Language of document : ECLI:EU:C:2020:294

SCHLUSSANTRÄGE DES GENERALANWALTS

PRIIT PIKAMÄE

vom 23. April 2020(1)

Verbundene Rechtssachen C924/19 PPU und C925/19 PPU

FMS,

FNZ (C‑924/19 PPU),

SA,

SA junior (C‑925/19 PPU)

gegen

Országos Idegenrendészeti Főigazgatóság Dél-alföldi Regionális Igazgatóság,

Országos Idegenrendészeti Főigazgatóság

(Vorabentscheidungsersuchen des Szegedi Közigazgatási és Munkaügyi Bíróság [Verwaltungs- und Arbeitsgericht Szeged, Ungarn])

„Vorlage zur Vorabentscheidung – Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts – Gemeinsame Verfahren für die Zuerkennung und Aberkennung des internationalen Schutzes – Richtlinie 2013/32 – Antrag auf internationalen Schutz – Art. 33 Abs. 2 – Unzulässigkeitsgründe – Nationale Regelung, wonach ein Antrag unzulässig ist, wenn der Antragsteller über ein Land, in dem er weder Verfolgung noch der Gefahr eines ernsthaften Schadens ausgesetzt ist oder in dem ein angemessenes Schutzniveau gewährleistet wird, in den betreffenden Mitgliedstaat gelangt ist – Art. 35, 38 Abs. 4, Art. 40 und 43 – Richtlinie 2013/33 – Art. 2 Buchst. h, Art. 8 und 9 – Asylverfahren – Rückkehrmaßnahme – Verfahrensmodalitäten – Haft – Dauer der Haft – Rechtmäßigkeit der Haft – Prüfung – Klage – Recht auf einen wirksamen Rechtsbehelf – Art. 47 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union“






1.        Die beiden verbundenen Rechtssachen C‑924/19 PPU und C‑925/19 PPU geben dem Gerichtshof Gelegenheit, sich erneut mit der rechtlichen Situation von Personen zu befassen, die internationalen Schutz beantragt haben und sich in der Transitzone von Röszke an der Grenze zwischen Serbien und Ungarn aufhalten. Die zahlreichen dem Gerichtshof zur Vorabentscheidung vorgelegten Fragen betreffen verschiedene Probleme bei der Auslegung der Richtlinie 2013/32/EU(2) und der Richtlinie 2013/33/EU(3), insbesondere hinsichtlich der Konsequenzen, die es hat, wenn ein Drittland die Rückübernahme von Migranten ablehnt, deren Antrag auf internationalen Schutz für unzulässig erklärt wurde, hinsichtlich der Einstufung ihrer Unterbringung in der Transitzone im Hinblick auf die Bestimmungen des Unionsrechts über die Haft und hinsichtlich ihres Rechts auf wirksamen gerichtlichen Rechtsschutz, namentlich mittels des Erlasses vorläufiger Maßnahmen durch das nationale Gericht.

2.        Die Aktualität der Migrationsbewegungen und das kürzlich ergangene Urteil Ilias und Ahmed gegen Ungarn(4) der Großen Kammer des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte, das gerade die Situation von Drittstaatsangehörigen betrifft, die sich in der Transitzone von Röszke aufgehalten haben, verleihen den vorliegenden Vorabentscheidungsersuchen einen sensiblen Charakter, da die Antworten, die der Gerichtshof geben wird, sowohl aus juristischer als auch aus humanitärer Sicht von unbestreitbarem Interesse sind.

I.      Rechtlicher Rahmen

A.      Unionsrecht

1.      Richtlinie 2013/32

3.        Art. 6 („Zugang zum Verfahren“) der Richtlinie 2013/32 sieht vor:

„(1)      Stellt eine Person einen Antrag auf internationalen Schutz bei einer Behörde, die nach nationalem Recht für die Registrierung solcher Anträge zuständig ist, so erfolgt die Registrierung spätestens drei Arbeitstage nach Antragstellung.

(2)      Die Mitgliedstaaten stellen sicher, dass eine Person, die einen Antrag auf internationalen Schutz gestellt hat, tatsächlich die Möglichkeit hat, diesen so bald wie möglich förmlich zu stellen. Stellt der Antragsteller keinen förmlichen Antrag, so können die Mitgliedstaaten Artikel 28 entsprechend anwenden.

(3)      Unbeschadet des Absatzes 2 können die Mitgliedstaaten verlangen, dass Anträge auf internationalen Schutz persönlich und/oder an einem bestimmten Ort gestellt werden.

(5)      Beantragt eine große Zahl von Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen gleichzeitig internationalen Schutz, so dass es in der Praxis sehr schwierig ist, die Frist nach Absatz 1 einzuhalten, so können die Mitgliedstaaten vorsehen, dass diese Frist auf 10 Arbeitstage verlängert wird.“

4.        Art. 26 („Gewahrsam“) der Richtlinie 2013/32 bestimmt:

„(1)      Die Mitgliedstaaten nehmen eine Person nicht allein deshalb in Gewahrsam, weil sie einen Antrag gestellt hat. Die Gründe für den Gewahrsam und die Gewahrsamsbedingungen und die Garantien für in Gewahrsam befindliche Antragsteller bestimmen sich nach der Richtlinie [2013/33].

(2)      Wird ein Asylbewerber in Gewahrsam genommen, so stellen die Mitgliedstaaten sicher, dass eine rasche gerichtliche Überprüfung des Gewahrsams gemäß der Richtlinie [2013/33] möglich ist.“

5.        Art. 33 („Unzulässige Anträge“) der Richtlinie 2013/32 lautet:

„(1)      Zusätzlich zu den Fällen, in denen nach Maßgabe der Verordnung (EU) Nr. 604/2013[(5)] ein Antrag nicht geprüft wird, müssen die Mitgliedstaaten nicht prüfen, ob dem Antragsteller der internationale Schutz im Sinne der Richtlinie 2011/95/EU[(6)] zuzuerkennen ist, wenn ein Antrag auf der Grundlage des vorliegenden Artikels als unzulässig betrachtet wird.

(2)      Die Mitgliedstaaten können einen Antrag auf internationalen Schutz nur dann als unzulässig betrachten, wenn

a)      ein anderer Mitgliedstaat internationalen Schutz gewährt hat;

b)      ein Staat, der kein Mitgliedstaat ist, als erster Asylstaat des Antragstellers gemäß Artikel 35 betrachtet wird;

c)      ein Staat, der kein Mitgliedstaat ist, als für den Antragsteller sicherer Drittstaat gemäß Artikel 38 betrachtet wird;

d)      es sich um einen Folgeantrag handelt, bei dem keine neuen Umstände oder Erkenntnisse zu der Frage, ob der Antragsteller nach Maßgabe der Richtlinie [2011/95] als Person mit Anspruch auf internationalen Schutz anzuerkennen ist, zutage getreten oder vom Antragsteller vorgebracht worden sind, oder

e)      eine vom Antragsteller abhängige Person förmlich einen Antrag stellt, nachdem sie gemäß Artikel 7 Absatz 2 eingewilligt hat, dass ihr Fall Teil eines in ihrem Namen förmlich gestellten Antrags ist, und keine Tatsachen betreffend die Situation dieser Person vorliegen, die einen gesonderten Antrag rechtfertigen.“

6.        Art. 35 („Begriff des ersten Asylstaats“) der Richtlinie 2013/32 lautet:

„Ein Staat kann als erster Asylstaat für einen Antragsteller angesehen werden, wenn

a)      der Antragsteller in dem betreffenden Staat als Flüchtling anerkannt wurde und er diesen Schutz weiterhin in Anspruch nehmen darf oder

b)      ihm in dem betreffenden Staat anderweitig ausreichender Schutz, einschließlich der Anwendung des Grundsatzes der Nicht-Zurückweisung, gewährt wird,

vorausgesetzt, dass er von diesem Staat wieder aufgenommen wird.

Bei der Anwendung des Konzepts des ersten Asylstaats auf die besonderen Umstände des Antragstellers können die Mitgliedstaaten Artikel 38 Absatz 1 berücksichtigen. Der Antragsteller hat die Möglichkeit, die Anwendung des Konzepts des ersten Asylstaats unter Berufung auf seine besonderen Umstände anzufechten.“

7.        Art. 38 („Das Konzept des sicheren Drittstaats“) der Richtlinie 2013/32 sieht in Abs. 4 vor:

„Erlaubt der Drittstaat dem Antragsteller nicht, in sein Hoheitsgebiet einzureisen, so müssen die Mitgliedstaaten sicherstellen, dass im Einklang mit den Grundsätzen und Garantien nach Kapitel II Zugang zu einem Verfahren gewährt wird.“

8.        Art. 43 („Verfahren an der Grenze“) der Richtlinie 2013/32 bestimmt:

„(1)      Die Mitgliedstaaten können nach Maßgabe der Grundsätze und Garantien nach Kapitel II Verfahren festlegen, um an der Grenze oder in Transitzonen des Mitgliedstaats über Folgendes zu entscheiden:

a)      die Zulässigkeit eines an derartigen Orten gestellten Antrags gemäß Artikel 33 und/oder

b)      die Begründetheit eines Antrags in einem Verfahren nach Artikel 31 Absatz 8.

(2)      Die Mitgliedstaaten stellen sicher, dass eine Entscheidung im Rahmen der Verfahren nach Absatz 1 innerhalb einer angemessenen Frist ergeht. Ist innerhalb von vier Wochen keine Entscheidung ergangen, so wird dem Antragsteller die Einreise in das Hoheitsgebiet des Mitgliedstaats gestattet, damit sein Antrag nach Maßgabe der anderen Bestimmungen dieser Richtlinie bearbeitet werden kann.

(3)      Wenn es aufgrund der Ankunft einer erheblichen Anzahl von Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen an der Grenze oder in Transitzonen, die förmlich Anträge auf internationalen Schutz stellen, in der Praxis nicht möglich ist, die Bestimmungen des Absatzes 1 anzuwenden, können die genannten Verfahren auch in diesen Fällen und für die Zeit angewandt werden, in der die Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen normalerweise in der Nähe der Grenze oder Transitzone untergebracht werden.“

2.      Richtlinie 2013/33

9.        Art. 8 („Haft“) der Richtlinie 2013/33 lautet:

„(1)      Die Mitgliedstaaten nehmen eine Person nicht allein deshalb in Haft, weil sie ein Antragsteller im Sinne der Richtlinie [2013/32] ist.

(2)      In Fällen, in denen es erforderlich ist, dürfen die Mitgliedstaaten auf der Grundlage einer Einzelfallprüfung den Antragsteller in Haft nehmen, wenn sich weniger einschneidende Maßnahmen nicht wirksam anwenden lassen.

(3)      Ein Antragsteller darf nur in Haft genommen werden,

a)      um seine Identität oder Staatsangehörigkeit festzustellen oder zu überprüfen;

b)      um Beweise zu sichern, auf die sich sein Antrag auf internationalen Schutz stützt und die ohne Haft unter Umständen nicht zu erhalten wären, insbesondere wenn Fluchtgefahr des Antragstellers besteht;

c)      um im Rahmen eines Verfahrens über das Recht des Antragstellers auf Einreise in das Hoheitsgebiet zu entscheiden;

d)      wenn er sich aufgrund eines Rückkehrverfahrens gemäß der Richtlinie 2008/115/EG[(7)] zur Vorbereitung seiner Rückführung und/oder Fortsetzung des Abschiebungsverfahrens in Haft befindet und der betreffende Mitgliedstaat auf der Grundlage objektiver Kriterien, einschließlich der Tatsache, dass der Antragsteller bereits Gelegenheit zum Zugang zum Asylverfahren hatte, belegen kann, dass berechtigte Gründe für die Annahme bestehen, dass er den Antrag auf internationalen Schutz nur [stellt], um die Vollstreckung der Rückkehrentscheidung zu verzögern oder zu vereiteln;

e)      wenn dies aus Gründen der nationalen Sicherheit oder der öffentlichen Ordnung erforderlich ist;

f)      wenn dies mit Artikel 28 der Verordnung [Nr. 604/2013] in Einklang steht.

Haftgründe werden im einzelstaatlichen Recht geregelt.

(4)      Die Mitgliedstaaten stellen sicher, dass die einzelstaatlichen Rechtsvorschriften Bestimmungen für Alternativen zur Inhaftnahme enthalten wie zum Beispiel Meldeauflagen, die Hinterlegung einer finanziellen Sicherheit oder die Pflicht, sich an einem zugewiesenen Ort aufzuhalten.“

10.      In Art. 9 („Garantien für in Haft befindliche Antragsteller“) der Richtlinie 2013/33 heißt es:

„(1)      Ein Antragsteller wird für den kürzest möglichen Zeitraum und nur so lange in Haft genommen, wie die in Artikel 8 Absatz 3 genannten Gründe gegeben sind.

Die Verwaltungsverfahren in Bezug auf die in Artikel 8 Absatz 3 genannten Gründe für die Inhaftnahme werden mit der gebotenen Sorgfalt durchgeführt. Verzögerungen in den Verwaltungsverfahren, die nicht dem Antragsteller zuzurechnen sind, rechtfertigen keine Fortdauer der Haft.

(2)      Die Haft der Antragsteller wird von einer Justiz- oder Verwaltungsbehörde schriftlich angeordnet. In der Anordnung werden die sachlichen und rechtlichen Gründe für die Haft angegeben.

(3)      Wird die Haft von einer Verwaltungsbehörde angeordnet, so sorgen die Mitgliedstaaten von Amts wegen und/oder auf Antrag des Antragstellers für eine zügige gerichtliche Überprüfung der Rechtmäßigkeit der Inhaftnahme. Findet eine derartige Überprüfung von Amts wegen statt, so wird so schnell wie möglich nach Beginn der Haft entschieden. Findet die Überprüfung auf Antrag des Antragstellers statt, so wird über sie so schnell wie möglich nach Einleitung des diesbezüglichen Verfahrens entschieden. Zu diesem Zweck legen die Mitgliedstaaten in ihrem einzelstaatlichen Recht die Frist fest, in der die gerichtliche Überprüfung von Amts wegen und/oder die gerichtliche Überprüfung auf Antrag des Antragstellers durchzuführen ist.

Falls sich die Haft infolge der gerichtlichen Überprüfung als unrechtmäßig herausstellt, wird der betreffende Antragsteller unverzüglich freigelassen.

(4)      In Haft befindliche Antragsteller werden unverzüglich schriftlich und in einer Sprache, die sie verstehen, oder von der vernünftigerweise angenommen werden darf, dass sie sie verstehen, über die Gründe für die Haft und die im einzelstaatlichen Recht vorgesehenen Verfahren für die Anfechtung der Haftanordnung sowie über die Möglichkeit informiert, unentgeltlich Rechtsberatung und ‑vertretung in Anspruch zu nehmen.

(5)      Die Haft wird in angemessenen Zeitabständen von Amts wegen und/oder auf Antrag des betroffenen Antragstellers von einer Justizbehörde überprüft, insbesondere wenn sie von längerer Dauer ist oder sich maßgebliche Umstände ergeben oder neue Informationen vorliegen, die sich auf die Rechtmäßigkeit der Haft auswirken könnten.

…“

B.      Ungarisches Recht

1.      Gesetz über das Asylrecht

11.      § 5 Abs. 1 des A menedékjogról szóló 2007. évi LXXX. törvény (Gesetz Nr. LXXX von 2007 über das Asylrecht, im Folgenden: Gesetz über das Asylrecht) bestimmt:

„Der Asylbewerber hat das Recht,

a)      sich im Einklang mit den in diesem Gesetz vorgesehenen Voraussetzungen im ungarischen Hoheitsgebiet aufzuhalten und im Einklang mit der speziellen Regelung eine Erlaubnis zum Aufenthalt im ungarischen Hoheitsgebiet zu erhalten;

…“

12.      § 51 Abs. 2 Buchst. f des Gesetzes über das Asylrecht in der am 1. Juli 2018 geänderten Fassung sieht folgenden neuen Unzulässigkeitsgrund vor:

„Der Antrag ist unzulässig, wenn … der Antragsteller über ein Land eingereist ist, in dem er weder Verfolgung im Sinne von § 6 Abs. 1 noch der Gefahr eines ernsthaften Schadens im Sinne von § 12 Abs. 1 ausgesetzt ist, oder wenn in dem Land, über das er nach Ungarn eingereist ist, ein angemessenes Schutzniveau gewährleistet wird.“

13.      § 71/A des Gesetzes über das Asylrecht regelt das Verfahren an der Grenze; seine Abs. 1 bis 7 lauten:

„(1)      Wenn der Ausländer seinen Antrag in einer Transitzone stellt,

a)      bevor ihm gestattet wurde, in das ungarische Hoheitsgebiet einzureisen, oder

b)      nachdem er bis an den Eingang der zum Schutz der Ordnung an der Grenze dienenden Einrichtung im Sinne des Az államhatárról szóló törvény (Gesetz über die Staatsgrenzen) gebracht wurde, nachdem er innerhalb eines Streifens von acht Kilometern ab der Außengrenze des ungarischen Hoheitsgebiets im Sinne von Art. 2 Nr. 2 der Verordnung (EU) 2016/399 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 9. März 2016 über einen Gemeinschaftskodex für das Überschreiten der Grenzen durch Personen (Schengener Grenzkodex) [(ABl. 2016, L 77, S. 1)] oder von Zeichen zur Kennzeichnung der Grenze aufgegriffen wurde.

Das vorliegende Kapitel gilt vorbehaltlich der nachstehenden Bestimmungen.

(2)      Im Rahmen eines Verfahrens an der Grenze verfügt der Antragsteller nicht über die in § 5 Abs. 1 Buchst. a und c vorgesehenen Rechte.

(3)      Die für Asylsachen zuständige Behörde entscheidet mit Vorrang über die Zulässigkeit des Antrags, spätestens acht Tage nachdem er gestellt wurde. Die für Asylsachen zuständige Behörde trifft unverzüglich die erforderlichen Maßnahmen für die Zustellung der im Rahmen des Verfahrens ergangenen Entscheidung.

(4)      Nach Ablauf von vier Wochen seit Antragstellung gestattet die für migrationspolizeiliche Angelegenheiten zuständige Behörde die Einreise im Einklang mit der einschlägigen Rechtsnorm.

(5)      Ist der Antrag nicht unzulässig, gestattet die für migrationspolizeiliche Angelegenheiten zuständige Behörde die Einreise im Einklang mit der einschlägigen Rechtsnorm.

(6)      Wurde dem Antragsteller gestattet, in das ungarische Hoheitsgebiet einzureisen, führt die für Asylsachen zuständige Behörde das Verfahren im Einklang mit den allgemeinen Vorschriften durch.

(7)      Die Vorschriften über das Verfahren an der Grenze gelten nicht für schutzbedürftige Personen.“

14.      Kapitel IX/A. des Gesetzes über das Asylrecht enthält Bestimmungen für die durch eine Masseneinwanderung herbeigeführte Krisensituation; zu ihnen gehören § 80/I Buchst. i und § 80/J Abs. 4, die die Anwendung von § 71/A und von § 5 Abs. 1 Buchst. a und c ausschließen.

2.      Gesetz über die Staatsgrenzen

15.      § 15/A. des Az államhatárról szóló 2007. évi LXXXIX. törvény (Gesetz Nr. LXXXIX von 2007 über die Staatsgrenzen, im Folgenden: Gesetz über die Staatsgrenzen) sieht in Bezug auf die Vorschriften über die Errichtung einer Transitzone Folgendes vor:

„…

(2)      Ein Antragsteller, der sich in einer Transitzone befindet, darf in das ungarische Hoheitsgebiet einreisen,

a)      wenn die für Asylsachen zuständige Behörde eine Entscheidung trifft, mit der ihm internationaler Schutz gewährt wird;

b)      wenn die Voraussetzungen für die Durchführung eines Asylverfahrens im Einklang mit den allgemeinen Vorschriften erfüllt sind;

c)      wenn die Bestimmungen von § 71/A Abs. 4 und 5 des Gesetzes über das Asylrecht anzuwenden sind.

(2a)      In einer durch eine Masseneinwanderung herbeigeführten Krisensituation kann einem Antragsteller, der sich in einer Transitzone befindet, die Einreise in das ungarische Hoheitsgebiet in den in Abs. 2 Buchst. a und b genannten Fällen gestattet werden.

…“

3.      Gesetz über die Einreise und den Aufenthalt von Drittstaatsangehörigen

16.      § 62 des A harmadik országbeli állampolgárok beutazásáról és tartózkodásáról szóló 2007. évi II. törvény (Gesetz Nr. II von 2007 über die Einreise und den Aufenthalt von Drittstaatsangehörigen, im Folgenden: Gesetz über die Einreise und den Aufenthalt von Drittstaatsangehörigen) sieht in Bezug auf die Zuweisung eines bestimmten Aufenthaltsorts vor:

„(1)      Die für migrationspolizeiliche Angelegenheiten zuständige Behörde kann einem Drittstaatsangehörigen auferlegen, sich an einem bestimmten Ort aufzuhalten, wenn

f)      gegen diesen Drittstaatsangehörigen eine Rückkehrentscheidung ergangen ist und er weder über die zur Bestreitung seines Lebensunterhalts nötigen materiellen Mittel noch über eine Unterkunft verfügt

(3)      Dem Drittstaatsangehörigen kann ein obligatorischer Aufenthaltsort in einer Sammelunterkunft oder einem Aufnahmezentrum zugewiesen werden, wenn er nicht in der Lage ist, für seinen Unterhalt aufzukommen und weder über eine geeignete Unterkunft noch über angemessene materielle Mittel oder Einkünfte oder über eine Einladung einer Person, die verpflichtet ist, für ihn aufzukommen, oder über Familienangehörige, die verpflichtet werden können, seinen Unterhalt zu bestreiten, verfügt.

(3a)      In einer durch eine Masseneinwanderung herbeigeführten Krisensituation kann auch eine Transitzone zum obligatorischen Aufenthaltsort bestimmt werden.“

II.    Sachverhalt der Rechtsstreitigkeiten, Ausgangsverfahren und Vorlagefragen

A.      Rechtssache C924/19 PPU

17.      Die Kläger des Ausgangsverfahrens sind volljährige afghanische Staatsangehörige, die miteinander verheiratet sind. Sie gelangten über Serbien nach Ungarn, in die Transitzone von Röszke.

18.      Am 5. Februar 2019 stellten sie bei der Asylbehörde in der Transitzone einen Asylantrag.

19.      Zur Stützung ihres Antrags gaben die Kläger des Ausgangsverfahrens an, sie hätten etwa drei Jahre zuvor mit einem für einen Monat gültigen Visum Afghanistan aus politischen Gründen verlassen und seien in die Türkei gereist. Die türkischen Behörden hätten ihr Visum um sechs Monate verlängert. Sie seien über Bulgarien und Serbien erstmals nach Ungarn eingereist, hätten keinen Asylantrag in einem anderen Land gestellt und seien dort weder schlecht behandelt noch angegriffen worden.

20.      Am selben Tag bestimmte die Asylbehörde die Transitzone von Röszke zum Unterbringungsort der Kläger des Ausgangsverfahrens. Sie halten sich nach wie vor dort auf.

21.      Mit Verwaltungsbescheid vom 25. April 2019 wies die Asylbehörde den Asylantrag der Kläger des Ausgangsverfahrens ohne Prüfung in der Sache als unzulässig zurück und stellte fest, dass der Grundsatz der Nichtzurückweisung in ihrem Fall im Verhältnis zur Islamischen Republik Afghanistan nicht gelte. Sie ordnete die Abschiebung der Kläger des Ausgangsverfahrens mittels einer Entscheidung an, die mit einem Einreise- und Aufenthaltsverbot für die Dauer eines Jahres sowie einer Ausschreibung im Schengener Informationssystem zwecks Einreise- und Aufenthaltsverweigerung verbunden war.

22.      Der Asylantrag der Kläger des Ausgangsverfahrens wurde auf der Grundlage von § 51 Abs. 2 Buchst. f des Gesetzes über das Asylrecht für unzulässig erklärt, weil sie nach Ungarn über ein Land gelangt seien, in dem sie weder Verfolgungen ausgesetzt gewesen seien, die die Zuerkennung des Flüchtlingsstatus rechtfertigten, noch die Gefahr bestanden habe, dass sie ernsthafte Schäden erlitten, oder weil in dem Land, über das sie nach Ungarn gelangt seien, für sie ein angemessener Schutz gewährleistet gewesen sei (Konzept des „sicheren Transitstaats“).

