URTEIL DES GERICHTSHOFES
29. September 1998 (1)
„Markenrecht Verwechslungsgefahr Ähnlichkeit von Waren oder
Dienstleistungen“
In der Rechtssache C-39/97
betreffend ein dem Gerichtshof nach Artikel 177 EG-Vertrag vom
Bundesgerichtshof (Deutschland) in dem bei diesem anhängigen Rechtsstreit
Canon Kabushiki Kaisha
gegen
Metro-Goldwyn-Mayer Inc., vormals Pathe Communications Corporation
vorgelegtes Ersuchen um Vorabentscheidung über die Auslegung des Artikels 4
Absatz 1 Buchstabe b der Ersten Richtlinie 89/104/EWG des Rates vom 21.
Dezember 1988 zur Angleichung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über
die Marken (ABl. 1989, L 40, S. 1)
erläßt
DER GERICHTSHOF
unter Mitwirkung des Präsidenten G. C. Rodríguez Iglesias, der
Kammerpräsidenten C. Gulmann (Berichterstatter), H. Ragnemalm, M. Wathelet
und R. Schintgen sowie der Richter P. J. G. Kapteyn, J. L. Murray,
D. A. O. Edward, G. Hirsch, P. Jann und L. Sevón,
Generalanwalt: F. G. Jacobs
Kanzler: H. von Holstein, Hilfskanzler
unter Berücksichtigung der schriftlichen Erklärungen
der Firma Canon Kabushiki Kaisha, vertreten durch Rechtsanwalt Götz
Jordan, Karlsruhe,
Metro-Goldwyn-Mayer Inc., vormals Pathe Communications Corporation,
vertreten durch Rechtsanwalt Wolf-W. Wodrich, Essen,
der französischen Regierung, vertreten durch Kareen Rispal-Bellanger,
Abteilungsleiterin in der Direktion für Rechtsfragen des Ministeriums für
Auswärtige Angelegenheiten, und Philippe Martinet, Sekretär für
Auswärtige Angelegenheiten in dieser Direktion, als Bevollmächtigte,
der italienischen Regierung, vertreten durch Professor Umberto Leanza,
Leiter des Servizio del contenzioso diplomatico des Außenministeriums, als
Bevollmächtigten, im Beistand von Avvocato dello Stato Oscar Fiumara,
der Regierung des Vereinigten Königreichs, vertreten durch Lindsey Nicoll,
Treasury Solicitor's Department, als Bevollmächtigte, und Barrister Daniel
Alexander,
der Kommission der Europäischen Gemeinschaften, vertreten durch
Rechtsberater Jürgen Grunwald und Berend Jan Drijber, Juristischer
Dienst, als Bevollmächtigte,
aufgrund des Sitzungsberichts,
nach Anhörung der mündlichen Ausführungen der Firma Canon Kabushiki Kaisha,
vertreten durch Rechtsanwalt Axel Rinkler, Karlsruhe, der Pathe Communications
Corporation, jetzt Metro-Goldwyn-Mayer Inc., vertreten durch Rechtsanwalt Wolf-W. Wodrich und Patentanwalt Joachim K. Zenz, Essen, der französischen
Regierung, vertreten durch Anne de Bourgoing, Chargé de mission in der Direktion
für Rechtsfragen des Ministeriums für Auswärtige Angelegenheiten, als
Bevollmächtigte, der italienischen Regierung, vertreten durch Oscar Fiumara, der
Regierung des Vereinigten Königreichs, vertreten durch Daniel Alexander, und der
Kommission, vertreten durch Jürgen Grunwald, in der Sitzung vom 20. Januar 1998,
nach Anhörung der Schlußanträge des Generalanwalts in der Sitzung vom 2. April
1998,
folgendes
Urteil
- 1.
