Language of document : ECLI:EU:C:2012:824

URTEIL DES GERICHTSHOFS (Erste Kammer)

19. Dezember 2012(*)

„Verordnung (EG) Nr. 1393/2007 – Zustellung von Schriftstücken – Im Hoheitsgebiet eines anderen Mitgliedstaats ansässige Partei – Kein im Inland ansässiger Bevollmächtigter – Zu den Akten genommene Verfahrensschriftstücke – Vermutung der Kenntnis“

In der Rechtssache C‑325/11

betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Sąd Rejonowy w Koszalinie (Polen) mit Entscheidung vom 15. Juni 2011, beim Gerichtshof eingegangen am 28. Juni 2011, in dem Verfahren

Krystyna Alder,

Ewald Alder

gegen

Sabina Orłowska,

Czesław Orłowski

erlässt

DER GERICHTSHOF (Erste Kammer)

unter Mitwirkung des Kammerpräsidenten A. Tizzano (Berichterstatter), der Richter A. Borg Barthet, E. Levits und J.‑J. Kasel sowie der Richterin M. Berger,

Generalanwalt: Y. Bot,

Kanzler: K. Malacek, Verwaltungsrat,

aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 6. September 2012,

unter Berücksichtigung der Erklärungen

–        von Frau und Herrn Alder, vertreten durch K. Góralska, adwokat,

–        von Frau Orłowska und Herrn Orłowski, vertreten durch F. Pniewska, Rechtsberaterin,

–        der polnischen Regierung, vertreten durch B. Czech, M. Arciszewski und M. Szpunar als Bevollmächtigte,

–        der italienischen Regierung, vertreten durch G. Palmieri als Bevollmächtigte im Beistand von S. Varone, avvocato dello Stato,

–        der portugiesischen Regierung, vertreten durch R. Chambel Margarido und L. Inez Fernandes als Bevollmächtigte,

–        der Europäischen Kommission, vertreten durch A.‑M. Rouchaud-Joët und A. Stobiecka-Kuik als Bevollmächtigte,

nach Anhörung der Schlussanträge des Generalanwalts in der Sitzung vom 20. September 2012

folgendes

Urteil

1        Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 1 Abs. 1 der Verordnung (EG) Nr. 1393/2007 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 13. November 2007 über die Zustellung gerichtlicher und außergerichtlicher Schriftstücke in Zivil- oder Handelssachen in den Mitgliedstaaten („Zustellung von Schriftstücken“) und zur Aufhebung der Verordnung (EG) Nr. 1348/2000 des Rates (ABl. L 324, S. 79) sowie von Art. 18 AEUV.

2        Es ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen Frau und Herrn Alder (im Folgenden: Eheleute Alder) einerseits sowie Frau Orłowska und Herrn Orłowski (im Folgenden: Eheleute Orłowski) andererseits über einen Antrag Ersterer auf Wiederaufnahme des Verfahrens wegen Zahlung einer Forderung, das sie gegen Letztere eingeleitet hatten.

 Rechtlicher Rahmen

 Unionsrecht

3        Die Erwägungsgründe 6 bis 8 und 12 der Verordnung Nr. 1393/2007 lauten:

„(6)      Die Wirksamkeit und Schnelligkeit der gerichtlichen Verfahren in Zivilsachen setzt voraus, dass die Übermittlung gerichtlicher und außergerichtlicher Schriftstücke unmittelbar und auf schnellstmöglichem Wege zwischen den von den Mitgliedstaaten benannten örtlichen Stellen erfolgt. Die Mitgliedstaaten dürfen erklären, dass sie nur eine Übermittlungs- oder Empfangsstelle oder eine Stelle, die beide Funktionen zugleich wahrnimmt, für einen Zeitraum von fünf Jahren benennen wollen. Diese Benennung kann jedoch alle fünf Jahre erneuert werden.

(7)      Eine schnelle Übermittlung erfordert den Einsatz aller geeigneten Mittel, wobei bestimmte Anforderungen an die Lesbarkeit und die Originaltreue des empfangenen Schriftstücks zu beachten sind. Zur Sicherstellung der Übermittlung muss das zu übermittelnde Schriftstück mit einem Formblatt versehen sein, das in der Amtssprache oder einer der Amtssprachen des Ortes auszufüllen ist, an dem die Zustellung erfolgen soll, oder in einer anderen vom Empfängerstaat anerkannten Sprache.

