Language of document : ECLI:EU:C:2018:171

SCHLUSSANTRÄGE DES GENERALANWALTS

YVES BOT

vom 7. März 2018(1)

Rechtssache C246/17

Ibrahima Diallo

gegen

État belge

(Vorabentscheidungsersuchen des Conseil d’État [Staatsrat, Belgien])

„Vorlage zur Vorabentscheidung – Rechte der Unionsbürger, sich im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats frei zu bewegen und aufzuhalten – Antrag auf Ausstellung einer Aufenthaltskarte für Familienangehörige – Richtlinie 2004/38/EG – Art. 10 Abs. 1 – Sechsmonatsfrist – Erlass und Zustellung der Entscheidung – Folgen des Fristversäumnisses – Unterbrechung und Aussetzung der Frist“






1.        Das vorliegende Vorabentscheidungsersuchen eröffnet dem Gerichtshof die Gelegenheit, sich zur Tragweite von Art. 10 Abs. 1 der Richtlinie 2004/38/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 29. April 2004 über das Recht der Unionsbürger und ihrer Familienangehörigen, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten frei zu bewegen und aufzuhalten, zur Änderung der Verordnung (EWG) Nr. 1612/68 und zur Aufhebung der Richtlinien 64/221/EWG, 68/360/EWG, 72/194/EWG, 73/148/EWG, 75/34/EWG, 75/35/EWG, 90/364/EWG, 90/365/EWG und 93/96/EWG(2) zu äußern.

2.        Es ergeht in einem Rechtsstreit zwischen dem guineischen Staatsangehörigen Herrn Ibrahima Diallo, einem Verwandten in aufsteigender Linie eines in Belgien wohnhaften Kindes, das die niederländische Staatsangehörigkeit besitzt, und dem belgischen Staat wegen dessen Entscheidung, Herrn Diallo keine Aufenthaltskarte für Familienangehörige eines Bürgers der Europäischen Union auszustellen, einhergehend mit der Anweisung, das Hoheitsgebiet zu verlassen.

3.        Zum einen wird der Gerichtshof insbesondere um wichtige Klarstellungen zu der Frist, in der die Entscheidungen nach Art. 10 Abs. 1 der Richtlinie 2004/38 zu erlassen und zuzustellen sind, und den Folgen ersucht, die sich aus dem mangelnden Erlass oder der mangelnden Zustellung dieser Entscheidungen ergeben können. Zum anderen wird er mit der Frage befasst, ob nach gerichtlicher Nichtigerklärung einer gemäß dieser Vorschrift ergangenen Entscheidung die der zuständigen nationalen Behörde nach dieser Vorschrift eingeräumte Frist von sechs Monaten unterbrochen oder gehemmt wird.

4.        In den vorliegenden Schlussanträgen werde ich darlegen, aus welchen Gründen Art. 10 Abs. 1 dieser Richtlinie dahin auszulegen ist, dass die Ausstellung der Aufenthaltskarte für Familienangehörige eines Unionsbürgers innerhalb der in dieser Vorschrift vorgesehenen Frist von sechs Monaten zu erfolgen hat, dass die Entscheidungen nach dieser Vorschrift ebenfalls innerhalb dieser Frist zu ergehen haben, dass aber die Zustellung einer Entscheidung, die Aufenthaltskarte für Familienangehörige eines Unionsbürgers zu versagen, nach dieser Frist erfolgen kann. Ich werde auch angeben, aus welchen Gründen nach meinem Dafürhalten das Versäumnis, eine Entscheidung nach Art. 10 Abs. 1 der Richtlinie 2004/38 zu treffen oder zuzustellen, nicht automatisch zur Ausstellung der Aufenthaltskarte für Familienangehörige eines Unionsbürgers führen kann, und schließlich die gerichtliche Nichtigerklärung einer solchen Entscheidung eine Unterbrechung des der Verwaltung zur Verfügung stehenden Zeitraums von sechs Monaten zur Folge hat und daher die sechsmonatige Frist erneut in Lauf gesetzt wird.

I.      Rechtlicher Rahmen

A.      Unionsrecht

5.        Art. 2 der Richtlinie 2004/38 bestimmt:

„Im Sinne dieser Richtlinie bezeichnet der Ausdruck

1.      ‚Unionsbürger‘ jede Person, die die Staatsangehörigkeit eines Mitgliedstaats besitzt;

2.      ‚Familienangehöriger‘

d)      die Verwandten in gerader aufsteigender Linie des Unionsbürgers …, denen von [diesem] Unterhalt gewährt wird;

…“

6.        Art. 3 Abs. 1 dieser Richtlinie lautet:

„Diese Richtlinie gilt für jeden Unionsbürger, der sich in einen anderen als den Mitgliedstaat, dessen Staatsangehörigkeit er besitzt, begibt oder sich dort aufhält, sowie für seine Familienangehörigen im Sinne von Artikel 2 Nummer 2, die ihn begleiten oder ihm nachziehen.“

7.        Art. 10 Abs. 1 der Richtlinie sieht vor:

„Zum Nachweis des Aufenthaltsrechts der Familienangehörigen eines Unionsbürgers, die nicht die Staatsangehörigkeit eines Mitgliedstaats besitzen, wird spätestens sechs Monate nach Einreichung des betreffenden Antrags eine ‚Aufenthaltskarte für Familienangehörige eines Unionsbürgers‘ ausgestellt. Eine Bescheinigung über die Einreichung des Antrags auf Ausstellung einer Aufenthaltskarte wird unverzüglich ausgestellt.“

8.        Art. 15 („Verfahrensgarantien“) Abs. 1 der Richtlinie lautet:

„Die Verfahren der Artikel 30 und 31 finden sinngemäß auf jede Entscheidung Anwendung, die die Freizügigkeit von Unionsbürgern und ihren Familienangehörigen beschränkt und nicht aus Gründen der öffentlichen Ordnung, Sicherheit oder Gesundheit erlassen wird.“

9.        Art. 30 („Mitteilung der Entscheidungen“) der Richtlinie bestimmt:

„(1)      Entscheidungen nach Artikel 27 Absatz 1 müssen dem Betroffenen schriftlich in einer Weise mitgeteilt werden, dass er deren Inhalt und Wirkung nachvollziehen kann.

(3)      In der Mitteilung ist anzugeben, bei welchem Gericht oder bei welcher Verwaltungsbehörde der Betroffene einen Rechtsbehelf einlegen kann, innerhalb welcher Frist der Rechtsbehelf einzulegen ist und gegebenenfalls binnen welcher Frist er das Staatsgebiet des Mitgliedstaats zu verlassen hat. Außer in ordnungsgemäß begründeten dringenden Fällen muss die Frist zum Verlassen des Hoheitsgebiets mindestens einen Monat, gerechnet ab dem Zeitpunkt der Mitteilung, betragen.“

B.      Belgisches Recht

10.      Art. 42 § 1 der Loi sur l’accès au territoire, le séjour, l’établissement et l’éloignement des étrangers (Gesetz über die Einreise ins Staatsgebiet, den Aufenthalt, die Niederlassung und das Entfernen von Ausländern)(3) vom 15. Dezember 1980 sieht vor:

„Das Recht auf Aufenthalt im Königreich für einen Zeitraum von über drei Monaten wird Unionsbürgern und ihren Familienmitgliedern so schnell wie möglich und spätestens sechs Monate nach dem Datum des in § 4 Absatz 2 vorgesehenen Antrags unter den Bedingungen und für die Dauer zuerkannt, die der König gemäß den europäischen Verordnungen und Richtlinien festlegt. Für die Zuerkennung wird die gesamte Aktenlage berücksichtigt.“

11.      Art. 52 § 4 Abs. 2 des Königlichen Erlasses über die Einreise ins Staatsgebiet, den Aufenthalt, die Niederlassung und das Entfernen von Ausländern(4) vom 8. Oktober 1981 bestimmt:

„Erkennt der Minister oder sein Beauftragter das Aufenthaltsrecht zu oder wird binnen der in Artikel 42 des Gesetzes [vom 15. Dezember 1980] vorgesehenen Frist kein Beschluss gefasst, stellt der Bürgermeister oder sein Beauftragter dem Ausländer eine ‚Aufenthaltskarte für Familienangehörige eines Unionsbürgers‘ aus, die dem Muster in Anlage 9 entspricht.“

II.    Ausgangsverfahren und Vorlagefragen

12.      Herr Diallo ist guineischer Staatsangehöriger und Vater eines in Belgien wohnhaften Kindes, das die niederländische Staatsangehörigkeit besitzt.

