Language of document : ECLI:EU:C:2005:676

SCHLUSSANTRÄGE DES GENERALANWALTS

ANTONIO TIZZANO

vom 10. November 2005 1(1)

Rechtssache C-292/04

Wienand Meilicke

Heidi Christa Weyde

Marina Stöffler

gegen

Finanzamt Bonn-Innenstadt

(Vorabentscheidungsersuchen des Finanzgerichts Köln [Deutschland])

„Beschränkung des freien Kapitalverkehrs – Einkommensteuer – Steuergutschrift für von inländischen Gesellschaften gezahlte Dividenden – Zeitliche Wirkung eines Urteils des Gerichtshofes – Grenzen“





1.        Mit am 9. Juli 2004 eingegangenem Beschluss hat das Finanzgericht Köln dem Gerichtshof eine Frage zur Vorabentscheidung vorgelegt, mit der es wissen möchte, ob eine deutsche Regelung mit den Artikeln 56 EG und 58 EG vereinbar ist, nach der Steuerpflichtige eine Steuergutschrift nur für Dividenden erhalten, die ihnen von inländischen Gesellschaften gezahlt werden.

I –    Rechtlicher Rahmen

A –    Gemeinschaftsrecht

2.        Artikel 56 Absatz 1 EG verbietet bekanntlich „alle Beschränkungen des Kapitalverkehrs zwischen den Mitgliedstaaten sowie zwischen den Mitgliedstaaten und dritten Ländern“.

3.        Artikel 58 EG stellt jedoch im Hinblick auf dieses Verbot klar:

„(1) Artikel 56 berührt nicht das Recht der Mitgliedstaaten,

a)      die einschlägigen Vorschriften ihres Steuerrechts anzuwenden, die Steuerpflichtige mit unterschiedlichem Wohnort oder Kapitalanlageort unterschiedlich behandeln,

b)      die unerlässlichen Maßnahmen zu treffen, um Zuwiderhandlungen gegen innerstaatliche Rechts- und Verwaltungsvorschriften, insbesondere auf dem Gebiet des Steuerrechts ..., zu verhindern ...

(3) Die … genannten Maßnahmen und Verfahren dürfen weder ein Mittel zur willkürlichen Diskriminierung noch eine verschleierte Beschränkung des freien Kapital‑ und Zahlungsverkehrs im Sinne des Artikels 56 darstellen.“

B –    Nationales Recht

4.        Nach § 36 Absatz 2 Nummer 3 in Verbindung mit § 20 des Einkommensteuergesetzes (EStG)(2) können Steuerpflichtige von ihrer Einkommensteuerschuld gegenüber dem deutschen Fiskus 3/7 der Dividenden abziehen, die ihnen von inländischen Gesellschaften gezahlt werden. Dagegen gestattet keine Vorschrift die Anwendung dieses Steuergutschriftmechanismus auf Dividenden, die von Gesellschaften stammen, die in anderen Mitgliedstaaten ansässig sind.

5.        Für Gewinne von inländischen Gesellschaften gilt ein Steuersatz von 30 %. Somit wird mit der Steuergutschrift verhindert, dass diese Gewinne ein zweites Mal besteuert werden, wenn sie an die Anteilseigner als Dividenden ausgeschüttet werden(3).

6.        Es sei darauf hingewiesen, dass nach § 36 Absatz 2 Nummer 3 EStG die Steuergutschrift für die von inländischen Gesellschaften ausgeschütteten Gewinne unabhängig von der Entrichtung der geschuldeten Steuer durch die betreffenden Gesellschaften gewährt wird.

7.        Schließlich sei daran erinnert, dass die Bundesrepublik Deutschland mit einem ab dem Steuerjahr 2001 geltenden Gesetz aus dem Jahr 2000(4) das beschriebene System abgeschafft und durch das so genannte Halbeinkünfteverfahren ersetzt hat, nach dem die Einkommensteuer nur auf die Hälfte der von einem Anteilseigner empfangenen Dividenden anfällt. Mit dieser Methode kann die Doppelbesteuerung von Dividenden vermieden oder zumindest stark eingeschränkt werden, ohne dass man freilich auf Steuergutschriften zurückgreifen muss(5).

II – Sachverhalt und Verfahren

8.        In den Jahren 1995 bis 1997 bezog der in Deutschland wohnhafte deutsche Staatsangehörige Heinz Meilicke aus von ihm gehaltenen Aktien niederländischer und dänischer Gesellschaften Dividenden in Höhe von 16 984,85 DM.