(8)      Diese Verordnung sollte nicht für die Zustellung eines Schriftstücks an den Bevollmächtigten einer Partei in dem Mitgliedstaat gelten, in dem das Verfahren anhängig ist, unabhängig davon, wo die Partei ihren Wohnsitz hat.

(12)      Die Empfangsstelle sollte den Zustellungsempfänger schriftlich unter Verwendung des Formblatts darüber belehren, dass er die Annahme des Schriftstücks bei der Zustellung oder dadurch verweigern darf, dass er das Schriftstück binnen einer Woche an die Empfangsstelle zurücksendet, wenn es nicht in einer Sprache, die er versteht, oder in der Amtssprache oder einer der Amtssprachen des Zustellungsortes abgefasst ist. Diese Regel sollte auch für später erfolgende Zustellungen gelten, wenn der Empfänger sein Verweigerungsrecht ausgeübt hat. Diese Verweigerungsregeln sollten auch für die Zustellung durch die diplomatischen oder konsularischen Vertretungen, die Zustellung durch Postdienste oder die unmittelbare Zustellung gelten. Die Zustellung eines Schriftstücks, dessen Annahme verweigert wurde, an den Zustellungsempfänger sollte durch die Zustellung einer Übersetzung des zuzustellenden Schriftstücks an den Zustellungsempfänger bewirkt werden können.“

4        Art. 1 dieser Verordnung sieht vor:

„(1)      Diese Verordnung ist in Zivil- oder Handelssachen anzuwenden, in denen ein gerichtliches oder außergerichtliches Schriftstück von einem in einen anderen Mitgliedstaat zum Zwecke der Zustellung zu übermitteln ist. Sie erfasst insbesondere nicht Steuer- und Zollsachen, verwaltungsrechtliche Angelegenheiten sowie die Haftung des Staates für Handlungen oder Unterlassungen im Rahmen der Ausübung hoheitlicher Rechte (‚acta iure imperii‘).

(2)      Diese Verordnung findet keine Anwendung, wenn die Anschrift des Empfängers des Schriftstücks unbekannt ist.

…“

5        Art. 4 Abs. 3 der Verordnung Nr. 1393/2007 bestimmt:

„Dem zu übermittelnden Schriftstück ist ein Antrag beizufügen, der nach dem Formblatt in Anhang I erstellt wird. Das Formblatt ist in der Amtssprache des Empfangsmitgliedstaats oder, wenn es in diesem Mitgliedstaat mehrere Amtssprachen gibt, der Amtssprache oder einer der Amtssprachen des Ortes, an dem die Zustellung erfolgen soll, oder in einer sonstigen Sprache, die der Empfangsmitgliedstaat zugelassen hat, auszufüllen. Jeder Mitgliedstaat gibt die Amtssprache oder die Amtssprachen der Organe der Europäischen Union an, die er außer seiner oder seinen eigenen Amtssprache(n) für die Ausfüllung des Formblatts zulässt.“

6        Art. 5 Abs. 1 dieser Verordnung lautet:

„Der Antragsteller wird von der Übermittlungsstelle, der er das Schriftstück zum Zweck der Übermittlung übergibt, davon in Kenntnis gesetzt, dass der Empfänger die Annahme des Schriftstücks verweigern darf, wenn es nicht in einer der in Artikel 8 genannten Sprachen abgefasst ist.“

7        Art. 14 der Verordnung sieht vor:

„Jedem Mitgliedstaat steht es frei, Personen, die ihren Wohnsitz in einem anderen Mitgliedstaat haben, gerichtliche Schriftstücke unmittelbar durch Postdienste per Einschreiben mit Rückschein oder gleichwertigem Beleg zustellen zu lassen.“

8        Art. 19 Abs. 1 dieser Verordnung bestimmt:

„War ein verfahrenseinleitendes Schriftstück oder ein gleichwertiges Schriftstück nach dieser Verordnung zum Zweck der Zustellung in einen anderen Mitgliedstaat zu übermitteln und hat sich der Beklagte nicht auf das Verfahren eingelassen, so hat das Gericht das Verfahren auszusetzen, bis festgestellt ist,

a)      dass das Schriftstück in einem Verfahren zugestellt worden ist, das das Recht des Empfangsmitgliedstaats für die Zustellung der in seinem Hoheitsgebiet ausgestellten Schriftstücke an dort befindliche Personen vorschreibt, oder

b)      dass das Schriftstück tatsächlich entweder dem Beklagten persönlich ausgehändigt oder nach einem anderen in dieser Verordnung vorgesehenen Verfahren in seiner Wohnung abgegeben worden ist,

und dass in jedem dieser Fälle das Schriftstück so rechtzeitig zugestellt oder ausgehändigt bzw. abgegeben worden ist, dass der Beklagte sich hätte verteidigen können.“

