zu Abkommen oder Übereinkommen, die teils in die Zuständigkeit der Union, teils in die der Mitgliedstaaten fallen, ergibt sich, dass eine enge Zusammenarbeit zwischen den Mitgliedstaaten und den Unionsorganen sowohl bei der Aushandlung und beim Abschluss als auch bei der Erfüllung der übernommenen Verpflichtungen sicherzustellen ist. Diese Pflicht zur Zusammenarbeit ergibt sich aus der Notwendigkeit einer einheitlichen völkerrechtlichen Vertretung der Union (Urteil vom 20. April 2010, Kommission/Schweden, C‑246/07, EU:C:2010:203‚ Rn. 73 und die dort angeführte Rechtsprechung).

94      Folglich ist die Beachtung eines vom Rat nach Art. 218 Abs. 9 AEUV erlassenen Beschlusses eine besondere Ausprägung der Notwendigkeit einer einheitlichen Vertretung der Union, die sich aus der Verpflichtung zu loyaler Zusammenarbeit ergibt.

95      Es ist jedoch festzustellen, dass die Bundesrepublik Deutschland mit ihrem streitigen Verhalten in der 25. Sitzung des OTIF‑Revisionsausschusses, wie die Niederschrift dieser Sitzung belegt, trotz des Erlasses des Beschlusses 2014/699 Zweifel an der Fähigkeit der Union hat aufkommen lassen, einen Standpunkt zu äußern und ihre Mitgliedstaaten auf internationaler Ebene zu vertreten. Insbesondere der Umstand, dass die Bundesrepublik Deutschland während dieser Sitzung vom in diesem Beschluss festgelegten Standpunkt der Union abgewichen ist, birgt die Gefahr einer Schwächung der Verhandlungsposition der Union innerhalb der OTIF in Bezug auf die in dieser Sitzung behandelten und die damit zusammenhängenden Themen.

96      Dieses Ergebnis wird nicht durch das Vorbringen der Bundesrepublik Deutschland in Frage gestellt, wonach sie durch die Erklärung vom 17. September 2015 jeden Zweifel hinsichtlich ihres künftigen Verhaltens ausgeräumt habe, um das Risiko auszuschließen, dass sich das ihr vorgeworfene Verhalten wiederhole. Hierzu ist festzustellen, dass, wie die Kommission in ihrer Klageschrift ausgeführt hat, die Bundesrepublik Deutschland in ihrer Antwort auf die mit Gründen versehene Stellungnahme vom 1. Februar 2016 die Befürchtungen dieses Organs hinsichtlich der Wiederholungsgefahr nicht ausgeräumt, sondern vielmehr darauf bestanden hatte, dass das streitige Verhalten rechtmäßig war, da der Beschluss 2014/699 nach Ansicht dieses Mitgliedstaats rechtswidrig war und keine verbindliche Wirkung entfaltet hatte. Im Übrigen hat sich die Bundesrepublik Deutschland in diesem Zusammenhang nicht auf die Erklärung vom 17. September 2015, sondern auf eine frühere Erklärung beim Erlass des Beschlusses 2014/699 gestützt, aus der sich ergab, dass dieser Mitgliedstaat im OTIF‑Revisionsausschuss einen anderen Standpunkt einnehmen werde als den, der in diesem Beschluss enthalten war.

97      Im Übrigen hat die Bundesrepublik Deutschland vor dem Gerichtshof weder vorgetragen, dass sie die zuständigen Gremien der OTIF über den Inhalt der Erklärung vom 17. September 2015 informiert habe, noch, dass sie bei der OTIF ihr zukünftiges Verhalten innerhalb dieser Organisation klargestellt habe.

98      Daraus folgt, dass dieser Mitgliedstaat durch sein Verhalten die Wirksamkeit des völkerrechtlichen Handelns der Union sowie die Glaubwürdigkeit und Reputation der Union auf internationaler Ebene beeinträchtigt hat.

99      Die Bundesrepublik Deutschland kann ihr Verhalten weder durch eine etwaige Verletzung der Verpflichtung zu loyaler Zusammenarbeit durch die Unionsorgane (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 12. Februar 2009, Kommission/Griechenland, C‑45/07, EU:C:2009:81, Rn. 26) noch durch Schwierigkeiten im Zusammenhang mit dem Beitritt der Union zur OTIF rechtfertigen.

100    Nach alledem ist festzustellen, dass die Bundesrepublik Deutschland dadurch gegen ihre Verpflichtungen aus dem Beschluss 2014/699 und aus Art. 4 Abs. 3 EUV verstoßen hat, dass sie in der 25. Sitzung des OTIF‑Revisionsausschusses entgegen dem in diesem Beschluss festgelegten Standpunkt abgestimmt sowie öffentlich diesem Standpunkt und den darin vorgesehenen Regelungen für die Ausübung der Stimmrechte widersprochen hat.

 Kosten

101    Nach Art. 138 Abs. 1 der Verfahrensordnung ist die unterliegende Partei auf Antrag zur Tragung der Kosten zu verurteilen. Da die Bundesrepublik Deutschland mit ihrem Vorbringen unterlegen ist, sind ihr gemäß dem Antrag der Kommission die Kosten aufzuerlegen. Gemäß Art. 140 Abs. 1 der Verfahrensordnung, wonach die Organe, die dem Rechtsstreit als Streithelfer beigetreten sind, ihre eigenen Kosten tragen, ist zu entscheiden, dass der Rat seine eigenen Kosten trägt.

Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Vierte Kammer) für Recht erkannt und entschieden:

1.      Die Bundesrepublik Deutschland hat dadurch gegen ihre Verpflichtungen aus dem Beschluss 2014/699/EU des Rates vom 24. Juni 2014 zur Festlegung des im Namen der Europäischen Union anlässlich der 25. Sitzung des OTIFRevisionsausschusses zu bestimmten Änderungen des Übereinkommens über den internationalen Eisenbahnverkehr (COTIF) und seiner Anhänge zu vertretenden Standpunkts sowie aus Art. 4 Abs. 3 EUV verstoßen, dass sie in der 25. Sitzung des Revisionsausschusses der Zwischenstaatlichen Organisation für den internationalen Eisenbahnverkehr (OTIF) entgegen dem in diesem Beschluss festgelegten Standpunkt abgestimmt sowie öffentlich diesem Standpunkt und den darin vorgesehenen Regelungen für die Ausübung der Stimmrechte widersprochen hat.

2.      Die Bundesrepublik Deutschland trägt die Kosten.

3.      Der Rat der Europäischen Union trägt seine eigenen Kosten.

von Danwitz

Jürimäe

Lycourgos

Juhász

 

Vajda

Verkündet in öffentlicher Sitzung in Luxemburg am 27. März 2019.

Der Kanzler

 

Der Präsident

A. Calot Escobar

 

K. Lenaerts


*      Verfahrenssprache: Deutsch.