- Der Bundesgerichtshof hat mit Beschluß vom 12. Dezember 1996, beim Gerichtshof
eingegangen am 28. Januar 1997, gemäß Artikel 177 EG-Vertrag eine Frage nach
der Auslegung des Artikels 4 Absatz 1 Buchstabe b der Ersten Richtlinie
89/104/EWG des Rates vom 21. Dezember 1988 zur Angleichung der
Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Marken (ABl. 1989, L 40, S. 1; im
folgenden: Richtlinie) zur Vorabentscheidung vorgelegt.
- 2.
- Diese Frage stellt sich in einem Rechtsstreit zwischen der japanischen Firma Canon
Kabushiki Kaisha (im folgenden: CKK) und der amerikanischen Metro-Goldwyn-Mayer Inc., vormals Pathe Communications Corporation (im folgenden: MGM), im
Anschluß an die von Pathe 1986 in Deutschland eingereichte Anmeldung des
Wortzeichens „CANNON“ für folgende Waren und Dienstleistungen: „auf
Videokassetten aufgezeichnete Filme (Videofilmkassetten); Produktion, Verleih
und Vorführung von Filmen für Lichtspieltheater und Fernsehanstalten“.
- 3.
- Unter Berufung auf § 5 Absatz 4 Nummer 1 Warenzeichengesetz (ehemaliges
Gesetz über Marken, im folgenden: WZG) hat CKK diesem Antrag beim
Deutschen Patentamt mit der Begründung widersprochen, daß es mit ihrem
prioritätsälteren Wortzeichen „Canon“ kollidiere, das in Deutschland u. a. für
folgende Waren eingetragen ist: „Steh- und Laufbildkameras und -projektoren;
Fernsehaufnahme- und Fernsehaufzeichnungsgeräte, Fernsehübertragungsgeräte,
Fernsehempfangs- und -wiedergabegeräte, einschließlich Band- und Plattengeräte
für Fernsehaufnahme und -wiedergabe“.
- 4.
- Der Erstprüfer des Deutschen Patentamts hat die zeichenrechtliche
Übereinstimmung angenommen und die Eintragung daher mit der Begründung
versagt, daß die beiderseitigen Waren und Dienstleistungen im Sinne von § 5
Absatz 4 Nummer 1 WZG gleichartig seien. Der Erinnerungsprüfer hat diesen
Beschluß aufgehoben und den Widerspruch wegen fehlender Gleichartigkeit
zurückgewiesen.
- 5.
- Die Beschwerde von CKK gegen die letztgenannte Entscheidung hat das
Bundespatentgericht zurückgewiesen; dabei hat es die Gleichartigkeit der
betroffenen Waren und Dienstleistungen im Sinne von § 5 Absatz 4 Nummer 1
WZG verneint. Eine Gleichartigkeit könne nur angenommen werden, wenn die
Waren oder Dienstleistungen ihrer wirtschaftlichen Bedeutung und
Verwendungsweise nach, insbesondere hinsichtlich ihrer regelmäßigen Fabrikations-
und Verkaufsstätten, so enge Berührungspunkte aufwiesen, daß beim
Durchschnittskäufer die Meinung aufkommen könne, sie stammten aus dem
gleichen Geschäftsbetrieb, sofern übereinstimmende oder vermeintlich
übereinstimmende Kennzeichnungen verwendet würden. Diese Voraussetzung liege
hier nicht vor.
- 6.
- CKK hat gegen den Beschluß des Bundespatentgerichts Rechtsbeschwerde beim
Bundesgerichtshof eingelegt.
- 7.
- In seinem Vorlagebeschluß stellt der Bundesgerichtshof vorab fest, daß über die bei
ihm anhängige Sache auf der Grundlage des Markengesetzes (am 1. Januar 1995
in Kraft getretenes neues deutsches Gesetz über Marken) zu entscheiden sei, durch
das die Richtlinie in deutsches Recht umgesetzt worden sei und dessen § 9
Absatz 1 Nummer 2 Artikel 4 Absatz 1 Buchstabe b der Richtlinie entspreche.
- 8.