13.      In dieser Eigenschaft stellte er am 25. November 2014 in diesem Mitgliedstaat einen Antrag auf Ausstellung einer Aufenthaltskarte für Familienangehörige eines Unionsbürgers.

14.      Die belgischen Behörden lehnten seinen Antrag am 22. Mai 2015 ab, einhergehend mit der Anweisung, das Staatsgebiet zu verlassen, und teilten ihm dies am 3. Juni 2015, d. h. sechs Monate und neun Tage nach Antragstellung, mit.

15.      Herr Diallo erhob gegen diese Entscheidung Nichtigkeitsklage beim Conseil du contentieux des étrangers (Rat für Ausländerstreitsachen, Belgien), der dieser mit Urteil vom 29. September 2015 wegen eines Begründungsmangels stattgab.

16.      Sodann erließen die belgischen Behörden am 9. November 2015 erneut eine Entscheidung, mit der das Aufenthaltsrecht versagt wurde, einhergehend mit der Anweisung, das Staatsgebiet zu verlassen. Diese Entscheidung wurde Herrn Diallo am 26. November 2015 zugestellt.

17.      Es heißt darin, Herr Diallo erfülle nicht die Voraussetzungen für ein Aufenthaltsrecht von mehr als drei Monaten als Familienmitglied eines Unionsbürgers, da er keine hinreichenden Mittel nachgewiesen und nicht dargetan habe, dass sein Kind, das die niederländische Staatsangehörigkeit besitze, unterhaltberechtigt sei und er das Sorgerecht tatsächlich ausübe.

18.      Am 11. Dezember 2015 erhob Herr Diallo gegen diese Entscheidung eine Nichtigkeitsklage beim Conseil du contentieux des étrangers (Rat für Ausländerstreitsachen), die mit Urteil vom 23. Februar 2016 abgewiesen wurde.

19.      Gegen dieses Urteil legte Herr Diallo am 25. März 2016 Kassationsbeschwerde beim vorlegenden Gericht, dem Conseil d’État (Staatsrat, Belgien), ein.

20.      Er stützt die Beschwerde im Wesentlichen darauf, dass nach Art. 10 Abs. 1 der Richtlinie 2004/38 der Antrag auf Ausstellung einer Aufenthaltskarte dem Antragsteller spätestens sechs Monate nach Antragseinreichung zuzustellen und das nationale Recht im Einklang mit dieser Anforderung auszulegen sei. Der zuständigen nationalen Behörde nach Nichtigerklärung einer ersten Entscheidung eine weitere Frist von sechs Monaten zu gewähren, nehme zudem Art. 10 Abs. 1 der Richtlinie 2004/38 seine praktische Wirksamkeit.

21.      Die belgischen Behörden vertreten ihrerseits die Auffassung, dass die zuständige Behörde mangels einer gesetzlich vorgesehenen Zustellungsfrist nur verpflichtet sei, binnen sechs Monaten über einen Antrag auf Ausstellung einer Aufenthaltskarte zu entscheiden. Die Frist, über die diese Behörde nach gerichtlicher Nichtigerklärung einer ersten Entscheidung verfüge, falle zudem in den Bereich des nationalen Rechts, und es sei nicht dargetan, dass die Eröffnung einer neuen sechsmonatigen Frist unvernünftig sei.

22.      Das vorlegende Gericht weist erstens darauf hin, dass die Auslegung von Art. 10 Abs. 1 der Richtlinie 2004/38 erforderlich sei, da sich aus dem nationalen Recht nicht klar ergebe, ob die Entscheidung über die Anerkennung des Aufenthaltsrechts binnen sechs Monaten zu erfolgen habe und zuzustellen sei.

23.      Zweitens hegt es Zweifel, über welche Frist die nationale Behörde verfügt, um nach Nichtigerklärung der Entscheidung, mit der die Ausstellung einer Aufenthaltskarte abgelehnt wird, eine neue Entscheidung zu treffen, und hält es im Einzelnen für erforderlich, festzustellen, ob der Effektivitätsgrundsatz dem entgegenstehe, dass diese Behörde erneut über die volle Sechsmonatsfrist nach Art. 10 Abs. 1 der Richtlinie 2004/38 verfüge.

24.      Drittens möchte das vorlegende Gericht wissen, welche Folgen mit der Überschreitung der in Art. 10 Abs. 1 der Richtlinie 2004/38 vorgesehenen Frist von sechs Monaten verbunden sind, um feststellen zu können, ob diese Vorschrift dem entgegensteht, dass bei einem Überschreiten der sechsmonatigen Frist eine Aufenthaltskarte automatisch auch dann ausgestellt wird, wenn der Antragsteller die erforderlichen Voraussetzungen nicht erfüllt.

25.      Unter diesen Umständen hat der Conseil d’État (Staatsrat) das Verfahren ausgesetzt und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorgelegt:

1.      Ist Art. 10 Abs. 1 der Richtlinie 2004/38 dahin auszulegen, dass die Entscheidung, mit der das Aufenthaltsrecht festgestellt wird, innerhalb der Sechsmonatsfrist getroffen und zugestellt werden muss, oder dahin, dass die Entscheidung zwar innerhalb dieser Frist zu treffen ist, aber zu einem späteren Zeitpunkt zugestellt werden kann? Falls die Entscheidung zu einem späteren Zeitpunkt zugestellt werden kann: Innerhalb welcher Frist hat dies zu geschehen?

2.      Ist Art. 10 Abs. 1 der Richtlinie 2004/38 in Verbindung mit Art. 5 Abs. 4 der Richtlinie 2003/86/EG vom 22. September 2003 betreffend das Recht auf Familienzusammenführung(5) und den Art. 7, 20, 21 und 41 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union dahin auszulegen und anzuwenden, dass die auf dieser Grundlage erlassene Entscheidung innerhalb der darin vorgeschriebenen Sechsmonatsfrist bloß erlassen werden muss, ohne dass ihre Zustellung an eine Frist gebunden ist und ohne dass sich eine Zustellung nach Ablauf dieser Frist in irgendeiner Weise auf das Aufenthaltsrecht auswirkt?

3.      Steht der Effektivitätsgrundsatz – um die Wirksamkeit des Aufenthaltsrechts eines Familienangehörigen eines Unionsbürgers zu gewährleisten – dem entgegen, dass die nationale Behörde nach der Nichtigerklärung einer Entscheidung über dieses Aufenthaltsrecht erneut über die volle Sechsmonatsfrist verfügt, die ihr nach Art. 10 Abs. 1 der Richtlinie 2004/38 zur Verfügung stand? Wenn ja, über welche Frist verfügt die nationale Behörde noch, nachdem ihre Entscheidung, mit der sie das Aufenthaltsrecht verwehrt hatte, für nichtig erklärt worden ist?

