Language of document : ECLI:EU:C:2019:998

URTEIL DES GERICHTSHOFS (Vierte Kammer)

21. November 2019(*)

„Vorlage zur Vorabentscheidung – Geschmacksmuster – Verordnung (EG) Nr. 6/2002 – Art. 90 Abs. 1 – Einstweilige Maßnahmen einschließlich Sicherungsmaßnahmen – Zuständigkeit der nationalen Gerichte erster Instanz – Ausschließliche Zuständigkeit der in dieser Bestimmung benannten Gerichte“

In der Rechtssache C‑678/18

betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Hoge Raad der Nederlanden (Oberster Gerichtshof der Niederlande) mit Entscheidung vom 2. November 2018, beim Gerichtshof eingegangen am 5. November 2018, in dem Verfahren

Procureur-Generaal bij de Hoge Raad der Nederlanden

erlässt

DER GERICHTSHOF (Vierte Kammer)

unter Mitwirkung des Kammerpräsidenten M. Vilaras (Berichterstatter) sowie der Richter S. Rodin und D. Šváby, der Richterin K. Jürimäe und des Richters N. Piçarra,

Generalanwalt: M. Campos Sánchez-Bordona,

Kanzler: A. Calot Escobar,

aufgrund des schriftlichen Verfahrens,

unter Berücksichtigung der Erklärungen

–        des Procureur-Generaal bij de Hoge Raad der Nederlanden, vertreten durch R. van Peursem als Bevollmächtigten,

–        der niederländischen Regierung, vertreten durch C. S. Schillemans und M. Bulterman als Bevollmächtigte,

–        der Europäischen Kommission, vertreten durch É. Gippini Fournier und A. Nijenhuis als Bevollmächtigte,

nach Anhörung der Schlussanträge des Generalanwalts in der Sitzung vom 18. September 2019

folgendes

Urteil

1        Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 90 Abs. 1 der Verordnung (EG) Nr. 6/2002 des Rates vom 12. Dezember 2001 über das Gemeinschaftsgeschmacksmuster (ABl. 2002, L 3, S. 1).

2        Es ergeht im Rahmen einer vom Procureur-Generaal bij de Hoge Raad der Nederlanden (Generalstaatsanwalt beim Obersten Gerichtshof der Niederlande, im Folgenden: Generalstaatsanwalt) gegen ein Urteil des für die Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes zuständigen Richters der Rechtbank Amsterdam (Gericht erster Instanz Amsterdam, Niederlande) vom 12. Januar 2017 eingelegten Kassationsbeschwerde im Interesse des Gesetzes betreffend die Bestimmung der zur Anordnung einstweiliger Maßnahmen einschließlich Sicherungsmaßnahmen im Bereich von Gemeinschaftsgeschmacksmustern zuständigen Gerichte.

 Rechtlicher Rahmen

 Unionsrecht

3        Titel IX („Zuständigkeit und Verfahren für Klagen, die Gemeinschaftsgeschmacksmuster betreffen“) der Verordnung Nr. 6/2002 enthält einen Abschnitt 2 („Streitigkeiten über die Verletzung und Rechtsgültigkeit der Gemeinschaftsgeschmacksmuster“), der aus den Art. 80 bis 92 besteht.

4        Art. 80 („Gemeinschaftsgeschmacksmustergerichte“) der Verordnung Nr. 6/2002 sieht in Abs. 1 vor:

„Die Mitgliedstaaten benennen für ihr Gebiet eine möglichst geringe Anzahl nationaler Gerichte erster und zweiter Instanz (Gemeinschaftsgeschmacksmustergerichte), die die ihnen durch diese Verordnung zugewiesenen Aufgaben wahrnehmen.“

5        Art. 81 („Zuständigkeit für Verletzung und Rechtsgültigkeit“) der Verordnung Nr. 6/2002 bestimmt:

„Die Gemeinschaftsgeschmacksmustergerichte sind ausschließlich zuständig:

a)      für Klagen wegen Verletzung und – falls das nationale Recht dies zulässt – wegen drohender Verletzung eines Gemeinschaftsgeschmacksmusters;

b)      für Klagen auf Feststellung der Nichtverletzung von Gemeinschaftsgeschmacksmustern, falls das nationale Recht diese zulässt;

c)      für Klagen auf Erklärung der Nichtigkeit eines nicht eingetragenen Gemeinschaftsgeschmacksmusters;

d)      für Widerklagen auf Erklärung der Nichtigkeit eines Gemeinschaftsgeschmacksmusters, die im Zusammenhang mit den unter Buchstabe a) genannten Klagen erhoben werden.“