23.      Die von den Klägern des Ausgangsverfahrens gegen den Bescheid der Asylbehörde erhobene Klage wurde vom Fővárosi Közigazgatási és Munkaügy Bíróság (Verwaltungs- und Arbeitsgericht Budapest-Stadt, Ungarn) mit Entscheidung vom 14. Mai 2019 abgewiesen, ohne dass dieses Gericht in der Sache über ihren Asylantrag entschied. Es führte noch aus, die Folgen des etwaigen Umstands, dass die Republik Serbien ihre Rückübernahme ablehne, müssten im Rahmen des migrationspolizeilichen Verfahrens geklärt werden.

24.      In der Folge gab die erstinstanzliche migrationspolizeiliche Behörde den Klägern des Ausgangsverfahrens mit Bescheid vom 17. Mai 2019 in Anwendung von § 62 Abs. 3a des Gesetzes über die Einreise und den Aufenthalt von Drittstaatsangehörigen auf, sich ab dem Datum des Bescheids im Sektor für Ausländer der Transitzone von Röszke aufzuhalten. Nach den Angaben des vorlegenden Gerichts werden die Gründe für einen solchen Bescheid darin nicht angegeben, und das Recht zur Anrufung eines Gerichts ist eingeschränkt; nur die Nichtbeachtung der der Polizeibehörde durch die einschlägige Regelung auferlegten Pflicht zur Lieferung von Informationen kann vor einem ordentlichen Gericht im Wege der Einrede angefochten werden.

25.      Am selben Tag kontaktierte die erstinstanzliche migrationspolizeiliche Behörde die in Serbien für die Rückführung zuständige Polizeibehörde, damit sie die für die Rückübernahme der Kläger des Ausgangsverfahrens nach Serbien nötigen Schritte unternehme.

26.      Am 23. Mai 2019 teilte die zuständige Polizeibehörde mit, die Republik Serbien habe die Kläger des Ausgangsverfahrens nicht in ihr Hoheitsgebiet rückübernommen, da sie nicht illegal vom serbischen Hoheitsgebiet aus in das ungarische Hoheitsgebiet eingereist seien, so dass die Voraussetzungen für die Anwendung von Art. 3 Abs. 1 des Abkommens zwischen der Europäischen Union und der Republik Serbien über die Rückübernahme nicht erfüllt seien.

27.      Obwohl die Republik Serbien die Kläger des Ausgangsverfahrens nicht rückübernahm, prüfte die Asylbehörde ihren Asylantrag nicht in der Sache, weil sie eine solche Prüfung nach § 51/A des Gesetzes über das Asylrecht nur vornehme, wenn der Unzulässigkeitsgrund auf dem Begriff des „sicheren Herkunftsstaats“ oder des „sicheren Drittstaats“ beruhe. Der Bescheid, mit dem der Asylantrag der Kläger als unzulässig zurückgewiesen worden sei, habe aber auf einem anderen Unzulässigkeitsgrund beruht, und zwar auf dem des „sicheren Transitstaats“ im Sinne von § 51 Abs. 2 Buchst. f dieses Gesetzes.

28.      Mit Bescheiden vom 3. und 6. Juni 2019 änderte die erstinstanzliche migrationspolizeiliche Behörde die Rückkehrentscheidungen der Asylbehörde in Bezug auf das Bestimmungsland ab und ordnete die begleitete Rückführung der Kläger des Ausgangsverfahrens nach Afghanistan an.

29.      Die Kläger des Ausgangsverfahrens legten gegen diese Bescheide Beschwerde bei der Asylbehörde als migrationspolizeiliche Behörde ein. Mit Beschlüssen vom 28. Juni 2019 wurde ihre Beschwerde jedoch zurückgewiesen. Nach § 65 Abs. 3b des Gesetzes über die Einreise und den Aufenthalt von Drittstaatsangehörigen gibt es gegen die Beschwerdeentscheidung keinen Rechtsbehelf.

30.      Die Kläger des Ausgangsverfahrens erhoben beim vorlegenden Gericht zum einen Klage auf Nichtigerklärung der Beschlüsse, mit denen die Beschwerde gegen den Vollzug der Bescheide über die Änderung des Rückkehrlands zurückgewiesen wurde, sowie darauf, der erstinstanzlichen migrationspolizeilichen Behörde aufzugeben, ein neues Verfahren durchzuführen. Dabei machten sie erstens geltend, die genannten Beschlüsse stellten Rückkehrentscheidungen dar, gegen die eine Klagemöglichkeit eröffnet sein müsse, damit eine Prüfung in der Sache unter Berücksichtigung des Grundsatzes der Nichtzurückweisung stattfinden könne. Zweitens rügten sie, dass die Rückkehrentscheidungen rechtswidrig seien. Die Asylbehörde hätte nämlich ihren Asylantrag in der Sache prüfen müssen, da die Republik Serbien ihre Rückübernahme abgelehnt habe. § 51 Abs. 2 Buchst. f des Gesetzes über das Asylrecht verstoße gegen das Unionsrecht.

31.      Zum anderen erhoben die Kläger des Ausgangsverfahrens beim vorlegenden Gericht eine verwaltungsgerichtliche Untätigkeitsklage gegen die Asylbehörde, gerichtet auf Feststellung, dass diese Behörde ihre Pflichten verletzt habe, indem sie es unterlassen habe, ihnen einen Aufenthaltsort außerhalb der Transitzone zuzuweisen.

32.      Das vorlegende Gericht hat diese beiden Klagen miteinander verbunden.

33.      Es führt aus, die Transitzone von Röszke, in der sich die Kläger des Ausgangsverfahrens seit der Stellung ihres Asylantrags aufhielten, befinde sich an der Grenze zwischen Ungarn und Serbien.

34.      In Bezug auf den von den Klägern des Ausgangsverfahrens gestellten Asylantrag führt das vorlegende Gericht aus, die Asylbehörde habe diesen Antrag nicht in der Sache geprüft, weil eine solche Prüfung nicht vorgesehen sei, wenn der Asylantrag auf der Grundlage des Unzulässigkeitsgrundes des sicheren Transitstaats zurückgewiesen worden sei. Ferner habe weder die erstinstanzliche ausländerpolizeiliche Behörde noch das Gericht, das im ersten Rechtszug über die Klage der Kläger des Ausgangsverfahrens gegen die Ablehnung ihres Asylantrags entschieden habe, diesen Antrag in der Sache geprüft.

35.      Das vorlegende Gericht fügt hinzu, der auf das Konzept des „sicheren Transitstaats“ im Sinne von § 51 Abs. 2 Buchst. f des Gesetzes über das Asylrecht gestützte Unzulässigkeitsgrund, auf dem die Ablehnung des Asylantrags der Kläger des Ausgangsverfahrens beruhe, gehöre nicht zu den in der Richtlinie 2013/32 abschließend aufgezählten Gründen. Unter Bezugnahme auf die Schlussanträge von Generalanwalt Bobek in der Rechtssache LH (Tompa) (C‑564/18, EU:C:2019:1056) geht es deshalb davon aus, dass er gegen das Unionsrecht verstoße.

36.      Im Fall der Kläger des Ausgangsverfahrens gebe es keine Rechtsnorm, die ausdrücklich die Wiederaufnahme der Prüfung ihres Asylantrags vorschreibe. Art. 38 Abs. 4 der Richtlinie 2013/32 sowie § 51/A des Gesetzes über das Asylrecht, mit dem er in ungarisches Recht umgesetzt werde, beträfen nur den Fall, in dem es nicht möglich sei, den Antragsteller in einen sicheren Herkunftsstaat oder einen sicheren Drittstaat zurückzuschicken, nicht aber den Fall, in dem es nicht möglich sei, ihn in einen „sicheren Transitstaat“ zurückzuschicken.

37.      Aufgrund der Weigerung der Republik Serbien, die Kläger des Ausgangsverfahrens rückzuübernehmen, sei der in § 51 Abs. 2 Buchst. f des Gesetzes über das Asylrecht vorgesehene Unzulässigkeitsgrund hinfällig geworden. Dies müsste zur Folge haben, dass die Asylbehörde verpflichtet sei, ihren Asylantrag erneut zu prüfen.

38.      Bei dieser erneuten Prüfung könne die Asylbehörde einen der in Art. 33 Abs. 1 und Abs. 2 Buchst. b und c der Richtlinie 2013/32 vorgesehenen Unzulässigkeitsgründe anführen. Angesichts der Art. 35 und 38 dieser Richtlinie, lege man sie im Licht von Art. 18 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (im Folgenden: Charta) aus, könne ein Antrag auf dieser Grundlage aber nur dann für unzulässig erklärt werden, wenn die betreffende Person von dem Drittstaat wieder aufgenommen werde. Daraus folge, dass die Asylbehörde einen Antrag nicht für unzulässig erklären könne, wenn außer Zweifel stehe, dass das Land, in das der Antragsteller abgeschoben werden solle, ihn nicht wieder aufnehmen werde. In einem solchen Fall könne ein derartiger Antrag nicht als Folgeantrag im Sinne von Art. 40 der Richtlinie 2013/32 angesehen werden.

39.      In Anbetracht dessen fielen die Kläger des Ausgangsverfahrens nach wie vor in den Anwendungsbereich der Richtlinie 2013/32. Daher stelle sich die Frage, ob sie sich im Sinne dieser Richtlinie in Gewahrsam befänden und, wenn ja, ob dieser rechtmäßig sei, da die in Art. 43 Abs. 2 der Richtlinie vorgesehene Frist von vier Wochen im vorliegenden Fall abgelaufen sei.

40.      Selbst wenn den Klägern des Ausgangsverfahrens nicht das Recht auf eine erneute Prüfung ihres Asylantrags zuerkannt würde, stelle sich gleichwohl die Frage, ob sie sich im Sinne der Richtlinie 2008/115 in Haft befänden und, wenn ja, ob ihre Inhaftnahme mit Art. 15 dieser Richtlinie vereinbar sei.

41.      Insoweit unterscheide sich die Situation der Kläger des Ausgangsverfahrens von der, zu der das Urteil Ilias und Ahmed gegen Ungarn(8) der Großen Kammer des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte vom 21. November 2019 ergangen sei.

42.      Es liege daher nahe, dass die Unterbringung der Kläger des Ausgangsverfahrens im Sektor der Transitzone, der Drittstaatsangehörigen vorbehalten sei, deren Asylantrag abgelehnt worden sei, eine Form des Gewahrsams darstelle, die mit den Erfordernissen des Unionsrechts nicht im Einklang stehe. Daher müsse es gemäß Art. 47 der Charta zulässig sein, die zuständige nationale Behörde zu zwingen, den Klägern des Ausgangsverfahrens bis zum Abschluss des streitigen Verwaltungsverfahrens einen Aufenthaltsort außerhalb der Transitzone zuzuweisen, an dem sie sich nicht in Gewahrsam befänden.

43.      Schließlich sei die Wirksamkeit der Klage gegen den Bescheid fraglich, mit dem die erstinstanzliche migrationspolizeiliche Behörde die gegen die Kläger des Ausgangsverfahrens ergangene Rückkehrentscheidung in Bezug auf das Bestimmungsland geändert habe und der als neue Rückkehrentscheidung im Sinne von Art. 3 Nr. 4 und Art. 12 Abs. 1 der Richtlinie 2008/115 anzusehen sei.

44.      Die Beschwerde gegen diesen Bescheid werde nämlich von der Asylbehörde geprüft, obwohl sie nicht die nach dem Unionsrecht erforderlichen Garantien in Bezug auf Unparteilichkeit und Unabhängigkeit erfülle, da sie zur Zentralverwaltung gehöre, dem für die Polizei zuständigen Minister unterstehe und somit Teil der Exekutive sei. Außerdem sei nach der einschlägigen ungarischen Regelung keine gerichtliche Kontrolle der auf die Beschwerde gegen den Vollzug des die Rückkehrentscheidung ändernden Bescheids ergangenen Verwaltungsentscheidung möglich.

45.      Diese Situation führe dazu, dass der Bescheid, mit dem das Rückkehrland geändert werde, letztlich Bestand haben könnte, obwohl die Kläger des Ausgangsverfahrens, falls in ihrem Fall ein neues Asylverfahren durchgeführt werden müsste, nicht mehr unter die Richtlinie 2008/115 fielen, sondern unter die Richtlinie 2013/32.

46.      Unter diesen Umständen hat das Szegedi Közigazgatási és Munkaügyi Bíróság (Verwaltungs- und Arbeitsgericht Szeged, Ungarn) beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen:

1.      (Neuer Unzulässigkeitsgrund)

Können die Bestimmungen für unzulässige Anträge in Art. 33 der Richtlinie 2013/32 dahin ausgelegt werden, dass sie der Regelung eines Mitgliedstaats entgegenstehen, nach der im Rahmen des Asylverfahrens ein Antrag unzulässig ist, aus dem hervorgeht, dass der Antragsteller über ein Land eingereist ist, in dem er weder Verfolgung noch der Gefahr eines ernsthaften Schadens ausgesetzt ist, oder dass in dem Land, über das er nach Ungarn eingereist ist, ein angemessenes Schutzniveau gewährleistet wird?

2.      (Fortsetzung des Asylverfahrens)

a)      Sind Art. 6 und Art. 38 Abs. 4 der Richtlinie 2013/32 sowie ihr 34. Erwägungsgrund, der die Pflicht, einen Antrag auf internationalen Schutz zu prüfen, vorsieht, in Verbindung mit Art. 18 der Charta dahin auszulegen, dass die Asylbehörde eines Mitgliedstaats sicherstellen muss, dass der Antragsteller die Möglichkeit hat, ein Asylverfahren einzuleiten, wenn unter Berufung auf den in Frage 1 genannten Unzulässigkeitsgrund der Asylantrag nicht in der Sache geprüft wird und der Antragsteller in einen Drittstaat ausgewiesen wird, der ihn jedoch nicht wieder aufnimmt?

b)      Falls die Frage 2. a bejaht wird: Was genau bedeutet dann diese Verpflichtung? Wird mit dem Verbot der Anwendung negativer Folgen in Bezug auf den Folgeantrag gemäß Art. 33 Abs. 2 Buchst. d und Art. 40 der Richtlinie 2013/32 die Stellung eines neuen Asylantrags oder die Einleitung/Fortsetzung des Asylverfahrens von Amts wegen ermöglicht?

c)      Falls die Frage 2. a bejaht wird: Kann auch unter Berücksichtigung von Art. 38 Abs. 4 der Richtlinie 2013/32 der Mitgliedstaat in diesem neuen Verfahren bei unveränderten tatsächlichen Umständen die Unzulässigkeit des Antrags erneut prüfen (besteht also die Möglichkeit, jedwede in Kapitel III der Richtlinie genannte Verfahrensart, z. B. erneut einen Unzulässigkeitsgrund, anzuwenden), oder muss der Asylantrag in Bezug auf das Herkunftsland in der Sache geprüft werden?

d)      Folgt aus Art. 33 Abs. 1 und Abs. 2 Buchst. b und c sowie den Art. 35 und 38 der Richtlinie 2013/32 in Verbindung mit Art. 18 der Charta, dass eine der kumulativen Voraussetzungen für die Anwendung dieses Unzulässigkeitsgrundes, d. h. für den Erlass einer darauf gestützten Entscheidung, die Wiederaufnahme des Antragstellers durch ein Drittland ist, oder genügt es, dass die Erfüllung dieser Voraussetzung erst bei der Durchführung einer solchen Entscheidung geprüft wird?

3.      (Transitzone als Hafteinrichtung im Rahmen des Asylverfahrens)

Diese Fragen sind dann relevant, wenn aufgrund der Antworten auf Frage 2 das Asylverfahren fortgeführt werden muss.

a)      Ist Art. 43 der Richtlinie 2013/32 dahin auszulegen, dass er der Regelung eines Mitgliedstaats entgegensteht, nach der es möglich ist, den Antragsteller länger als vier Wochen in der Transitzone zu inhaftieren?

b)      Ist Art. 2 Buchst. h der aufgrund von Art. 26 der Richtlinie 2013/32 anzuwendenden Richtlinie 2013/33 in Verbindung mit Art. 6 und Art. 52 Abs. 3 der Charta dahin auszulegen, dass die Unterbringung in der Transitzone unter Umständen wie denen des Ausgangsverfahrens (in denen das freiwillige Verlassen der Transitzone in jedwede Richtung in rechtmäßiger Weise unmöglich ist), die länger als die in Art. 43 der Richtlinie 2013/32 vorgesehenen vier Wochen dauert, als Haft zu qualifizieren ist?

c)      Ist es mit Art. 8 der Richtlinie 2013/33, die aufgrund des Art. 26 der Richtlinie 2013/32 anzuwenden ist, vereinbar, dass die Inhaftnahme des Antragstellers nur deswegen länger als die in Art. 43 der Richtlinie 2013/32 vorgesehenen vier Wochen dauert, weil er wegen fehlender Mittel seinen Lebensunterhalt (seine Unterkunft und seine Versorgung) nicht selbst sichern kann?

d)      Ist es mit den Art. 8 und 9 der aufgrund von Art. 26 der Richtlinie 2013/32 anzuwendenden Richtlinie 2013/33 vereinbar, dass über die Unterbringung, die eine länger als die in Art. 43 der Richtlinie 2013/32 vorgesehenen vier Wochen dauernde de facto Inhaftnahme darstellt, keine Haftanordnung ergeht, dass kein Rechtsbehelf in Bezug auf die Rechtmäßigkeit der Anordnung und Aufrechterhaltung der Haft gewährleistet wird, die de facto Inhaftnahme ohne Prüfung der Erforderlichkeit und der Verhältnismäßigkeit sowie der Alternativen zur Haft erfolgte und die genaue Dauer der Haft, einschließlich ihres Endtermins, nicht definiert ist?

e)      Kann Art. 47 der Charta dahin ausgelegt werden, dass ein Gericht eines Mitgliedstaats im Wege des vorläufigen Rechtsschutzes die Behörde verpflichten kann, einem Drittstaatsangehörigen bis zum Abschluss des Verwaltungsverfahrens einen Aufenthaltsort außerhalb der Transitzone, der nicht als Hafteinrichtung zu qualifizieren ist, zuzuweisen, wenn es sich offensichtlich um eine rechtswidrige Inhaftnahme handelt?

4.      (Transitzone als ausländerbehördliche Hafteinrichtung)

Diese Fragen sind relevant, wenn aufgrund der Antworten auf Frage 2 nicht das Asylverfahren, sondern das ausländerrechtliche Verfahren fortgeführt werden muss.

a)      Sind die Erwägungsgründe 17 und 24 sowie Art. 16 der Richtlinie 2008/115 in Verbindung mit Art. 6 und Art. 52 Abs. 3 der Charta dahin auszulegen, dass die Unterbringung in der Transitzone unter Umständen wie denen des Ausgangsverfahrens (in denen das freiwillige Verlassen der Transitzone in jedwede Richtung in rechtmäßiger Weise unmöglich ist), als freiheitsentziehende Maßnahme im Sinne dieser Bestimmungen zu qualifizieren ist?

b)      Ist es mit dem 16. Erwägungsgrund und Art. 15 Abs. 1 der Richtlinie 2008/115 in Verbindung mit Art. 6 und Art. 52 Abs. 3 der Charta vereinbar, wenn ein Drittstaatsangehöriger nur deswegen inhaftiert wird, weil seine Rückführung angeordnet worden ist und er wegen fehlender Mittel seinen Lebensunterhalt (seine Unterkunft und seine Versorgung) nicht selbst sichern kann?

c)      Ist es mit dem 16. Erwägungsgrund und Art. 15 Abs. 2 der Richtlinie 2008/115 in Verbindung mit Art. 6, Art. 47 und Art. 52 Abs. 3 der Charta vereinbar, dass über die Unterbringung, die eine de facto Inhaftnahme darstellt, keine Haftanordnung ergeht, dass kein Rechtsbehelf in Bezug auf die Rechtmäßigkeit der Anordnung und Aufrechterhaltung der Haft gewährleistet wird und die de facto Inhaftnahme ohne Prüfung der Erforderlichkeit und der Verhältnismäßigkeit sowie der Alternativen zur Haft erfolgte?

d)      Können Art. 15 Abs. 1, 4, 5 und 6 sowie der 16. Erwägungsgrund der Richtlinie 2008/115 in Verbindung mit den Art. 1, 4, 6 und 47 der Charta dahin ausgelegt werden, dass sie einer Haft entgegenstehen, deren genaue Dauer, einschließlich ihres Endtermins, nicht definiert ist?

e)      Kann das Unionsrecht dahin ausgelegt werden, dass ein Gericht eines Mitgliedstaats im Wege des vorläufigen Rechtsschutzes die Behörde verpflichten kann, einem Drittstaatsangehörigen bis zum Abschluss des Verwaltungsverfahrens einen Aufenthaltsort außerhalb der Transitzone, der nicht als Hafteinrichtung zu qualifizieren ist, zuzuweisen, wenn es sich offensichtlich um eine rechtswidrige Inhaftnahme handelt?

5.      (Wirksamer Rechtsbehelf gegen den Bescheid über die Änderung des Ziellands der Rückkehrentscheidung)

Ist Art. 13 der Richtlinie 2008/115 über die Gewährleistung eines Rechtsbehelfs des Drittstaatsangehörigen gegen „Entscheidungen in Bezug auf die Rückkehr“ in Verbindung mit Art. 47 der Charta dahin auszulegen, dass der gegen den Bescheid über die Änderung des Ziellands gerichtete Antrag zumindest einmal von einem Gericht geprüft werden muss, wenn der in den Rechtsvorschriften des Mitgliedstaats vorgesehene Rechtsbehelf kein wirksamer Rechtsbehelf ist?

B.      Rechtssache C925/19 PPU

47.      Die Kläger des Ausgangsverfahrens, ein Vater und dessen minderjähriges Kind, sind iranische Staatsangehörige. Sie gelangten über Serbien nach Ungarn, in die Transitzone von Röszke.

48.      Am 5. Dezember 2018 stellten sie bei der Asylbehörde in der Transitzone einen Asylantrag.

49.      Zur Stützung ihres Antrags machte der Vater geltend, er habe den Iran zweieinhalb Jahre zuvor verlassen, weil seine Ehe geschieden worden sei. Er habe sich dem Christentum angenähert, ohne allerdings getauft worden zu sein. Als Kind sei er von Mitgliedern seiner Familie sexuell missbraucht worden. Die Gründe, die ihn gezwungen hätten, sein Herkunftsland zu verlassen, seien weder politischer Art noch hingen sie mit der Zugehörigkeit zu einer ethnischen oder religiösen Minderheit zusammen. Er sei über die Türkei, Bulgarien und Serbien nach Ungarn eingereist.

50.      Der Vater gab ferner an, nachdem er den Iran verlassen habe, habe er zehn Tage in der Türkei verbracht, ohne dort Asyl zu beantragen. Dann habe er sich etwa drei Monate in Bulgarien aufgehalten. Nachdem ihm mitgeteilt worden sei, dass er in den Iran zurückgeführt werde, wenn er in Bulgarien keinen Antrag auf internationalen Schutz stelle, habe er dort widerwillig einen Asylantrag gestellt. Überdies habe er sich mehr als zwei Jahre lang in Serbien aufgehalten, ohne dort einen Asylantrag zu stellen.

51.      Am 5. Dezember 2018 bestimmte die Asylbehörde die Transitzone von Röszke zum Unterkunftsort der Kläger des Ausgangsverfahrens. Sie halten sich nach wie vor dort auf.