4.      Sind die Art. 5, 10 und 31 der Richtlinie 2004/38 in Verbindung mit den Art. 8 und 13 der Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten(6), den Art. 7, 24, 41 und 47 der Charta der Grundrechte und Art. 21 AEUV mit einer Rechtsprechung und nationalen Bestimmungen wie Art. 39/2 § 2 sowie den Art. 40, 40bis, 42 und 43 des Gesetzes vom 15. Dezember 1980 und Art. 52 § 4 des Königlichen Erlasses vom 8. Oktober 1981 vereinbar, die dazu führen, dass ein vom Conseil du contentieux des étrangers (Rat für Ausländerstreitsachen) erlassenes Urteil, durch das eine Entscheidung, mit der der Aufenthalt nach diesen Bestimmungen verwehrt worden ist, für nichtig erklärt wird, die zwingende Sechsmonatsfrist, die in Art. 10 der Richtlinie 2004/38/EG, in Art. 42 des Gesetzes vom 15. Dezember 1980 und in Art. 52 des Königlichen Erlasses vom 8. Oktober 1981 vorgeschrieben ist, unterbricht und nicht hemmt?

5.      Sind nach der Richtlinie 2004/38 an die Überschreitung der in ihrem Art. 10 Abs. 1 vorgesehenen Sechsmonatsfrist Folgen zu knüpfen und, wenn ja, welche? Ist es nach der Richtlinie 2004/38 erforderlich oder gestattet, dass die Folge der Überschreitung dieser Frist darin besteht, dass die beantragte Aufenthaltskarte automatisch ausgestellt wird, ohne dass festgestellt worden ist, dass der Antragsteller die Voraussetzungen für die Gewährung des von ihm beanspruchten Aufenthaltsrechts tatsächlich erfüllt?

III. Würdigung

A.      Zur Zuständigkeit des Gerichtshofs

26.      Die belgische Regierung trägt in erster Linie vor, der Gerichtshof sei für die Beantwortung der Vorlagefragen nicht zuständig, da das Unionsrecht auf den im Ausgangsverfahren fraglichen Sachverhalt nicht anwendbar sei. So falle Herr Diallo nicht in den Geltungsbereich der Richtlinie 2004/38, und die Vorschriften dieser Richtlinie könnten auf ihn keine Anwendung finden, da er kein „Familienangehöriger“ im Sinne von Art. 2 Nr. 2 dieser Richtlinie sei. Zudem unterfalle der Sachverhalt des Ausgangsverfahrens auch nicht der Richtlinie 2003/86, denn der Antrag von Herrn Diallo auf Ausstellung einer Aufenthaltskarte werde nur auf seine Eigenschaft als Verwandter in aufsteigender Linie eines Unionsbürgers gestützt. Die belgische Regierung macht schließlich geltend, dass Herrn Diallo kein Aufenthaltsrecht aus den Art. 20 und 21 AEUV zuerkannt werden könne.

27.      Meines Erachtens sind sämtliche Einwände abzuweisen.

28.      Wie sich nämlich aus dem Vorabentscheidungsersuchen ergibt, hat das vorlegende Gericht die Gründe angegeben, warum es die erbetene Auslegung für die Schlichtung des Rechtsstreits des Ausgangsverfahrens für erforderlich hält, und insbesondere im Einzelnen dargelegt, dass diese Auslegung des Unionsrechts einen unmittelbaren Einfluss auf die Beurteilung der Situation habe, in der sich Herr Diallo befinde.

29.      So hat das vorlegende Gericht zum einen ausgeführt, die beantragte Aufenthaltskarte müsse Herrn Diallo ausgestellt werden, wenn sich aus der Antwort des Gerichtshofs ergebe, dass die in Art. 10 Abs. 1 der Richtlinie 2004/38 enthaltene Sechsmonatsfrist die automatische Ausstellung der beantragten Aufenthaltskarte verlange oder nicht verbiete.

30.      Zum anderen möchte das vorlegende Gericht vom Gerichtshof wissen, ob das Unionsrecht einer nationalen Rechtsprechung entgegensteht, nach der die zuständige nationale Behörde nach gerichtlicher Nichtigerklärung einer Entscheidung, mit der die Ausstellung einer Aufenthaltskarte abgelehnt wird, erneut über die volle in Art. 10 Abs. 1 der Richtlinie 2004/38 vorgesehene Sechsmonatsfrist verfügt.

31.      Angesichts des Inhalts der belgischen Rechtsvorschriften und des Sachverhalts des Ausgangsrechtsstreits steht jedoch die Bedeutung der erbetenen Auslegung für die Situation, in der Herr Diallo sich befindet, außer Frage.

32.      Fest steht, dass Herr Diallo in seiner Eigenschaft als Verwandter in aufsteigender Linie eines in Belgien wohnhaften Kindes, das die niederländische Staatsangehörigkeit besitzt, eine Aufenthaltskarte für Familienangehörige eines Unionsbürgers beantragt hat, dass ihm die ablehnende Entscheidung mehr als sechs Monate nach Antragstellung zugestellt wurde und dass nach Nichtigerklärung dieser Entscheidung eine zweite Entscheidung ergangen ist und ihm zugestellt wurde.

33.      Fest steht auch, dass dem Antragsteller nach belgischem Recht eine Aufenthaltskarte von Amts wegen ausgestellt wird, wenn binnen sechs Monaten keine Entscheidung ergangen ist.

34.      Daher wird die vom Gerichtshof vorgenommene Auslegung es dem vorlegenden Gericht ermöglichen, zu bestimmen, ob im vorliegenden Fall die nationalen Behörden Herrn Diallo eine Aufenthaltskarte hätten ausstellen müssen, da ihm die erste Entscheidung nach Ablauf der Sechsmonatsfrist zugestellt worden ist und da, je nach der Frist, über die die zuständige nationale Behörde für eine zweite Entscheidung nach Nichtigerklärung der ersten verfügte, nicht ausgeschlossen ist, dass diese zweite Entscheidung nach Ablauf dieser Frist erlassen wurde.

35.      Somit kann sich die belgische Regierung nicht darauf berufen, dass die Situation, in der sich Herr Diallo befindet, nicht dem Anwendungsbereich der Richtlinie 2004/38 unterliegt.

36.      Nach alledem bin ich der Auffassung, dass die beantragte Auslegung in die Auslegungszuständigkeit des Gerichtshofs fällt.

B.      Zu den Vorlagefragen

1.      Zu der ersten, der zweiten und der fünften Vorlagefrage

37.      Mit der ersten, der zweiten und der fünften Vorlagefrage, die nach meiner Auffassung zusammen zu prüfen sind, möchte das vorlegende Gericht wissen, ob Art. 10 Abs. 1 der Richtlinie 2004/38 dahin auszulegen ist, dass die Entscheidung über den Antrag auf Ausstellung einer Aufenthaltskarte für Familienangehörige eines Unionsbürgers innerhalb der in dieser Vorschrift vorgesehenen Sechsmonatsfrist zu erlassen und zuzustellen ist.

38.      Sollte diese Entscheidung später zugestellt werden können, möchte das vorlegende Gericht wissen, innerhalb welcher Frist die Zustellung zu erfolgen hat.