- Die letztgenannte Vorschrift sieht folgendes vor:
„(1) Eine Marke ist von der Eintragung ausgeschlossen oder unterliegt im Falle
der Eintragung der Ungültigerklärung,
...
b) wenn wegen ihrer Identität oder Ähnlichkeit mit der älteren Marke und der
Identität oder Ähnlichkeit der durch die beiden Marken erfaßten Waren
oder Dienstleistungen für das Publikum die Gefahr von Verwechslungen
besteht, die die Gefahr einschließt, daß die Marke mit der älteren Marke
gedanklich in Verbindung gebracht wird.“
- 9.
- Um den Zusammenhang und die Bedeutung der Vorlagefrage deutlich werden zu
lassen, trifft der Bundesgerichtshof dann folgende Feststellungen:
Im vorliegenden Fall seien die beiden Zeichen „CANNON“ und „Canon“
klanglich identisch und das Zeichen „Canon“ sei eine bekannte Marke; des
weiteren stammten wie das Bundespatentgericht festgestellt habe nach
der Verkehrsauffassung „auf Videobandkassetten aufgezeichnete Filme
(Videofilmkassetten)“ und „Aufnahme- und Wiedergabegeräte für
Videobänder (Videorecorder)“ nicht aus demselben Herstellerbetrieb;
das Bundespatentgericht habe für seine Entscheidung, den Grundsätzen des
WZG folgend, weder der Identität der Zeichen noch der Bekanntheit des
Widerspruchszeichens Bedeutung beigemessen;
da nunmehr das Markengesetz anzuwenden sei, sei zu bestimmen, welche
Kriterien zur Auslegung des Begriffes der „Ähnlichkeit der durch die beiden
Marken erfaßten Waren oder Dienstleistungen“ im Sinne des Artikels 4
Absatz 1 Buchstabe b der Richtlinie Geltung hätten;
lasse man im Streitfall bei der Beurteilung der Verwechslungsgefahr die
Bekanntheit der prioritätsälteren Marke mangels Ähnlichkeit der durch die
beiden Marken erfaßten Waren oder Dienstleistungen außer Betracht, so
könne die Rechtsbeschwerde der Widersprechenden auf der Grundlage der
vom Bundespatentgericht getroffenen Feststellungen keinen Erfolg haben;
denkbar sei jedoch ein Verständnis von Artikel 4 Absatz 1 Buchstabe b der
Richtlinie, wonach die Bekanntheit der prioritätsälteren Marke nicht nur
geeignet sei, die der Marke als solche innewohnende Kennzeichnungskraft
zu stärken, sondern auch dazu führen könne, bei der Beurteilung der
Ähnlichkeit der von den Zeichen erfaßten Waren oder Dienstleistungen die
Vorstellung des angesprochenen Verkehrs über deren Herkunftsstätte
unberücksichtigt zu lassen;
nach dem Schrifttum könne es veranlaßt sein, bei der Prüfung der
Verwechslungsgefahr im Sinne des Markengesetzes die Warenähnlichkeit
dergestalt in eine Wechselbeziehung zum Ähnlichkeitsgrad der beteiligten
Zeichen und der Kennzeichnungskraft der zu schützenden Marke zu stellen,
daß die Warenähnlichkeit um so geringer sein könne, je näher sich die
Zeichen stünden und je stärker die Kennzeichnungskraft der
schutzsuchenden Marke sich darstelle.
- 10.
- Schließlich stellt der Bundesgerichtshof fest, die praktische Bedeutung, die die
Auslegung des Artikels 4 Absatz 1 Buchstabe b der Richtlinie habe, werde dadurch
erhöht, daß das relative Eintragungshindernis des § 9 Absatz 1 Nummer 3
Markengesetz durch den Artikel 4 Absatz 4 Buchstabe a der Richtlinie umgesetzt
werde, wonach die Mitgliedstaaten bei bekannten Marken in der Weise einen
weitergehenden Schutz vorsehen könnten, daß sie von dem Erfordernis der
Ähnlichkeit der Waren oder Dienstleistungen absähen nicht im nationalen
Widerspruchsverfahren, sondern nur mit einer Löschungsklage oder einer
Markenverletzungsklage vor den ordentlichen Gerichten geltend gemacht werden
könne.