52.      Mit Verwaltungsbescheid vom 12. Februar 2019 wies die Asylbehörde den Asylantrag der Kläger des Ausgangsverfahrens gemäß § 51 Abs. 2 Buchst. f des Gesetzes über das Asylrecht ohne Prüfung in der Sache als unzulässig zurück und stellte fest, dass der Grundsatz der Nichtzurückweisung in ihrem Fall nicht gelte. Sie ordnete die Abschiebung der Kläger des Ausgangsverfahrens aus dem Unionsgebiet nach Serbien an, wobei sie ausführte, dass die Kläger des Ausgangsverfahrens in der Türkei, in Bulgarien und in Serbien weder Verfolgungen ausgesetzt gewesen seien noch die Gefahr bestanden habe, dass sie dort ernsthafte Schäden erlitten, und dass dort für sie ein angemessener Schutz gewährleistet gewesen sei Diese Entscheidung war mit einem Einreise- und Aufenthaltsverbot für die Dauer eines Jahres verbunden.

53.      Die von den Klägern des Ausgangsverfahrens gegen den Bescheid der Asylbehörde erhobene Klage wurde vom Fővárosi Közigazgatási és Munkaügy Bíróság (Verwaltungs- und Arbeitsgericht Budapest-Stadt) mit Entscheidung vom 5. März 2019 abgewiesen, ohne dass dieses Gericht in der Sache über ihren Asylantrag entschied. Es führte noch aus, die Folgen des etwaigen Umstands, dass die Republik Serbien ihre Rückübernahme ablehne, müssten im Rahmen des migrationspolizeilichen Verfahrens geklärt werden.

54.      In der Folge gab die erstinstanzliche migrationspolizeiliche Behörde den Klägern des Ausgangsverfahrens mit Bescheid vom 27. März 2019 in Anwendung von § 62 Abs. 3a des Gesetzes über die Einreise und den Aufenthalt von Drittstaatsangehörigen auf, sich ab dem Datum des Bescheids im Sektor für Ausländer der Transitzone von Röszke aufzuhalten. Nach den Angaben des vorlegenden Gerichts werden die Gründe für einen solchen Bescheid darin nicht angegeben, und das Recht zur Anrufung eines Gerichts ist eingeschränkt; nur die Nichtbeachtung der der Polizeibehörde durch die einschlägige Regelung auferlegten Pflicht zur Lieferung von Informationen kann vor einem ordentlichen Gericht im Wege der Einrede angefochten werden.

55.      Am selben Tag kontaktierte die erstinstanzliche migrationspolizeiliche Behörde die in Serbien für die Rückführung zuständige Polizeibehörde, damit sie die für die Rückübernahme der Kläger des Ausgangsverfahrens nach Serbien nötigen Schritte unternehme.

56.      Am 1. April 2019 teilte die zuständige Polizeibehörde mit, die Republik Serbien habe die Kläger des Ausgangsverfahrens nicht in ihr Hoheitsgebiet rückübernommen, da sie nicht illegal vom serbischen Hoheitsgebiet aus in das ungarische Hoheitsgebiet eingereist seien, so dass die Voraussetzungen für die Anwendung von Art. 3 Abs. 1 des Abkommens zwischen der Union und der Republik Serbien über die Rückübernahme nicht erfüllt seien.

57.      Obwohl die Republik Serbien die Kläger des Ausgangsverfahrens nicht rückübernahm, prüfte die Asylbehörde ihren Asylantrag nicht in der Sache, weil sie eine solche Prüfung nach § 51/A des Gesetzes über das Asylrecht nur vornehme, wenn der Unzulässigkeitsgrund auf dem Begriff des „sicheren Herkunftsstaats“ oder des „sicheren Drittstaats“ beruhe. Der Bescheid, mit dem der Asylantrag der Kläger als unzulässig zurückgewiesen worden sei, habe aber auf einem anderen Unzulässigkeitsgrund beruht, und zwar auf dem des „sicheren Transitstaats“ im Sinne von § 51 Abs. 2 Buchst. f dieses Gesetzes.

58.      Mit Bescheid vom 17. April 2019 änderte die erstinstanzliche migrationspolizeiliche Behörde die in der Entscheidung der Asylbehörde vom 12. Februar 2019 enthaltene Ausweisungsverfügung in Bezug auf das Bestimmungsland und ordnete die begleitete Rückführung der Kläger des Ausgangsverfahrens in den Iran an.

59.      Die Kläger des Ausgangsverfahrens legten gegen diesen Bescheid Beschwerde bei der Asylbehörde als migrationspolizeiliche Behörde ein. Mit Beschluss vom 17. Mai 2019 wurde ihre Beschwerde zurückgewiesen. Nach § 65 Abs. 3b des Gesetzes über die Einreise und den Aufenthalt von Drittstaatsangehörigen gibt es gegen die Beschwerdeentscheidung keinen Rechtsbehelf; sie ist als solche nicht gerichtlich überprüfbar.

60.      Die Kläger des Ausgangsverfahrens erhoben beim vorlegenden Gericht zum einen Klage auf Nichtigerklärung der Beschlüsse, mit denen die Beschwerde gegen den Vollzug der Bescheide über die Änderung des Rückkehrlands zurückgewiesen wurde, sowie darauf, der erstinstanzlichen migrationspolizeilichen Behörde aufzugeben, ein neues Verfahren durchzuführen. Dabei machten sie erstens geltend, die genannten Beschlüsse stellten Rückkehrentscheidungen dar, gegen die eine Klagemöglichkeit eröffnet sein müsse, damit eine Prüfung in der Sache unter Berücksichtigung des Grundsatzes der Nichtzurückweisung stattfinden könne. Zweitens rügten sie, dass die Rückkehrentscheidungen rechtswidrig seien. Die Asylbehörde hätte nämlich ihren Asylantrag in der Sache prüfen müssen, da die Republik Serbien ihre Rückübernahme abgelehnt habe. § 51 Abs. 2 Buchst. f des Gesetzes über das Asylrecht verstoße gegen das Unionsrecht.

61.      Zum anderen erhoben die Kläger des Ausgangsverfahrens beim vorlegenden Gericht eine verwaltungsgerichtliche Untätigkeitsklage gegen die Asylbehörde, gerichtet auf Feststellung, dass diese Behörde ihre Pflichten verletzt habe, indem sie es unterlassen habe, ihnen einen Aufenthaltsort außerhalb der Transitzone zuzuweisen.

62.      Das vorlegende Gericht hat diese beiden Klagen miteinander verbunden und aus den in den Nrn. 33 bis 45 der vorliegenden Schlussanträge dargelegten Gründen beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof die gleichen Fragen wie in der Rechtssache C‑924/19 PPU zur Vorabentscheidung vorzulegen.

III. Verfahren vor dem Gerichtshof

63.      Das vorlegende Gericht hat in den beiden verbundenen Rechtssachen beantragt, das Vorabentscheidungsersuchen dem in Art. 107 der Verfahrensordnung des Gerichtshofs vorgesehenen Eilverfahren zu unterwerfen.

64.      Mit Beschluss vom 22. Januar 2020 hat der Gerichtshof diesem Antrag stattgegeben.

65.      Die Kläger der Ausgangsverfahren, die ungarische Regierung und die Europäische Kommission haben schriftliche Erklärungen eingereicht. Sie und die Kommission haben zudem in der Sitzung vom 13. März 2020 mündlich verhandelt.

IV.    Analyse

A.      Zur Zulässigkeit der Vorlagefragen

66.      Nach ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofs ist das in Art. 267 AEUV vorgesehene Verfahren ein Instrument der Zusammenarbeit zwischen dem Gerichtshof und den nationalen Gerichten, mit dem der Gerichtshof diesen Gerichten Hinweise zur Auslegung des Unionsrechts gibt, die sie zur Entscheidung des bei ihnen anhängigen Rechtsstreits benötigen. Die Rechtfertigung für ein Vorabentscheidungsersuchen liegt nicht in der Abgabe von Gutachten zu allgemeinen oder hypothetischen Fragen, sondern darin, dass das Ersuchen für die tatsächliche Entscheidung eines Rechtsstreits über das Unionsrecht erforderlich ist(9).

67.      Vorliegend ist hervorzuheben, dass das vorlegende Gericht von allen Klägern der Ausgangsverfahren mit zwei Klagen mit gesondertem Gegenstand befasst wurde, die gleichwohl zu gemeinsamem Verfahren verbunden wurden, und zwar

–        einer Klage auf Nichtigerklärung des Beschlusses, mit dem die Beschwerde gegen den Bescheid über die Änderung des Ziellands zurückgewiesen wurde, sowie darauf, der zuständigen nationalen Behörde aufzugeben, ein neues Asylverfahren durchzuführen;

–        einer Untätigkeitsklage, gerichtet auf die Feststellung, dass die nationale Asylbehörde ihre Pflichten verletzt habe, indem sie es unterlassen habe, den Klägern der Ausgangsverfahren einen Aufenthaltsort außerhalb der Transitzone zuzuweisen.

68.      In diesem speziellen Kontext ist die Relevanz der vom vorlegenden Gericht gestellten gleichlautenden Fragen für die Entscheidung der so definierten Ausgangsrechtsstreitigkeiten zu prüfen.

69.      Mir scheint außer Zweifel zu stehen, dass die fünfte Frage eine solche Relevanz besitzt; mit ihr befragt das vorlegende Gericht den Gerichtshof zur Wirksamkeit des Rechtsbehelfs gegen die Änderungsentscheidung, mit dessen Prüfung nach dem innerstaatlichen Recht die Verwaltungsbehörde betraut ist, die diese Entscheidung erlassen hat, ohne dass die Möglichkeit einer allein von ihrem Adressaten initiierten gerichtlichen Überprüfung der etwaigen Zurückweisung des Rechtsbehelfs besteht(10).

70.      Falls die fünfte Frage bejaht wird, kann davon ausgegangen werden, dass auch die zur ersten und zur zweiten Gruppe gehörenden Fragen in Anbetracht des Inhalts des Vorbringens der Kläger der Ausgangsverfahren zur Rechtmäßigkeit der Änderungsentscheidung relevant sind. Sie machen geltend, diese Entscheidung habe darauf beruht, dass ihr Asylantrag mit einer gegen das Unionsrecht verstoßenden Begründung für unzulässig erklärt worden sei, die sich auf das Konzept des „sicheren Transitstaats“ im Sinne von § 51 Abs. 2 Buchst. f des Gesetzes über das Asylrecht stütze(11).

71.      Im Rahmen der Würdigung dessen, was offenbar eine Einrede der Rechtswidrigkeit der oben genannten Bestimmung darstellt, und der damit verbundenen Verpflichtung der zuständigen nationalen Behörde, erneut ein Asylverfahren durchzuführen, sind die Antworten des Gerichtshofs in Bezug auf die Problematik der Vereinbarkeit des oben genannten Unzulässigkeitsgrundes mit dem Unionsrecht und der Folgen einer Unvereinbarkeit für die Durchführung des Asylverfahrens, wie sie in der ersten und der zweiten Gruppe von Vorlagefragen angesprochen wird, geeignet, vom vorlegenden Gericht berücksichtigt zu werden.

72.      Es trifft zu, dass die Vorabentscheidungsersuchen hinsichtlich der in einem solchen Kontext anwendbaren Bestimmungen des ungarischen Verfahrensrechts wenig präzise sind. Nach ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofs spricht jedoch eine Vermutung für die Entscheidungserheblichkeit der Vorlagefragen, die das nationale Gericht zur Auslegung des Unionsrechts in dem rechtlichen und sachlichen Rahmen stellt, den es in eigener Verantwortung festlegt und dessen Richtigkeit der Gerichtshof nicht zu prüfen hat(12).

73.      Mit den in der dritten und der vierten Gruppe zusammengefassten, alternativ gestellten Fragen soll geklärt werden, ob die Unterbringung der Kläger der Ausgangsverfahren im Sektor der Transitzone eine Ingewahrsamnahme oder eine Inhaftnahme darstellt und die in den einschlägigen Bestimmungen der Richtlinien 2013/32 und 2013/33 oder der Richtlinie 2008/115 vorgesehenen Voraussetzungen erfüllt, je nachdem, ob die Situation, in der sich die Kläger befinden, in den Anwendungsbereich der beiden Erstgenannten oder der Letztgenannten fällt.

74.      Diese Fragen weisen einen offenkundigen Zusammenhang mit der Entscheidung der die etwaige Untätigkeit der zuständigen nationalen Behörde bei der Festlegung des Aufenthaltsorts der Kläger der Ausgangsverfahren betreffenden Ausgangsrechtsstreitigkeiten auf. Außerdem scheint mir, dass über diese Fragen und damit über die genannten Rechtsstreitigkeiten nur befunden werden kann, wenn zuvor geklärt wird, welchen rechtlichen Status die Kläger der Ausgangsverfahren im Hinblick auf die Ausführungen in Nr. 73 haben; dies führt zu dem Schluss, dass die in der ersten und der zweiten Gruppe zusammengefassten Fragen für die Entscheidung der Ausgangsrechtsstreitigkeiten relevant sind, betrachtet man sie unter dem Aspekt der Untätigkeitsklage, mit der das vorlegende Gericht ebenfalls befasst ist.

75.      Folglich ist über alle gestellten Fragen zu entscheiden(13), beginnend mit der fünften Frage, da ihre Beantwortung dafür ausschlaggebend sein wird, ob das vorlegende Gericht für die Entscheidung über die Nichtigkeitsklage gegen die Änderung des Ziellands zuständig ist.

B.      Zum Recht auf einen wirksamen Rechtsbehelf gegen die Entscheidung, das Rückkehrland zu ändern

76.      Mit seiner fünften Frage möchte das vorlegende Gericht wissen, ob Art. 13 der Richtlinie 2008/115 im Licht von Art. 47 der Charta dahin auszulegen ist, dass er einer nationalen Regelung entgegensteht, die zwar einen Rechtsbehelf gegen die Entscheidung der zuständigen Verwaltungsbehörde, das in der Rückkehrentscheidung angegebene Zielland zu ändern, vorsieht, aber mit der Würdigung dieses Rechtsbehelfs dieselbe Behörde betraut, ohne dass die Möglichkeit einer allein vom Adressaten der Entscheidung initiierten gerichtlichen Kontrolle besteht.

77.      Wie bereits ausgeführt, wies die zuständige nationale Behörde mit Bescheid vom 12. Februar 2019 den Asylantrag der iranischen Kläger des Ausgangsverfahrens als unzulässig zurück, ordnete ihre Abschiebung nach Serbien unter Begleitung bis an die Grenze zwischen Serbien und Ungarn an und verhängte ein Einreiseverbot für die Dauer eines Jahres. Ein inhaltlich identischer Bescheid erging am 25. April 2019 gegenüber den afghanischen Klägern des Ausgangsverfahrens. Es handelt sich in beiden Fällen um einen einzigen und komplexen Verwaltungsakt, in dem die Zurückweisung des Antrags auf internationalen Schutz mit einer Rückkehr- und Abschiebungsentscheidung sowie einem Einreiseverbot verbunden wird, was a priori mit Art. 6 Abs. 6 der Richtlinie 2008/115 im Einklang steht.

78.      Nachdem die Kläger der Ausgangsverfahren von der Republik Serbien nicht rückübernommen wurden, wurden die beiden fraglichen Bescheide hinsichtlich des Ziellands geändert, wobei Serbien durch die Heimatländer der Betroffenen, den Iran bzw. Afghanistan, ersetzt wurde. Die Abschiebungsentscheidung wurde gleichermaßen angepasst. Meines Erachtens ist davon auszugehen, dass jede Änderungsentscheidung eine neue Rückkehr- und Abschiebungsentscheidung darstellt, in Bezug auf die den Klägern der Ausgangsverfahren nach Art. 12 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 13 Abs. 1 der Richtlinie 2008/115 ein wirksamer Rechtsbehelf zur Verfügung stehen muss.

79.      Wird an einen Drittstaatsangehörigen eine Entscheidung gerichtet, die für ihn eine Rückkehrpflicht und eine zwangsweise Abschiebung, in den vorliegenden Fällen einen begleiteten Transfer bis zur Grenze zwischen Serbien und Ungarn, vorsieht, stellt die Bestimmung des Ziellands einen wesentlichen und zwingenden Bestandteil der Entscheidung dar. Anhand dieser Angabe ist nämlich die Einhaltung des Grundsatzes der Nichtzurückweisung zu würdigen, den die Mitgliedstaaten nach Art. 5 der Richtlinie 2008/115 bei deren Umsetzung beachten müssen. Angesichts dieser Verpflichtung darf die Abschiebung (der physische Transfer außerhalb des Mitgliedstaats) nicht an einen unbestimmten Zielort vorgenommen werden, sondern nur in ein bestimmtes Rückkehrland. Durch die Änderung des in der Rückkehr- und Abschiebungsentscheidung angegebenen Ziellands hat die zuständige nationale Behörde eine neue Entscheidung getroffen, die ihren Adressaten beschwert und deshalb gemäß Art. 13 der Richtlinie 2008/115 anfechtbar sein muss.

80.      Eine solche Anfechtung ist im innerstaatlichen Recht in der Tat vorgesehen, und zwar in § 65 Abs. 3b des Gesetzes über die Einreise und den Aufenthalt von Drittstaatsangehörigen, wonach innerhalb von 24 Stunden nach Zustellung der Änderungsentscheidung bei der Verwaltungsbehörde, die sie erlassen hat, Beschwerde eingelegt werden kann. Überdies heißt es in dieser Vorschrift: „Die Entscheidung über die Beschwerde gegen den Vollzug ist nicht anfechtbar.“(14)

81.      Kann diese Beschwerde als wirksamer Rechtsbehelf im Sinne von Art. 13 Abs. 1 der Richtlinie 2008/115 angesehen werden? Er lautet: „Die betreffenden Drittstaatsangehörigen haben das Recht, bei einer zuständigen Justiz- oder Verwaltungsbehörde oder einem zuständigen Gremium, dessen Mitglieder unparteiisch sind und deren Unabhängigkeit garantiert wird, einen wirksamen Rechtsbehelf gegen Entscheidungen in Bezug auf die Rückkehr … einzulegen oder die Überprüfung solcher Entscheidungen zu beantragen.“

82.      Die Formulierung der genannten Bestimmung kann die Frage aufwerfen, ob die Voraussetzung der Wirksamkeit des Rechtsbehelfs allein dadurch erfüllt wird, dass eine Rückkehr- und/oder Abschiebungsentscheidung vor der zuständigen Verwaltungsbehörde angefochten werden kann, wobei das Erfordernis der Unparteilichkeit und Unabhängigkeit nur für die Mitglieder des in der Bestimmung an dritter und letzter Stelle genannten „zuständigen Gremiums“ gilt(15).

83.      Der Wortlaut der französischen Sprachfassung von Art. 13 Abs. 1 der Richtlinie 2008/115 lässt sich dahin auslegen, dass das betreffende Erfordernis für alle dort genannten Rechtsbehelfsorgane oder nur für die letzten beiden gilt, weil die zur Verknüpfung von Elementen mit gleicher Funktion – nicht im Sinne einer Kumulierung, sondern einer Auswahl – dienende Konjunktion „oder“ verwendet wird. Hier verknüpft diese Konjunktion die Angabe der drei Rechtsbehelfsorgane in alternativer Form miteinander, so dass jedes von ihnen zur Bearbeitung der betreffenden Rechtsbehelfe befugt ist, was die Annahme zulässt, dass sich der mit dem Wort „composée“ beginnende Satzteil auf jede einzelne der genannten Behörden oder Stellen beziehen kann(16).

84.      Während die spanische Fassung von Art. 13 Abs. 1 der Richtlinie 2008/115 („ante un órgano jurisdiccional, una autoridad administrativa u otro órgano competente compuesto por miembros imparciales y con garantías de independencia“) sowie seine englische Fassung („before a competent judicial or administrative authority or a competent body composed of members who are impartial and who enjoy safeguards of independence“) der französischen Sprachfassung entsprechen, scheinen die estnische Fassung („pädevas kohtu-või haldusasutuses või pädevas organis, mis koosneb liikmetest, kes on erapooletud ja kelle sõltumatus on tagatud“) und die italienische Fassung („dinanzi ad un’autorità giudiziaria o amministrativa competente o a un organo competente composto da membri imparziali che offrono garanzie di indipendenza“) das Erfordernis der Unparteilichkeit und Unabhängigkeit allein für die Mitglieder des dritten dort genannten Rechtsbehelfsorgans aufzustellen. Eine Auslegung des Wortlauts von Art. 13 Abs. 1 der Richtlinie 2008/115 erlaubt somit keine eindeutige Beantwortung der Frage des vorlegenden Gerichts, wobei darauf hinzuweisen ist, dass eine einzige abweichende Sprachfassung keinen Vorrang vor den übrigen Sprachfassungen genießen kann(17). Daher ist auf die allgemeine Systematik des Rechtstexts, zu dem die betreffende Bestimmung gehört, sowie auf den vom Unionsgesetzgeber verfolgten Zweck abzustellen(18).

85.      Bei der systematischen Auslegung ist hervorzuheben, dass die Richtlinie 2008/115 den „20 Leitlinien zur Frage der erzwungenen Rückkehr“ des Ministerkomitees des Europarats Rechnung tragen soll, auf die in ihrem dritten Erwägungsgrund verwiesen wird. Leitlinie 5 („Rechtsbehelf gegen eine Abschiebungsentscheidung“) bestimmt in Abs. 1: „In der Abschiebungsentscheidung oder in dem Verfahren, das zu ihrem Erlass führt, muss ihrem Adressaten ein wirksamer Rechtsbehelf vor einer zuständigen Behörde oder Stelle gewährt werden, deren Mitglieder unparteiisch sind und über Garantien für ihre Unabhängigkeit verfügen.“(19)

86.      Außerdem müssen die Mitgliedstaaten gemäß Art. 6 Abs. 6 der Richtlinie 2008/115 dafür sorgen, dass nicht nur die nach Kapitel III der Richtlinie, sondern auch die „nach anderen einschlägigen Bestimmungen des [Unionsrechts]“ verfügbaren Verfahrensgarantien gewahrt werden. Dies schließt meines Erachtens zwangsläufig die Bestimmungen der Charta und speziell ihres in den vorliegenden Schlussanträgen angesprochenen, das Recht auf einen wirksamen Rechtsbehelf betreffenden Art. 47 ein. Eine solche Verpflichtung ist ausdrücklich für den Fall vorgesehen, dass die Rückkehrentscheidung zugleich mit der erstinstanzlichen Zurückweisung des Antrags auf internationalen Schutz durch die zuständige nationale Behörde erlassen wird. Sie muss aber auch dann gelten, wenn, wie in den Ausgangsverfahren, mit einem gesonderten Verwaltungsakt von der gleichen Behörde eine Änderungsentscheidung erlassen wird(20).

87.      In Bezug auf die teleologische Auslegung ist festzustellen, dass im Einklang mit Art. 79 Abs. 2 AEUV das Ziel der Richtlinie 2008/115, wie es sich aus ihren Erwägungsgründen 2 und 11 ergibt, in der Festlegung einer wirksamen Rückkehr- und Rückübernahmepolitik besteht, die auf gemeinsamen Normen und rechtlichen Garantien beruht, die gewährleisten, dass die betreffenden Personen unter vollständiger Achtung ihrer Grundrechte auf menschenwürdige Weise zurückgeführt werden(21).

88.      Was speziell die in Art. 13 der Richtlinie 2008/115 vorgesehenen Rechtsbehelfe gegen Rückkehrentscheidungen anbelangt, sind ihre Merkmale im Einklang mit Art. 47 der Charta zu bestimmen, nach dessen Abs. 1 jede Person, deren durch das Recht der Union garantierte Rechte oder Freiheiten verletzt worden sind, das Recht hat, nach Maßgabe der in diesem Artikel vorgesehenen Bedingungen bei einem Gericht einen wirksamen Rechtsbehelf einzulegen(22).

89.      Ferner sieht Art. 47 Abs. 2 der Charta vor, dass jede Person ein Recht darauf hat, dass ihre Sache von einem unabhängigen und unparteiischen Gericht verhandelt wird. Die Wahrung dieses Rechts setzt voraus, dass die Entscheidung einer Verwaltungsbehörde, die nicht selbst die Voraussetzungen der Unabhängigkeit und Unparteilichkeit erfüllt, einer späteren Kontrolle durch ein Gericht unterliegt, das insbesondere befugt sein muss, sich mit allen relevanten Fragen zu befassen. Der Begriff der Unabhängigkeit, die dem Auftrag des Richters innewohnt, bedeutet hierbei vor allem, dass die betreffende Stelle gegenüber der Stelle, die die mit einem Rechtsbehelf angefochtene Entscheidung erlassen hat, die Eigenschaft eines Dritten hat(23). Daran fehlt es hier eindeutig, da für die Prüfung des Rechtsbehelfs gegen die Entscheidung, das Zielland zu ändern, die Verwaltungsbehörde zuständig war, die sie erlassen hatte.