9.        Mit Schreiben vom 30. Oktober 2000 beantragten die Erben des zwischenzeitlich verstorbenen Herrn Meilicke beim zuständigen Finanzamt Bonn-Innenstadt eine Steuergutschrift in Höhe von 3/7 des oben genannten Betrages und machten geltend, dass zwar das einschlägige nationale Recht nur die von inländischen Gesellschaften gezahlten Dividenden betreffe, das Gemeinschaftsrecht in seiner Auslegung durch den Gerichtshof im Urteil Verkooijen(6) aber die Erweiterung dieses Mechanismus auf Dividenden vorgebe, die von Gesellschaften anderer Mitgliedstaaten stammten.

10.      Das Finanzamt lehnte diesen Antrag jedoch mit der Begründung ab, dass das soeben zitierte Urteil nur das niederländische Steuerrecht betreffe, von dem nicht feststehe, ob es dem deutschen Steuerrecht entspreche.

11.      Die Erben von Herrn Meilicke riefen daraufhin das vorlegende Gericht an, das zwar starke Zweifel an der Vereinbarkeit des nationalen Rechts mit dem freien Kapitalverkehr hegt, aber feststellt, dass sich der deutsche Gesetzgeber und die deutschen Verwaltungsbehörden nicht durch die Gemeinschaftsrechtsprechung gebunden sähen, die nicht unmittelbar das deutsche Recht betreffe. Das vorlegende Gericht hat es demzufolge für erforderlich gehalten, das Verfahren auszusetzen, um dem Gerichtshof folgende Frage zur Vorabentscheidung vorzulegen:

Ist § 36 Absatz 2 Nummer 3 EStG (in der in den Streitjahren geltenden Fassung), wonach nur die Körperschaftsteuer einer unbeschränkt körperschaftsteuerpflichtigen Körperschaft oder Personenvereinigung in Höhe von 3/7 der Einnahmen im Sinne des § 20 Absatz 1 Nummer 1 oder 2 EStG auf die Einkommensteuer angerechnet wird, mit Artikel 56 Absatz 1 EG und Artikel 58 Absatz 1 Buchstabe a und Absatz 3 EG vereinbar?

12.      In dem damit eingeleiteten Verfahren haben die Kläger des Ausgangsverfahrens, die deutsche Regierung und die Kommission schriftliche Erklärungen eingereicht. Dieselben Beteiligten sowie die Regierung des Vereinigten Königreichs haben an der mündlichen Verhandlung vom 8. September 2005 teilgenommen.

III – Würdigung

 Die Vereinbarkeit des deutschen Rechts mit dem Gemeinschaftsrecht

13.      Das nationale Gericht möchte im Wesentlichen wissen, ob nach den Gemeinschaftsbestimmungen über den freien Kapitalverkehr die Gewährung der Steuergutschrift im deutschen Steuersystem zulässigerweise auf die Steuerpflichtigen beschränkt werden darf, die Dividenden von inländischen Gesellschaften empfangen.

14.      Die Kläger des Ausgangsverfahrens und die Kommission schlagen vor, die Frage zu verneinen, während die deutsche Regierung und die des Vereinigten Königreichs die gegenteilige Auffassung vertreten.

15.      Meiner Meinung nach kann für die Beantwortung der Frage das kürzlich ergangene Urteil Manninen(7) entscheidend weiterhelfen, in dem der Gerichtshof eine fast identische Frage beantwortet hat, das das nationale Gericht aber nicht berücksichtigen konnte, weil es nach Einreichung des Vorlagebeschlusses verkündet wurde.

16.      In diesem Urteil hat der Gerichtshof an einer der fraglichen deutschen Regelung sehr ähnlichen finnischen Regelung beanstandet, dass sie durch die Beschränkung der Steuergutschrift auf von inländischen Gesellschaften ausgeschüttete Dividenden zum einen im Inland unbeschränkt steuerpflichtige Personen davon abhalte, ihr Kapital bei Gesellschaften mit Sitz in einem anderen Mitgliedstaat anzulegen (Randnr. 22), und es zum anderen solchen Gesellschaften erschwere, in Finnland Kapital zu sammeln (Randnr. 23). Folglich war die fragliche Regelung als unvereinbar mit dem Gemeinschaftsrecht anzusehen, weil sie „eine grundsätzlich nach Artikel 56 EG verbotene Beschränkung des freien Kapitalverkehrs dar[stellte]“ (Randnr. 24).