39.      Das vorlegende Gericht möchte schließlich wissen, welche Folgen die Überschreitung der in Art. 10 Abs. 1 der Richtlinie 2004/38 vorgesehenen Frist insbesondere in Bezug auf die Ausstellung der Aufenthaltskarte hat.

40.      Mit diesen Fragen werden nach meiner Auffassung zwei unterschiedliche Problemkreise angesprochen, nämlich zum einen die Frist, in der die Entscheidung über einen Antrag auf Ausstellung einer Aufenthaltskarte für Familienangehörige eines Unionsbürgers zu erlassen und zuzustellen ist, und zum anderen mögliche Folgen, mit denen eine Überschreitung der in Art. 10 Abs. 1 der Richtlinie 2004/38 vorgesehenen Sechsmonatsfrist zu verknüpfen ist.

a)      Zu den Annahme- und Zustellungsfristen der Entscheidungen nach Art. 10 Abs. 1 der Richtlinie 2004/38

41.      Nach Darlegung des zwingenden Charakters der in Art. 10 Abs. 1 der Richtlinie 2004/38 enthaltenen Sechsmonatsfrist werde ich zeigen, welche Pflichten den zuständigen nationalen Behörden bei der Zustellung von Entscheidungen über die Ausstellung und die Versagung der Aufenthaltskarte obliegen.

42.      Erstens ist, was die Rechtsnatur der in Art. 10 Abs. 1 der Richtlinie 2004/38 vorgesehenen Frist betrifft, darauf hinzuweisen, dass nach dieser Vorschrift zum Nachweis des Aufenthaltsrechts von Familienangehörigen eines Unionsbürgers, die nicht die Staatsangehörigkeit eines Mitgliedstaats besitzen, spätestens sechs Monate nach Einreichung des betreffenden Antrags eine Aufenthaltskarte für Familienangehörige eines Unionsbürgers ausgestellt wird.

43.      Es ist daher festzustellen, dass zum einen diese Vorschrift nach ihrem Wortlaut ausdrücklich nur den Fall regelt, dass der Antrag auf Ausstellung einer Aufenthaltskarte als begründet anerkannt und damit das Bestehen des Aufenthaltsrechts festgestellt wurde, und zum anderen die Begriffe und die Zeitformen der verwendeten Verben dieser Vorschrift einen zweifelsfrei zwingenden Charakter verleihen.

44.      Nach meiner Auffassung sprechen daher sowohl die Verwendung des Indikativ Präsens als auch der Wendung „spätestens“, nach der es sich bei dieser Frist eindeutig um die maximal zulässige Dauer für die Prüfung des Antrags handelt(7), für diese Schlussfolgerung(8).

45.      Darüber hinaus hat der Gesetzgeber mit dem Begriff „Ausstellung“ eindeutig seine Absicht zum Ausdruck gebracht, den zuständigen nationalen Behörden eine zeitliche Grenze zu setzen. Wenn es in Art. 10 Abs. 1 der Richtlinie 2004/38 heißt, dass die Mitgliedstaaten dem Antragsteller die Aufenthaltskarte „spätestens sechs Monate nach Einreichung des betreffenden Antrags“ ausstellen müssen, verpflichtet die Vorschrift die zuständigen nationalen Behörden, binnen dieser sechsmonatigen Frist den Antrag zu prüfen, eine Entscheidung zu erlassen und, falls das Aufenthaltsrecht des Antragstellers festgestellt wird, eine Aufenthaltskarte auszustellen. In der Ausstellung dieses Dokuments kommt daher die positive Entscheidung zum Ausdruck, die die zuständigen nationalen Behörden nach Prüfung des Antrags zuvor getroffen haben.

46.      Wie die Europäische Kommission zutreffend ausgeführt hat, bedeutet die Verwendung des Begriffs „Ausstellung“ und der entsprechenden Begriffe in anderen Sprachfassungen der Richtlinie 2004/38(9) nicht nur, dass die Entscheidung binnen sechs Monaten ergeht, sondern auch, dass die Aufenthaltskarte dem Antragsteller innerhalb dieser Frist zur Verfügung gestellt wird.

47.      Zudem würde jede andere Auslegung von Art. 10 Abs. 1 der Richtlinie 2004/38 die Wirksamkeit des Aufenthaltsrechts und letztlich die praktische Wirksamkeit dieser Vorschrift in Frage stellen, da diese praktische Wirksamkeit nur vollständig zur Geltung kommen kann, wenn der Antragsteller im Besitz dieser Karte ist.

48.      Wie von der Kommission zutreffend ausgeführt, erleichtert nämlich der Besitz eines Dokuments dauerhafter Art statt einer Übergangsbescheinigung, die bei Antragstellung von den nationalen Behörden ausgestellt wird, zweifelsfrei die tagtägliche Ausübung des Aufenthaltsrechts, und aufgrund des vorläufigen Charakters der Bescheinigung kann Art. 5 Abs. 2 der Richtlinie 2004/38, der die Familienangehörigen von der Visumspflicht entbindet, nicht in Anspruch genommen werden.

49.      Bestätigt wird diese Auslegung schließlich durch die Rechtsprechung des Gerichtshofs, der – zwar nicht zur Rechtsnatur der Frist, sondern zu den Voraussetzungen für die Ausstellung der Aufenthaltskarte befragt – festgestellt hat, dass die Karte, mit der das Aufenthaltsrecht nachgewiesen wird, innerhalb von sechs Monaten nach Einreichung des Antrags „auszustellen“ ist(10).

50.      Daraus ergibt sich meines Erachtens, dass die Anerkennung der Begründetheit des Antrags und seine Konkretisierung durch einen Titel innerhalb dieser Frist zu erfolgen haben, da diese offizielle Anerkennung dem Begünstigten Anspruch auf bestimmte Vorteile gewährt.

51.      Da der Begriff „Ausstellung“ ausschließlich die Fälle betrifft, in denen die zuständigen nationalen Behörden feststellen, dass der Antragsteller die Voraussetzungen für das Aufenthaltsrecht erfüllt, stellt sich daher die Frage, ob angesichts des Schweigens der Richtlinie 2004/38 der Umstand, dass die Entscheidung negativ ausfällt und die Ausstellung der Aufenthaltskarte abgelehnt wird, mit einer Änderung der Dauer oder der Rechtsnatur der Frist einhergeht.

52.      Dies ist meines Erachtens nicht der Fall. Die Rechtsnatur einer Frist kann sich nicht ändern, und die Frist kann, wenn die nationalen Behörden, wie vorliegend bei Herrn Diallo, die Ausstellung der Aufenthaltskarte ablehnen, nicht mehr als eine Richtfrist sein.

53.      Der Geist der Richtlinie 2004/38 verlangt nämlich zweifellos, dass die Situation von Personen, die sich in der Lage von Herrn Diallo befinden, so schnell wie möglich geprüft wird.

54.      Wenn, wovon ich ausgehe, die Behörden die Aufenthaltskarte innerhalb von sechs Monaten auszustellen und eine entsprechende Entscheidung zu erlassen haben, muss die Prüfung des Antrags vor dieser Entscheidung zwangsläufig innerhalb dieser Frist erfolgen. Die Auffassung, dass die Sechsmonatsfrist auch in den Fällen, in denen die Ausstellung der Aufenthaltskarte abgelehnt werde, zwingend sei, belastet die zuständigen nationalen Behörden daher nicht zusätzlich dadurch, dass sie ein schnelles Handeln vorgäbe.

55.      Unter diesen Umständen sehe ich nicht, aus welchen Gründen eine Entscheidung, keine Aufenthaltskarte zu gewähren, nach der Sechsmonatsfrist oder gar unbegrenzt sollte ergehen können.