90.      Diese Auslegung wird durch die Erläuterungen zu Art. 47 der Charta bestätigt, wonach sich Art. 47 Abs. 1 auf Art. 13 der am 4. November 1950 in Rom unterzeichneten Europäischen Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten (im Folgenden: EMRK) stützt, der das Recht garantiert, „bei einer innerstaatlichen Instanz eine wirksame Beschwerde zu erheben“(24). Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte, dessen Rechtsprechung nach Art. 52 Abs. 3 der Charta zu berücksichtigen ist, hat im Urteil de Souza Ribeiro gegen Frankreich(25) entschieden, dass bei Vorliegen einer vertretbaren Rüge, wonach bei einer Ausweisung die Gefahr einer Beeinträchtigung des Rechts des Ausländers auf Achtung seines Privat- und Familienlebens bestehe, Art. 13 in Verbindung mit Art. 8 EMRK verlange, dass der Staat dem Betroffenen eine wirksame Möglichkeit biete, die Entscheidung über die Ausweisung oder die Versagung einer Aufenthaltserlaubnis anzufechten und eine hinreichend gründliche und mit angemessenen Verfahrensgarantien verbundene Prüfung der relevanten Fragen durch eine zuständige innerstaatliche Stelle zu erwirken, die hinreichende Garantien für Unabhängigkeit und Unparteilichkeit biete.

91.      Nach den Angaben des vorlegenden Gerichts ist allerdings im innerstaatlichen Recht eine Möglichkeit der gerichtlichen Kontrolle der Entscheidung der Verwaltungsbehörde über die Beschwerde gegen den Bescheid, mit dem das Zielland geändert wird, vorgesehen. Dazu wird ausgeführt, die Staatsanwaltschaft überprüfe die Rechtmäßigkeit individueller bestandskräftiger oder vollstreckbarer Entscheidungen oder Maßnahmen der Verwaltungsbehörden oder anderer mit der Rechtsanwendung betrauter, nicht zu den Gerichten gehörender Stellen, die nicht Gegenstand einer gerichtlichen Überprüfung gewesen seien. Ein Mitglied der Staatsanwaltschaft könne bei einer Rechtsverletzung, die sich auf den Inhalt einer Entscheidung der Verwaltung ausgewirkt habe, die in ausländerpolizeilichen Sachen zuständige nationale Behörde auffordern, die Rechtsverletzung abzustellen, und, wenn dies nicht geschehe, die in dieser Sache ergangene bestandskräftige Entscheidung gerichtlich anfechten, sei aber nicht befugt, die Entscheidung der in ausländerpolizeilichen Sachen zuständigen nationalen Behörde zu überprüfen.

92.      Hervorzuheben ist jedoch, dass der das Recht auf wirksamen gerichtlichen Rechtsschutz betreffende Art. 47 der Charta, der aus sich heraus Wirkung entfaltet und nicht durch Bestimmungen des Unionsrechts oder des nationalen Rechts konkretisiert werden muss, dem Einzelnen ein Recht verleiht, das er als solches geltend machen kann(26). Angesichts dieses dem Betroffenen zuerkannten subjektiven Rechts ist meines Erachtens davon auszugehen, dass eine nationale Regelung, wonach die gerichtliche Kontrolle der Entscheidung einer Verwaltungsbehörde, mit der das Zielland geändert wird, nicht von ihrem Adressaten initiiert wird, sondern von einer anderen Stelle, im Licht von Art. 47 der Charta nicht den in Art. 13 der Richtlinie 2008/115 aufgestellten Anforderungen an die Wirksamkeit des Rechtsbehelfs genügt.

93.      In diesem Kontext wird vorgeschlagen, zur Wahrung der Einheitlichkeit des Wortlauts von Art. 13 der Richtlinie 2008/115 hinsichtlich der Aufzählung der Überprüfungsinstanzen davon auszugehen, dass die Wirksamkeit des in dieser Bestimmung vorgesehenen Rechtsbehelfs im Licht von Art. 47 der Charta auch im Fall eines bei einer außergerichtlichen Instanz eingelegten Rechtsbehelfs gewährleistet ist, sofern sie aus unabhängigen und unparteiischen Mitgliedern besteht(27).

94.      In diesem Stadium meiner Überlegungen erscheint es mir erforderlich, den Gerichtshof auf eine Schwierigkeit aufmerksam zu machen, die sich aus dem Zusammenspiel der soeben vorgeschlagenen Lösung mit den kürzlich zur Auslegung von Art. 46 der Richtlinie 2013/32 in Verbindung mit Art. 13 der Richtlinie 2008/115 im Licht der Art. 18, 19 Abs. 2 und Art. 47 der Charta ergangenen Urteilen ergibt, in denen es um die Ermittlung der Tragweite des Rechts auf einen wirksamen Rechtsbehelf im Fall eines Rechtsbehelfs gegen eine Rückkehrentscheidung, die unmittelbar nach der Ablehnung des Antrags auf internationalen Schutz in einer gesonderten behördlichen Entscheidung getroffen wurde(28), sowie im Fall einer Berufung gegen ein erstinstanzliches Urteil ging, mit dem eine Entscheidung, einen Antrag auf internationalen Schutz abzulehnen und eine Rückkehrverpflichtung aufzuerlegen, bestätigt wurde(29).

95.      In diesen Urteilen ist der Gerichtshof zu dem Ergebnis gekommen, dass der wirksame gerichtliche Rechtsschutz, der einer Person, die internationalen Schutz beantragt hat, nach den oben genannten Vorschriften gegen eine Entscheidung, mit der ihr Antrag abgelehnt und ihr eine Rückkehrverpflichtung auferlegt wird, zusteht, zwangsläufig einen gerichtlichen Rechtsbehelf umfasst(30), gegebenenfalls kraft Gesetzes verbunden mit aufschiebender Wirkung für den Fall, dass dem Betroffenen eine unmenschliche oder menschenunwürdige Behandlung droht, unter Ausschluss der Pflicht, einen zweiten Rechtszug und ein Berufungsverfahren mit kraft Gesetzes aufschiebender Wirkung vorzusehen.

96.      Nach dieser Rechtsprechung ist „allein entscheidend …, dass es einen Rechtsbehelf vor einem Gericht gibt“, der dem in Art. 47 der Charta verankerten Erfordernis der Wirksamkeit des Rechtsbehelfs zu genügen vermag. Dies scheint mir nicht ohne Weiteres mit dem Wortlaut von Art. 13 der Richtlinie 2008/115 vereinbar zu sein, zumindest soweit er ausdrücklich vorsieht, dass eine zuständige Verwaltungsbehörde oder ein zuständiges Gremium als Überprüfungsinstanz fungieren kann, und sogar Fragen nach der Gültigkeit dieser Bestimmung des abgeleiteten Rechts aufzuwerfen.

97.      Unter diesen Umständen erscheint mir eine Harmonisierung der beiden Vorgehensweisen in der Weise möglich, dass die zuvor dargelegte jüngere Rechtsprechung des Gerichtshofs schlicht durch den Zusatz ergänzt wird, dass der Schutz, den Art. 13 der Richtlinie 2008/115 im Licht von Art. 47 der Charta einer Person, die internationalen Schutz beantragt hat, gegen eine Entscheidung verleiht, mit der ihr Antrag abgelehnt und ihr in der gleichen behördlichen Entscheidung oder später in einer gesonderten behördlichen Entscheidung eine Rückkehrverpflichtung auferlegt wird, mindestens einen gerichtlichen Rechtsbehelf umfasst, sofern für die Entscheidung über den Rechtsbehelf eine Verwaltungsbehörde oder ein Gremium zuständig ist, die oder das nicht aus unparteiischen Mitgliedern besteht, deren Unabhängigkeit garantiert wird(31).

98.      Aus dem Vorstehenden folgt, dass Art. 13 der Richtlinie 2008/115 im Licht von Art. 47 der Charta dahin auszulegen ist, dass er den Mitgliedstaaten die Verpflichtung auferlegt, gegen die Entscheidung, mit der das in einer Rückkehrentscheidung angegebene Zielland geändert wird, mindestens einen Rechtsbehelf vor einem Gericht vorzusehen, sofern für die Entscheidung über den Rechtsbehelf nach dem innerstaatlichen Recht eine Verwaltungsbehörde oder ein Gremium zuständig ist, die oder das nicht aus unparteiischen Mitgliedern besteht, deren Unabhängigkeit garantiert wird.

99.      Das vorlegende Gericht, das im Rahmen seiner Zuständigkeit mit der Anwendung der Bestimmungen des Unionsrechts betraut ist und für ihre volle Wirksamkeit zu sorgen hat, wird bei der Prüfung der von den Klägern der Ausgangsverfahren eingelegten Rechtsbehelfe zu klären haben, ob die in den Ausgangsverfahren in Rede stehenden nationalen Rechtsvorschriften im Einklang mit diesen Anforderungen des Unionsrechts ausgelegt werden können, oder es wird alle gegen das mit der Richtlinie 2008/115 verfolgte Ergebnis verstoßenden Bestimmungen des Gesetzes über die Einreise und den Aufenthalt von Drittstaatsangehörigen, insbesondere § 65 Abs. 3b, unangewendet lassen müssen.

C.      Zu dem auf dem sicheren Transitstaat beruhenden Unzulässigkeitsgrund

100. Es ist unstreitig, dass die Anträge auf internationalen Schutz aller Kläger der Ausgangsverfahren von der zuständigen nationalen Behörde in Anwendung des am 1. Juli 2018 in Kraft getretenen § 51 Abs. 2 Buchst. f des Gesetzes über das Asylrecht für unzulässig erklärt wurden, der lautet:

„Der Antrag ist unzulässig, wenn … der Antragsteller über ein Land eingereist ist, in dem er weder Verfolgung im Sinne von § 6 Abs. 1 noch der Gefahr eines ernsthaften Schadens im Sinne von § 12 Abs. 1 ausgesetzt ist, oder wenn in dem Land, über das er nach Ungarn eingereist ist, ein angemessenes Schutzniveau gewährleistet wird.“

101. Mit seiner ersten Frage möchte das vorlegende Gericht wissen, ob diese Bestimmung mit dem Unionsrecht vereinbar ist. Die gleiche Frage wurde dem Gerichtshof bereits von einem anderen ungarischen Gericht im Rahmen der Rechtssache LH (Tompa) (C‑564/18) gestellt, wobei die ungarische Regierung in ihren in den vorliegenden Verfahren abgegebenen Erklärungen angibt, dass sie lediglich ihren in der genannten Rechtssache vertretenen Standpunkt bekräftigen möchte.

102. Mit Urteil vom 19. März 2020 hat der Gerichtshof, der insoweit den Schlussanträgen von Generalanwalt Bobek gefolgt ist(32), für Recht erkannt, dass Art. 33 der Richtlinie 2013/32 dahin auszulegen ist, dass er einer nationalen Regelung wie § 51 Abs. 2 Buchst. f des Gesetzes über das Asylrecht entgegensteht, nach der ein Antrag auf internationalen Schutz als unzulässig abgelehnt werden kann, weil der Antragsteller über einen Staat in das Hoheitsgebiet des betreffenden Mitgliedstaats eingereist ist, in dem er keiner Verfolgung oder Gefahr eines ernsthaften Schadens ausgesetzt ist oder in dem ein angemessenes Schutzniveau gewährleistet ist. Nach einem Hinweis darauf, dass die Liste der in Art. 33 Abs. 2 der Richtlinie 2013/32 aufgezählten Unzulässigkeitsgründe abschließend ist, hat der Gerichtshof ausgeführt, dass die genannte nationale Regelung nicht als Umsetzung eines dieser Unzulässigkeitsgründe angesehen werden kann. Dem ist hier zu folgen.

D.      Zum rechtlichen Status der Kläger

1.      Zur Tragweite der zweiten Vorlagefrage

103. Mit der zweiten Frage des vorlegenden Gerichts soll im Wesentlichen geklärt werden, wie im Fall der Kläger der Ausgangsverfahren angesichts einer Situation, die durch die Ablehnung ihrer Anträge auf internationalen Schutz auf der Grundlage des Unzulässigkeitsgrundes des „sicheren Transitstaats“ und der anschließenden Weigerung der zuständigen Behörden dieses Landes, die Kläger in ihr Hoheitsgebiet rückzuübernehmen, verfahrenstechnisch vorzugehen ist.

104. Das vorlegende Gericht möchte wissen, ob in diesem Kontext und im Einklang mit Art. 6 und Art. 38 Abs. 4 der Richtlinie 2013/32 im Licht von Art. 18 der Charta die zuständige nationale Behörde verpflichtet ist, ein Asylverfahren durchzuführen (Buchst. a der zweiten Frage), und, wenn ja, ob diese Verpflichtung bedeutet, dass die genannte Behörde nur gehalten ist, den Klägern der Ausgangsverfahren die Stellung eines neuen Asylantrags zu ermöglichen, der nicht als Folgeantrag angesehen werden kann, oder ob sie von Amts wegen ein neues Asylverfahren einleiten muss (Buchst. b der zweiten Frage) und ob sie in diesem Rahmen andere Unzulässigkeitsgründe heranziehen kann oder den Antrag auf internationalen Schutz in der Sache prüfen muss (Buchst. c der zweiten Frage). Ferner wird der Gerichtshof um Klarstellung ersucht, welche rechtliche Regelung für das in den Art. 35 und 38 der Richtlinie 2013/32 genannte Erfordernis der Rückübernahme oder Übernahme durch das betreffende Drittland gilt (Buchst. d der zweiten Frage).

105. Angesichts des Wortlauts der oben genannten Vorlagefragen und speziell der darin angeführten Artikel der Richtlinie 2013/32 scheinen mir diese Fragen im Licht der sie betreffenden Erläuterungen des vorlegenden Gerichts nicht darauf gerichtet zu sein, den Gerichtshof zu einer Stellungnahme zu den Konsequenzen einer etwaigen Nichtigerklärung der Entscheidung, das Zielland zu ändern, nach der Anerkennung der Begründetheit der oben genannten Einrede der Rechtswidrigkeit zu veranlassen. Mit anderen Worten wird der Gerichtshof meines Erachtens nur nach den Auswirkungen des Umstands, dass die Kläger der Ausgangsverfahren von den serbischen Behörden nicht rückübernommen wurden, auf die verfahrenstechnische Behandlung ihres Antrags auf internationalen Schutz gefragt, unter Berücksichtigung der relevanten Bestimmungen der Richtlinie 2013/32 und unabhängig von der Feststellung einer Rechtswidrigkeit des Unzulässigkeitsgrundes in § 51 Abs. 2 Buchst. f des Gesetzes über das Asylrecht und der damit verbundenen Folgen.

106. Die ungarische Regierung beschränkt sich in ihren Erklärungen auf die Angabe, dass eine Abschiebung, die fehlschlage, weil das betreffende Drittland die Rückübernahme ablehne, nicht zur Entstehung einer Pflicht zur Durchführung eines Asylverfahrens führen könne, das im Anschluss an die nationale gerichtliche Entscheidung, die Unzulässigkeit der Anträge auf internationalen Schutz zu bestätigen, rechtskräftig abgeschlossen worden sei. Diese bloße Behauptung dient meiner Ansicht nach allein dazu, sich der juristischen Debatte über die Konsequenzen der unterbliebenen Rückübernahme zu entziehen, zu der es definitionsgemäß erst im Anschluss an einen ausdrücklichen dahin gehenden Antrag kommen kann, nachdem die Unzulässigkeit der Anträge auf internationalen Schutz rechtskräftig festgestellt wurde(33).

2.      Zu den Konsequenzen der unterbliebenen Rückübernahme der Kläger der Ausgangsverfahren durch die Republik Serbien

107. Wie in den Vorlageentscheidungen festgestellt wird, ist das Erfordernis der Rückübernahme oder der Übernahme in den Art. 35 und 38 der Richtlinie 2013/32 geregelt. Aufgrund eines auf der letztgenannten Bestimmung beruhenden Analogieschlusses führt das vorlegende Gericht aus, die unterbliebene Rückübernahme durch die Republik Serbien müsse die Pflicht der zuständigen ungarischen Behörde wieder aufleben lassen, ein Verfahren zur Prüfung des Antrags auf internationalen Schutz durchzuführen.

108. Um zu klären, ob dies der Fall sein kann, bedarf es einiger Vorbemerkungen zum Kontext des Erfordernisses der Rückübernahme, beginnend mit Position und Inhalt der Art. 35 und 38 der Richtlinie 2013/32.

109. In diesen Bestimmungen, die zu Abschnitt III des Kapitels III („Erstinstanzliche Verfahren“) der Richtlinie 2013/32 gehören, werden die Konzepte des „ersten Asylstaats“ und des „sicheren Drittstaats“ für die Zwecke der Anwendung der in Art. 33 Abs. 2 Buchst. b und c der Richtlinie vorgesehenen Gründe für die Unzulässigkeit des Antrags auf internationalen Schutz definiert.

110. Nach Art. 35 der Richtlinie 2013/32 kann ein Staat als „erster Asylstaat“ angesehen werden, wenn der Antragsteller in dem betreffenden Staat bereits als Flüchtling anerkannt wurde und diesen Schutz weiterhin in Anspruch nehmen darf oder wenn ihm in dem betreffenden Staat anderweitig ausreichender Schutz, einschließlich der Anwendung des Grundsatzes der Nicht-Zurückweisung, gewährt wird, vorausgesetzt, dass er von diesem Staat wieder aufgenommen wird. Nach Art. 38 der Richtlinie 2013/32 findet das Konzept des „sicheren Drittstaats“ im Wesentlichen dann Anwendung, wenn die Mitgliedstaaten vom Antragsteller aufgrund einer ausreichenden Verbindung zu einem Drittstaat im Sinne einzelstaatlicher Rechtsvorschriften bei vernünftiger Betrachtung erwarten können, dass er in diesem Drittstaat Schutz suchen wird, und wenn er dort tatsächlich sicher wäre. Erlaubt der „sichere Drittstaat“ dem Antragsteller nicht, in sein Hoheitsgebiet einzureisen, müssen die Mitgliedstaaten sicherstellen, dass er ein neues Verfahren zur Prüfung seines Antrags auf internationalen Schutz einleiten kann.

111. Das Erfordernis einer gesicherten Rückübernahme gehört somit zu den kumulativen Voraussetzungen für den Erlass einer auf dem Konzept des „ersten Asylstaats“ beruhenden Entscheidung, während die Übernahme oder die Rückübernahme durch den „sicheren Drittstaat“ im Fall einer auf diesem Konzept beruhenden Entscheidung erst zum Zeitpunkt ihres Vollzugs zu prüfen ist; dies geht aus den Erwägungsgründen 43 und 44 der Richtlinie 2013/32 klar hervor. Meines Erachtens spielt dieses Erfordernis der Übernahme oder der Rückübernahme jedenfalls eine wesentliche Rolle bei der Verwirklichung der Funktion der Konzepte sowohl des „ersten Asylstaats“ als auch des „sicheren Drittstaats“.

112. Die Konzepte des „ersten Asylstaats“ und des „sicheren Drittstaats“ haben nämlich in meinen Augen die Funktion, es den Behörden der Mitgliedstaaten, bei denen ein Antrag auf internationalen Schutz gestellt wurde, zu ermöglichen, die Verantwortung für die Prüfung des Bedarfs an internationalem Schutz einem anderen Land zu übertragen. Mit der entsprechenden Pflicht der zuständigen Behörden dieses Landes, den Antrag in der Sache zu prüfen, dürfte die Entstehung eines subjektiven Rechts der Betroffenen verbunden sein, dass ihr Antrag auf internationalen Schutz in dem Verfahren, dessen Gegenstand er ist, in der Sache geprüft wird. Mit anderen Worten impliziert dieses Recht, dass eine Prüfung des Antrags in der Sache „stattfindet, stattgefunden hat oder irgendwo stattfinden kann“(34).

113. Gerade die Notwendigkeit, die Wahrung dieses Rechts zu gewährleisten, rechtfertigt meines Erachtens die Einbeziehung des Erfordernisses, dass der Antragsteller vom „ersten Asylstaat“ wieder aufgenommen wird oder in den „sicheren Drittstaat“ einreisen darf, in die Art. 35 und 38 der Richtlinie 2013/32. Ich pflichte dem Standpunkt des vorlegenden Gerichts bei, dass das Konzept des „sicheren Transitstaats“ dem des „sicheren Drittstaats“ zwar nicht gleichwertig ist, aber ähnelt(35), so dass die rechtlichen Wirkungen der unterbliebenen Rückübernahme der Kläger der Ausgangsverfahren durch die serbischen Behörden den in Art. 38 der Richtlinie 2013/32 geregelten entsprechen müssen.

114. Zur genauen Bestimmung dieser Wirkungen stelle ich fest, dass, anders als bei Art. 35 der Richtlinie, die Ungewissheit in Bezug auf die Rückübernahme der Anwendung des dort genannten Unzulässigkeitsgrundes nicht entgegensteht; dies zeigt der Wortlaut des 44. Erwägungsgrundes der Richtlinie und insbesondere der Gebrauch der Wendung „Grund zu der Annahme …, dass die Übernahme oder Rückübernahme des Antragstellers in [den sicheren Drittstaat] gewährleistet ist“(36). Wenn sich, nachdem der Unzulässigkeitsgrund des „sicheren Drittstaats“ angewandt wurde, die zuständigen Behörden dieses Staats weigern, den Antragsteller in ihr Hoheitsgebiet einreisen zu lassen, sind jedoch nach Art. 38 Abs. 4 der Richtlinie 2013/32 die zuständigen Behörden des Mitgliedstaats, in dem der Antrag gestellt wurde, verpflichtet, zu gewährleisten, dass ein neues Verfahren zur Prüfung des Antrags auf internationalen Schutz eingeleitet werden kann.

115. Ich bin deshalb der Ansicht, dass die Asylbehörde in den vorliegenden Fällen eine Verpflichtung trifft, die inhaltlich der in der genannten Bestimmung aufgestellten Verpflichtung entspricht.

116. Was die Frage angeht, ob eine solche Verpflichtung impliziert, dass die zuständigen nationalen Behörden lediglich gewährleisten müssen, dass der Antragsteller die Möglichkeit hat, einen neuen Antrag zu stellen, oder ob sie das Verfahren von Amts wegen wieder aufnehmen müssen, denke ich, dass eine Auslegung des Wortlauts von Art. 38 Abs. 4 der Richtlinie 2013/32 nicht zu einem eindeutigen Ergebnis führt. Zwar mag die französische Sprachfassung darauf hindeuten, dass die Einleitung eines Verfahrens davon abhängt, dass der Betroffene einen neuen Antrag stellt („les États membres veillent à ce que cette personne puisse engager une procédure …“); dagegen könnten die spanische („los Estados miembros garantizarán que tendrá acceso a un procedimiento …“), die estnische („tagavad liikmesriigid juurdepääsu menetlusele vastavalt …“), die englische („Member States shall ensure that access to a procedure is given …“) und die portugiesische Sprachfassung („os Estados-Membros asseguram o acesso a um procedimiento …“) so verstanden werden, dass es den zuständigen nationalen Behörden obliegt, die Prüfung der fraglichen Anträge auf internationalen Schutz wieder aufzunehmen.

117. Nach ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofs ist, wenn eine Auslegung des Wortlauts keine eindeutige Schlussfolgerung zulässt, die Tragweite der fraglichen Bestimmung anhand eines systematischen und teleologischen Ansatzes zu ermitteln.