6        In Art. 90 („Einstweilige Maßnahmen einschließlich Sicherungsmaßnahmen“) der Verordnung Nr. 6/2002 heißt es:

„(1)      Bei den Gerichten eines Mitgliedstaats – einschließlich der Gemeinschaftsgeschmacksmustergerichte – können in Bezug auf ein Gemeinschaftsgeschmacksmuster alle einstweiligen Maßnahmen einschließlich Sicherungsmaßnahmen beantragt werden, die in dem Recht dieses Staates für nationale Musterrechte vorgesehen sind, auch wenn für die Entscheidung in der Hauptsache aufgrund dieser Verordnung ein Gemeinschaftsgeschmacksmustergericht eines anderen Mitgliedstaats zuständig ist.

(3)      Ein Gemeinschaftsgeschmacksmustergericht, dessen Zuständigkeit auf Artikel 82 Absätze 1, 2, 3 oder 4 beruht, ist zuständig für die Anordnung einstweiliger Maßnahmen einschließlich Sicherungsmaßnahmen, die vorbehaltlich eines gegebenenfalls erforderlichen Anerkennungs- und Vollstreckungsverfahrens gemäß Titel III des Vollstreckungsübereinkommens in jedem Mitgliedstaat anwendbar sind. Hierfür ist kein anderes Gericht zuständig.“

 Niederländisches Recht

7        Art. 3 der Wet tot uitvoering van de verordening van de Raad van de Europese Unie betreffende Gemeenschapsmodellen houdende aanwijzing van de rechtbank voor het Gemeenschapsmodel (Uitvoeringswet EG-verordening betreffende Gemeenschapsmodellen) (Gesetz zur Durchführung der Verordnung des Rates der Europäischen Union über das Gemeinschaftsgeschmacksmuster und Bestimmung des Gemeinschaftsgeschmacksmustergerichts) vom 4. November 2004 (Stb. 2004, Nr. 573, im Folgenden: Gesetz vom 4. November 2004) bestimmt:

„Für alle Klagen im Sinne von Artikel 81 der Verordnung [Nr. 6/2002] ist in erster Instanz die Rechtbank Den Haag [(Gericht erster Instanz Den Haag)] und in Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes der für die Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes zuständige Richter dieser Rechtbank ausschließlich zuständig.“

 Ausgangsrechtsstreit und Vorlagefrage

8        Spin Master Ltd ist ein Unternehmen mit Sitz in Toronto (Kanada), das im Spielzeugsektor tätig ist. Es vertreibt unter der Marke „Bunchems“ ein Spielzeug, das aus kleinen Kunststoffbällchen besteht, die aneinander kletten und in acht Farben erhältlich sind. Diese Bällchen ermöglichen es, allerlei Formen und Figuren zusammenzusetzen.

9        Am 16. Januar 2015 ließ Spin Master unter der Nr. 002614669-0002 ein Gemeinschaftsgeschmacksmuster für dieses Spielzeug auf ihren Namen eintragen.

10      High5 Products BV ist eine Gesellschaft mit Sitz in Waalwijk (Niederlande), die unter dem Namen „Linkeez“ ein Spielzeug aus kleinen Kunststoffbällchen vertreibt, die aneinander kletten und ebenfalls in acht Farben erhältlich sind.

11      Mit Schreiben vom 18. November 2016 forderte Spin Master High5 Products auf, der Zuwiderhandlung gegen das genannte Gemeinschaftsgeschmacksmuster ein Ende zu setzen.

12      Da High5 Products dieser Aufforderung nicht nachkam, stellte Spin Master beim für die Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes zuständigen Richter der Rechtbank Amsterdam (Gericht erster Instanz Amsterdam) einen Antrag auf vorläufigen Rechtsschutz, um die Vermarktung des von High5 vertriebenen Spielzeugs zu untersagen.