 Polnisches Recht

9        Art. 11355 des Zivilverfahrensgesetzbuchs sieht vor:

„§ 1.      Die Partei, die ihren Wohnsitz, gewöhnlichen Aufenthalt oder Sitz im Ausland hat, ist, wenn sie keinen in der Republik Polen ansässigen Prozessbevollmächtigten bestellt hat, verpflichtet, einen Zustellungsbevollmächtigten in der Republik Polen zu benennen.

§ 2.      Wird kein Zustellungsbevollmächtigter benannt, sind die für diese Partei bestimmten gerichtlichen Schriftstücke in der Gerichtsakte zu belassen und gelten als zugestellt. Die Partei ist hierüber bei der ersten Zustellung zu belehren. Darüber hinaus muss die Partei über die Möglichkeit belehrt werden, auf den das Verfahren einleitenden Schriftsatz zu erwidern und schriftliche Stellungnahmen abzugeben, sowie darüber, wer zum Bevollmächtigten bestellt werden kann.“

10      Art. 401 des Zivilverfahrensgesetzbuchs bestimmt:

„Die Wiederaufnahme eines Verfahrens wegen Nichtigkeit kann beantragt werden,

1.      wenn eine Person, die dazu nicht berechtigt war, zur Besetzung des Gerichts gehört hat oder wenn ein erkennender Richter kraft Gesetzes nicht hätte urteilen dürfen und die Partei keine Gelegenheit hatte, ihn abzulehnen, bevor das Urteil rechtskräftig geworden ist;

2.      wenn eine Partei nicht prozess- oder parteifähig war oder wenn sie nicht ordnungsgemäß vertreten war oder aufgrund einer Rechtsverletzung ihrer Handlungsmöglichkeiten beraubt wurde; eine Wiederaufnahme des Verfahrens kann jedoch nicht verlangt werden, wenn die Unmöglichkeit, zu handeln, entfallen ist, bevor das Urteil rechtskräftig geworden ist, oder wenn der Vertretungsmangel gerügt worden ist oder wenn die Partei die vorgenommenen Verfahrenshandlungen bestätigt hat.“

 Ausgangsrechtsstreit und Vorlagefrage

11      Am 20. November 2008 erhoben die Eheleute Alder, die ihren Wohnsitz in Deutschland haben, beim Sąd Rejonowy w Koszalinie (Polen) eine Klage auf Zahlung einer Forderung gegen die Eheleute Orłowski, die ihren Wohnsitz in Polen haben.

12      Der Sąd Rejonowy w Koszalinie belehrte die Kläger über ihre Obliegenheit, innerhalb eines Monats einen Bevollmächtigten in Polen für die Zwecke der Zustellung gerichtlicher Schriftstücke zu benennen, und wies sie darauf hin, dass in Ermangelung einer fristgemäßen Bestellung eines Bevollmächtigten die an sie gerichteten Schriftstücke zu den Akten genommen würden und als ihnen zugestellt gälten.

13      Da die Eheleute Alder keinen Zustellungsbevollmächtigten in Polen angaben, wurden ihre Ladung zu der für den 5. Juni 2009 anberaumten mündlichen Verhandlung und die von den Eheleuten Orłowski eingereichte Klagebeantwortung nach der Regel, nach der diese Schriftstücke gemäß Art. 11355 des polnischen Zivilverfahrensgesetzbuchs als den Klägern zugestellt gelten, zu den Akten genommen. Die Kläger erschienen nicht zu dem genannten Termin, in dem der Sąd Rejonowy w Koszalinie die angebotenen Beweise erhob und die mündliche Verhandlung schloss. Am selben Tag erging ein klageabweisendes Urteil, das nicht angefochten und daraufhin rechtskräftig wurde.