118. Was den Kontext von Art. 38 Abs. 4 der Richtlinie 2013/32 anbelangt, scheint mir die erste oben in Betracht gezogene Auslegung, die auf der Prämisse beruht, dass eine Person, die internationalen Schutz beantragt hat, ihre Eigenschaft als Antragsteller verliert, sobald ihr Antrag als unzulässig abgelehnt wurde, schon mit der Definition des Antragstellers in Art. 2 Buchst. c der Richtlinie 2013/32 unvereinbar zu sein. Nach dieser Bestimmung bezeichnet nämlich der Ausdruck „Antragsteller“ „einen Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen, der einen Antrag auf internationalen Schutz gestellt hat, über den noch keine bestandskräftige Entscheidung ergangen ist“(37), und nach Art. 2 Buchst. e der Richtlinie bezeichnet der Ausdruck „bestandskräftige Entscheidung“ „eine Entscheidung darüber, ob einem Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen gemäß der [Richtlinie 2011/95] die Flüchtlingseigenschaft oder der subsidiäre Schutzstatus zuzuerkennen ist“. Daraus folgt, dass ein Migrant die Eigenschaft als Person, die internationalen Schutz beantragt hat, erst dann verliert, wenn eine Entscheidung ergeht, mit der die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft oder der Eigenschaft als Person, die internationalen Schutz benötigt, ausgeschlossen wird, mit anderen Worten, eine Entscheidung, mit der der Antrag in der Sache abgelehnt wird(38). Da die Anträge der Kläger der Ausgangsverfahren als unzulässig abgelehnt wurden und über sie nicht in der Sache entschieden wurde, haben die Kläger die Eigenschaft als Asylbewerber nicht verloren.

119. Überdies scheint mir die erste in Betracht gezogene Auslegung nicht mit dem von mir in Nr. 112 der vorliegenden Schlussanträge dargestellten Zweck des Erfordernisses der Übernahme oder der Rückübernahme vereinbar zu sein, der darin besteht, die Verantwortung für die Prüfung des Bedarfs an internationalem Schutz den zuständigen Behörden eines anderen Landes zu übertragen und damit für die Wahrung des subjektiven Rechts der Betroffenen zu sorgen, dass ihr Antrag in dem Verfahren, dessen Gegenstand er ist, in der Sache geprüft wird. Würde der Gerichtshof dieser Auslegung folgen, würde nämlich das Verfahren zur Prüfung jedes Antrags auf internationalen Schutz im Fall der Nichtübernahme oder ‑rückübernahme beendet, ohne dass der ursprüngliche Antrag von der zuständigen nationalen Behörde gewürdigt wurde.

120. Eine Betrachtung der fraglichen Bestimmung aus teleologischer Sicht scheint mir ebenfalls gegen die erste Auslegung zu sprechen. Da sie implizieren würde, dass ex nihilo das Verfahren des internationalen Schutzes eingeleitet wird, scheint sie mir nicht im Einklang mit dem Erfordernis zu stehen, dass Anträge auf internationalen Schutz rasch bearbeitet werden. Dieses Erfordernis ergibt sich ausdrücklich aus dem 18. Erwägungsgrund der Richtlinie 2013/32 („Es liegt im Interesse sowohl der Mitgliedstaaten als auch der Personen, die internationalen Schutz beantragen, dass über die Anträge auf internationalen Schutz so rasch wie möglich … entschieden wird.“)(39), und es liegt auch einer erheblichen Zahl weiterer Bestimmungen der Richtlinie zugrunde. Insoweit sehen selbst Bestimmungen, die den zuständigen nationalen Behörden keine strengen Fristen für die Vornahme von Verfahrenshandlungen vorschreiben, im Allgemeinen vor, dass dies „so rasch wie möglich“ geschehen muss. Ein Paradebeispiel hierfür ist Art. 31 Abs. 2 der Richtlinie 2013/32, in dem es heißt: „Die Mitgliedstaaten stellen sicher, dass das Prüfungsverfahren … so rasch wie möglich zum Abschluss gebracht wird.“

121. Schließlich wäre eine Verpflichtung der zuständigen nationalen Behörde, die Prüfung des ursprünglichen Antrags wieder aufzunehmen, meines Erachtens geeignet, eine bessere Wirksamkeit der nationalen Verfahren hinsichtlich der Anwendung des Unzulässigkeitsgrundes des „sicheren Drittlands“ zu gewährleisten. Sie könnte das Verantwortungsbewusstsein der Behörde im Rahmen der Anwendung dieses Unzulässigkeitsgrundes erhöhen, im Wege einer sorgfältigen Beurteilung des Vorliegens von Gründen für die Annahme, dass der Antragsteller in das fragliche Drittland aufgenommen oder wieder aufgenommen wird. Dabei erscheint mir bedeutsam, dass der Gerichtshof kürzlich im Urteil Ibrahim u. a. klargestellt hat, dass in einem Fall, in dem ein Mitgliedstaat, der subsidiären Schutz gewährt hat, systematisch und ohne echte Prüfung die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft verweigert, obwohl die Antragsteller die Voraussetzungen für ihre Zuerkennung erfüllen, und in dem diese Antragsteller sodann in einem anderen Mitgliedstaat einen neuen Asylantrag stellen, der andere Mitgliedstaat ihren Antrag auf der Grundlage von Art. 33 Abs. 2 Buchst. a der Richtlinie 2013/32 ablehnen kann, dass es aber dem erstgenannten Mitgliedstaat obliegt, das Verfahren zur Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft wieder aufzunehmen(40).

122. Ich neige deshalb zu einer Auslegung von Art. 38 Abs. 4 der Richtlinie 2013/32, wonach die zuständigen nationalen Behörden, wenn die Aufnahme oder Wiederaufnahme unterbleibt, das Verfahren über den vom Betroffenen bereits gestellten Antrag auf internationalen Schutz wieder aufnehmen müssen(41). Dieser Antrag müsste dann als bereits gestellt im Sinne von Art. 6 der Richtlinie angesehen werden, und für ihn müssten die in ihrem Kapitel II aufgestellten Grundsätze und Garantien gelten.

123. Insoweit ist zu ergänzen, dass sich bei einer neuen Prüfung des Antrags die Entscheidung der zuständigen nationalen Behörde erneut auf einen Unzulässigkeitsgrund stützen kann, sofern es nicht der gegen das Unionsrecht verstoßende Grund in § 51 Abs. 2 Buchst. f des Gesetzes über das Asylrecht ist. Diese Ergänzung steht offenkundig nicht im Widerspruch zum Zweck der Pflicht zur Aufnahme oder Wiederaufnahme in Art. 38 Abs. 4 der Richtlinie 2013/32, da eine etwaige neue Entscheidung, die auf einem anderen der in Art. 33 Abs. 2 der Richtlinie, einschließlich seines Buchst. b, aufgezählten Unzulässigkeitsgründe beruht, eine inhaltliche Prüfung des Antrags der Kläger der Ausgangsverfahren nicht ausschließen würde; sie wäre in diesem Fall lediglich aufgeschoben und in den übrigen Fällen zwangsläufig bereits erfolgt.

124. Selbst wenn der Gerichtshof in seinem Urteil zu dem Ergebnis kommen sollte, dass die Anwendung von Art. 38 Abs. 4 der Richtlinie 2013/32 zur Stellung eines neuen Antrags auf internationalen Schutz durch die Betroffenen führen muss, könnte dieser jedenfalls nicht als „Folgeantrag“ im Sinne von Art. 2 Buchst. q der Richtlinie 2013/32 eingestuft werden, der gemäß Art. 33 Abs. 2 Buchst. d der Richtlinie für unzulässig erklärt werden könnte(42). Aus der Definition des „Folgeantrags“ in Art. 2 Buchst. q der Richtlinie 2013/32 geht nämlich hervor, dass der darauf beruhende Unzulässigkeitsgrund nur anwendbar ist, wenn der Erstantrag Gegenstand einer „bestandskräftigen Entscheidung“ war(43), was, wie zuvor bereits dargelegt, ein Synonym für „Entscheidung in der Sache“ ist. Wurde der Erstantrag wie hier als unzulässig abgelehnt, kann der neue gemäß Art. 38 Abs. 4 der Richtlinie 2013/32 gestellte Antrag nicht als „Folgeantrag“ für die Zwecke der Anwendung dieses Unzulässigkeitsgrundes eingestuft werden.

125. Diese Schlussfolgerung wird insbesondere durch den Wortlaut von Art. 40 Abs. 2 der Richtlinie 2013/32 bestätigt, wonach die zuständige nationale Behörde für die Zwecke der gemäß Art. 33 Abs. 2 Buchst. d der Richtlinie zu treffenden Entscheidung über die Zulässigkeit eines „Folgeantrags“ zunächst zu prüfen hat, ob neue Elemente oder Erkenntnisse „betreffend die Frage, ob der Antragsteller nach Maßgabe der Richtlinie [2011/95] als Person mit Anspruch auf internationalen Schutz anzuerkennen ist“, zutage getreten oder vom Antragsteller vorgebracht worden sind. Diese Formulierung lässt erkennen, dass eine solche Einstufung nur dann gerechtfertigt ist, wenn der ursprüngliche Antrag der Betroffenen bereits geprüft und aus inhaltlichen Gründen abgelehnt worden ist(44).

126. Ich schlage dem Gerichtshof deshalb vor, auf die zweite Vorlagefrage zu antworten, dass Art. 38 Abs. 4 der Richtlinie 2013/32 dahin auszulegen ist, dass in einer Situation, in der ein Antrag auf internationalen Schutz auf der Grundlage des Unzulässigkeitsgrundes des „sicheren Transitstaats“ abgelehnt wurde und dieses Land sich weigert, die Antragsteller in sein Hoheitsgebiet einreisen zu lassen, die zuständige nationale Behörde unabhängig von der Rechtswidrigkeit dieses Grundes und der damit verbundenen Folgen verpflichtet ist, das Verfahren zur Prüfung des Asylantrags von Amts wegen wieder aufzunehmen, und in diesem Rahmen einen der in Art. 33 Abs. 2 der Richtlinie 2013/32 vorgesehenen Unzulässigkeitsgründe anwenden kann.

127. Außerdem ist, während das Erfordernis einer gesicherten Rückübernahme zu den kumulativen Voraussetzungen für den Erlass einer auf dem Konzept des „ersten Asylstaats“ in Art. 33 Abs. 2 Buchst. b der Richtlinie 2013/32 beruhenden Entscheidung gehört, die Übernahme oder die Rückübernahme durch den „sicheren Drittstaat“ erst zum Zeitpunkt des Vollzugs einer auf diesem, in Art. 33 Abs. 2 Buchst. c der Richtlinie genannten Konzept beruhenden Entscheidung zu prüfen.

E.      Zur Haft

128. Da die Analyse der zweiten Gruppe von Vorlagefragen zu dem Ergebnis geführt hat, dass die Kläger der Ausgangsverfahren als Personen anzusehen sind, die internationalen Schutz begehren und in den Anwendungsbereich der Richtlinie 2013/32 fallen, ist die dritte Gruppe von Vorlagefragen zu prüfen, die die gesamte Problematik der Haft betreffen und von denen sich die ersten vier insofern auf die Vereinbarkeit der in den Ausgangsverfahren in Rede stehenden nationalen Regelung mit Art. 26 im Licht von Art. 52 Abs. 3 der Charta, mit Art. 43 der Richtlinie 2013/32 sowie mit den Art. 8 und 9 der Richtlinie 2013/33 beziehen, als diese Regelung eine rechtswidrige Inhaftnahme einer Person gestattet, die internationalen Schutz beantragt hat(45). Wie aus den Erklärungen der ungarischen Regierung klar hervorgeht, bestreitet diese aber die Anwendbarkeit von Art. 43 der Richtlinie 2013/32 in den vorliegenden Fällen, so dass dies notwendigerweise vorab zu prüfen ist.

1.      Zur Anwendbarkeit von Art. 43 der Richtlinie 2013/32

129. Im 38. Erwägungsgrund der Richtlinie 2013/32 wird zunächst zutreffend hervorgehoben, dass viele Anträge auf internationalen Schutz an der Grenze oder in Transitzonen eines Mitgliedstaats gestellt werden, bevor eine Entscheidung über die Einreise des Antragstellers vorliegt, und dann ausgeführt, dass die Mitgliedstaaten die Möglichkeit haben sollten, Verfahren zur Prüfung der Zulässigkeit und/oder Begründetheit von Anträgen vorzusehen, die es ermöglichen, unter genau festgelegten Umständen an Ort und Stelle über solche Anträge zu entscheiden.

130. Genau dies ist Gegenstand von Art. 43 der Richtlinie 2013/32, wonach die Mitgliedstaaten unter Wahrung der Grundsätze und Garantien in Kapitel II der Richtlinie Verfahren festlegen können, um an ihrer Grenze oder in ihren Transitzonen über Folgendes zu entscheiden:

–        die Zulässigkeit eines an derartigen Orten gestellten Antrags gemäß Art. 33 der Richtlinie und/oder

–        die Begründetheit eines Antrags in einem Verfahren nach Art. 31 Abs. 8 der Richtlinie.

131. Der Unionsgesetzgeber, der ersichtlich wegen des Schicksals der in Einrichtungen an der Grenze oder in Transitzonen, leider unter oft sehr schwierigen Bedingungen, untergebrachten Antragsteller besorgt war, hat in Art. 43 Abs. 2 der Richtlinie 2013/32 eine kurze Frist von vier Wochen für die Entscheidung der Mitgliedstaaten über die Zulässigkeit oder die Begründetheit des Antrags auf internationalen Schutz festgelegt und bestimmt, welche Folgen die Überschreitung der Frist hat, und zwar, dass den Antragstellern die Einreise in das Hoheitsgebiet des betreffenden Mitgliedstaats gestattet wird, damit ihr Antrag nach Maßgabe der anderen Bestimmungen der Richtlinie bearbeitet werden kann.

132. Die ungarische Regierung macht geltend, das Verfahren zur Prüfung der von den Klägern der Ausgangsverfahren gestellten Anträge auf internationalen Schutz sei kein Verfahren an der Grenze im Sinne von Art. 43 der Richtlinie 2013/32, das daher hier nicht einschlägig sei, sondern folge den Regeln des allgemeinen Asylverfahrens nach der Richtlinie 2013/32; der einzige Unterschied bestehe darin, dass es in einer Transitzone an der Grenze durchgeführt werde, die für die entsprechende Dauer zum Aufenthaltsort bestimmt worden sei.

133. Fest steht, dass auf die Kläger der Ausgangsverfahren die im Anschluss an das Inkrafttreten des Gesetzes Nr. XX von 2017, mit dem das Gesetz über das Asylrecht erheblich geändert wurde und insbesondere spezielle abweichende Verfahren für eine durch eine Masseneinwanderung herbeigeführte Krisensituation geschaffen wurden, geltenden Vorschriften des ungarischen Rechts angewandt wurden. So schließen § 80/I Buchst. i des Gesetzes über das Asylrecht und § 15/A Abs. 2a des Gesetzes über die Staatsgrenzen die Anwendung der innerstaatlichen Vorschriften aus, die es einem Asylbewerber, der sich in einer Transitzone befindet, gestatten, nach Ablauf von vier Wochen seit Antragstellung in das ungarische Hoheitsgebiet einzureisen, und die für Asylsachen zuständige nationale Behörde verpflichten, ein Verfahren im Einklang mit den allgemeinen Vorschriften durchzuführen.

134. Die bloße Berufung auf den spezifischen Charakter des in Rede stehenden nationalen Rechts, das die Anwendung der „allgemeinen“ Verfahrensregeln der Richtlinie 2013/32 auf Anträge auf internationalen Schutz der in Einrichtungen entlang der Grenze untergebrachten Migranten vorsieht, ist irrelevant. Die Anwendbarkeit von Art. 43 der Richtlinie 2013/32 kann meines Erachtens nicht mittels einer fadenscheinigen und bewusst mehrdeutigen Argumentation mit Erfolg in Frage gestellt werden.

135. Hervorzuheben ist, dass der Unionsgesetzgeber den Mitgliedstaaten die Möglichkeit gegeben hat, alle Personen, die internationalen Schutz begehren, an ihren Grenzen aufzuhalten und die gestellten Anträge dort binnen einer kurzen Frist zu bearbeiten, ohne Beschränkung in Bezug auf die Prüfung der Zulässigkeit, aber im Rahmen einer begrenzten Zuständigkeit, und zwar in den in Art. 31 Abs. 8 der Richtlinie 2013/32 aufgezählten Fallgruppen, bei der Beurteilung der Begründetheit des Antrags. Art. 43 der Richtlinie enthält somit eine rechtliche Regelung, die ein untrennbares Ganzes darstellt und die Mitgliedstaaten nur dann zum Rückgriff auf die Verfahren an der Grenze ermächtigt, wenn sie die dort genannten Bedingungen und Garantien einhalten; dies widerspricht dem Verständnis der ungarischen Regierung, dass es sich um eine Regelung „à la carte“ handele, die es ihr gestatte, der Sache nach solche Verfahren durchzuführen, ohne an ihren Rahmen gebunden zu sein.

136. Vorliegend ist an die tatsächlichen und insbesondere die territorialen Gegebenheiten des von den zuständigen nationalen Behörden durchgeführten Verfahrens anzuknüpfen; dabei handelt es sich um das grundlegende Element für dessen Einstufung im Hinblick auf Art. 43 der Richtlinie 2013/32. Insoweit steht Folgendes fest:

–        Die Anträge der Kläger der Ausgangsverfahren auf internationalen Schutz wurden in der Transitzone von Röszke gestellt, und zwar in Anwendung von § 80/J Abs. 1 des Gesetzes über das Asylrecht, in dem es heißt, dass grundsätzlich jeder Asylantrag persönlich vor der zuständigen nationalen Behörde und ausschließlich in der Transitzone gestellt werden muss.

–        Die zuständige nationale Behörde hat die Transitzone von Röszke zum Aufenthaltsort der Kläger der Ausgangsverfahren bestimmt; dies geschah gemäß § 80/J Abs. 5 des Gesetzes über das Asylrecht, der vorsieht, dass diese Behörde dem Asylbewerber die Transitzone als Aufenthaltsort zuweist, bis der Überstellungsbeschluss gemäß der Dublin-Verordnung(46) vollziehbar oder die Entscheidung unanfechtbar geworden ist.

–        Das gesamte Asylverfahren fand in der Transitzone statt, einschließlich der Zustellung der Entscheidung, wonach die Anträge der Kläger der Ausgangsverfahren, die die Transitzone nie verlassen haben, unzulässig sind.

137. In Anbetracht dieser konkreten und objektiven Gesichtspunkte besteht für mich kein Zweifel daran, dass das von den Klägern der Ausgangsverfahren eingeleitete Verfahren zur Prüfung der Anträge auf internationalen Schutz unter Art. 43 der Richtlinie 2013/32 fällt.

2.      Zur Anwendung von Art. 43 der Richtlinie 2013/32

138. Das vorlegende Gericht führt in jeder seiner ersten vier Fragen an, dass die Aufenthaltsdauer der Personen, die internationalen Schutz beantragt hätten, in der Transitzone die in Art. 43 der Richtlinie 2013/32 vorgesehene Höchstdauer des Asylverfahrens von vier Wochen überschritten habe.

139. Die Ermittlung des genauen Sinns der fraglichen Vorlagefragen scheint mir Schwierigkeiten hinsichtlich des Verständnisses der vom vorlegenden Gericht vorgenommenen Verknüpfung der Überschreitung der Frist von vier Wochen mit dem Begriff „Haft“ aufzuwerfen, der in Art. 2 Buchst. h der Richtlinie 2013/33 definiert wird als die räumliche Beschränkung eines Antragstellers durch einen Mitgliedstaat auf einen bestimmten Ort, an dem der Antragsteller keine Bewegungsfreiheit hat. Der Wortlaut der genannten Fragen sowie die Ausführungen des vorlegenden Gerichts zu ihnen deuten darauf hin, dass es eine über vier Wochen hinausgehende Unterbringung von Personen, die internationalen Schutz beantragt haben, in der Transitzone angesichts der Merkmale dieser Zone als Haft ansieht.

140. In Art. 10 Abs. 5 und in Art. 11 Abs. 6 der Richtlinie 2013/33 heißt es zwar, dass eine Person, die internationalen Schutz beantragt hat, an einer Grenzstelle oder in einer Transitzone in Haft genommen werden kann, doch scheint mir, dass der Ablauf von Verfahren an der Grenze und von Inhaftnahmen gesonderten Regelungen unterworfen ist. Dass Art. 43 Abs. 2 der Richtlinie 2013/32 zur Vornahme der Prüfung eines Antrags auf internationalen Schutz einen Aufenthalt des Antragstellers von vier Wochen in der Transitzone gestattet, bedeutet nicht, dass seine Situation der einer inhaftierten Person gleichgestellt werden könnte, wenn er sich am Tag nach Ablauf dieser Frist immer noch in der Transitzone befindet, ohne dass über seinen Antrag entschieden wurde. Auch wenn die Überschreitung der in Art. 43 Abs. 2 der Richtlinie 2013/32 vorgesehenen Frist von vier Wochen keine notwendige und erst recht keine hinreichende Voraussetzung für die Feststellung des Vorliegens einer Inhaftnahme eines in einer Transitzone untergebrachten Antragstellers darstellt, kommt diesem Umstand allerdings eine gewisse Relevanz im Rahmen der Gesamtbeurteilung der Situation des Betroffenen für die Zwecke ihrer Einstufung als Inhaftnahme zu.

141. Wird eine Person, die internationalen Schutz beantragt hat, über die Frist von vier Wochen hinaus in der Transitzone festgehalten(47) und damit zugleich ihres Rechts auf Einreise in das ungarische Hoheitsgebiet beraubt, wie es die nationale Regelung zulässt, liegen die Merkmale einer Einschränkung der Bewegungsfreiheit des Betroffenen vor, die neben den nachfolgend geprüften Bedingungen der Unterbringung in dieser Zone zur Einstufung einer solchen Situation als faktische Inhaftnahme beitragen.

142. Die Prüfung der Vereinbarkeit der einschlägigen, in einer durch eine Masseneinwanderung herbeigeführten Krisensituation anwendbaren nationalen Regelung impliziert schließlich ihre Analyse anhand von Art. 43 Abs. 3 der Richtlinie 2013/32, der sich mit den Folgen einer besonderen Situation befasst, die aufgrund der Ankunft einer großen Zahl von Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen, die förmlich Anträge auf internationalen Schutz stellen, an der Grenze oder in Transitzonen eingetreten ist. Dazu heißt es in Art. 43 Abs. 3 der Richtlinie 2013/32, dass die genannten Verfahren, wenn es in der Praxis nicht möglich ist, die Bestimmungen von Art. 43 Abs. 1 anzuwenden, auch in diesen Fällen und für die Zeit angewandt werden können, in der die Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen normalerweise in der Nähe der Grenze oder Transitzone untergebracht werden.

143. Mit anderen Worten dürfen die Mitgliedstaaten in der zuvor beschriebenen Situation die Anwendung des Verfahrens an der Grenze räumlich auf Orte in der Nähe der Grenze oder Transitzone ausweiten, sofern die Antragsteller dort normalerweise untergebracht werden und solange sie sich dort aufhalten. Art. 43 Abs. 3 der Richtlinie 2013/32, der nur auf dessen Abs. 1 verweist, soll den Mitgliedstaaten keine Verlängerung der Verfahrensfrist von vier Wochen für Personen gestatten, die internationalen Schutz beantragt haben, in der Nähe der Grenze oder der Transitzone untergebracht sind und dem Verfahren an der Grenze unterliegen. Eine gegenteilige Auslegung liefe darauf hinaus, dass es keine zeitliche Begrenzung für das Verfahren an der Grenze gäbe, was mir kaum denkbar erscheint.

144. Selbst wenn Ungarn nachweisen würde, dass immer wieder eine durch eine Masseneinwanderung herbeigeführte Krisensituation, auf der die abweichende nationale Regelung in Asylsachen beruht, vorliegt, wäre diese Regelung jedenfalls nicht mit Art. 43 Abs. 3 der Richtlinie 2013/32 vereinbar, da sie die inhaltliche Beurteilung von Anträgen auf internationalen Schutz in Fällen gestattet, die nicht auf die in Art. 31 Abs. 8 der Richtlinie aufgezählten Fälle beschränkt sind, und nicht vorsieht, dass die Antragsteller normalerweise außerhalb der Transitzone untergebracht werden.