13      Der für die Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes zuständige Richter der Rechtbank Amsterdam (Gericht erster Instanz Amsterdam) stellte auf eine Unzuständigkeitseinrede hin in einem Urteil vom 12. Januar 2017 fest, dass er für die Entscheidung über den ihm vorgelegten Antrag auf vorläufigen Rechtsschutz zuständig sei. Hierzu stützte er sich darauf, dass ihm das niederländische Recht einerseits die Zuständigkeit für die Entscheidung über einen entsprechenden Antrag in Bezug auf ein Benelux-Muster übertrage und andererseits Art. 3 des Gesetzes vom 4. November 2004 nicht bedeute, dass er in einem Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes, in dem ein Antrag auf Erlass eines auf das Hoheitsgebiet der Niederlande beschränkten Verbots – wie der ihm vorliegende – gestellt werde, nicht zuständig sei.

14      Am 31. August 2018 legte der Generalstaatsanwalt gegen dieses Urteil beim Hoge Raad der Nederlanden (Oberster Gerichtshof der Niederlande) eine Kassationsbeschwerde im Interesse des Gesetzes ein, die er damit begründete, dass der für die Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes zuständige Richter der Rechtbank Den Haag (Gericht erster Instanz Den Haag, Niederlande) als das gemäß Art. 80 Abs. 1 der Verordnung Nr. 6/2002 benannte Gericht für Gemeinschaftsgeschmacksmusterangelegenheiten, darunter einstweilige Maßnahmen einschließlich Sicherungsmaßnahmen, ausschließlich zuständig sei.

15      Das vorlegende Gericht führt aus, dass mit der ihm unterbreiteten Frage geklärt werden solle, ob Art. 90 Abs. 1 der Verordnung Nr. 6/2002 den Rechtsvorschriften eines Mitgliedstaats entgegenstehe, denen zufolge die ausschließliche Zuständigkeit der in Art. 80 Abs. 1 der Verordnung Nr. 6/2002 benannten Gerichte auch für einstweilige Maßnahmen einschließlich Sicherungsmaßnahmen im Sinne von Art. 90 Abs. 1 der Verordnung Nr. 6/2002 gelte.

16      Der niederländische Gesetzgeber habe mit dem Erlass von Art. 3 des Gesetzes vom 4. November 2004 beabsichtigt, die spezifischen Kenntnisse der Rechtbank Den Haag (Gericht erster Instanz Den Haag) und des Gerechtshof Den Haag (Berufungsgericht Den Haag, Niederlande) im Bereich des geistigen Eigentums zu nutzen. Die Frage, ob die in Art. 80 Abs. 1 der Verordnung Nr. 6/2002 benannten Gerichte für einstweilige Maßnahmen einschließlich Sicherungsmaßnahmen ausschließlich zuständig seien, sei in Rechtsprechung und Lehre – auch in anderen Mitgliedstaaten als dem Königreich der Niederlande – unterschiedlich beantwortet worden.

17      Das vorlegende Gericht fragt sich, wie Art. 90 Abs. 1 der Verordnung Nr. 6/2002 auszulegen ist. Nach einer Auslegungsrichtung habe der Gesetzgeber der Union damit eine verbindliche Ausnahme von dem – in dieser Verordnung an anderer Stelle zum Ausdruck gebrachten – Willen, die Spezialisierung der Richter zu fördern, geschaffen und stehe es den Mitgliedstaaten nicht frei, den Gemeinschaftsgeschmacksmustergerichten die ausschließliche Zuständigkeit für alle Anträge auf einstweilige Maßnahmen einschließlich Sicherungsmaßnahmen in Geschmacksmusterangelegenheiten zu übertragen. Nach einer anderen Auslegungsrichtung habe der Unionsgesetzgeber damit die Mitgliedstaaten lediglich ermächtigen wollen, in ihren nationalen Rechtsvorschriften vorzusehen, dass die Zuständigkeit für die Entscheidung über solche Anträge auch den anderen Gerichten eingeräumt werde, die für die Ergreifung solcher Maßnahmen in Rechtssachen im Zusammenhang mit nationalen Musterrechten zuständig seien.

18      Das vorlegende Gericht zieht auch in Betracht, dass Art. 90 der Verordnung Nr. 6/2002, soweit deren Art. 81 zwingend die innerstaatliche Zuständigkeit der Gemeinschaftsgeschmacksmuster-gerichte für die in diesem Artikel genannten Ansprüche festlege, nur für einstweilige Maßnahmen einschließlich Sicherungsmaßnahmen anderer Art gelte.