- 11.
- Aufgrund dieser Erwägungen hat der Bundesgerichtshof das Verfahren ausgesetzt,
um dem Gerichtshof folgende Frage zur Vorabentscheidung vorzulegen:
Kann bei der Beurteilung der Ähnlichkeit der durch die beiden Marken erfaßten
Waren oder Dienstleistungen die Kennzeichnungskraft, insbesondere die
Bekanntheit der prioritätsälteren Marke (zum Zeitpunkt des für den Zeitrang der
jüngeren Marke maßgeblichen Tages), zu berücksichtigen sein, insbesondere
dergestalt, daß die Verwechslungsgefahr im Sinne des Artikels 4 Absatz 1
Buchstabe b Markenrechtsrichtlinie auch dann zu bejahen ist, wenn der Verkehr
die Waren und/oder Dienstleistungen unterschiedlichen Herkunftsstätten zuordnet?
- 12.
- In ihrem ersten Teil geht die Frage des Bundesgerichtshofs im wesentlichen dahin,
ob Artikel 4 Absatz 1 Buchstabe b der Richtlinie so auszulegen ist, daß die
Kennzeichnungskraft der prioritätsälteren Marke, insbesondere ihre Bekanntheit,
bei der Beurteilung zu berücksichtigen ist, ob die Ähnlichkeit der durch die beiden
Marken erfaßten Waren oder Dienstleistungen ausreicht, um eine
Verwechslungsgefahr herbeizuführen.
- 13.
- CKK, die französische und die italienische Regierung sowie die Kommission
stimmen im wesentlichen darin überein, daß diese Frage zu bejahen ist.
- 14.
- MGM und die Regierung des Vereinigten Königreichs sind dagegen der Ansicht,
daß die Ähnlichkeit der Waren oder Dienstleistungen objektiv und autonom zu
beurteilen ist und daher die Kennzeichnungskraft und die Bekanntheit der
prioritätsälteren Marke außer Betracht zu lassen sind.
- 15.
- In diesem Zusammenhang ist darauf hinzuweisen, daß in der zehnten
Begründungserwägung der Richtlinie folgendes festgestellt wird: „Zweck des durch
die eingetragene Marke gewährten Schutzes ist es, insbesondere die
Herkunftsfunktion der Marke zu gewährleisten; dieser Schutz ist absolut im Falle
der Identität zwischen der Marke und dem Zeichen und zwischen den Waren oder
Dienstleistungen. Der Schutz erstreckt sich ebenfalls auf Fälle der Ähnlichkeit von
Zeichen und Marke und der jeweiligen Waren oder Dienstleistungen. Es ist
unbedingt erforderlich, den Begriff der Ähnlichkeit im Hinblick auf die
Verwechslungsgefahr auszulegen. Die Verwechslungsgefahr stellt die spezifische
Voraussetzung für den Schutz dar; ob sie vorliegt, hängt von einer Vielzahl von
Umständen ab, insbesondere dem Bekanntheitsgrad der Marke im Markt, der
gedanklichen Verbindung, die das benutzte oder eingetragene Zeichen zu ihr
hervorrufen kann, sowie dem Grad der Ähnlichkeit zwischen der Marke und dem
Zeichen und zwischen den damit gekennzeichneten Waren oder Dienstleistungen.“
- 16.
- Zweitens ist festzustellen, daß eine Verwechslungsgefahr für das Publikum, wie sie
Voraussetzung für die Anwendung des Artikels 4 Absatz 1 Buchstabe b der
Richtlinie ist, nach der Rechtsprechung des Gerichtshofes unter Berücksichtigung
aller Umstände des Einzelfalls umfassend zu beurteilen ist (Urteil vom 11.
November 1997 in der Rechtssache C-251/95, SABEL, Slg. 1997, I-6191,
Randnr. 22).
- 17.