3.      Zur Unterbringung in der Transitzone

145. Mit Buchst. b seiner dritten Frage möchte das vorlegende Gericht vom Gerichtshof wissen, ob die Unterbringung in der Transitzone unter Umständen wie den vorliegenden als „Haft“ im Sinne von Art. 2 Buchst. h der Richtlinie 2013/33 in Verbindung mit Art. 6 und Art. 52 Abs. 3 der Charta anzusehen ist.

a)      Rechtlicher Rahmen der Analyse

146. Zunächst ist darauf hinzuweisen, dass sich die Große Kammer des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte kürzlich im Urteil Ilias und Ahmed gegen Ungarn(48) dazu geäußert hat, ob die Unterbringung von zwei Drittstaatsangehörigen in der Transitzone von Röszke eine Freiheitsentziehung im Sinne von Art. 5 EMRK („Recht auf Freiheit und Sicherheit“) darstellt, und dies verneint hat.

147. Auf dieses Urteil beruft sich die ungarische Regierung in ihrem im Rahmen der vorliegenden Verfahren abgegebenen Erklärungen zur Stützung ihres Vorbringens, dass die Situation der Kläger der Ausgangsverfahren nicht unter den Begriff „Haft“ im Sinne von Art. 2 Buchst. h der Richtlinie 2013/33 falle. Sie ist offenbar der Auffassung, wenn die Unterbringung der Kläger der Ausgangsverfahren in der Transitzone keine Freiheitsentziehung im Sinne von Art. 5 EMRK sei, verstehe sich von selbst, dass sie auch nicht als „Haft“ angesehen werden könne, da dieser Begriff das Vorliegen einer Freiheitsentziehung im Sinne von Art. 6 der Charta voraussetze.

148. Fest steht, dass Art. 5 EMRK dem Art. 6 der Charta entspricht und dass nach Art. 52 Abs. 3 der Charta die darin enthaltenen Rechte, die den durch die EMRK garantierten Rechten entsprechen, so auszulegen sind, dass sie die gleiche Bedeutung und Tragweite haben, wie sie ihnen in der EMRK verliehen wird; darauf scheint mir das Vorbringen von Ungarn zu beruhen. Wie der Gerichtshof mehrfach ausgeführt hat, stellt die EMRK jedoch, solange die Union ihr nicht beigetreten ist, kein Rechtsinstrument dar, das formell in die Unionsrechtsordnung übernommen wurde(49), so dass die mit Art. 52 Abs. 3 der Charta angestrebte Kohärenz die Eigenständigkeit des Unionsrechts und des Gerichtshofs der Europäischen Union unberührt lässt(50).

149. Der Gerichtshof ist somit befugt, die Bestimmungen der Charta eigenständig auszulegen, da allein sie im Bereich des Unionsrechts anwendbar sind. Der Gerichtshof kann daher die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte außer Acht lassen und seine Prüfung der Vorlagefragen anhand der Charta vornehmen, sofern seine Auslegung der darin enthaltenen Rechte, deren Inhalt dem der in der EMRK verankerten Rechte ähnelt, zu einem höheren als dem von der EMRK garantierten Schutzniveau führt(51).

150. Ich schlage dem Gerichtshof vor, hier so vorzugehen. Genauer gesagt bin ich der Ansicht, der Gerichtshof sollte die Frage, ob die Unterbringung der Kläger der Ausgangsverfahren in der Transitzone von Röszke als „Haft“ im Sinne von Art. 2 Buchst. h der Richtlinie 2013/33 einzustufen ist, allein anhand von Art. 6 der Charta prüfen, der bekanntlich lautet: „Jeder Mensch hat das Recht auf Freiheit und Sicherheit.“

151. Insoweit weise ich darauf hin, dass die Richtlinie 2013/33 nach ihrem 35. Erwägungsgrund „im Einklang mit den Grundrechten und Grundsätzen [steht], die insbesondere mit der [Charta] anerkannt wurden“; somit ist davon auszugehen, dass die aus Art. 6 der Charta resultierenden Erfordernisse des Schutzes des Rechts auf Freiheit in die Definition der „Haft“ in Art. 2 Buchst. h der Richtlinie 2013/33 integriert wurden. Folglich ist in den vorliegenden Fällen allein anhand der Prüfung der Bestandteile dieser Definition zu ermitteln, ob eine Haft vorliegt.

152. Nach Art. 2 Buchst. h der Richtlinie 2013/33 ist „Haft“ „die räumliche Beschränkung eines Asylbewerbers durch einen Mitgliedstaat auf einen bestimmten Ort, an dem der Asylbewerber keine Bewegungsfreiheit hat“.

153. Aus dieser Definition folgt, dass zur Klärung der Frage, ob eine bestimmte Maßnahme dazu führt, dass sich die von ihr betroffenen Asylbewerber in Haft befinden, erstens zu prüfen ist, ob für sie an dem ihnen zugewiesenen Unterbringungsort eine räumliche Beschränkung dergestalt besteht, dass sie von der Außenwelt abgeschnitten sind, sich an einem „eng umgrenzten oder beschränkten Ort“ befinden, wie es in der Empfehlung Rec(2003)5 des Ministerkomitees des Europarates an die Mitgliedstaaten über Maßnahmen zur Ingewahrsamnahme von Asylbewerbern heißt, die von der Kommission in ihrem Vorschlag für die Richtlinie 2013/33 ausdrücklich herangezogen wurde(52).

154. Diese Auslegung ist meines Erachtens auch angesichts des Erfordernisses einer Kohärenz der Definition von „Haft“ mit den in Art. 7 Abs. 1 bis 3 der Richtlinie 2013/33 vorgesehenen Beschränkungen der Freizügigkeit der Asylbewerber gerechtfertigt. Nach diesen Bestimmungen führt die Anwendung solcher Beschränkungen dazu, dass den Asylbewerbern ein „Gebiet“ oder ein „Aufenthaltsort“ zugewiesen wird; dies sind zweifelsfrei Teile des jeweiligen Hoheitsgebiets, die erheblich größer sind als der „bestimmte Ort“, von dem in der Definition der Haft die Rede ist.

155. Zweitens verlangt die Definition der Haft, dass geprüft werden muss, ob die Asylbewerber an dem ihnen zugewiesenen Unterbringungsort keine Bewegungsfreiheit haben. In Bezug auf die interne Dimension ihrer Bewegungsfreiheit bin ich der Ansicht, dass das Vorliegen einer Freiheitsentziehung von Art und Umfang der Beschränkungen abhängt, die ihnen am Unterbringungsort konkret auferlegt werden(53). Diese Beurteilung impliziert eine Prüfung der für die Ausübungsmodalitäten der ihnen zustehenden Rechte relevanten Vorschriften und der Einhaltung der ihnen auferlegten Pflichten. Was die externe Dimension der Bewegungsfreiheit angeht, hängt das Vorliegen einer Freiheitsentziehung meiner Meinung nach davon ab, ob die Asylbewerber über eine realistische und nicht nur rein theoretische Möglichkeit verfügen, ihren Unterbringungsort aus freien Stücken zu verlassen. Dies scheint mir eine umfassende Würdigung aller tatsächlichen und rechtlichen Gesichtspunkte zu erfordern, die Einfluss auf die von den betreffenden Asylbewerbern getroffene Wahl haben können.

156. Nachdem die Kriterien dafür ermittelt wurden, wann sich Asylbewerber in „Haft“ im Sinne von Art. 2 Buchst. h der Richtlinie 2013/33 befinden, sind sie auf die Situation der Kläger der Ausgangsverfahren anzuwenden.

b)      Anwendung auf die vorliegenden Fälle

157. An dieser Stelle bedarf es einer methodischen Präzisierung. Angesichts der Bedeutung, die im Rahmen der vorliegenden Analyse der Tatsache zukommt, dass in jeder der verbundenen Rechtssachen nunmehr gegen die Kläger der Ausgangsverfahren eine Rückkehr- und Abschiebungsentscheidung ergangen ist, werde ich zwischen ihrer Situation vor und nach dem Erlass dieser Entscheidung differenzieren.

1)      Zum Vorliegen einer Inhaftnahme vor dem Erlass der Rückkehr- und Abschiebungsentscheidung

158. Der erste Zeitraum begann mit der im Anschluss an die Stellung der Asylanträge getroffenen Entscheidung vom 5. Februar 2019 (bzw. vom 5. Dezember 2018), mit der die Asylbehörde die Transitzone von Röszke, insbesondere den Asylbewerbern vorbehaltenen Sektor dieser Zone, zum obligatorischen Unterbringungsort der Kläger der Ausgangsverfahren bestimmte.

159. Zunächst stellt sich die Frage, ob mit dieser Entscheidung für die Kläger eine räumliche Beschränkung verbunden war.

160. Nach den Angaben des vorlegenden Gerichts ist die Transitzone von Röszke von einem hohen Zaun und Stacheldraht umgeben. Im Inneren gibt es verschiedene Sektoren. Meines Erachtens ist für die Beantwortung der vorstehenden Frage auf den Umfang des Sektors der Transitzone abzustellen, in dem sich die Kläger aufgehalten haben, und nicht auf die gesamte Transitzone. Jeder dieser Sektoren ist nämlich von den übrigen Sektoren durch Zäune getrennt, und es ist nur sehr selten möglich, sich von einem Sektor in einen anderen zu begeben. Es besteht kaum ein Zweifel daran, dass der den Asylbewerbern vorbehaltene Sektor der Transitzone von Röszke, der nur einen Teil von ihr ausmacht, unter den Begriff „bestimmter Ort“ in Art. 2 Buchst. h der Richtlinie 2013/33 oder den Begriff „eng umgrenzter oder beschränkter Ort“ fällt, an dem Personen leben, die physisch von der Außenwelt abgeschnitten sind(54), so dass eine räumliche Beschränkung vorliegt.

161. Daher ist zu klären, ob die Kläger in diesem Sektor ihrer Bewegungsfreiheit beraubt waren.

162. Die Vorlageentscheidungen enthalten hierzu eine Reihe relevanter Anhaltspunkte. Erstens wohnen die Kläger der Ausgangsverfahren in einem Metallcontainer mit einer Grundfläche von nicht mehr als 13 m2. Zweitens haben sie nur eine äußerst begrenzte Möglichkeit, sich in einen anderen Sektor der Transitzone zu begeben (zweimal pro Woche für etwa eine Stunde). Drittens dürfen sie, abgesehen von dieser Möglichkeit, den Asylbewerbern vorbehaltenen Sektor nur verlassen, wenn ihre Anwesenheit zur Erledigung sie betreffender Verfahrenshandlungen erforderlich ist oder wenn sie, eskortiert von Polizisten oder bewaffneten Wächtern, Ausgang zu Kontrollzwecken oder zur medizinischen Behandlung haben. Viertens dürfen sie nur nach vorheriger Genehmigung in dafür vorgesehenen Räumlichkeiten der Transitzone, zu denen sie unter Polizeieskorte gebracht werden, Kontakt zu Personen der Außenwelt, einschließlich ihrer Anwälte, aufnehmen. Fünftens legen die Vorlageentscheidungen nahe, dass die Bewegungen der Kläger ständig überwacht werden, denn innerhalb der Transitzone und in unmittelbarer Nähe des Zauns halten sich Polizisten oder bewaffnete Wächter auf.

163. Dieses Bündel von Anhaltspunkten zeugt von einem erhöhten Grad einer Beschränkung der Bewegungsfreiheit der Asylbewerber, die so weit geht, dass ihre Situation einem Aufenthalt in einem gewöhnlichen Gefängnis weitgehend vergleichbar ist. Dies rechtfertigt den Schluss, dass die Kläger der Ausgangsverfahren während ihres Aufenthalts in dem Asylbewerbern vorbehaltenen Sektor der Transitzone von Röszke ihrer Bewegungsfreiheit beraubt waren.

164. Dieser Schluss wird in meinen Augen durch die übrigen von der ungarischen Regierung in ihren Erklärungen vorgebrachten Gesichtspunkte nicht in Frage gestellt. Festzustellen ist nämlich, dass weder die Befriedigung der für angemessene Bedingungen des täglichen Lebens erforderlichen materiellen Bedürfnisse, z. B. durch die Bereitstellung eines Betts, eines abschließbaren Schranks pro Person oder von Mikrowellengeräten, noch die Organisation von Freizeitaktivitäten oder ein Bildungsangebot für Kinder unmittelbaren Einfluss auf die Bewegungsfreiheit der dort untergebrachten Asylbewerber haben. Auch die Anwesenheit von Sozialarbeitern und Psychologen vor Ort spielt keine Rolle.

165. Zum Vorliegen einer „realistischen“ Möglichkeit für die Kläger der Ausgangsverfahren, die Transitzone von Röszke aus freien Stücken zu verlassen, führt die ungarische Regierung in ihren Erklärungen aus, sie sei überzeugt, dass eine solche Möglichkeit bestehe, da nichts die Kläger daran hindere, eine solche Zone aus eigener Initiative zu verlassen, wenn sie dies wünschten.

166. Bei vernünftiger Betrachtung ist aber davon auszugehen, dass die Frage, ob eine realistische Möglichkeit zur freiwilligen Abreise besteht, anhand der speziellen Situation der Asylbewerber zu beurteilen ist. Aus meiner Sicht fehlt es daran, wenn eine Abreise aus der Transitzone zwangsläufig den Verzicht auf die Möglichkeit der Erlangung des begehrten internationalen Schutzes bedeuten würde. Die Art. 27 und 28 der Richtlinie 2013/32 sehen vor, dass die zuständige nationale Behörde bei ausdrücklicher oder stillschweigender Rücknahme des Antrags oder bei Nichtbetreiben des Verfahrens entscheidet, entweder die Antragsprüfung einzustellen oder den Antrag abzulehnen. Auch wenn die zuständige nationale Behörde theoretisch die Möglichkeit hätte, im Fall der Abreise des Asylbewerbers eine Entscheidung auf der Grundlage der ihr zur Verfügung stehenden Anhaltspunkte zu treffen, halte ich es für äußerst wahrscheinlich, wenn nicht sicher, dass eine solche Entscheidung zu seinen Ungunsten ausfallen würde. Unter diesen Umständen bin ich der Ansicht, dass kein Asylbewerber in der Lage ist, die Transitzone aus freien Stücken zu verlassen.

167. Eine pragmatische und realistische Herangehensweise an die Perspektive einer freiwilligen Abreise aus der Transitzone impliziert die Frage nach der Bewegungsfreiheit eines Migranten, wenn er sich aus dieser Zone entfernt. Ist es denkbar, dass ein Migrant, der die Einrichtungen in der Transitzone verlässt, sich selbst überlassen wird und sich frei bewegen kann? Dies ist zweifellos zu verneinen.

168. Aus den Erklärungen der ungarischen Regierung geht hervor, dass der Betroffene sich nicht nach Ungarn begeben könnte, da ihm dort die Einreise und der Aufenthalt nicht gestattet sind. Insoweit ist hervorzuheben, dass die ungarische Polizei nach § 5 Abs. 1b des Gesetzes über die Staatsgrenzen in einer durch eine Masseneinwanderung herbeigeführten Krisensituation illegal aufhältige ausländische Staatsangehörige im gesamten Hoheitsgebiet festnehmen und bis zum nächstgelegenen Grenzzaun eskortieren kann, es sei denn, dass der Verdacht einer Zuwiderhandlung besteht. Die einzige Alternative für den betreffenden Migranten besteht darin, sich nach Serbien zu begeben, d. h. dorthin zurückzukehren, wo er herkam, wobei zumindest ungewiss ist, ob ihm die Einreise in das serbische Hoheitsgebiet gestattet wird, ob er dort aufenthaltsberechtigt sein wird und wie sich die örtlichen Zuwanderungsbehörden ihm gegenüber verhalten werden. In einem solchen Fall hätte er zwei Möglichkeiten. Erstens könnte er die Grenze zwischen Serbien und Ungarn an einer Grenzübergangsstelle und während der festgesetzten Verkehrsstunden überschreiten, wie es Art. 5 Abs. 1 des Schengener Grenzkodex vorschreibt(55). Dies würde zweifellos dazu führen, dass seine Übernahme (oder Rückübernahme) von den zuständigen serbischen Behörden abgelehnt würde, da die Republik Serbien nicht bereit ist, Migranten aus den ungarischen Transitzonen einreisen zu lassen, mit der Begründung, sie seien legal in das ungarische Hoheitsgebiet eingereist, so dass die Voraussetzungen für die Anwendung von Art. 3 Abs. 1 des Rückübernahmeabkommens nicht erfüllt seien. Zweitens könnte er die Grenze in einer gegen Art. 5 Abs. 1 des Schengener Grenzkodex verstoßenden Weise überschreiten. Dann würde sein illegaler Aufenthalt in Serbien für ihn wahrscheinlich zu strafrechtlichen Sanktionen führen; das repressive Vorgehen der Republik Serbien bei illegalen Grenzübertritten ist gut dokumentiert(56). Ist die Perspektive, dass dieser Migrant aus freien Stücken die Transitzone verlässt und nach Serbien zurückkehrt, also realistisch? Daran bestehen erhebliche Zweifel(57).

169. Da ich denke, dass die Frage, ob es den Klägern der Ausgangsverfahren freistand, die Transitzone von Röszke zu verlassen und sich in den Aufnahmestaat oder in ein anderes Land zu begeben, verneint werden sollte, kann man meines Erachtens davon ausgehen, dass sie während ihres Aufenthalts in dieser Zone vor dem Erlass der Rückkehr- und Abschiebungsentscheidung in der Tat ihrer Bewegungsfreiheit beraubt waren.

170. Ich schlage dem Gerichtshof daher vor, festzustellen, dass sich die Kläger in der Zeit vom 5. Februar 2019 (bzw. vom 5. Dezember 2018) bis zum 25. April 2019 (bzw. bis zum 12. Februar 2019) im Sinne von Art. 2 Buchst. h der Richtlinie 2013/33 in „Haft“ befanden.

2)      Zum Vorliegen einer Inhaftnahme nach dem Erlass der Rückkehr- und Abschiebungsentscheidung

171. Der zweite Zeitraum, der mit dem Erlass der Rückkehr- und Abschiebungsentscheidung begann und bis heute fortdauert, besteht aus zwei gesonderten Zeitabschnitten. Die Kläger der Ausgangsverfahren waren nämlich nach dem Erlass dieser Entscheidung weiterhin in dem Asylbewerbern vorbehaltenen Sektor der Transitzone von Röszke untergebracht, und zwar bis zum 17. Mai 2019 (Rechtssache C‑924/19) bzw. bis zum 27. März 2019 (Rechtssache C‑925/19). Dann wurden sie von der zuständigen nationalen Behörde angewiesen, sich in dem für Ausländer vorgesehenen Sektor dieser Transitzone aufzuhalten. Diese zeitliche Abfolge hat keinen Einfluss auf die Beantwortung der fraglichen Vorlagefrage.

172. Der für Ausländer vorgesehene Sektor ist wie der den Asylbewerbern vorbehaltene Sektor als Hafteinrichtung im Sinne von Art. 2 Buchst. h der Richtlinie 2013/33 einzustufen, und zwar aus den gleichen Gründen.

173. In Bezug auf die fehlende Bewegungsfreiheit der Kläger der Ausgangsverfahren innerhalb des ihnen zugewiesenen Unterbringungsorts scheint mir im Licht der von allen Beteiligten in der mündlichen Verhandlung gemachten näheren Angaben auf der Hand zu liegen, dass die Kläger, wenn sie in dem Asylbewerbern vorbehaltenen Sektor keine Bewegungsfreiheit hatten, auch in dem für Ausländer vorgesehenen Sektor keine hatten, da die dort bestehenden Einschränkungen denen im erstgenannten Sektor entsprachen. Insoweit weise ich darauf hin, dass es nach den Angaben der ungarischen Regierung neben den in Nr. 162 der vorliegenden Schlussanträge genannten Elementen ein System der Videoüberwachung gab, das alle Ausländer erfasste und von dem nur ein Teil der Gemeinschaftsbereiche, die sanitären Anlagen und das Innere der als Wohnraum dienenden Metallcontainer ausgenommen waren.

174. Meines Erachtens besteht kaum ein Zweifel daran, dass die Kläger der Ausgangsverfahren keine realistische Möglichkeit haben, die Transitzone von Röszke aus freien Stücken zu verlassen. In diesem Stadium der Analyse spielt die am 25. April 2019 (bzw. am 12. Februar 2019) gegen sie ergangene Rückkehr- und Abschiebungsentscheidung eine entscheidende Rolle.

175. Unerheblich ist, dass das Zielland der Abschiebung, das ursprünglich Serbien war, mit der Entscheidung der zuständigen nationalen Behörde vom 3. Juni 2019 (bzw. vom 17. April 2019) geändert wurde, wonach die Kläger der Ausgangsverfahren in ihr Herkunftsland (Afghanistan oder den Iran) abgeschoben werden sollten. Relevant ist hier allein die Tatsache, dass gegen sie eine Rückkehr- und Abschiebungsentscheidung erging.

176. Da eine solche Entscheidung zur Entstehung einer rechtlichen Rückkehrverpflichtung für die von ihr betroffenen Drittstaatsangehörigen führt(58), kommt nämlich nicht in Betracht, dass sie die Transitzone von Röszke aus freien Stücken verlassen. Genauer gesagt sind die Kläger nur dann zum Verlassen einer solchen Transitzone berechtigt, wenn die ungarischen Behörden alle für ihre Abschiebung erforderlichen Verfahrenshandlungen vornehmen; dies ist in Art. 8 Abs. 1 der Richtlinie 2008/115 geregelt.

177. Die Argumentation der ungarischen Regierung erscheint mir wenig stimmig, wenn sowohl geltend gemacht wird, die betreffenden Drittstaatsangehörigen, an die eine Rückkehrentscheidung nach Serbien gerichtet worden sei, „hätten die Transitzone aus freien Stücken verlassen können“, sich aber „zum Bleiben entschieden“, als auch, dass die Betroffenen „die ihnen in der ursprünglichen Rückkehrentscheidung der zuständigen Behörde auferlegte Pflicht, die Transitzone zu verlassen, missachtet“ hätten. Insoweit geht aus den Vorlageentscheidungen klar hervor, dass die den Klägern der Ausgangsverfahren auferlegte Rückkehr und Abschiebung nach Serbien in Form eines physischen Transfers unter Eskorte vonstattengehen sollte, was eine erzwungene Rückkehr kennzeichnet. In gleicher Weise sollten sie sodann nach den Vorgaben der zuständigen nationalen Behörde aufgrund ihrer Staatsangehörigkeit nach Afghanistan bzw. in den Iran gebracht werden, nachdem die Republik Serbien ihre Rückübernahme abgelehnt hatte. Es handelt sich somit nicht um den Fall einer mit einer Frist für die freiwillige Ausreise versehenen Entscheidung im Sinne von Art. 7 der Richtlinie 2008/115. Die tatsächlichen Gegebenheiten der von der verantwortlichen nationalen Behörde angeordneten Abschiebung sind völlig unvereinbar mit dem Gedanken einer freiwilligen Ausreise der Kläger der Ausgangsverfahren.

178. In Anbetracht dessen schlage ich dem Gerichtshof daher vor, festzustellen, dass sich die Kläger sei dem 25. April 2019 bzw. dem 12. Februar 2019 im Sinne von Art. 2 Buchst. h der Richtlinie 2013/33 in „Haft“ befinden.

179. Eine solche Auslegung dieser Bestimmung, die gemäß dem 35. Erwägungsgrund der Richtlinie 2013/33 unter Einbeziehung der aus Art. 6 der Charta resultierenden Erfordernisse vorgenommen worden ist, ist geeignet, ein höheres als das durch die EMRK im Rahmen der Auslegung ihres Art. 5 garantierte Schutzniveau zu gewährleisten, und steht daher im Einklang mit der Vorgabe im letzten Satz von Art. 52 Abs. 3 der Charta.