56.      Was zweitens die Fragen des vorlegenden Gerichts zur Zustellung der Entscheidung betrifft, muss meines Erachtens verfahrensrechtlich zwischen den Fällen, in denen die Aufenthaltskarte ausgestellt wird, und den Fällen, in denen sie, wie vorliegend, verweigert wird, unterschieden werden.

57.      Wird das Aufenthaltsrecht nachgewiesen, muss meines Erachtens aus den in den Nrn. 44 bis 50 der vorliegenden Schlussanträge angeführten Gründen innerhalb der Sechsmonatsfrist die Entscheidung getroffen und die Karte ausgestellt werden.

58.      Auch wenn es jedoch aufgrund des zwingenden Charakters der in dieser Vorschrift vorgesehenen Frist erforderlich ist, dass die Entscheidung, die Aufenthaltskarte zu versagen, innerhalb dieser Frist ergeht, kann nach meinem Dafürhalten die Zustellung einer solchen Entscheidung nach dieser Frist erfolgen.

59.      Nach den Vorschriften der Richtlinie 2004/38(11) und dem Recht auf einen wirksamen gerichtlichen Rechtsbehelf(12) ist die Zustellung einer Entscheidung, keine Aufenthaltskarte zu gewähren, zwingend vorgeschrieben(13).

60.      Gleichwohl teile ich die Auffassung der belgischen Regierung, dass sich die Zustellung grundlegend von der Prüfung der Voraussetzungen für das Aufenthaltsrecht unterscheidet, so dass die Sechsmonatsfrist nicht die Zustellung betrifft.

61.      Die Zustellung hat nämlich keine Bedeutung für das Aufenthaltsrecht, sondern ist Grundlage für die Kontrolle der Entscheidungen über die Feststellung des Bestehens oder Nichtbestehens dieses Rechts.

62.      Darüber hinaus bietet aufgrund des Schweigens des Gesetzgebers zur Zustellung einer Entscheidung, keine Aufenthaltskarte zu gewähren, und der unterschiedlichen Anwendungsbereiche der Richtlinien 2003/86 und 2004/38 Art. 5 Abs. 4 der Richtlinie 2003/86, nach dem die zuständigen nationalen Behörden dem Betroffenen die – zustimmende oder ablehnende – Entscheidung neun Monate nach Einreichung des Antrags auf Familienzusammenführung schriftlich zustellen müssen, keine Hilfestellung bei der Auslegung der Pflichten der nationalen Behörden nach der Richtlinie 2004/38.

63.      Jedoch hat nach meiner Auffassung, gerade um es dem Betroffenen zu ermöglichen, die Entscheidung anzufechten, die Zustellung so bald wie möglich nach Erlass der Entscheidung zu erfolgen.

64.      Auf diese Weise werden durch die von mir vorgeschlagene Auslegung die Rechte der Personen, die eine Aufenthaltskarte beantragen, nicht beeinträchtigt.

65.      So wird dem Antragsteller bei Einreichung des Antrags unverzüglich eine Bescheinigung ausgestellt, die bis zur Zustellung der Entscheidung, die Aufenthaltskarte zu versagen, gültig bleibt und ihm vorübergehend Schutz gewährt.

66.      Da die Klagefrist erst mit der Zustellung der Entscheidung(14), nicht aber mit Erlass dieser Entscheidung zu laufen beginnt, wird das Recht auf einen wirksamen gerichtlichen Rechtsbehelf durch die Zustellung der Entscheidung nach Ablauf der Sechsmonatsfrist nicht beeinträchtigt.

b)      Zu den Folgen der Überschreitung der in Art. 10 Abs. 1 der Richtlinie 2004/38 vorgesehenen Sechsmonatsfrist

67.      Das vorlegende Gericht möchte vom Gerichtshof Aufschluss darüber erlangen, welche Folgen eine Überschreitung der in Art. 10 Abs. 1 der Richtlinie 2004/38 vorgesehenen Sechsmonatsfrist hat. Insbesondere möchte es vom Gerichtshof wissen, ob aufgrund dieser Richtlinie die Fristüberschreitung zwingend oder fakultativ dazu führt, dass die Aufenthaltskarte automatisch ohne vorherige Feststellung gewährt wird, dass der Antragsteller die Voraussetzungen für deren Inanspruchnahme erfüllt.

68.      Da die Richtlinie 2004/38 in keiner Weise auf die Folgen der Überschreitung der sechsmonatigen Frist eingeht, unterliegt diese Frage insoweit vorbehaltlich der Wahrung des Effektivitäts- und Äquivalenzgrundsatzes grundsätzlich der Verfahrensautonomie der Mitgliedstaaten(15).

69.      Angesichts des Ziels der Richtlinie 2004/38 und der Auswirkungen einer automatischen Ausstellung der Aufenthaltskarte halte ich es jedoch für ausgeschlossen, dass Art. 10 Abs. 1 dieser Richtlinie es erlaubt, mit der Überschreitung der sechsmonatigen Frist eine solche Wirkung zu verbinden.

70.      Erstens ergeben sich aus den belgischen Rechtsvorschriften Situationen, die meines Erachtens dem Ziel der Richtlinie 2004/38 zuwiderlaufen.

71.      Sowohl der Wortlaut als auch der Geist der Richtlinie 2004/38 setzen nämlich voraus, dass der Bescheid über einen Antrag auf eine Aufenthaltskarte mit der Situation des Antragstellers in Einklang steht und auf einer eingehenden und persönlichen Prüfung der Situation des Antragstellers beruht(16).

72.      Im vorliegenden Fall veranschaulicht die Situation von Herrn Diallo jedoch genau, dass die belgischen Rechtsvorschriften zumindest unterschiedliche Folgen haben können.

73.      So hat die Zustellung einer positiven Entscheidung über das Aufenthaltsrecht nach Ablauf der sechsmonatigen Frist keine Folgen, während unter Umständen wie denen des Ausgangsverfahrens bei einer Ablehnung des Antrags auf Ausstellung einer Aufenthaltskarte die Nichteinhaltung der Sechsmonatsfrist zur automatischen Ausstellung eines unrechtmäßigen Aufenthaltstitels führt, der ein Recht begründet, das in Wirklichkeit der Entscheidung, die nicht rechtzeitig zugestellt wurde, zuwiderläuft.

74.      Zwar wurden die Überlegungen hier zum Zweck der Veranschaulichung auf die Spitze getrieben. Doch bestätigen nach meinem Dafürhalten die Folgen dieser Betrachtungsweise auf jeden Fall, dass die belgischen Rechtsvorschriften zu einem Ergebnis führen, das dem Ziel der Richtlinie 2004/38 – das offensichtlich darin besteht, das Bescheiden des Antrags auf Ausstellung einer Aufenthaltskarte mit der Situation, in der sich der Antragsteller befindet, in Einklang zu bringen – zuwiderläuft.

75.      Zweitens bin ich der Auffassung, dass die automatische Ausstellung von Aufenthaltskarten Rechtsunsicherheit schafft.

76.      Ich halte die Absicht der belgischen Regierung, Untätigkeit der Verwaltung zu vermeiden, für erfreulich und befürworte es, dass es die belgischen Rechtsvorschriften dem Antragsteller ermöglichen, seine Situation trotz Untätigkeit oder langsamem Arbeiten der zuständigen nationalen Behörden klären zu lassen.