- Die umfassende Beurteilung der Verwechslungsgefahr impliziert eine gewisse
Wechselbeziehung zwischen den in Betracht kommenden Faktoren, insbesondere
der Ähnlichkeit der Marken und der Ähnlichkeit der damit gekennzeichneten
Waren oder Dienstleistungen. So kann ein geringer Grad der Ähnlichkeit der
gekennzeichneten Waren oder Dienstleistungen durch einen höheren Grad der
Ähnlichkeit der Marken ausgeglichen werden und umgekehrt. Die
Wechselbeziehung zwischen diesen Faktoren kommt nämlich in der zehnten
Begründungserwägung der Richtlinie zum Ausdruck, wonach es unbedingt
erforderlich ist, den Begriff der Ähnlichkeit im Hinblick auf die
Verwechslungsgefahr auszulegen, deren Beurteilung ihrerseits insbesondere vom
Bekanntheitsgrad der Marke auf dem Markt und dem Grad der Ähnlichkeit
zwischen der Marke und dem Zeichen und zwischen den damit gekennzeichneten
Waren oder Dienstleistungen abhängt.
- 18.
- Außerdem geht aus der Rechtsprechung des Gerichtshofes hervor, daß die
Verwechslungsgefahr um so größer ist, je größer sich die Kennzeichnungskraft der
älteren Marke darstellt (Urteil SABEL, Randnr. 24). Da der Schutz einer
eingetragenen Marke nach Artikel 4 Absatz 1 Buchstabe b der Richtlinie vom
Vorliegen einer Verwechslungsgefahr abhängt, genießen somit Marken, die, von
Haus aus oder wegen ihrer Bekanntheit auf dem Markt, eine hohe
Kennzeichnungskraft besitzen, einen umfassenderen Schutz als die Marken, deren
Kennzeichnungskraft geringer ist.
- 19.
- Daraus folgt, daß die Eintragung einer Marke trotz eines eher geringen Grades der
Ähnlichkeit zwischen den damit gekennzeichneten Waren oder Dienstleistungen
nach Artikel 4 Absatz 1 Buchstabe b der Richtlinie ausgeschlossen sein kann, wenn
die Ähnlichkeit zwischen den Marken groß und die Kennzeichnungskraft der
älteren Marke, insbesondere ihr Bekanntheitgrad, hoch ist.
- 20.
- Dieser Auslegung haben MGM und die Regierung des Vereinigten Königreichs
entgegengehalten, daß die Berücksichtigung der mehr oder weniger großen
Kennzeichnungskraft der älteren Marke bei der Prüfung der Ähnlichkeit zwischen
den damit gekennzeichneten Waren oder Dienstleistungen die Gefahr mit sich
bringe, daß sich das Eintragungsverfahren in die Länge ziehe. Dagegen hat die
französische Regierung vorgetragen, ihrer Erfahrung nach führe die
Berücksichtigung dieses Faktors bei der Prüfung der Ähnlichkeit zwischen den
gekennzeichneten Waren oder Dienstleistungen nicht dazu, daß das
Eintragungsverfahren über Gebühr in die Länge gezogen oder kompliziert werde.
- 21.
- Hierzu ist festzustellen, daß dies auch wenn man annimmt, daß die befürwortete
Auslegung zu einer erheblichen Verlängerung des Eintragungsverfahrens führt
für die Auslegung des Artikels 4 Absatz 1 Buchstabe b der Richtlinie nicht
ausschlaggebend sein kann. Aus Gründen der Rechtssicherheit und der
ordnungsgemäßen Verwaltung ist auf jeden Fall sicherzustellen, daß Marken, deren
Benutzung vor Gericht mit Erfolg entgegengetreten werden könnte, nicht
eingetragen werden.
- 22.