19      Es stellt schließlich klar, dass die Aufhebung eines Urteils im Anschluss an eine vom Generalstaatsanwalt eingelegte Kassationsbeschwerde im Interesse des Gesetzes keinen Einfluss auf die Rechtsstellung der von diesem Urteil betroffenen Parteien habe, da sich das Verfahren in diesem Fall nur auf eine in vielen Fällen aufgeworfene und unterschiedlich beurteilte Rechtsfrage beziehe.

20      Unter diesen Umständen hat der Hoge Raad der Nederlanden (Oberster Gerichtshof der Niederlande) beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Frage zur Vorabentscheidung vorzulegen:

Ist Art. 90 Abs. 1 der Verordnung Nr. 6/2002 dahin auszulegen, dass er eine zwingende Übertragung der Zuständigkeit, einstweilige Maßnahmen einschließlich Sicherungsmaßnahmen anzuordnen, an alle dort genannten Gerichte eines Mitgliedstaats enthält, oder stellt er es den Mitgliedstaaten – ganz oder teilweise – frei, die Zuständigkeit, solche Maßnahmen anzuordnen, ausschließlich den Gerichten zu übertragen, die gemäß Art. 80 Abs. 1 dieser Verordnung als Gemeinschaftsgeschmacksmustergerichte (erster und zweiter Instanz) benannt sind?

 Zur Zulässigkeit des Vorabentscheidungsersuchens

21      Den Angaben des vorlegenden Gerichts zufolge fällt die Einlegung einer Kassationsbeschwerde im Interesse des Gesetzes in die ausschließliche Zuständigkeit des Generalstaatsanwalts und ist auf die Aufhebung einer gerichtlichen Entscheidung gerichtet, wenn diese nicht mehr mit einem der den Parteien zur Verfügung stehenden ordentlichen Rechtsmittel angefochten werden kann. Wird einer solchen Kassationsbeschwerde stattgegeben, so führt dies zur Aufhebung der betreffenden Gerichtsentscheidung, ohne dass jedoch eine Änderung hinsichtlich der Stellung der Streitparteien untereinander einträte.

22      Die niederländische Regierung hält das Vorabentscheidungsersuchen für zulässig, weil das vorlegende Gericht verpflichtet sei, über eine vom Generalstaatsanwalt eingelegte Kassationsbeschwerde im Interesse des Gesetzes – bei der es sich um einen Rechtsbehelf zur Wahrung der Einheitlichkeit des Rechts und seiner Entwicklung auf nationaler Ebene handele – zu entscheiden.

23      Nach ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofs hängt dessen Anrufung gemäß Art. 267 AEUV zwar nicht davon ab, ob das Verfahren, in dem das nationale Gericht eine Vorlagefrage abfasst, streitigen Charakter hat, allerdings können die nationalen Gerichte den Gerichtshof nur anrufen, wenn bei ihnen ein Rechtsstreit anhängig ist und sie im Rahmen eines Verfahrens zu entscheiden haben, das auf eine Entscheidung mit Rechtsprechungscharakter abzielt (Urteile vom 25. Juni 2009, Roda Golf & Beach Resort, C‑14/08, EU:C:2009:395, Rn. 33 und 34, sowie vom 16. Juni 2016, Pebros Servizi, C‑511/14, EU:C:2016:448, Rn. 24).

24      In diesem Zusammenhang kommt es, wie der Generalanwalt in Nr. 33 seiner Schlussanträge dargelegt hat, nur darauf an, dass das Gericht, das den Gerichtshof anruft, eine richterliche Tätigkeit ausübt und der Ansicht ist, dass es für seine Entscheidung einer Auslegung des Unionsrechts bedarf. Die Tatsache, dass die Stellung der Streitparteien in dem dem Vorabentscheidungsersuchen zugrunde liegenden Rechtsstreit nach der Entscheidung über das Vorabentscheidungsersuchen nicht mehr geändert werden kann, kann auf diese Erwägungen, die die Art der Aufgaben des vorlegenden Gerichts betreffen, keinen Einfluss haben.