4.      Zur Rechtmäßigkeit der Inhaftnahme

180. Aus den vorstehenden Erwägungen folgt, dass die Kläger der Ausgangsverfahren, bei denen es sich um Personen, die internationalen Schutz beantragt haben und in den Anwendungsbereich der Richtlinie 2013/32 fallen, handelt, während ihres Aufenthalts in der Transitzone von Röszke inhaftiert waren. Im Rahmen von Buchst. d seiner dritten Frage möchte das vorlegende Gericht vom Gerichtshof wissen, ob diese Inhaftnahme rechtmäßig ist; dabei ist zu beachten, dass Personen, die internationalen Schutz beantragt haben, nach Art. 26 der Richtlinie 2013/32 und Art. 8 der Richtlinie 2013/33 unter bestimmten Voraussetzungen in Gewahrsam bzw. in Haft genommen werden dürfen.

181. Die Feststellung, dass sich die Kläger der Ausgangsverfahren de facto in Haft befinden, bedeutet definitionsgemäß, dass die für diese Maßnahme geltende Regelung in den Art. 8 bis 11 der Richtlinie nicht eingehalten wurde. Wie das vorlegende Gericht hervorhebt, fehlt in den vorliegenden Fällen der essenzielle erste Schritt, der im Erlass der nach Art. 9 Abs. 2 der Richtlinie 2013/33 erforderlichen formgerechten Entscheidung, die Haft anzuordnen, besteht. Mir erscheint es insoweit zumindest heikel, danach zu suchen, ob eine Maßnahme vorliegt, die einer ausdrücklichen Entscheidung über die Inhaftnahme äquivalent ist. Sie soll hier in dem Rechtsakt bestehen, mit dem festgelegt wurde, dass sich der Aufenthaltsort der Kläger der Ausgangsverfahren in dem für Personen, die internationalen Schutz beantragt haben, vorgesehenen Sektor befindet, oder in dem Rechtsakt, mit dem sie verpflichtet werden, sich in dem für Ausländer vorgesehenen Sektor der Transitzone aufzuhalten, obwohl die ungarische Regierung stets den Standpunkt vertreten hat, dass gar keine Inhaftnahme der Betroffenen vorliege(59).

182. Somit wird nicht einmal geltend gemacht, geschweige denn dargetan, i) dass eine vorherige individuelle Prüfung hinsichtlich möglicher Ersatzlösungen stattfand, ii) dass eine Inhaftnahmeanordnung erging, in der die ihr zugrunde liegenden sachlichen und rechtlichen Gründe für die Haft im Sinne von Art. 8 der Richtlinie 2013/33 angegeben wurden, iii) dass die Antragsteller in einer Sprache, die sie verstehen oder von der vernünftigerweise angenommen werden darf, dass sie sie verstehen, zum einen über die Gründe für die Haft und die im einzelstaatlichen Recht vorgesehenen Verfahren für die Anfechtung der Haftanordnung sowie über die Möglichkeit, unentgeltlich Rechtsberatung und ‑vertretung in Anspruch zu nehmen, informiert wurden und zum anderen Informationen zu den in der Hafteinrichtung geltenden Regeln und zu ihren Rechten und Pflichten erhielten.

183. Als Gründe für die Rechtswidrigkeit nennt das vorlegende Gericht die Unbestimmtheit der Haftdauer, deren Ende nicht angegeben werde. Insoweit scheint mir die klare in Art. 9 der Richtlinie 2013/33 verwendete Formulierung diesem Ansatz zu widersprechen, denn dort ist lediglich vom „kürzest möglichen Zeitraum“ der Inhaftnahme die Rede, ohne dass eine Höchstdauer genannt wird.

184. Das vorlegende Gericht möchte vom Gerichtshof im Rahmen von Buchst. c seiner dritten Frage ferner wissen, ob Art. 8 der Richtlinie 2013/33 einer Inhaftnahme von Asylbewerbern entgegensteht, die allein damit begründet wird, dass sie wegen fehlender Mittel ihren Lebensunterhalt nicht selbst bestreiten könnten. Man kann die Relevanz einer solchen Frage anzweifeln, bei der es um die Rechtmäßigkeit einer Inhaftnahme geht, obwohl keine dahin gehende förmliche Entscheidung auf der Grundlage der Art. 8 und 9 der Richtlinie 2013/33 getroffen wurde und Gegenstand der Ausgangsrechtsstreitigkeiten keine Klage auf Nichtigerklärung eines Rechtsakts ist, in dem die rechtlichen und tatsächlichen Gründe für die Inhaftnahme der Kläger der Ausgangsverfahren angegeben werden. Nur in einem solchen Fall wäre eine Beurteilung der Stichhaltigkeit der fraglichen Begründung anhand von Art. 8 der Richtlinie relevant.

185. Sollte der Gerichtshof diese spezielle Frage für zulässig erachten, wäre sie zu bejahen, da ein solcher Haftgrund in der abschließenden Aufzählung der verschiedenen Gründe für eine Inhaftnahme in Art. 8 Abs. 3 der Richtlinie 2013/33 nicht enthalten ist.

186. Unter diesen Umständen schlage ich vor, festzustellen, dass die Art. 26 und 43 der Richtlinie 2013/32 sowie die Art. 8 und 9 der Richtlinie 2013/33 einer nationalen Regelung entgegenstehen, die es der zuständigen nationalen Behörde gestattet, an der Grenze oder in einer Transitzone über die Zulässigkeit oder die Begründetheit eines Antrags auf internationalen Schutz zu entscheiden, wenn keiner der in Art. 31 Abs. 8 der Richtlinie 2013/32 aufgezählten Fälle vorliegt, eine Frist von vier Wochen überschritten wurde und die Antragsteller ihres Rechts auf Einreise in das Hoheitsgebiet des Mitgliedstaats beraubt wurden und wenn darüber hinaus aufgrund der Bedingungen der Unterbringung in der Transitzone eine räumliche Beschränkung vorliegt und die Antragsteller nicht die Möglichkeit haben, diese Zone aus freien Stücken zu verlassen, so dass es sich de facto um eine Inhaftnahme handelt. Diese ist als rechtswidrig einzustufen, wenn sie sich nicht auf eine im Anschluss an eine individuelle Prüfung möglicher Ersatzlösungen ergangene Inhaftnahmeanordnung stützt, in der die sachlichen und rechtlichen Gründe angegeben wurden, auf denen sie beruht, und mit der einherging, dass die Antragsteller in einer Sprache, die sie verstehen oder von der vernünftigerweise angenommen werden darf, dass sie sie verstehen, zum einen über die Gründe für die Haft und die im einzelstaatlichen Recht vorgesehenen Verfahren für die Anfechtung der Haftanordnung sowie über die Möglichkeit, unentgeltlich Rechtsberatung und ‑vertretung in Anspruch zu nehmen, informiert wurden und zum anderen Informationen zu den in der Hafteinrichtung geltenden Regeln und zu ihren Rechten und Pflichten erhielten.

5.      Zu den vorläufigen Maßnahmen

187. Zunächst ist darauf hinzuweisen, dass das vorlegende Gericht mit Untätigkeitsklagen befasst ist, mit denen die Kläger der Ausgangsverfahren von ihm die Feststellung begehren, dass die zuständige nationale Behörde ihre Pflichten verletzt habe, indem sie es unterlassen habe, ihnen einen Aufenthaltsort außerhalb der Transitzone von Röszke zuzuweisen. Im Rahmen dieses streitigen Verwaltungsverfahrens verleiht das ungarische Recht den nationalen Gerichten nach den Angaben des vorlegenden Gerichts nicht die Befugnis, im Wege des vorläufigen Rechtsschutzes eine Entscheidung zu erlassen, mit der ein solcher Aufenthaltsort festgelegt wird.

188. Mit Buchst. e seiner dritten Frage möchte das vorlegende Gericht vom Gerichtshof wissen, ob Art. 47 der Charta, wenn offenkundig eine rechtswidrige Inhaftnahme vorliegt, dahin auszulegen ist, dass das nationale Gericht die Möglichkeit haben muss, solche vorläufigen Maßnahmen zu treffen, um die zuständige nationale Behörde zu verpflichten, den betreffenden Asylbewerbern bis zum Abschluss des streitigen Verwaltungsverfahrens einen Unterbringungsort außerhalb der Transitzone zuzuweisen, der keine Hafteinrichtung im Sinne von Art. 2 Buchst. h der Richtlinie 2013/33 darstellt.

189. Im Urteil Factortame u. a.(60) hat der Gerichtshof ausgeführt, dass das Erfordernis, für die volle Wirksamkeit des Unionsrechts zu sorgen, zwangsläufig impliziert, dass ein Gericht, das mit einem nach Unionsrecht zu beurteilenden Rechtsstreit befasst ist, in der Lage sein muss, einstweilige Anordnungen zu erlassen, um die volle Wirksamkeit der späteren Gerichtsentscheidung über das Bestehen der aus dem Unionsrecht hergeleiteten Rechte sicherzustellen. In der Folge hat der Gerichtshof hinzugefügt, dass ein absolutes Verbot des Erlasses einstweiliger Anordnungen, unabhängig von den Umständen des Einzelfalls, gegen das den Bürgern nach dem Unionsrecht zustehende Recht auf einen umfassenden und wirksamen gerichtlichen Rechtsschutz(61) – das nunmehr in Art. 47 der Charta verankert ist und das die Mitgliedstaaten in Anwendung von Art. 19 Abs. 1 Satz 2 EUV gewährleisten müssen – verstoßen würde, das insbesondere impliziert, dass ihnen ein vorläufiger Schutz zuteilwerden kann, wenn dies für die volle Wirksamkeit der Endentscheidung erforderlich ist(62).

190. Die Anerkennung einer in der innerstaatlichen Regelung nicht vorgesehenen Befugnis eines nationalen Gerichts zum Erlass vorläufiger Maßnahmen knüpft somit an das Erfordernis des Schutzes eines auf dem Unionsrecht beruhenden Rechts an, dessen Verletzung vor diesem Gericht geltend gemacht wird. In den vorliegenden Fällen gibt das vorlegende Gericht aber nicht ausdrücklich an, welches Recht der Kläger der Ausgangsverfahren verletzt worden sein und es rechtfertigen soll, vor der Sachentscheidung über die Untätigkeitsklagen tätig zu werden, damit deren Wirksamkeit sichergestellt wird.

191. Meines Erachtens könnte sich das fragliche Recht aus Art. 9 der Richtlinie 2013/33 ergeben. Diese Bestimmung, wonach die Mitgliedstaaten dafür sorgen müssen, dass die Rechtmäßigkeit der Inhaftnahme einer Person, die internationalen Schutz beantragt hat, von Amts wegen oder auf ihren Antrag gerichtlich überprüft wird, sieht in Abs. 3 Unterabs. 2 vor, dass der betreffende Antragsteller unverzüglich freigelassen werden muss, falls sich die Haft bei der gerichtlichen Überprüfung als unrechtmäßig erweist. Das zwangsläufige Gegenstück zu dieser Verpflichtung der Mitgliedstaaten ist ein Recht gleichen Inhalts des Antragstellers. Insoweit ist festzustellen, dass die genannte Bestimmung nicht vorsieht, dass das nationale Gericht eine Begleitmaßnahme zur Freilassung erlässt, insbesondere was die Festlegung des Aufenthaltsorts des Betreffenden angeht.

192. Aus Art. 7 der Richtlinie 2013/33 geht hervor, dass sich Personen, die internationalen Schutz beantragt haben, im Hoheitsgebiet des Aufnahmemitgliedstaats oder in einem ihnen von diesem Mitgliedstaat zugewiesenen Gebiet frei bewegen dürfen, wobei der Mitgliedstaat unter den in Art. 7 Abs. 2 und 3 aufgestellten Voraussetzungen einen Beschluss über den Aufenthaltsort der Antragsteller fassen kann. Dem Inhalt dieses Artikels vermag ich nicht zu entnehmen, dass es ein Recht des Asylbewerbers auf Festlegung seines Aufenthaltsorts gibt, dessen Verletzung vor dem vorlegenden Gericht gerügt werden und zum Erlass vorläufiger Maßnahmen führen könnte, um die Wirksamkeit der späteren gerichtlichen Entscheidung zu gewährleisten.

193. In Anbetracht des Rechts, unverzüglich freigelassen zu werden, stellt sich somit die Frage, ob eine Befugnis des nationalen Gerichts zum Erlass vorläufiger Maßnahmen erforderlich ist, um die volle Wirksamkeit der Endentscheidung über das Vorliegen einer rechtswidrigen Inhaftnahme der Kläger der Ausgangsverfahren zu gewährleisten(63).

194. Zur Beantwortung dieser Frage ist gemäß der Rechtsprechung(64) zu klären, ob es nach dem System der betreffenden nationalen Rechtsordnung keinen Rechtsbehelf gibt, mit dem zumindest inzident die Wahrung der dem Einzelnen aus dem Unionsrecht erwachsenden Rechte gewährleistet werden könnte.

195. Dazu ist festzustellen, dass in der mündlichen Verhandlung sowohl die Kläger der Ausgangsverfahren als auch die ungarische Regierung bestätigt haben, dass es in der ungarischen Rechtsordnung einen Rechtsbehelf namens „unverzüglicher Rechtsschutz“ gibt. Es handelt sich um einen außerordentlichen, im Verwaltungsprozessgesetz vorgesehenen Rechtsbehelf, der es Personen, die internationalen Schutz beantragt haben, nach den Angaben der ungarischen Regierung ermöglichen soll, das vorlegende Gericht oder ein anderes nationales Gericht anzurufen, um die „unverzügliche und zeitweilige“ Aussetzung der Entscheidung zu erreichen, mit der ihnen die Transitzone von Röszke als obligatorischer Unterbringungsort zugewiesen wurde. Es ist Sache des vorlegenden Gerichts, zu prüfen, ob dieser Rechtsbehelf geeignet ist, die Einhaltung des Rechts der Kläger der Ausgangsverfahren auf unverzügliche Freilassung im Fall rechtswidriger Inhaftnahme zu gewährleisten. Dabei wird es die Voraussetzungen für die Gewährung eines solchen unverzüglichen Rechtsschutzes zu berücksichtigen haben, zu denen insbesondere der von den Klägern der Ausgangsverfahren in der mündlichen Verhandlung hervorgehobene Umstand zählt, dass dieser Schutz nur bei Vorliegen einer „unmittelbaren Gefahr“ gewährt werden kann.

196. Im Licht dieser Erwägungen schlage ich dem Gerichtshof vor, zu antworten, dass Art. 47 der Charta in Verbindung mit Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV, wenn das nationale Recht keinen Rechtsbehelf vorsieht, mit dem die Einhaltung des Rechts von Personen, die internationalen Schutz beantragt haben, auf unverzügliche Freilassung für den Fall, dass ein Gericht ihre Inhaftnahme für rechtswidrig erklärt, gewährleistet wird, dahin auszulegen ist, dass ein nationales Gericht in der Lage sein muss, vorläufige Maßnahmen zu treffen, mit denen die zuständige nationale Behörde verpflichtet wird, sie freizulassen. Dagegen ergibt sich aus dem Unionsrecht kein Recht von Personen, die internationalen Schutz beantragt haben, auf eine etwaige Festlegung ihres Unterbringungsorts außerhalb des Ortes der rechtswidrigen Inhaftnahme, so dass es nicht Gegenstand solcher Maßnahmen sein kann.

V.      Ergebnis

197. Nach alledem schlage ich dem Gerichtshof vor, die vom Szegedi Közigazgatási és Munkaügyi Bíróság (Verwaltungs- und Arbeitsgericht Szeged, Ungarn) vorgelegten Fragen wie folgt zu beantworten:

1.      Art. 13 der Richtlinie 2008/115/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 16. Dezember 2008 über gemeinsame Normen und Verfahren in den Mitgliedstaaten zur Rückführung illegal aufhältiger Drittstaatsangehöriger ist im Licht von Art. 47 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union dahin auszulegen, dass er den Mitgliedstaaten die Verpflichtung auferlegt, gegen den Rechtsakt, mit dem das in einer Rückkehrentscheidung angegebene Zielland geändert wird, mindestens einen Rechtsbehelf vor einem Gericht vorzusehen, sofern für die Entscheidung über den Rechtsbehelf eine Verwaltungsbehörde oder ein Gremium zuständig ist, die oder das nicht aus unparteiischen Mitgliedern besteht, deren Unabhängigkeit garantiert wird. Das vorlegende Gericht, das im Rahmen seiner Zuständigkeit mit der Anwendung der Bestimmungen des Unionsrechts betraut ist und für ihre volle Wirksamkeit zu sorgen hat, hat bei der Prüfung der von den Klägern der Ausgangsverfahren eingelegten Rechtsbehelfe zu klären, ob die in den Ausgangsverfahren in Rede stehenden nationalen Rechtsvorschriften im Einklang mit diesen Anforderungen des Unionsrechts ausgelegt werden können, oder es wird alle gegen das mit der Richtlinie 2008/115 verfolgte Ergebnis verstoßenden nationalen Rechtsvorschriften unangewendet lassen müssen.

2.      Art. 33 der Richtlinie 2013/32/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Juni 2013 zu gemeinsamen Verfahren für die Zuerkennung und Aberkennung des internationalen Schutzes ist dahin auszulegen, dass er einer nationalen Regelung entgegensteht, nach der ein Antrag auf internationalen Schutz als unzulässig abgelehnt werden kann, weil der Antragsteller über einen Staat in das Hoheitsgebiet des betreffenden Mitgliedstaats eingereist ist, in dem er keiner Verfolgung oder Gefahr eines ernsthaften Schadens ausgesetzt ist oder in dem ein angemessenes Schutzniveau gewährleistet ist.

3.      Art. 38 Abs. 4 und Art. 6 der Richtlinie 2013/32 sind dahin auszulegen, dass in einer Situation, in der ein Antrag auf internationalen Schutz auf der Grundlage des Unzulässigkeitsgrundes des „sicheren Transitstaats“ abgelehnt wurde und dieses Land sich weigert, die Antragsteller in sein Hoheitsgebiet einreisen zu lassen, die zuständige nationale Behörde unabhängig von der Rechtswidrigkeit dieses Grundes und der damit verbundenen Folgen verpflichtet ist, das Verfahren zur Prüfung des Asylantrags von Amts wegen wieder aufzunehmen, und in diesem Rahmen einen der in Art. 33 Abs. 2 der Richtlinie 2013/32 vorgesehenen Unzulässigkeitsgründe anwenden kann. Was die in Art. 33 Abs. 2 Buchst. b und c der Richtlinie 2013/32 genannten Konzepte des „ersten Asylstaats“ und des „sicheren Drittstaats“ angeht, gehört das Erfordernis einer gesicherten Rückübernahme zu den kumulativen Voraussetzungen für den Erlass einer auf dem erstgenannten Konzept beruhenden Entscheidung, während die Übernahme oder die Rückübernahme erst zum Zeitpunkt des Vollzugs einer auf dem letztgenannten Konzept beruhenden Entscheidung zu prüfen ist.

4.      Die Art. 26 und 43 der Richtlinie 2013/32 sowie die Art. 8 und 9 der Richtlinie 2013/33/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Juni 2013 zur Festlegung von Normen für die Aufnahme von Personen, die internationalen Schutz beantragen, sind dahin auszulegen, dass sie einer nationalen Regelung entgegenstehen, die es der zuständigen nationalen Behörde gestattet, an der Grenze oder in einer Transitzone über die Zulässigkeit oder die Begründetheit eines Antrags auf internationalen Schutz zu entscheiden, wenn keiner der in Art. 31 Abs. 8 der Richtlinie 2013/32 aufgezählten Fälle vorliegt, eine Frist von vier Wochen überschritten wurde und die Antragsteller ihres Rechts auf Einreise in das Hoheitsgebiet des Mitgliedstaats beraubt wurden und wenn darüber hinaus aufgrund der Bedingungen der Unterbringung in der Transitzone eine räumliche Beschränkung vorliegt und die Antragsteller nicht die Möglichkeit haben, diese Zone aus freien Stücken zu verlassen, so dass es sich de facto um eine Inhaftnahme handelt. Diese ist als rechtswidrig einzustufen, wenn sie sich nicht auf eine im Anschluss an eine individuelle Prüfung möglicher Ersatzlösungen ergangene Inhaftnahmeanordnung stützt, in der die sachlichen und rechtlichen Gründe angegeben wurden, auf denen sie beruht, und mit der einherging, dass die Antragsteller in einer Sprache, die sie verstehen oder von der vernünftigerweise angenommen werden darf, dass sie sie verstehen, zum einen über die Gründe für die Haft und die im einzelstaatlichen Recht vorgesehenen Verfahren für die Anfechtung der Haftanordnung sowie über die Möglichkeit, unentgeltlich Rechtsberatung und ‑vertretung in Anspruch zu nehmen, informiert wurden und zum anderen Informationen zu den in der Hafteinrichtung geltenden Regeln und zu ihren Rechten und Pflichten erhielten.

5.      Art. 47 der Charta der Grundrechte ist in Verbindung mit Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV dahin auszulegen, dass ein nationales Gericht, wenn im Anschluss an eine gerichtliche Überprüfung festgestellt wird, dass die Inhaftnahme von Personen, die internationalen Schutz beantragt haben, rechtswidrig ist und wenn das nationale Recht keinen Rechtsbehelf vorsieht, mit dem die Einhaltung ihres Rechts auf unverzügliche Freilassung, wie es sich aus Art. 9 Abs. 3 Unterabs. 2 der Richtlinie 2013/33 ergibt, gewährleistet wird, in der Lage sein muss, vorläufige Maßnahmen zu treffen, mit denen die zuständige nationale Behörde verpflichtet wird, sie freizulassen. Dagegen ergibt sich aus dem Unionsrecht kein Recht von Personen, die internationalen Schutz beantragt haben, auf eine etwaige Festlegung ihres Unterbringungsorts außerhalb des Ortes der rechtswidrigen Inhaftnahme, so dass es nicht Gegenstand solcher Maßnahmen sein kann.


1      Originalsprache: Französisch.


2      Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Juni 2013 zu gemeinsamen Verfahren für die Zuerkennung und Aberkennung des internationalen Schutzes (ABl. 2013, L 180, S. 60).


3      Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Juni 2013 zur Festlegung von Normen für die Aufnahme von Personen, die internationalen Schutz beantragen (ABl. 2013, L 180, S. 96).


4      EGMR, 21. November 2019, CE:ECHR:2019:1121JUD004728715.


5      Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Juni 2013 zur Festlegung der Kriterien und Verfahren zur Bestimmung des Mitgliedstaats, der für die Prüfung eines von einem Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen in einem Mitgliedstaat gestellten Antrags auf internationalen Schutz zuständig ist (ABl. 2013, L 180, S. 31).


6      Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates vom 13. Dezember 2011 über Normen für die Anerkennung von Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen als Personen mit Anspruch auf internationalen Schutz, für einen einheitlichen Status für Flüchtlinge oder für Personen mit Anrecht auf subsidiären Schutz und für den Inhalt des zu gewährenden Schutzes (ABl. 2011, L 337, S. 9).


7      Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates vom 16. Dezember 2008 über gemeinsame Normen und Verfahren in den Mitgliedstaaten zur Rückführung illegal aufhältiger Drittstaatsangehöriger (ABl. 2008, L 348, S. 98).


8      EGMR, 21. November 2019, CE:ECHR:2019:1121JUD004728715.


9      Beschluss vom 17. Dezember 2019, Di Girolamo (C‑618/18, nicht veröffentlicht, EU:C:2019:1090, Rn. 25), und Urteil vom 27. Februar 2014, Pohotovosť (C‑470/12, EU:C:2014:101, Rn. 29).


10      Die dem Gerichtshof zur Vorabentscheidung vorgelegten Fragen wurden ihm von einem Gericht anlässlich u. a. der Prüfung einer im innerstaatlichen Recht nicht vorgesehenen Nichtigkeitsklage gestellt. Diese Feststellung hat meines Erachtens keine Auswirkungen auf die Zulässigkeit dieser Fragen, da die erste von ihnen gerade dahin geht, ob die betreffenden nationalen Rechtsvorschriften den Anforderungen genügen, die sich aus dem durch Art. 47 der Charta und Art. 13 der Richtlinie 2008/115 garantierten Recht auf einen wirksamen gerichtlichen Rechtsbehelf ergeben, was eine Antwort des Gerichtshofs im Rahmen der inhaltlichen Würdigung der ersten Frage erforderlich macht (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 17. Januar 2019, KPMG Baltics, C‑639/17, EU:C:2019:31, Rn. 11 und die dort angeführte Rechtsprechung).