14      Am 29. Oktober 2009 reichten die Kläger beim Sąd Rejonowy w Koszalinie einen Antrag auf Wiederaufnahme des Verfahrens wegen Zahlung ein und beantragten die Aufhebung dieses Urteils sowie den Wiedereintritt in die Prüfung der Sache. Dafür machten sie insbesondere geltend, ihnen sei die Möglichkeit genommen worden, das Verfahren zu führen, da sie nicht tatsächlich zur mündlichen Verhandlung geladen worden seien. Damit habe das vorlegende Gericht, indem es die gerichtlichen Schriftstücke nicht an ihre Anschrift in Deutschland zugestellt habe, gegen das Verbot der Diskriminierung aus Gründen der Staatsangehörigkeit und gegen die Bestimmungen der Verordnung Nr. 1393/2007 verstoßen.

15      Mit Urteil vom 23. Juni 2010 wies der Sąd Rejonowy w Koszalinie den Wiederaufnahmeantrag unter Hinweis darauf zurück, dass das polnische Zivilverfahren im Einklang mit dem Unionsrecht stehe. Auf die Berufung der Kläger hin hob der Sąd Okręgowy w Koszalinie dieses Urteil auf, weil er der Ansicht war, die Zulassungsfiktion laufe der Verordnung Nr. 1393/2007 zuwider, und verwies die Sache zur erneuten Entscheidung an den Sąd Rejonowy w Koszalinie zurück.

16      Der Sąd Rejonowy w Koszalinie widerspricht allerdings dieser Auffassung. Zum einen nämlich sei die Verordnung Nr. 1393/2007 im Ausgangsverfahren nicht anwendbar, da sie nur die Fälle regele, in denen ein gerichtliches Schriftstück nach den nationalen Verfahrensvorschriften in einem anderen Mitgliedstaat zugestellt werden müsse. Zum anderen könne im Hinblick auf Art. 18 AEUV die Regel, dass die Schriftstücke als zugestellt gälten, zu keiner unmittelbaren Diskriminierung führen, und sie sei selbst für den Fall, dass sie eine mittelbare Diskriminierung darstellen sollte, jedenfalls durch ihr Ziel gerechtfertigt, einen reibungslosen Verfahrensablauf sicherzustellen, wenn man berücksichtige, welche Schwierigkeiten und Kosten mit der Zustellung von Schriftstücken im Ausland verbunden seien, oder dass eine solche etwa gar nicht bewirkt werden könne.

17      Unter diesen Umständen hat der Sąd Rejonowy w Koszalinie beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Frage zur Vorabentscheidung vorzulegen:

Sind Art. 1 Abs. 1 der Verordnung Nr. 1393/2007 und Art. 18 AEUV dahin auszulegen, dass es zulässig ist, die für eine Partei mit Wohnsitz oder gewöhnlichem Aufenthalt in einem anderen Mitgliedstaat bestimmten gerichtlichen Schriftstücke in der Gerichtsakte zu belassen, mit der Folge, dass sie als zugestellt gelten, wenn diese Partei keinen Zustellungsbevollmächtigten benannt hat, der in dem Mitgliedstaat ansässig ist, in dem das Gerichtsverfahren stattfindet?

 Zur Vorlagefrage

18      Mit seiner Frage möchte der Sąd Rejonowy w Koszalinie im Wesentlichen wissen, ob Art. 1 Abs. 1 der Verordnung Nr. 1393/2007 und gegebenenfalls Art. 18 AEUV dahin auszulegen sind, dass sie Rechtsvorschriften eines Mitgliedstaats wie den im Ausgangsverfahren fraglichen entgegenstehen, nach denen die für eine Partei mit Wohnsitz oder gewöhnlichem Aufenthalt in einem anderen Mitgliedstaat bestimmten gerichtlichen Schriftstücke in der Gerichtsakte belassen werden und damit als zugestellt gelten, wenn diese Partei keinen Zustellungsbevollmächtigten benannt hat, der in dem erstgenannten Staat ansässig ist, in dem das Gerichtsverfahren stattfindet.

19      Zur Beantwortung dieser Frage ist vorab der Anwendungsbereich der Verordnung Nr. 1393/2007 zu klären, so dass zu prüfen ist, ob er die Zustellung gerichtlicher Schriftstücke unter Umständen erfasst, die in dieser Verordnung bestimmt werden und zu denen namentlich solche gehören, auf die in den im Ausgangsverfahren fraglichen nationalen Rechtsvorschriften abgestellt wird, oder ob, wie die polnische Regierung geltend macht, diese Verordnung nur dann anwendbar ist, wenn solche Schriftstücke aufgrund der Verfahrensvorschriften, die in dem Staat gelten, in dem das Gerichtsverfahren stattfindet, in einem anderen Mitgliedstaat zugestellt werden müssen.