77.      Da die von Amts wegen ausgestellten Aufenthaltskarten später wiedereingezogen werden können, haben sie jedoch in Wirklichkeit nur vorläufigen Charakter. Die belgischen Rechtsvorschriften schaffen daher für die Karteninhaber erhebliche Rechtsunsicherheit oder sogar höchst ungerechte Situationen, denn die belgischen Behörden können eine Aufenthaltskarte mehrere Jahre, nachdem sie ohne tatsächliche Prüfung der Situation des Antragstellers ausgestellt worden ist, aus dem Grund wiedereinziehen, dass der Inhaber – obwohl gutgläubig – die Voraussetzungen für die Ausstellung einer solchen Karte nie erfüllt hat.

78.      Anders als die dem Antragsteller bis zum Erlass einer Entscheidung ausgestellte vorläufige Bescheinigung, ist die Aufenthaltskarte für Familienangehörige eines Unionsbürgers jedoch nicht vorläufig.

79.      Zudem ist es in Anbetracht des Umstands, dass die Karte automatisch ausgestellt wird, widersprüchlich, dass die belgische Regierung sich auf das Recht, einen Fehler zu begehen, berufen möchte, um die Möglichkeit einer Wiedereinziehung der Karte zu begründen.

80.      Auch wenn der Verwaltung offensichtlich nicht abgesprochen werden kann, Fehler zu berichtigen, ist nämlich festzustellen, dass die automatische Ausstellung von Aufenthaltskarten sich weniger aus einem Fehler als aus Untätigkeit oder Langsamkeit der Verwaltung ergibt, die innerhalb der vorgeschriebenen Frist keine Entscheidung erlassen hat.

81.      Drittens ist es nicht als rechtsbegründende Handlung anzusehen, wenn einem Drittstaatsangehörigen ein Aufenthaltstitel ausgestellt wird, sondern als Handlung eines Mitgliedstaats, die dem Nachweis der individuellen Situation dieses Staatsangehörigen dient(17).

82.      Gemäß den belgischen Rechtsvorschriften, nach denen die beantragte Karte bei Langsamkeit oder Untätigkeit der Verwaltung automatisch auszustellen ist, begründet dieses Dokument dadurch, dass der Karte, die später wiedereingezogen werden kann, in Wirklichkeit eine vorläufige Natur verliehen wird, eine widerlegliche Vermutung für das Vorliegen eines Rechts und hat für dieses keinen deklaratorischen Charakter.

83.      Nach alledem bin ich überzeugt, dass die Überschreitung der in Art. 10 Abs. 1 der Richtlinie 2004/38 vorgesehenen Frist nicht zur automatischen Ausstellung der Aufenthaltskarte, d. h. zur automatischen und möglicherweise fehlerhaften Feststellung des Rechts des Antragstellers, führen kann.

84.      Auch wenn die Fristüberschreitung nämlich nicht folgenlos bleiben kann, ist der Umstand, dass der Antragsteller die Voraussetzungen für den Erhalt der Aufenthaltskarte erfüllt oder nicht erfüllt, unabhängig von einer Untätigkeit der Verwaltung, da diese in keiner Weise die objektive Situation des Antragstellers und die Feststellung, dass er die Voraussetzungen für die Gewährung einer Aufenthaltskarte erfüllt oder nicht erfüllt, ändert.

85.      Jedoch stellt die Klage auf außervertragliche Haftung des fraglichen Mitgliedstaats wegen Verstoßes gegen das Unionsrecht ein angemessenes Mittel dar, um die Folgen der Überschreitung der zwingenden Frist von sechs Monaten in jedem Einzelfall zu bestimmen(18).

86.      Wenn nämlich durch den Verzug des Mitgliedstaats an sich ein besonderer Schaden entstehen könnte, müsste die Schadensersatzklage, welcher Art sie auch sei, der Person, die eine Aufenthaltskarte beantragt, einen Schadensersatzanspruch eröffnen(19).

87.      Nach alledem bin ich zum einen der Auffassung, dass die Entscheidung, keine Aufenthaltskarte nach Art. 10 Abs. 1 der Richtlinie 2004/38 zu gewähren, innerhalb der Sechsmonatsfrist dieser Vorschrift zu ergehen hat, aber später zugestellt werden kann.

88.      Zum anderen steht diese Richtlinie meines Erachtens nationalen Rechtsvorschriften entgegen, nach denen in dem Fall, dass binnen sechs Monaten keine Entscheidung getroffen wird, die Aufenthaltskarte automatisch auch dann gewährt wird, wenn der Antragsteller nicht die erforderlichen Voraussetzungen erfüllt.

2.      Zu der dritten und der vierten Vorlagefrage

89.      Mit der dritten und der vierten Vorlagefrage – hinsichtlich deren ich dem Gerichtshof eine gemeinsame Prüfung vorschlage – möchte das vorlegende Gericht wissen, ob das Unionsrecht einer nationalen Rechtsprechung entgegensteht, nach der die zuständige nationale Behörde nach gerichtlicher Nichtigerklärung einer Entscheidung, mit der die Ausstellung einer Aufenthaltskarte für Familienangehörige eines Unionsbürgers abgelehnt wird, erneut über die volle Sechsmonatsfrist nach Art. 10 Abs. 1 der Richtlinie 2004/38 verfügt.

90.      Da die Richtlinie keine Regelung der Fristen enthält, über die die Verwaltung für den Erlass einer Entscheidung nach Nichtigerklärung einer ersten Entscheidung verfügt, fällt die Frage unter die Verfahrensautonomie der Mitgliedstaaten(20).

91.      Es ist daher Sache des vorlegenden Gerichts, zu prüfen, ob der Äquivalenzgrundsatz beachtet wurde. Insoweit ist die Regel, dass die zuständige nationale Behörde nach gerichtlicher Nichtigerklärung einer Entscheidung, mit der die Ausstellung einer Aufenthaltskarte für Familienangehörige eines Unionsbürgers abgelehnt wird, erneut über die volle Frist verfügt, wie vom vorlegenden Gericht klargestellt, eine von der Rechtsprechung entwickelte Regel und gilt daher für Verfahren, die gleichartige Sachverhalte des innerstaatlichen Rechts regeln.

92.      Die Wahrung des Effektivitätsgrundsatzes verlangt wiederum, zu prüfen, ob das nationale Verfahrensrecht die Ausübung der durch das Unionsrecht verliehenen Rechte nicht praktisch unmöglich macht oder sie übermäßig erschwert.

93.      Ich verstehe den Standpunkt von Herrn Diallo und die Tragweite seines Vorbringens sehr gut. In seinem persönlichen Fall läuft es, die Verwaltung zur Entscheidung zu verpflichten und die zweite Entscheidung innerhalb der wenigen vor Ablauf der Sechsmonatsfrist verbliebenen Tage zuzustellen, darauf hinaus, dass dieser eine fast unmögliche Aufgabe auferlegt wird, die aufgrund des Umstands, dass die Ausstellung der Aufenthaltskarte bei Fristüberschreitung automatisch erfolgt, für ihn damit verbunden ist, dass er mit Sicherheit in den Genuss eines Aufenthaltstitels kommt, auf den er vielleicht keinen Anspruch hat.

94.      Selbstverständlich verlangt der effektive gerichtliche Rechtsschutz, dass eine Person, deren Antrag auf Ausstellung einer Aufenthaltskarte durch eine zuvor für nichtig erklärte Entscheidung abgelehnt wurde, Anspruch auf Erlass einer neuen Entscheidung hat(21), die innerhalb eines Zeitraums ergeht, der die Frist, über die die Verwaltung für den Erlass der ersten Entscheidung verfügt, d. h. im vorliegenden Fall die Frist von sechs Monaten, nicht überschreitet(22).