17.      Auf der anderen Seite hielt der Gerichtshof im konkreten Fall auch nicht die Voraussetzungen für gegeben, die nach seiner eigenen Rechtsprechung für die etwaige Rechtfertigung solcher Beschränkungen erfüllt sein müssen. Bekanntlich kann nach dieser Rechtsprechung „eine nationale Steuerregelung, die … zwischen Einkünften aus inländischen und solchen aus ausländischen Dividenden unterscheidet, nur dann als mit den Vertragsbestimmungen über den freien Kapitalverkehr vereinbar angesehen werden, wenn die unterschiedliche Behandlung [i)] Situationen betrifft, die nicht objektiv miteinander vergleichbar [sind,] oder [ii)] durch zwingende Gründe des Allgemeininteresses, insbesondere die Notwendigkeit, die Kohärenz des Steuersystems zu gewährleisten, gerechtfertigt [ist] (Urteil Verkooijen, Randnr. 43)“ (Randnr. 29).

18.      Was den ersten Gesichtspunkt anbelangt, hat der Gerichtshof darauf hingewiesen, dass mit der nationalen Regelung die Doppelbesteuerung von Dividenden verhindert werden solle. Deshalb fehle es an der Vergleichbarkeit der Situation desjenigen, der in Aktien „inländischer“ Gesellschaften anlege, mit der Situation desjenigen, der in Aktien von sonst in der Gemeinschaft ansässigen Gesellschaften anlege, nur dann, wenn der Sitzmitgliedstaat der „ausländischen“ Gesellschaft die Gefahr der Doppelbesteuerung bereits abgewandt habe, indem er z. B. von der Besteuerungsgrundlage für die Körperschaftsteuer die von den Gesellschaften als Dividenden ausgeschütteten Gewinne ausnehme. Weil dies in der Rechtssache Manninen nicht so war, hat der Gerichtshof eine solche Rechtfertigung ausgeschlossen (Randnrn. 35 bis 37).

19.      Zum zweiten Gesichtspunkt hat der Gerichtshof ausgeführt, dass „die Kohärenz des [nationalen] Steuersystems gewährleistet [bleibt], soweit der Zusammenhang zwischen der dem Aktionär gewährten Steuervergünstigung und der geschuldeten Körperschaftsteuer aufrechterhalten wird. Daher würde … die Gewährung einer Steuergutschrift an einen in Finnland unbeschränkt steuerpflichtigen Aktionär, der Aktien einer Gesellschaft mit Sitz in Schweden hält, wobei diese Steuergutschrift nach Maßgabe der von dieser Gesellschaft im letztgenannten Mitgliedstaat geschuldeten Körperschaftsteuer berechnet wird, die Kohärenz des finnischen Steuersystems nicht in Frage stellen“ (Randnr. 46, Hervorhebung hinzugefügt).

20.      Um nun zum vorliegenden Fall zurückzukehren, so steht für mich zunächst außer Zweifel, dass die fragliche deutsche Regelung, indem sie die Steuergutschrift auf von inländischen Gesellschaften gezahlte Dividenden beschränkt, den freien Kapitalverkehr in gleicher Weise beschränkt wie die in der Rechtssache Manninen untersuchte finnische Regelung.

21.      Was sodann die eben angesprochenen (vgl. oben, Nrn. 17 ff.) etwaigen Rechtfertigungsgründe für eine solche Beschränkung anbelangt, stelle ich zunächst fest, dass sich auch im vorliegenden Fall die Situation für die verschiedenen Dividenden, die Gegenstand der streitigen Ungleichbehandlung sind, gleich darstellt und diese somit „objektiv miteinander vergleichbar“ sind. Denn da die Sitzmitgliedstaaten der Gesellschaften, die Dividenden an Herrn Meilicke gezahlt haben (Niederlande und Dänemark), wie Schweden im Fall Manninen die Besteuerungsgrundlage für die Körperschaftsteuer nicht auf die nicht ausgeschütteten Gewinne beschränken, befinden sich die in Deutschland wohnhaften Aktionäre in einer vergleichbaren Situation, ob sie nun die Dividenden von einer inländischen Gesellschaft oder von einer Gesellschaft mit Sitz in einem anderen Mitgliedstaat beziehen. In beiden Fällen unterliegen nämlich die maßgeblichen Einkünfte dieser Gesellschaften zunächst der Körperschaftsteuer und dann, wenn sie als Dividenden ausgeschüttet werden, der Einkommensteuer der Dividendenempfänger.

22.      Ich glaube auch nicht, dass das Urteil D.(8), das vom Vereinigten Königreich in der mündlichen Verhandlung konkret in Bezug auf das Kriterium der „objektiven Vergleichbarkeit“ der maßgeblichen Situationen angeführt worden ist, als Präzedenzfall zu einer anderen Schlussfolgerung führen kann. Danach soll, wenn ich richtig verstanden habe, nach Ansicht dieser Regierung für die Ausdehnung etwaiger Steuervergünstigungen die Vergleichbarkeit von Situationen nur daraus herleitbar sein, dass sie sich in einen bestimmten Rechtsrahmen wie (so in diesem Fall) ein Doppelbesteuerungsabkommen einfügen.