- Für die Anwendung des Artikels 4 Absatz 1 Buchstabe b ist jedoch selbst wenn
eine Identität mit einer Marke besteht, deren Kennzeichnungskraft besonders
ausgeprägt ist weiterhin der Beweis zu erbringen, daß eine Ähnlichkeit zwischen
den gekennzeichneten Waren oder Dienstleistungen besteht. Im Gegensatz zu dem,
was z. B. in Artikel 4 Absatz 4 Buchstabe a vorgesehen ist, der sich ausdrücklich
auf die Fälle bezieht, in denen die Waren oder Dienstleistungen nicht ähnlich sind,
sieht Artikel 4 Absatz 1 Buchstabe b nämlich vor, daß eine Verwechslungsgefahr
eine Identität oder eine Ähnlichkeit der gekennzeichneten Waren oder
Dienstleistungen voraussetzt.
- 23.
- Bei der Beurteilung der Ähnlichkeit der betroffenen Waren oder Dienstleistungen
sind darauf haben die französische Regierung, die Regierung des Vereinigten
Königreichs und die Kommission hingewiesen alle erheblichen Faktoren zu
berücksichtigen, die das Verhältnis zwischen den Waren oder Dienstleistungen
kennzeichnen. Zu diesen Faktoren gehören insbesondere deren Art,
Verwendungszweck und Nutzung sowie ihre Eigenart als miteinander
konkurrierende oder einander ergänzende Waren oder Dienstleistungen.
- 24.
- Nach alledem ist auf den ersten Teil der Vorabentscheidungsfrage zu antworten,
daß Artikel 4 Absatz 1 Buchstabe b der Richtlinie dahin auszulegen ist, daß die
Kennzeichnungskraft der prioritätsälteren Marke, insbesondere ihre Bekanntheit,
bei der Beurteilung zu berücksichtigen ist, ob die Ähnlichkeit zwischen den durch
die beiden Marken erfaßten Waren oder Dienstleistungen ausreicht, um eine
Verwechslungsgefahr herbeizuführen.
- 25.
- Der zweite Teil der Frage des Bundesgerichtshofs geht im wesentlichen dahin, ob
eine Verwechslungsgefahr im Sinne von Artikel 4 Absatz 1 Buchstabe b der
Richtlinie auch dann bestehen kann, wenn der Verkehr die betreffenden Waren
oder Dienstleistungen unterschiedlichen Herkunftsstätten zuordnet.
- 26.
- In diesem Zusammenhang ist festzustellen, daß eine Verwechslungsgefahr im Sinne
von Artikel 4 Absatz 1 Buchstabe b der Richtlinie besteht, wenn das Publikum sich
in bezug auf die Herkunft der betreffenden Waren oder Dienstleistungen täuschen
kann.
- 27.
- Zum einen geht nämlich aus Artikel 2 der Richtlinie hervor, daß eine Marke
geeignet sein muß, Waren oder Dienstleistungen eines Unternehmens von
denjenigen anderer Unternehmen zu unterscheiden; zum anderen wird in der
zehnten Begründungserwägung der Richtlinie angegeben, daß es Zweck des durch
die Marke gewährten Schutzes ist, insbesondere die Herkunftsfunktion der Marke
zu gewährleisten.
- 28.
- Außerdem besteht nach ständiger Rechtsprechung die Hauptfunktion der Marke
darin, dem Verbraucher oder Endabnehmer die Ursprungsidentität der
gekennzeichneten Ware oder Dienstleistung zu garantieren, indem sie ihm
ermöglicht, diese Ware oder Dienstleistung ohne Verwechslungsgefahr von Waren
oder Dienstleistungen anderer Herkunft zu unterscheiden; damit die Marke ihre
Aufgabe als wesentlicher Bestandteil des Systems eines unverfälschten
Wettbewerbs, das der Vertrag errichten will, erfüllen kann, muß sie die Gewähr
bieten, daß alle Waren oder Dienstleistungen, die mit ihr versehen sind, unter der
Kontrolle eines einzigen Unternehmens hergestellt oder erbracht worden sind, das
für ihre Qualität verantwortlich gemacht werden kann (siehe u. a. Urteil vom 17.