20      Dazu ist festzustellen, dass Art. 1 Abs. 1 dieser Verordnung seinem Wortlaut nach klarstellt, dass die Verordnung in Zivil- oder Handelssachen anzuwenden ist, „in denen ein gerichtliches … Schriftstück von einem in einen anderen Mitgliedstaat zum Zwecke der Zustellung zu übermitteln ist“.

21      Zwar trifft zu, dass, wie von der polnischen Regierung vorgetragen, der Wortlaut dieser Bestimmung selbst keinen ausdrücklichen Hinweis darauf enthält, unter welchen Umständen ein solches Schriftstück von einem Mitgliedstaat in einen anderen zuzustellen „ist“, doch gibt eine Gesamtschau in Verbindung mit anderen Bestimmungen der Verordnung Nr. 1393/2007 insoweit sachdienlichen Aufschluss.

22      Insbesondere sieht zum einen Art. 1 Abs. 2 der Verordnung Nr. 1393/2007 ausdrücklich vor, dass diese keine Anwendung findet, wenn die Anschrift des Empfängers des Schriftstücks unbekannt ist.

23      Zum anderen heißt es im achten Erwägungsgrund dieser Verordnung, dass diese nicht für die Zustellung eines Schriftstücks an den Bevollmächtigten einer Partei in dem Mitgliedstaat gelten sollte, in dem das Verfahren anhängig ist, und zwar unabhängig davon, wo die Partei ihren Wohnsitz hat.

24      Somit ergibt sich aus der systematischen Auslegung der Verordnung, dass diese nur zwei Umstände vorsieht, unter denen die Zustellung eines gerichtlichen Schriftstücks von einem Mitgliedstaat in einen anderen ihrem Anwendungsbereich entzogen ist, was zum einen der Fall ist, wenn der Wohnsitz oder gewöhnliche Aufenthalt des Empfängers unbekannt ist, und zum anderen, wenn dieser einen Bevollmächtigten in dem Mitgliedstaat benannt hat, in dem das Gerichtsverfahren stattfindet.

25      Sonst fällt, wie vom Generalanwalt in Nr. 49 seiner Schlussanträge betont, sobald der Empfänger eines gerichtlichen Schriftstücks im Ausland ansässig ist, die Zustellung dieses Schriftstücks zwangsläufig in den Anwendungsbereich der Verordnung Nr. 1393/2007 und muss somit gemäß deren Art. 1 Abs. 1 auf dem Weg bewirkt werden, den die Verordnung selbst dafür vorsieht.

26      Diese Lösung entzieht auch, da sie sich unmittelbar aus dem Zusammenhang der betreffenden Verordnung ergibt, der Auffassung der polnischen Regierung die Grundlage, wonach die Umstände, unter denen ein gerichtliches Schriftstück in einem anderen Mitgliedstaat gemäß dieser Verordnung zuzustellen „ist“, im Licht des nationalen Rechts des Mitgliedstaats zu bestimmen sein sollen, in dem das gerichtliche Verfahren stattfindet.

27      Dem nationalen Gesetzgeber die Entscheidung zu überlassen, in welchen Fällen eine solche Notwendigkeit besteht, würde nämlich eine einheitliche Anwendung der Verordnung Nr. 1393/2007 verhindern, da nicht ausgeschlossen ist, dass die Mitgliedstaaten insoweit voneinander abweichende Lösungen vorsehen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 8. November 2005, Leffler, C‑443/03, Slg. 2005, I‑9611, Randnr. 44).

28      Nachdem dies geklärt ist, ist festzustellen, dass, da die Zustellung gerichtlicher Schriftstücke unter Umständen wie denen, auf die in den im Ausgangsverfahren fraglichen nationalen Rechtsvorschriften abgestellt wird, in den Anwendungsbereich der Verordnung Nr. 1393/2007 fällt, die Prüfung, ob solche Rechtsvorschriften mit dem Unionsrecht vereinbar sind, soweit sie eine Regel aufstellen, nach der die Zustellung dadurch als bewirkt gilt, dass die gerichtlichen Schriftstücke zu den Gerichtsakten genommen werden, wenn die im Ausland ansässige Partei keinen Zustellungsbevollmächtigten in Polen benannt hat, im Licht der Systematik und Zielsetzung dieser Verordnung zu erfolgen hat.