25      Auch ist darauf hinzuweisen, dass der Begriff „Erlass seines Urteils“ im Sinne von Art. 267 Abs. 2 AEUV zwar das gesamte Verfahren umfasst, das zum Urteil des vorlegenden Gerichts führt, aber weit auszulegen ist, um zu verhindern, dass zahlreiche Verfahrensfragen als unzulässig angesehen werden und nicht Gegenstand einer Auslegung durch den Gerichtshof sein können und dieser nicht über die Auslegung aller Verfahrensvorschriften des Unionsrechts entscheiden kann, die das vorlegende Gericht zum Erlass seines Urteils anwenden muss (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 11. Juni 2015, Fahnenbrock u. a., C‑226/13, C‑245/13, C‑247/13 und C‑578/13, EU:C:2015:383, Rn. 30, sowie vom 16. Juni 2016, Pebros Servizi, C‑511/14, EU:C:2016:448, Rn. 28).

26      Daraus folgt, dass ein Gericht im Sinne von Art. 267 AEUV, dessen Entscheidungen nicht angefochten werden können, dann, wenn es im Rahmen einer Kassationsbeschwerde im Interesse des Gesetzes Zweifel an der Auslegung des Unionsrechts hat, verpflichtet ist, dem Gerichtshof eine Frage zur Vorabentscheidung vorzulegen, auch wenn die Stellung der Streitparteien nach der Entscheidung des Gerichtshofs über ein Vorabentscheidungsersuchen unverändert bleibt.

27      Somit ist das Vorabentscheidungsersuchen zulässig.

 Zur Vorlagefrage

28      Mit seiner Frage möchte das vorlegende Gericht wissen, ob Art. 90 Abs. 1 der Verordnung Nr. 6/2002 dahin auszulegen ist, dass die Gerichte der Mitgliedstaaten, die für die Anordnung einstweiliger Maßnahmen einschließlich Sicherungsmaßnahmen in Bezug auf ein nationales Musterrecht zuständig sind, auch für die Anordnung solcher Maßnahmen in Bezug auf ein Gemeinschaftsgeschmacksmuster zuständig sind, oder ob er es den Mitgliedstaaten – ganz oder teilweise – freistellt, die Zuständigkeit, solche Maßnahmen anzuordnen, ausschließlich den Gerichten zu übertragen, die als Gemeinschaftsgeschmacksmustergerichte benannt sind.

29      Gemäß Art. 90 Abs. 1 der Verordnung Nr. 6/2002 können bei den Gerichten eines Mitgliedstaats – einschließlich der Gemeinschaftsgeschmacksmustergerichte – in Bezug auf ein Gemeinschaftsgeschmacksmuster alle einstweiligen Maßnahmen einschließlich Sicherungsmaßnahmen beantragt werden, die in dem Recht dieses Staates für nationale Musterrechte vorgesehen sind, auch wenn für die Entscheidung in der Hauptsache aufgrund dieser Verordnung ein Gemeinschaftsgeschmacksmustergericht eines anderen Mitgliedstaats zuständig ist.

30      Die Frage des vorlegenden Gerichts bezieht sich konkret auf den ersten Teil dieser Vorschrift, also die Bestimmung der in einem Mitgliedstaat für die Anordnung einstweiliger Maßnahmen einschließlich Sicherungsmaßnahmen in Bezug auf ein Gemeinschaftsgeschmacksmuster zuständigen Gerichte.

31      Bei der Auslegung einer Vorschrift des Unionsrechts ist nicht nur ihr Wortlaut zu berücksichtigen, sondern auch ihr Zusammenhang und die Ziele, die mit der Regelung, zu der sie gehört, verfolgt werden (Urteil vom 22. Juni 2016, Thomas Philipps, C‑419/15, EU:C:2016:468, Rn. 18 und die dort angeführte Rechtsprechung).

32      Aus dem Wortlaut von Art. 90 Abs. 1 der Verordnung Nr. 6/2002 ergibt sich, dass ein Einzelner einstweilige Maßnahmen einschließlich Sicherungsmaßnahmen in Bezug auf ein Gemeinschaftsgeschmacksmuster nicht nur bei den Gemeinschaftsgeschmacksmustergerichten des Mitgliedstaats, sondern auch bei jedem Gericht dieses Mitgliedstaats beantragen kann, das für den Erlass solcher Maßnahmen in Bezug auf nationale Musterrechte zuständig ist. Wie der Generalanwalt in Nr. 41 seiner Schlussanträge ausgeführt hat, bestätigt insoweit die Verwendung des Begriffs „einschließlich“, dass es sich nicht zwangsläufig um ein spezialisiertes Gericht handeln muss.