Oktober 1990 in der Rechtssache C-10/89, HAG II, Slg. 1990, I-3711, Randnrn. 14
und 13).
- 29.
- Daher liegt eine Verwechslungsgefahr im Sinne von Artikel 4 Absatz 1 Buchstabe
b der Richtlinie dann vor, wenn das Publikum glauben könnte, daß die
betreffenden Waren oder Dienstleistungen aus demselben Unternehmen oder
gegebenenfalls aus wirtschaftlich miteinander verbundenen Unternehmen stammen
(siehe in diesem Sinn das Urteil SABEL, Randnrn. 16 bis 18). Wie der
Generalanwalt in Nummer 30 seiner Schlußanträge festgestellt hat, genügt es für
die Verneinung dieser Verwechslungsgefahr folglich nicht, lediglich nachzuweisen,
daß für das Publikum keine Verwechslungsgefahr in bezug auf den Ort besteht, an
dem die betreffenden Waren oder Dienstleistungen hergestellt oder erbracht
werden.
- 30.
- Auf den zweiten Teil der Vorlagefrage ist daher zu antworten, daß eine
Verwechslungsgefahr im Sinne von Artikel 4 Absatz 1 Buchstabe b der Richtlinie
auch dann bestehen kann, wenn für das Publikum die betreffenden Waren oder
Dienstleistungen an unterschiedlichen Orten hergestellt oder erbracht werden.
Dagegen ist das Bestehen einer solchen Gefahr ausgeschlossen, wenn sich nicht
ergibt, daß das Publikum glauben könnte, daß die betreffenden Waren oder
Dienstleistungen aus demselben Unternehmen oder gegebenenfalls aus
wirtschaftlich miteinander verbundenen Unternehmen stammen.
Kosten
- 31.
- Die Auslagen der französischen Regierung, der italienischen Regierung und der
Regierung des Vereinigten Königreichs sowie der Kommission der Europäischen
Gemeinschaften, die vor dem Gerichtshof Erklärungen abgegeben haben, sind nicht
erstattungsfähig. Für die Parteien des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren ein
Zwischenstreit in dem bei dem vorlegenden Gericht anhängigen Rechtsstreit; die
Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts.
Aus diesen Gründen
hat
DER GERICHTSHOF
auf die ihm vom Bundesgerichtshof mit Beschluß vom 12. Dezember 1996
vorgelegte Frage für Recht erkannt:
1. Artikel 4 Absatz 1 Buchstabe b der Ersten Richtlinie 89/104/EWG des Rates
vom 21. Dezember 1988 zur Angleichung der Rechtsvorschriften der
Mitgliedstaaten über die Marken ist dahin auszulegen, daß die
Kennzeichnungskraft der prioritätsälteren Marke, insbesondere ihre
Bekanntheit, bei der Beurteilung zu berücksichtigen ist, ob die Ähnlichkeit
zwischen den durch die beiden Marken erfaßten Waren oder
Dienstleistungen ausreicht, um eine Verwechslungsgefahr herbeizuführen.
2. Eine Verwechslungsgefahr im Sinne von Artikel 4 Absatz 1 Buchstabe b der
Richtlinie 89/104 kann auch dann bestehen, wenn für das Publikum die
betreffenden Waren oder Dienstleistungen an unterschiedlichen Orten
hergestellt oder erbracht werden. Dagegen ist das Bestehen einer solchen
Gefahr ausgeschlossen, wenn sich nicht ergibt, daß das Publikum glauben
könnte, daß die betreffenden Waren oder Erzeugnisse aus demselben Unternehmen
oder gegebenenfalls aus wirtschaftlich miteinander verbundenen Unternehmen
stammen.
Rodríguez IglesiasGulmann
Ragnemalm
Wathelet Schintgen
Kapteyn
Murray Edward
Hirsch
Jann Sevón
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Verkündet in öffentlicher Sitzung in Luxemburg am 29. September 1998.
Der Kanzler
Der Präsident
R. Grass
G. C. Rodríguez Iglesias