29      Insoweit ist zunächst in Bezug auf die Systematik der gestützt auf Art. 61 Buchst. c EG erlassenen Verordnung Nr. 1393/2007 darauf hinzuweisen, dass mit dieser ein innergemeinschaftlicher Zustellungsmechanismus geschaffen werden soll, der, wie es in ihrem zweiten Erwägungsgrund heißt, das reibungslose Funktionieren des Binnenmarkts bezweckt (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 25. Juni 2009, Roda Golf & Beach Resort, C‑14/08, Slg. 2009, I‑5439, Randnrn. 53 bis 55).

30      In diesem Zusammenhang bestimmt Art. 2 dieser Verordnung, im Licht ihres sechsten Erwägungsgrundes gelesen, zur Gewährleistung der Wirksamkeit und Schnelligkeit der gerichtlichen Verfahren in Zivilsachen, dass die Übermittlung der gerichtlichen Schriftstücke grundsätzlich zwischen den von den Mitgliedstaaten benannten „Übermittlungs-“ und „Empfangsstellen“ erfolgt.

31      Daneben sieht die Verordnung Nr. 1393/2007 in Abschnitt 2 ihres Kapitels II selbst andere mögliche Übermittlungsarten vor, ohne übrigens eine Rangordnung zwischen ihnen aufzustellen (Urteil vom 9. Februar 2006, Plumex, C‑473/04, Slg. 2006, I‑1417, Randnrn. 19 bis 22), wie die Übermittlung auf konsularischem oder diplomatischem Weg, die Zustellung durch die diplomatischen oder konsularischen Vertretungen, die Zustellung durch Postdienste oder aber, auf Antrag des Betroffenen, die Zustellung unmittelbar durch Amtspersonen, Beamte oder sonstige zuständige Personen des Empfangsmitgliedstaats.

32      Da aber in der Systematik der Verordnung Nr. 1393/2007 allein und abschließend diese Arten der Übermittlung gerichtlicher Schriftstücke vorgesehen sind, lässt die Verordnung keinen Raum für ein fiktives Zustellungsverfahren wie dasjenige, das in Polen kraft Art. 11355 des Zivilverfahrensgesetzbuchs gilt, und steht diesem folglich entgegen.

33      Diese Feststellung wird auch durch die Zielsetzung der Verordnung gestützt.

34      Insoweit ist nämlich darauf hinzuweisen, dass diese Verordnung, wie aus ihrem zweiten Erwägungsgrund hervorgeht, zwar die Verbesserung und Beschleunigung der Übermittlung gerichtlicher Schriftstücke zwischen den Mitgliedstaaten zum Ziel hat (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 8. Mai 2008, Weiss und Partner, C‑14/07, Slg. 2008, I‑3367, Randnr. 46, sowie Roda Golf & Beach Resort, Randnr. 54).

35      Wie der Gerichtshof aber bereits entschieden hat, dürfen diese Ziele nicht dadurch erreicht werden, dass in irgendeiner Weise die Verteidigungsrechte beeinträchtigt werden, die den Empfängern der Schriftstücke aus dem Recht auf ein faires Verfahren erwachsen, das in Art. 47 Abs. 2 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union und Art. 6 Abs. 1 der am 4. November 1950 in Rom unterzeichneten Europäischen Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten verankert ist (vgl. in diesem Sinne Urteil Weiss und Partner, Randnr. 47).

36      Unter diesem Blickwinkel bezwecken mehrere Bestimmungen der Verordnung Nr. 1393/2007, wie der Generalanwalt in den Nrn. 46 und 47 seiner Schlussanträge ausgeführt hat, ausdrücklich einen Ausgleich zwischen der Effizienz und der Schnelligkeit der Übermittlung der gerichtlichen Schriftstücke einerseits und dem Erfordernis der Gewährleistung eines angemessenen Schutzes der Verteidigungsrechte der Empfänger andererseits, und zwar namentlich mittels der Sicherstellung eines tatsächlichen und konkreten Empfangs der Schriftstücke.

37      Insbesondere sehen die Art. 4 Abs. 3 und 5 Abs. 1 dieser Verordnung, im Licht ihres zwölften Erwägungsgrundes gelesen, die Notwendigkeit vor, dass die Zustellung der gerichtlichen Schriftstücke mittels eines Formblatts erfolgt und dieses in eine Sprache, die der Empfänger versteht, oder in eine Amtssprache des Empfangsmitgliedstaats oder, wenn es in diesem Staat mehrere Amtssprachen gibt, in zumindest eine der Amtssprachen des Ortes, an dem die Zustellung erfolgen soll, übersetzt ist.