33      Diese Feststellung wird durch die Verwendung des Wortes „können“ in Art. 90 Abs. 1 der Verordnung Nr. 6/2002 nicht in Frage gestellt. Die Verwendung dieses Wortes kann nicht dahin verstanden werden, dass diese Bestimmung den Mitgliedstaaten hinsichtlich der Zuweisung der Zuständigkeit im Bereich einstweiliger Maßnahmen einschließlich Sicherungsmaßnahmen in Bezug auf ein Gemeinschaftsgeschmacksmuster ein Ermessen einräumt. Wie der Generalanwalt in Nr. 66 seiner Schlussanträge darlegt, bezieht sich das Wort „können“ nämlich nur auf Personen, die bei einem Gericht einen Antrag auf Erlass einer einstweiligen Maßnahme oder einer Sicherungsmaßnahme im Zusammenhang mit einer der in Art. 81 der Verordnung Nr. 6/2002 aufgezählten Handlungen stellen wollen.

34      Ferner behauptet die niederländische Regierung zwar, dass diese Bestimmung nicht für die innerstaatliche Zuständigkeit der Gerichte eines Mitgliedstaats gelte, sondern die Regeln der internationalen Zuständigkeit für einstweilige Maßnahmen und Sicherungsmaßnahmen festlege, doch zeigt eine eingehende Lektüre dieser Bestimmung, dass nur dem zweiten Teil, der als solcher nicht Gegenstand des Vorabentscheidungsersuchens ist, eine solche Bedeutung beigemessen werden kann, die sich nicht auf die Frage der Bestimmung der für die Anordnung einstweiliger Maßnahmen einschließlich Sicherungsmaßnahmen in Bezug auf ein Gemeinschaftsgeschmacksmuster zuständigen Gerichte in jedem Mitgliedstaat auswirkt.

35      Im Übrigen wird die Feststellung in Rn. 32 des vorliegenden Urteils entgegen dem Vorbringen der niederländischen Regierung durch den Kontext, in den sich Art. 90 Abs. 1 der Verordnung Nr. 6/2002 einfügt, bestätigt.

36      In diesem Zusammenhang ist darauf hinzuweisen, dass diese Bestimmung Teil des Titels IX („Zuständigkeit und Verfahren für Klagen, die Gemeinschaftsgeschmacksmuster betreffen“) dieser Verordnung ist. Konkret steht sie in Abschnitt 2 („Streitigkeiten über die Verletzung und Rechtsgültigkeit der Gemeinschaftsgeschmacksmuster“) dieses Titels, der die Art. 80 bis 92 umfasst.

37      Aus der Systematik der Verordnung Nr. 6/2002 ergibt sich jedoch, dass die Bestimmungen in diesem Abschnitt 2 spezifische Regeln für die gerichtliche Zuständigkeit bei Klagen auf Verletzung oder Nichtigkeit von Gemeinschaftsgeschmacksmustern enthalten. Diese spezifischen Regeln unterscheiden sich auch von den in Titel IX Abschnitt 3 dieser Verordnung festgelegten Regeln für die Zuständigkeit bei Streitigkeiten in Bezug auf Gemeinschaftsgeschmacksmuster, die keine Verletzungs- und Nichtigkeitsklagen sind.

38      Entgegen dem Vorbringen der niederländischen Regierung beziehen sich die in Art. 90 Abs. 1 der Verordnung Nr. 6/2002 genannten einstweiligen Maßnahmen einschließlich Sicherungsmaßnahmen in Bezug auf ein Gemeinschaftsgeschmacksmuster folglich zum einen auf Verletzungs- oder Nichtigkeitsklagen gemäß Art. 81 dieser Verordnung und können sie zum anderen von den Gerichten eines Mitgliedstaats angeordnet werden, die für den Erlass solcher Maßnahmen in Bezug auf nationale Musterrechte zuständig sind.