95.      Aufgrund des rückwirkenden Charakters der Nichtigerklärung muss die für nichtig erklärte Entscheidung als von Anfang an nicht existent gelten, muss sich die Verwaltung in der gleichen Lage wie zuvor befinden und muss sie daher über eine Sechsmonatsfrist verfügen. Wie die belgische Regierung zutreffend ausgeführt hat, führt die Nichtigerklärung dazu, dass das Verfahren – da es als niemals existierend betrachtet wird – von Anfang an wiederaufzunehmen ist.

96.      Diese Auffassung ist weit davon entfernt, dadurch in Frage gestellt zu werden, dass die Rechte derjenigen, die eine Aufenthaltskarte beantragen, zu schützen sind.

97.      Es ist nämlich offensichtlich, dass man die Verwaltung nicht an so kurze Fristen binden kann, dass praktisch jede ernsthafte, kontradiktorische und sorgfältige Prüfung der ihr vorgelegten Anträge unmöglich ist, obwohl sich eine solche Prüfung, da die erste Entscheidung für nichtig erklärt worden ist, als erforderlich erweist.

98.      Zudem erscheint, wie die Kommission im Gesetzgebungsverfahren ausgeführt hat, „[d]ie Frist von sechs Monaten … realistischer, damit die Mitgliedstaaten die erforderlichen Überprüfungen vornehmen und die Aufenthaltskarte ausstellen können“(23), so dass diese Frist erst recht erforderlich ist, wenn die erste Entscheidung für nichtig erklärt worden ist.

99.      Mit dem Kläger des Ausgangsverfahrens anzunehmen, dass die nationalen Behörden für den Erlass einer zweiten Entscheidung nur über den verbliebenen Teil der Sechsmonatsfrist verfügen, widerspricht meines Erachtens daher dem Anspruch der Personen, die eine Aufenthaltskarte beantragen, auf eine ernsthafte und sorgfältige Prüfung ihres Antrags.

100. Ferner ist die von der Kommission vorgeschlagene Auslegung, dass die neue Frist im jeweiligen Einzelfall zu bestimmen sei, nach meinem Dafürhalten aus zweierlei Gründen fraglich.

101. Da zum einen diese Herangehensweise von dem Sorgfaltsmaß der fraglichen Behörde sowie dem Nichtigkeitsgrund abhängt, lässt sich die der zuständigen nationalen Behörde eingeräumte neue Frist keineswegs leicht festsetzen. Auch besteht die Gefahr, dass es zu neuen Rechtsstreitigkeiten und einer Verlängerung der Entscheidungs- und Verfahrensfristen kommt, so dass die Kommission vorschlägt, dass die nationale Behörde die ihr zur Verfügung stehende Frist begründen müsse.

102. Zum anderen ist diese Auffassung bei Massenverfahren nicht realistisch und führte zudem zu einer Verlängerung der Entscheidungsfristen.

103. Auch wenn der Umstand, dass die zuständige nationale Behörde nach gerichtlicher Nichtigerklärung einer Entscheidung, mit der die Ausstellung einer Aufenthaltskarte abgelehnt wird, über die volle Sechsmonatsfrist nach Art. 10 Abs. 1 der Richtlinie 2004/38 verfügt, zu einer Verfahrensverlängerung führen kann, ist der Antragsteller durch die ihm bei Einreichen seines Antrags ausgestellte Bescheinigung vorübergehend geschützt.

104. Nach alledem bin ich der Auffassung, dass die zuständige nationale Behörde nach gerichtlicher Nichtigerklärung einer Entscheidung, mit der die Ausstellung einer Aufenthaltskarte für Familienangehörige eines Unionsbürgers abgelehnt wird, über die volle in Art. 10 Abs. 1 der Richtlinie 2004/38 vorgesehene Sechsmonatsfrist verfügt.

IV.    Ergebnis

105. Nach alledem schlage ich dem Gerichtshof vor, auf die Vorabentscheidungsfragen des Conseil d’État (Staatsrat, Belgien) zu antworten:

1.      Die Entscheidung, die Ausstellung einer Aufenthaltskarte nach Art. 10 Abs. 1 der Richtlinie 2004/38/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 29. April 2004 über das Recht der Unionsbürger und ihrer Familienangehörigen, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten frei zu bewegen und aufzuhalten, zur Änderung der Verordnung (EWG) Nr. 1612/68 und zur Aufhebung der Richtlinien 64/221/EWG, 68/360/EWG, 72/194/EWG, 73/148/EWG, 75/34/EWG, 75/35/EWG, 90/364/EWG, 90/365/EWG und 93/96/EWG abzulehnen, hat innerhalb der Sechsmonatsfrist dieser Vorschrift zu ergehen, kann aber später zugestellt werden.

2.      Nach Art. 10 Abs. 1 der Richtlinie 2004/38 kann die Folge der Überschreitung der Sechsmonatsfrist nicht darin bestehen, dass die Aufenthaltskarte automatisch ohne vorherige Feststellung gewährt wird, dass der Antragsteller die Voraussetzungen für die Inanspruchnahme des Aufenthaltsrechts tatsächlich erfüllt.

3.      Nach gerichtlicher Nichtigerklärung einer Entscheidung, mit der die Ausstellung einer Aufenthaltskarte für Familienangehörige eines Unionsbürgers nach Art. 10 Abs. 1 der Richtlinie 2004/38 abgelehnt wird, verfügt die zuständige nationale Behörde für den Erlass einer neuen Entscheidung über die volle in dieser Vorschrift vorgesehene Sechsmonatsfrist.


1      Originalsprache: Französisch.


2      ABl. 2004, L 158, S. 77, sowie Berichtigungen ABl. 2004, L 229, S. 35, und ABl. 2005, L 197, S. 34.


3      Moniteur belge vom 31. Dezember 1980, S. 14584, im Folgenden: Gesetz vom 15. Dezember 1980.


4      Moniteur belge vom 27. Oktober 1981, S. 13740, im Folgenden: Königlicher Erlass vom 8. Oktober 1981.


5      ABl. 2003, L 251, S. 12.


6      Unterzeichnet in Rom am 4. November 1950.


7      Vgl. entsprechend Schlussanträge der Generalanwältin Kokott in der Rechtssache Housieaux (C‑186/04, EU:C:2005:70, Nr. 23).


8      Eine Parallele lässt sich zu Art. 5 Abs. 1 der Richtlinie 64/221/EWG des Rates vom 25. Februar 1964 zur Koordinierung der Sondervorschriften für die Einreise und den Aufenthalt von Ausländern, soweit sie aus Gründen der öffentlichen Ordnung, Sicherheit oder Gesundheit gerechtfertigt sind (ABl. 1964, 56, S. 850), ziehen, zu dem der Rechtsprechung, insbesondere dem Urteil vom 14. April 2005, Kommission/Spanien (C‑157/03, EU:C:2005:225, Rn. 45 und 46), zu entnehmen ist, dass diese Frist zwingend ist. Darüber hinaus stellt Ziff. 2.2.2 der Mitteilung der Kommission an das Europäische Parlament und den Rat Hilfestellung bei der Umsetzung und Anwendung der Richtlinie 2004/38/EG über das Recht der Unionsbürger und ihrer Familienangehörigen, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten frei zu bewegen und aufzuhalten (KOM[2009] 313 endg.), unmissverständlich klar, dass „[d]ie Aufenthaltskarte … innerhalb von sechs Monaten nach Antragstellung ausgestellt werden [muss]. Die Frist muss mit Blick auf Artikel 10 EG-Vertrag ausgelegt werden. Die Frist von sechs Monaten darf nur in Fällen ausgeschöpft werden, in denen bei der Prüfung des Antrags Aspekte der öffentlichen Sicherheit und Ordnung zu berücksichtigen sind“.