38      Außerdem schreibt Art. 14 der Verordnung Nr. 1393/2007 jedem Mitgliedstaat, der sich für die Zustellung durch Postdienste entschieden hat, vor, dass die gerichtlichen Schriftstücke per Einschreiben mit Rückschein zugestellt werden müssen.

39      Unter dem gleichen Blickwinkel verpflichtet Art. 19 Abs. 1 dieser Verordnung das Gericht des Übermittlungsmitgliedstaats, wenn sich der Beklagte nicht auf das Verfahren eingelassen hat, dieses auszusetzen, bis festgestellt ist, dass das verfahrenseinleitende Schriftstück in einem Verfahren, das das Recht des Empfangsmitgliedstaats vorschreibt, rechtzeitig zugestellt worden ist oder dass es so rechtzeitig, dass sich der Beklagte hätte verteidigen können, diesem nach einem anderen in der Verordnung vorgesehenen Verfahren tatsächlich entweder persönlich ausgehändigt oder in seiner Wohnung abgegeben worden ist.

40      In diesem Zusammenhang erweist sich aber ein Mechanismus der fiktiven Zustellung, wie er in Art. 11355 des polnischen Zivilverfahrensgesetzbuchs vorgesehen ist, als unvereinbar mit der von der Verordnung Nr. 1393/2007 angestrebten Verwirklichung des Ziels, die Verteidigungsrechte zu schützen.

41      In der Tat nimmt dieser Mechanismus, wie der Generalanwalt in den Nrn. 52 bis 54 seiner Schlussanträge ausführt, dem Recht des Empfängers eines gerichtlichen Schriftstücks, der seinen Wohnsitz oder gewöhnlichen Aufenthalt nicht in dem Mitgliedstaat hat, in dem das gerichtliche Verfahren stattfindet, auf einen tatsächlichen und konkreten Empfang des Schriftstücks namentlich deshalb jede praktische Wirksamkeit, weil ihm weder eine Kenntnisnahme von dem Schriftstück, die so rechtzeitig ist, dass er seine Verteidigung vorbereiten kann, noch die Übersetzung des Schriftstücks gewährleistet wird.

42      Nach alledem ist auf die Vorlagefrage zu antworten, dass Art. 1 Abs. 1 der Verordnung Nr. 1393/2007 dahin auszulegen ist, dass er Rechtsvorschriften eines Mitgliedstaats wie den im Ausgangsverfahren fraglichen entgegensteht, nach denen die für eine Partei mit Wohnsitz oder gewöhnlichem Aufenthalt in einem anderen Mitgliedstaat bestimmten gerichtlichen Schriftstücke in der Gerichtsakte belassen werden und damit als zugestellt gelten, wenn diese Partei keinen Zustellungsbevollmächtigten benannt hat, der in dem erstgenannten Staat ansässig ist, in dem das Gerichtsverfahren stattfindet.

 Kosten

43      Für die Parteien des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren ein Zwischenstreit in dem beim vorlegenden Gericht anhängigen Rechtsstreit; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig.

Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Erste Kammer) für Recht erkannt:

Art. 1 Abs. 1 der Verordnung (EG) Nr. 1393/2007 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 13. November 2007 über die Zustellung gerichtlicher und außergerichtlicher Schriftstücke in Zivil- oder Handelssachen in den Mitgliedstaaten („Zustellung von Schriftstücken“) und zur Aufhebung der Verordnung (EG) Nr. 1348/2000 des Rates ist dahin auszulegen, dass er Rechtsvorschriften eines Mitgliedstaats wie den im Ausgangsverfahren fraglichen entgegensteht, nach denen die für eine Partei mit Wohnsitz oder gewöhnlichem Aufenthalt in einem anderen Mitgliedstaat bestimmten gerichtlichen Schriftstücke in der Gerichtsakte belassen werden und damit als zugestellt gelten, wenn diese Partei keinen Zustellungsbevollmächtigten benannt hat, der in dem erstgenannten Staat ansässig ist, in dem das Gerichtsverfahren stattfindet.

Unterschriften


* Verfahrenssprache: Polnisch.