39      Insofern kann sich der Anwendungsbereich von Art. 90 Abs. 1 der Verordnung Nr. 6/2002 nicht von dem der anderen Bestimmungen des Abschnitts 2 des Titels IX dieser Verordnung unterscheiden, da, wie der Generalanwalt in Nr. 50 seiner Schlussanträge betont, Art. 90 Abs. 1 – ebenso wie die Art. 82 bis 89 dieser Verordnung – auf die in Art. 81 dieser Verordnung genannten Klagen verweist.

40      Eine solche Auslegung von Art. 90 Abs. 1 entspricht auch den Zielen der Verordnung Nr. 6/2002. Der Unionsgesetzgeber hat nämlich mit der Einrichtung von Geschmacksmustergerichten in jedem Mitgliedstaat zwar beabsichtigt, eine Spezialisierung der für Gemeinschaftsgeschmacksmusterangelegenheiten zuständigen Gerichte einzuführen, um, wie aus dem 28. Erwägungsgrund dieser Verordnung hervorgeht, zu einer einheitlichen Auslegung der Bedingungen für die Rechtsgültigkeit der Gemeinschaftsgeschmacksmuster beizutragen.

41      Während die Verfolgung dieses Ziels einer einheitlichen Auslegung im Fall von Gerichtsverfahren, die sich, soweit es um Verletzungs- oder Nichtigkeitsklagen geht, auf die Entscheidung in der Hauptsache beziehen, zwar durchaus gerechtfertigt ist, hat der Unionsgesetzgeber im 29. Erwägungsgrund der Verordnung Nr. 6/2002 indes auch darauf hingewiesen, dass die Rechte aus einem Gemeinschaftsgeschmacksmuster in der gesamten Union wirksam durchgesetzt werden können müssen. Folglich konnte er bei Anträgen auf Anordnung einstweiliger Maßnahmen einschließlich Sicherungsmaßnahmen in Verletzungs- oder Nichtigkeitsfällen den Geboten der Nähe und Effizienz der Gerichte gegenüber dem Ziel der Spezialisierung den Vorrang einräumen.

42      So ist die Übertragung der Zuständigkeit für den Erlass solcher Maßnahmen auf ein Gericht eines Mitgliedstaats, das für den Erlass von Maßnahmen gleicher Art in Bezug auf nationale Musterrechte zuständig ist, geeignet, zu einer raschen und wirksamen Einstellung von Handlungen zu führen, die die Rechte der Inhaber eines Gemeinschaftsgeschmacksmusters verletzen.

43      Darüber hinaus ist die Wirkung solcher einstweiliger Maßnahmen einschließlich Sicherungsmaßnahmen von Natur aus zeitlich befristet, und ihre Gewährung durch das für die Sache zuständige Gericht nimmt die Entscheidung über die Verletzungs- oder Nichtigkeitsklage, die in der Sache erhoben wird und in die ausschließliche Zuständigkeit der Gemeinschaftsgeschmacksmustergerichte fällt, nicht vorweg.

44      Aus all dem ergibt sich, dass Art. 90 Abs. 1 der Verordnung Nr. 6/2002 dahin auszulegen ist, dass die Gerichte der Mitgliedstaaten, die für die Anordnung einstweiliger Maßnahmen einschließlich Sicherungsmaßnahmen in Bezug auf ein nationales Musterrecht zuständig sind, auch für die Anordnung solcher Maßnahmen in Bezug auf ein Gemeinschaftsgeschmacksmuster zuständig sind.

 Kosten

45      Für die Parteien des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren Teil des beim vorlegenden Gericht anhängigen Verfahrens; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig.

Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Vierte Kammer) für Recht erkannt:

Art. 90 Abs. 1 der Verordnung (EG) Nr. 6/2002 des Rates vom 12. Dezember 2001 über das Gemeinschaftsgeschmacksmuster ist dahin auszulegen, dass die Gerichte der Mitgliedstaaten, die für die Anordnung einstweiliger Maßnahmen einschließlich Sicherungsmaßnahmen in Bezug auf ein nationales Musterrecht zuständig sind, auch für die Anordnung solcher Maßnahmen in Bezug auf ein Gemeinschaftsgeschmacksmuster zuständig sind.

Unterschriften


*      Verfahrenssprache: Niederländisch.