9      Zum Beispiel heißt es in der spanischen, der englischen und der italienischen Fassung dieser Richtlinie „expedición de un documento“, „issuing of a document“ und „rilascio di un documento“.


10      Vgl. Urteil vom 5. September 2012, Rahman u. a. (C‑83/11, EU:C:2012:519, Rn. 42).


11      Vgl. Art. 15 und 30 dieser Richtlinie


12      In dem Sinne, dass der wirksame gerichtliche Rechtsbehelf voraussetzt, dass der Betroffene Kenntnis von der Begründung der ihm gegenüber ergangenen Entscheidung erlangen kann, um seine Rechte geltend zu machen und zu verteidigen, vgl. Urteile vom 17. November 2011, Gaydarov (C‑430/10, EU:C:2011:749, Rn. 41 und die dort angeführte Rechtsprechung), und vom 4. Juni 2013, ZZ (C‑300/11, EU:C:2013:363, Rn. 53). Zu der Bedeutung und dem Umfang der den nationalen Behörden obliegenden Begründungspflicht vgl. Schlussanträge des Generalanwalts Mengozzi in der Rechtssache CO Sociedad de Gestión y Participación u. a. (C‑18/14, EU:C:2015:95, Fn. 40).


13      Vorsorglich weise ich darauf hin, dass die Zustellung nicht von einem Antrag des Betroffenen abhängen kann, da zum einen eine solche Auslegung gegen Art. 30 Abs. 1 der Richtlinie 2004/38 verstößt, nach dem „Entscheidungen … mitgeteilt werden [müssen]“, und es zum anderen unlogisch wäre, von einer Person zu verlangen, dass sie die Zustellung einer Entscheidung beantragt, deren Existenz sie leugnet. Insoweit ist zwischen Anträgen auf Zustellung einer Entscheidung und solchen auf Zustellung der Begründung einer Entscheidung zu unterscheiden. Was diesen zweiten Fall betrifft, ist es nach der Rechtsprechung zulässig, dass die Begründung erst nach einem entsprechenden Antrag mitgeteilt wird, vgl. Urteil vom 17. November 2011, Gaydarov (C‑430/10, EU:C:2011:749, Rn. 41).


14      Vgl. Art. 30 Abs. 3 in fine der Richtlinie 2004/38.


15      In einem vergleichsweise ähnlichen Fall, in dem eine Richtlinie nicht die Folgen der Überschreitung der den nationalen Behörden auferlegten Antwortfrist angibt, hat der Gerichtshof bereits entschieden, dass es vorbehaltlich des Äquivalenz- und des Effektivitätsgrundsatzes Sache der Mitgliedstaaten ist, die Folgen einer solchen Fristüberschreitung festzulegen, und dass die Richtlinie daher keine stillschweigende zustimmende Entscheidung vorschreibt, vgl. Urteil vom 20. Januar 2005, Merck, Sharp & Dohme (C‑245/03, EU:C:2005:41, Rn. 25 bis 34). Vgl. allgemeiner zur Frage des Schweigens der Verwaltung im Unionsrecht Bonichot, J.‑C., „Le silence de l’administration communautaire: le silence est-il d’or en droit de l’Union?“, Der Gerichtshof der Europäischen Union unter der Präsidentschaft von Vassilios Skouris (2003-2015), liber amicorum Vassilios Skouris, Bruylant, Brüssel, 2015, S. 117-129.


16      Vgl. Urteil vom 5. September 2012, Rahman u. a. (C‑83/11, EU:C:2012:519, Rn. 22 und 26). Insoweit ist zum einen darauf hinzuweisen, dass der Antragsteller nach Art. 10 Abs. 2 der Richtlinie 2004/38 und Art. 52 Abs. 2 des Königlichen Erlasses vom 8. Oktober 1981 der Verwaltung außer dem Identitätsnachweis Unterlagen vorlegen muss, die den Schluss zulassen, dass er die erforderlichen Voraussetzungen erfüllt, um für die Ausstellung dieser Karte in Betracht zu kommen. Zum anderen ist nach meiner Sicht nicht die mögliche Fiktion der Entscheidung problematisch, sondern der Umstand, dass gemäß dem Wortlaut der belgischen Rechtsvorschriften die Aufenthaltskarte ausgestellt wird, wenn keine Entscheidung ergangen ist und ohne dass festgestellt wurde, dass der Antragsteller die Voraussetzungen für die Gewährung des Aufenthaltsrechts tatsächlich erfüllt.


17      Vgl. die sich aus den Urteilen vom 21. Juli 2011, Dias (C‑325/09, EU:C:2011:498, Rn. 48 und die dort angeführte Rechtsprechung), sowie vom 14. September 2017, Petrea (C‑184/16, EU:C:2017:684, Rn. 32), ergebende Lösung, die durch das Urteil vom 12. März 2014, O. und B. (C‑456/12, EU:C:2014:135, Rn. 60), auf Art. 10 der Richtlinie 2004/38 erstreckt worden ist.


18      Insoweit hat Generalanwältin Kokott in Nr. 78 ihrer Schlussanträge in der Rechtssache Kommission/Moravia Gas Storage (C‑596/13 P, EU:C:2014:2438) die Auffassung vertreten, dass die Überschreitung einer bestimmten Frist durch die Kommission, sollte für sie kein triftiger Grund bestehen, die außervertragliche Haftung der Union auslösen könnte.


19      Aufgrund des Wortlauts der Vorlagefrage werden hier nur die Folgen der Überschreitung der Sechsmonatsfrist für den Antragsteller behandelt. Wenn die Folgen der Überschreitung der sechsmonatigen Frist unter dem Gesichtspunkt der Sanktion des Mitgliedstaats gewürdigt werden sollten, könnte ein solcher Verzug dann für eine Vertragsverletzung bei der Umsetzung der Richtlinie rechtsbegründend sein, vgl. entsprechend Urteil vom 14. April 2005, Kommission/Spanien (C‑157/03, EU:C:2005:225).


20      In einem anderen Zusammenhang hat der Gerichtshof bereits entschieden, dass es zum einen Sache der Mitgliedstaaten ist, festzustellen, ob die Überschreitung einer in einer Richtlinie festgesetzten Frist es den zuständigen Behörden verwehrt, eine neue Entscheidung zu erlassen, wenn die vorangehende Entscheidung gerichtlich für nichtig erklärt worden ist, und dass zum anderen von dieser Möglichkeit nur innerhalb eines angemessenen Zeitraums Gebrauch gemacht werden kann, der die in diesem Artikel vorgesehene Frist nicht überschreiten darf, vgl. Urteil vom 20. Januar 2005, Glaxosmithkline (C‑296/03, EU:C:2005:42, Rn. 39).


21      Vgl. Urteil vom 20. Januar 2005, Glaxosmithkline (C‑296/03, EU:C:2005:42 Rn. 35).


22      Vgl. Urteil vom 20. Januar 2005, Glaxosmithkline (C‑296/03, EU:C:2005:42 Rn. 37).


23      Geänderter Vorschlag für eine Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates über das Recht der Unionsbürger und ihrer Familienangehörigen, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten frei zu bewegen und aufzuhalten (gemäß Artikel 250, Absatz 2 des EG-Vertrages von der Kommission vorgelegt) (COM[2003] 199 endg.)