11      Die Kläger bringen auch ein Argument vor, das sich darauf stützt, dass sie von der Republik Serbien nicht rückübernommen wurden, und auf die Konsequenzen eines solchen Standpunkts.


12      Urteil vom 19. September 2019, Lovasné Tóth (C‑34/18, EU:C:2019:764, Rn. 40). Der Gerichtshof darf die Entscheidung über ein Ersuchen eines nationalen Gerichts nur dann verweigern, wenn die erbetene Auslegung des Unionsrechts offensichtlich in keinem Zusammenhang mit der Realität oder dem Gegenstand des Ausgangsrechtsstreits steht, wenn das Problem hypothetischer Natur ist oder wenn er nicht über die tatsächlichen und rechtlichen Angaben verfügt, die für eine zweckdienliche Beantwortung der ihm vorgelegten Fragen erforderlich sind (Urteil vom 20. September 2018, OTP Bank und OTP Faktoring, C‑51/17, EU:C:2018:750, Rn. 37).


13      Allein an der Relevanz von Buchst. c der dritten Frage bestehen Zweifel; darauf werde ich im Rahmen der Prüfung der zur dritten Gruppe gehörenden Fragen eingehen.


14      Diese Formulierung und speziell die Verwendung des Wortes „Vollzug“ erwecken den Eindruck, dass es sich bei der fraglichen Änderungsentscheidung um eine Maßnahme verfahrensrechtlicher und nicht materieller Art handelt.


15      Der Vorschlag für eine Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates über gemeinsame Normen und Verfahren in den Mitgliedstaaten zur Rückführung illegal aufhältiger Drittstaatsangehöriger vom 1. September 2005 (KOM[2005] 391 endg.) sah nur einen gerichtlichen Rechtsbehelf vor.


16      Hätte der Richtliniengeber allein das dritte in der Bestimmung genannte Rechtsbehelfsorgan erfassen wollen, hätte zudem vor dessen Nennung ein Komma eingefügt werden müssen, so dass der Satzteil gelautet hätte: „devant une autorité judiciaire ou administrative compétente, ou une instance compétente composée de membres impartiaux et jouissant de garanties d’indépendance“.


17      Urteil vom 17. Juli 1997, Ferriere Nord/Kommission (C‑219/95 P, EU:C:1997:375, Rn. 15).


18      Urteil vom 13. September 2017, Khir Amayry (C‑60/16, EU:C:2017:675, Rn. 29 und die dort angeführte Rechtsprechung).


19      In Abs. 2 von Leitlinie 5 heißt es, dass der Rechtsbehelf die erforderlichen Verfahrensgarantien bieten und gewisse Merkmale aufweisen muss; u. a. darf die Frist für die Einlegung des Rechtsbehelfs nicht unangemessen kurz sein, wobei sie in den vorliegenden Fällen nur 24 Stunden beträgt.


20      Vgl. in diesem Sinne Urteil vom 19. Juni 2018, Gnandi (C‑181/16, EU:C:2018:465, Rn. 60).


21      Vgl. Urteile vom 5. Juni 2014, Mahdi (C‑146/14 PPU, EU:C:2014:1320, Rn. 38), und vom 19. Juni 2018, Gnandi (C‑181/16, EU:C:2018:465, Rn. 48).


22      Vgl. in diesem Sinne Urteil vom 19. Juni 2018, Gnandi (C‑181/16, EU:C:2018:465, Rn. 52).


23      Vgl. entsprechend Urteil vom 13. Dezember 2017, El Hassani (C‑403/16, EU:C:2017:960, Rn. 39 und 40).


24      Vgl. in diesem Sinne Urteil vom 18. Dezember 2014, Abdida (C‑562/13, EU:C:2014:2453, Rn. 51).


25      EGMR, 13. Dezember 2012, CE:ECHR:2012:1213JUD002268907, § 83 und die dort angeführte Rechtsprechung. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte hat dort ausgeführt, der Kläger habe einen Rechtsbehelf bei einem Verwaltungsgericht einlegen können, das die Voraussetzungen der Unabhängigkeit, der Unparteilichkeit und der Zuständigkeit für die Prüfung der auf Art. 8 gestützten Rügen erfüllte (§ 92).


26      Urteil vom 29. Juli 2019, Torubarov (C‑556/17, EU:C:2019:626, Rn. 56).


27      In der Empfehlung (EU) 2017/2338 der Kommission vom 16. November 2017 für ein gemeinsames „Rückkehr-Handbuch“, das von den zuständigen Behörden der Mitgliedstaaten bei der Durchführung rückkehrbezogener Aufgaben heranzuziehen ist (ABl. 2017, L 339, S. 83), heißt es: „Art der Überprüfungsinstanz: In Übereinstimmung mit [den] Artikel[n] 6 und 13 EMRK und Artikel 47 [der Charta] muss die Überprüfungsinstanz ein im Wesentlichen unabhängiges und unparteiisches Gericht sein. Artikel 13 Absatz 1 der Rückführungsrichtlinie orientiert sich eng an der Leitlinie 5.1 des Europarats und sollte der einschlägigen Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) entsprechend ausgelegt werden. Nach dieser Rechtsprechung kommt als Überprüfungsinstanz unter der Voraussetzung, dass die Behörde aus unparteiischen Mitgliedern besteht, deren Unabhängigkeit garantiert wird, und in den nationalen Rechtsvorschriften die Möglichkeit der Überprüfung der Entscheidung durch eine Justizbehörde gemäß den in Artikel 47 [der Charta] über das Recht auf einen wirksamen Rechtsbehelf festgelegten Standards vorgesehen ist, auch eine Verwaltungsbehörde in Frage.“


28      Vgl. Urteil vom 19. Juni 2018, Gnandi (C‑181/16, EU:C:2018:465).


29      Vgl. Urteile vom 26. September 2018, Belastingdienst/Toeslagen (Aufschiebende Wirkung des Rechtsmittels) (C‑175/17, EU:C:2018:776), und Staatssecretaris van Veiligheid en Justitie (Aufschiebende Wirkung des Rechtsmittels) (C‑180/17, EU:C:2018:775).


30      Im Urteil vom 19. Juni 2018, Gnandi (C‑181/16, EU:C:2018:465, Rn. 58), ist zwar die Rede vom Recht, „vor mindestens einem Gericht“ einen wirksamen Rechtsbehelf einzulegen, woraus geschlossen werden kann, dass der Rechtsbehelf von einer außergerichtlichen Instanz bearbeitet werden kann, sofern dies unter der Kontrolle einer gerichtlichen Instanz geschieht. In den Urteilen vom 26. September 2018, Belastingdienst/Toeslagen (Aufschiebende Wirkung des Rechtsmittels) (C‑175/17, EU:C:2018:776, Rn. 37), und Staatssecretaris van Veiligheid en Justitie (Aufschiebende Wirkung des Rechtsmittels) (C‑180/17, EU:C:2018:775, Rn. 33), hat der Gerichtshof hingegen ohne nähere Präzisierung ausgeführt, dass sich der wirksame gerichtliche Rechtsschutz „auf einen einzigen gerichtlichen Rechtsbehelf beschränkt“.


31      Der noch nicht umgesetzte Vorschlag vom 2. September 2018 für eine Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates über gemeinsame Normen und Verfahren in den Mitgliedstaaten zur Rückführung illegal aufhältiger Drittstaatsangehöriger (COM[2018] 634 final) sieht in dem die Rechtsbehelfe regelnden Art. 16 vor, dass die betreffenden Drittstaatsangehörigen das Recht haben, bei einer zuständigen Justizbehörde einen wirksamen Rechtsbehelf gegen Entscheidungen in Bezug auf die Rückkehr einzulegen, wobei der Drittstaatsangehörige das Recht erhält, vor einer einzigen Instanz einen Rechtsbehelf gegen die Rückkehrentscheidung einzulegen, wenn diese auf einer Entscheidung beruht, mit der ein Antrag auf internationalen Schutz abgelehnt wurde, der gemäß der für diesen Antrag geltenden Rechtsnorm einer wirksamen gerichtlichen Überprüfung unterzogen wurde. Es ist also keine Rede mehr davon, dass eine Verwaltungsbehörde oder ein Gremium mit unparteiischen Mitgliedern, deren Unabhängigkeit garantiert wird, als Überprüfungsinstanz tätig wird.


32      Urteil LH (Tompa) (C‑564/18, EU:C:2020:218) und Schlussanträge in der Rechtssache LH (Tompa) (C‑564/18, EU:C:2019:1056).


33      Sollte das Vorbringen der ungarischen Regierung so zu verstehen sein, dass geltend gemacht wird, die zur zweiten Gruppe gehörenden Vorlagefragen seien mangels Relevanz unzulässig, wäre darauf hinzuweisen, dass das vorlegende Gericht mit einer Klage auf Feststellung der Untätigkeit der zuständigen nationalen Behörde bei der Festlegung des Aufenthaltsorts der Kläger der Ausgangsverfahren befasst ist, d. h. mit einem Rechtsstreit, der die vorherige Ermittlung des rechtlichen Status der Kläger impliziert, was Gegenstand der genannten Vorlagefragen ist.


34      Bodart, S., „Article 18. Droit d’asile“, in Picod, F., und Van Drooghenbroeck, S. (Hrsg.), Charte des droits fondamentaux de l’Union européenne – Commentaire article par article, Bruylant, 2020, S. 499.


35      Insoweit geht aus den Vorlageentscheidungen hervor, dass die von den Klägern der Ausgangsverfahren gegen die Ablehnung ihrer Asylanträge erhobenen Klagen vom Fővárosi Közigazgatási és Munkaügy Bíróság (Verwaltungs- und Arbeitsgericht Budapest-Stadt) mit der Begründung abgewiesen wurden, dass das Konzept des „sicheren Transitstaats“ mit der Richtlinie 2013/32 vereinbar sei, da es dem Konzept des „sicheren Drittstaats“ zugeordnet werden könne.


36      Vgl. den Vorschlag vom 20. September 2000 für eine Richtlinie des Rates über Mindestnormen für Verfahren in den Mitgliedstaaten zur Zuerkennung oder Aberkennung der Flüchtlingseigenschaft (KOM[2000] 578 endg.) (ABl. 2001, C 62 E, S. 231), Erläuterungen zu Artikel 22, wo es heißt: „Nach diesem Richtlinienvorschlag muss nicht ausdrücklich sichergestellt sein, dass der Asylbewerber wieder in dem Drittland zugelassen wird; bei jeder Prüfung, inwieweit der Begriff des sicheren Drittstaates zur Anwendung gelangt, sollte jedoch der Frage nachgegangen werden, wie die Behörden des Drittlandes auf die Einreise des Asylbewerbers reagieren werden. Diesen Aspekt sollte der Mitgliedstaat ebenfalls im Einzelfall prüfen, wobei insbesondere die bisherigen Erfahrungen, Informationen des UNHCR [Hoher Flüchtlingskommissar der Vereinten Nationen] und anderer Mitgliedstaaten sowie die geltenden Rückübernahmeabkommen zu berücksichtigen sind“ (Hervorhebung nur hier). Vgl. insoweit auch UNHCR, „Legal considerations regarding access to protection and a connection between the refugee and the third country in the context of return or transfer to safe third countries“, April 2018, verfügbar unter http://bit.ly/2ON4D0I, wo es heißt: „Prior to transfer, it is important, keeping with relevant international law standards, individually to assess whether the third state will: (re)admit the person“ (Vor dem Transfer ist es im Einklang mit den Standards des Völkerrechts wichtig, im Einzelfall zu prüfen, ob der Drittstaat: die Person [wieder] aufnehmen wird) (freie Übersetzung).


37      Hervorhebung nur hier.


38      Insoweit weise ich darauf hin, dass der Vorschlag vom 13. Juli 2016 für eine Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates zur Einführung eines gemeinsamen Verfahrens zur Gewährung internationalen Schutzes in der Union und zur Aufhebung der Richtlinie 2013/32/EU (COM[2016] 467 final) (im Folgenden: Vorschlag für eine neue Verfahrensverordnung) neben der Änderung der französischen Bezeichnung („décision définitive“) eine wichtige Änderung der Definition des Begriffs „bestandskräftige Entscheidung“ vorsieht (Art. 4 Abs. 2 Buchst. d). Er wird in dem Vorschlag nämlich definiert als „eine Entscheidung darüber, ob einem Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen … die Flüchtlingseigenschaft oder der subsidiäre Schutzstatus zuzuerkennen ist, einschließlich einer Entscheidung, den Antrag als unzulässig zu betrachten“ (Hervorhebung nur hier). Die vorgeschlagene Änderung bestätigt meines Erachtens, dass solche Entscheidungen im Rahmen der Richtlinie 2013/32 nicht unter diesen Begriff fallen.


39      Vgl. in diesem Sinne Urteil vom 29. Juli 2019, Torubarov (C‑556/17, EU:C:2019:626, Rn. 53), in dem der Gerichtshof die mit seiner Auslegung verbundenen Grenzen für die Verfahrensautonomie der Mitgliedstaaten beim Erlass einer neuen Entscheidung über einen Antrag auf internationalen Schutz nach der Nichtigerklärung der ursprünglichen Verwaltungsentscheidung, mit der ein solcher Antrag abgelehnt wurde, insbesondere mit der Notwendigkeit begründet hat, dem mit der Richtlinie 2013/32 verfolgten Ziel zu dienen, das darin besteht, zu gewährleisten, dass derartige Anträge „so rasch wie möglich“ bearbeitet werden.


40      Urteil vom 19. März 2019 (C‑297/17, C‑318/17, C‑319/17 und C‑438/17, EU:C:2019:219, Rn. 100).


41      So scheint es im Übrigen der ungarische Gesetzgeber verstanden zu haben, als er in § 51/A des Gesetzes über das Asylrecht eine Bestimmung aufnahm, wonach die zuständige Asylbehörde, wenn das sichere Drittland die Aufnahme des Antragstellers ablehnt, ihre Entscheidung zurücknimmt und das Asylverfahren durchführt. Dies schließt nicht aus, dass der Betroffene seinen Antrag nach den Art. 27 und 28 der Richtlinie 2013/32 vor der Wiederaufnahme des Verwaltungsverfahrens ausdrücklich oder stillschweigend zurücknehmen kann.


42      Die Erörterungen in der mündlichen Verhandlung haben ergeben, dass einer der Kläger der Ausgangsverfahren einen neuen Antrag auf internationalen Schutz gestellt hat, der von der zuständigen nationalen Behörde als „Folgeantrag“ eingestuft und als unzulässig abgelehnt wurde.


43      Nach Art. 2 Buchst. q bezeichnet der Ausdruck „Folgeantrag“ „einen weiteren Antrag auf internationalen Schutz, der nach Erlass einer bestandskräftigen Entscheidung über einen früheren Antrag gestellt wird, auch in Fällen, in denen der Antragsteller seinen Antrag ausdrücklich zurückgenommen hat oder die Asylbehörde den Antrag nach der stillschweigenden Rücknahme durch den Antragsteller gemäß Artikel 28 Absatz 1 abgelehnt hat“.


44      Vgl. in diesem Sinne Urteil vom 17. Dezember 2015, Tall (C‑239/14, EU:C:2015:824, Rn. 46), in dem der Gerichtshof ausführt, dass es „unverhältnismäßig wäre, die Mitgliedstaaten zur erneuten Durchführung des gesamten Prüfungsverfahrens zu verpflichten, wenn ein Asylbewerber einen Folgeantrag auf Asyl stellt, ohne neue Beweise oder Argumente vorzubringen“ (Hervorhebung nur hier). Vgl. auch UNHCR, „UNHCR Comments on the European Commission’s Proposal for an Asylum Procedures Regulation“, April 2019, zum Vorschlag für eine neue Verfahrensverordnung, verfügbar unter https://www.refworld.org/docid/5cb597a27.html. Darin heißt es: „In UNHCR’s view, treating an application as a subsequent application is justified only if the previous claim was considered fully on the merits, involving all the appropriate procedural safeguards.“ (Nach Ansicht des UNHCR ist es nur dann gerechtfertigt, einen Antrag als Folgeantrag zu behandeln, wenn der frühere Antrag umfassend in der Sache geprüft wurde, unter Einbeziehung aller geeigneten Verfahrensgarantien.) (freie Übersetzung)


45      Die Frage des vorlegenden Gerichts ist so formuliert, dass der Gerichtshof ersucht wird, sich zur Vereinbarkeit einer Bestimmung des nationalen Rechts mit dem Unionsrecht zu äußern, was nicht in seine Zuständigkeit im Rahmen des Vorabentscheidungsverfahrens fällt. In einer solchen Situation ist der Gerichtshof aber nach ständiger Rechtsprechung befugt, dem nationalen Gericht Hinweise zur Auslegung des Unionsrechts zu geben, die es diesem Gericht ermöglichen, über die Frage der Vereinbarkeit einer innerstaatlichen Rechtsnorm mit dem Unionsrecht zu entscheiden (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 15. Mai 2014, Almos Agrárkülkereskedelmi, C‑337/13, EU:C:2014:328, Rn. 18).


46      Verordnung (EU) Nr. 604/2013 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Juni 2013 zur Festlegung der Kriterien und Verfahren zur Bestimmung des Mitgliedstaats, der für die Prüfung eines von einem Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen in einem Mitgliedstaat gestellten Antrags auf internationalen Schutz zuständig ist (ABl. 2013, L 180, S. 31).


47      Da Art. 43 der Richtlinie 2013/32 nicht regelt, wann die auf vier Wochen begrenzte Frist zu laufen beginnt, erscheint es mir angebracht, Art. 31 der Richtlinie heranzuziehen, wonach die Mitgliedstaaten sicherstellen, dass die Prüfungsverfahren innerhalb von sechs Monaten „nach förmlicher Antragstellung“ zum Abschluss gebracht werden. Meines Erachtens ist der damit festgelegte Ausgangspunkt für das als Standardverfahren einzustufende Verfahren auf das Verfahren an der Grenze entsprechend anwendbar. Das vorlegende Gericht wird zu prüfen haben, ob unter den Umständen der Ausgangsverfahren diese Frist verstrichen ist, wobei in den Vorabentscheidungsersuchen allein angegeben wird, wann die Anträge auf internationalen Schutz gestellt wurden.


48      EGMR, 21. November 2019, CE:ECHR:2019:1121JUD004728715.


49      Vgl. für den Asylbereich Urteile vom 15. Februar 2016, N. (C‑601/15 PPU, EU:C:2016:84, Rn. 45), und vom 14. September 2017, K. (C‑18/16, EU:C:2017:680, Rn. 32).


50      Dies ergibt sich aus den Erläuterungen zu Art. 52 der Charta, wonach mit dessen Abs. 3 die notwendige Kohärenz zwischen der Charta und der EMRK geschaffen werden soll, „ohne dass dadurch die Eigenständigkeit des Unionsrechts und des Gerichtshofs der Europäischen Union berührt wird“.


51      Vorausgesetzt, dieses Ergebnis führt nicht dazu, dass ein anderes in der Charta verankertes Recht einen geringeren Schutz erfährt. Vgl. hierzu die Schlussanträge von Generalanwältin Kokott in der Rechtssache Puškár (C‑73/16, EU:C:2017:253, Nr. 123).


52      Vorschlag vom 30. Januar 2009 für eine Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates zur Festlegung von Mindestnormen für die Aufnahme von Asylbewerbern in den Mitgliedstaaten (KOM[2008] 815 endg.).


53      Diese Freiheitsentziehung innerhalb des Unterbringungsorts unterscheidet meines Erachtens den Begriff „Haft“ in Art. 2 Buchst. h der Richtlinie 2013/33 von der „Pflicht, sich an einem zugewiesenen Ort aufzuhalten“ in Art. 8 Abs. 4 der Richtlinie.


54      Die in der Transitzone von Röszke untergebrachten Asylbewerber verfügen zwar über eine Wi‑Fi-Verbindung und dürfen ihr Mobiltelefon behalten, aber meines Erachtens kann dadurch ihre Situation physischer Isolierung nur abgemildert werden.


55      Art. 5 Abs. 1 des Schengener Grenzkodex lautet: „Die Außengrenzen dürfen nur an den Grenzübergangsstellen und während der festgesetzten Verkehrsstunden überschritten werden. Die Verkehrsstunden sind an den Grenzübergangsstellen, die nicht rund um die Uhr geöffnet sind, deutlich anzugeben.“ Ungarn hat in den vorliegenden Fällen von der Ausnahme in Art. 5 Abs. 2 des Schengener Grenzkodex keinen Gebrauch gemacht.


56      Insoweit verweisen die Kläger der Ausgangsverfahren in ihren Erklärungen auf die Statistiken im Bericht des Belgrade Centre for Human Rights, „Right to Asylum in the Republic of Serbia 2018“, Belgrad, 2018, S. 29 und 30.


57      Ferner ist darauf hinzuweisen, dass Ungarn, wenn es unter diesen Umständen eine Ausreise aus seinem Hoheitsgebiet ohne die vorherige „eingehende Kontrolle bei der Ausreise“, zu der es nach Art. 8 Abs. 3 Buchst. g des Schengener Grenzkodex verpflichtet ist, gestatten würde, möglicherweise gegen diese Bestimmung verstoßen würde. Eine solche Kontrolle umfasst i) die Überprüfung, ob der Drittstaatsangehörige über ein für den Grenzübertritt gültiges Dokument verfügt, ii) die Überprüfung, ob das Reisedokument Fälschungs- oder Verfälschungsmerkmale aufweist, und iii) soweit möglich, die Überprüfung, ob der Drittstaatsangehörige nicht als eine Gefahr für die öffentliche Ordnung, die innere Sicherheit oder die internationalen Beziehungen eines der Mitgliedstaaten angesehen wird.


58      In Art. 3 Nr. 4 der Richtlinie 2008/115 wird die „Rückkehrentscheidung“ definiert als „die behördliche oder richterliche Entscheidung oder Maßnahme, mit der der illegale Aufenthalt von Drittstaatsangehörigen festgestellt und eine Rückkehrverpflichtung auferlegt oder festgestellt wird“.


59      Die durch die Rechtmäßigkeit der Inhaftierung aufgeworfene Frage besteht meines Erachtens nicht darin, ob es eine Entscheidung gibt, die eine Inhaftierung der betroffenen Migranten bewirkt, sondern darin, ob es eine Entscheidung gibt, die ihre Inhaftierung bezweckt.


60      Urteil vom 19. Juni 1990 (C‑213/89, EU:C:1990:257, Rn. 20).


61      Zwei Beispiele für Ausführungen, bei denen der wirksame gerichtliche Rechtsschutz mit vorläufigen Maßnahmen verknüpft wird, finden sich in den Urteilen vom 11. Januar 2001, Kofisa Italia (C‑1/99, EU:C:2001:10), und vom 11. Januar 2001, Siples (C‑226/99, EU:C:2001:14).


62      Vgl. Beschluss des Präsidenten des Gerichtshofs vom 29. Januar 1997, Antonissen/Rat und Kommission (C‑393/96 P[R], EU:C:1997:42, Rn. 36 und die dort angeführte Rechtsprechung), sowie Urteile vom 13. März 2007, Unibet (C‑432/05, EU:C:2007:163, Rn. 40 und 41), und vom 3. Oktober 2013, Inuit Tapiriit Kanatami u. a./Parlament und Rat (C‑583/11 P, EU:C:2013:625, Rn. 103 und 104).


63      Die in der Vorlagefrage angesprochene Einstufung der Rechtswidrigkeit der Inhaftierung als „offensichtlich“ erscheint mir in diesem Kontext nicht relevant.


64      Urteile vom 13. März 2007, Unibet (C‑432/05, EU:C:2007:163, Rn. 41), und vom 3. Oktober 2013, Inuit Tapiriit Kanatami u. a./Parlament und Rat (C‑583/11 P, EU:C:2013:625, Rn. 104).