23.      Ich muss sagen, dass sich mir weder der Sinn der Verweisung auf diesen Präzedenzfall noch die daraus abgeleiteten Schlussfolgerungen völlig erschließen. Mir scheint nämlich, dass es im Fall D. um ganz andere Situationen ging als hier, da dort insbesondere die Ausdehnung der Vermögensteuerfreibeträge auf Gebietsfremde und die Möglichkeit der Anwendung eines bilateralen Doppelbesteuerungsabkommens zugunsten auch von in einem anderen als einem Vertragsstaat ansässigen Gemeinschaftsbürgern streitig waren.

24.      Selbst wenn dieses Urteil für das hier erörterte Problem von Bedeutung sein könnte, bleibt jedenfalls die Tatsache, dass es sich auf einen sehr konkreten und deshalb nicht zu verallgemeinernden Einzelfall bezieht. Jedenfalls gestattet es sicherlich nicht die Ableitung einer allgemeinen Regel, nach der die Anwendung grundlegender Bestimmungen des Gemeinschaftsrechts wie derjenigen über den freien Kapitalverkehr vom Vorliegen bilateraler Abkommen zwischen Mitgliedstaaten abhängig gemacht werden kann.

25.      Auch auf die andere oben angesprochene Rechtfertigung, die auf die Notwendigkeit gestützt wird, die Kohärenz des Steuersystems zu gewährleisten, kann sich die deutsche Regierung hier meiner Meinung nach nicht berufen. Denn diese Kohärenz ist nach dem Urteil Manninen gewährleistet, soweit „der Zusammenhang zwischen der dem Aktionär gewährten Steuervergünstigung und der geschuldeten Körperschaftsteuer aufrechterhalten wird“ (Randnr. 46). Hier wäre sie ganz konkret dadurch gewährleistet, dass bei der Berechnung der Steuergutschrift für die Erben von Herrn Meilicke berücksichtigt würde, wieviel Körperschaftsteuer die dänischen und niederländischen Gesellschaften, an denen der Verstorbene Anteile hielt, in Dänemark und in den Niederlanden tatsächlich entrichtet haben.

26.      Dagegen spricht auch nicht, wie aber von der Bundesregierung geltend gemacht, dass die heute in Rede stehende deutsche Regelung im Gegensatz zur finnischen vorsah, dass die Steuergutschrift für Dividenden deutscher Gesellschaften unabhängig von der Entrichtung der Ertragsteuer durch diese Gesellschaften gewährt wurde (vgl. oben, Nr. 6).

27.      Dieses Merkmal des Steuergutschriftsystems erklärt sich nach den Ausführungen der Bundesregierung dadurch, dass die deutschen Steuerbehörden in Bezug auf inländische Gesellschaften leicht überprüfen könnten, ob die von diesen geschuldete Steuer schon entrichtet worden sei, und diese andernfalls genauso leicht erheben könnten. Da dies in Bezug auf in anderen Mitgliedstaaten ansässige Gesellschaften dagegen nicht möglich sei, dürfe für die von diesen gezahlten Dividenden keine Steuergutschrift gewährt werden.

28.      Ich erinnere jedoch daran, dass die nationalen Behörden nach dem Urteil Manninen verpflichtet sind, eine entsprechende Gutschrift für die von den Gesellschaften im Sitzmitgliedstaat tatsächlich entrichtete Steuer zu gewähren, „wie sie sich aus den auf die Berechnung der Besteuerungsgrundlage anwendbaren allgemeinen Regeln und aus dem Satz der Körperschaftsteuer [in dem betreffenden Staat] ergibt“. Jedenfalls, so wird in diesem Urteil unterstrichen, „[können] Schwierigkeiten bei der Ermittlung der tatsächlich entrichteten Steuer … kein Hemmnis für den freien Kapitalverkehr rechtfertigen“, wie es die fragliche nationale Regelung darstellt (Randnr. 54).

29.      Schließlich können sich die deutschen Behörden zur Durchführung der erforderlichen Feststellungen der in der Richtlinie 77/799/EWG(9) vorgesehenen Instrumente zur Zusammenarbeit zwischen Steuerbehörden bedienen, die den Austausch der Informationen ermöglichen, die erforderlich sind, um die Einkommen- und Vermögensteuern natürlicher und juristischer Personen richtig zu ermitteln. Tatsächlich bietet diese Richtlinie, wie vom Gerichtshof hervorgehoben, „Möglichkeiten zur Erlangung notwendiger Auskünfte, die mit den für die inländischen Steuerverwaltungen im Verhältnis zueinander bestehenden Möglichkeiten vergleichbar sind“(10).

30.      Nach alledem schlage ich deshalb dem Gerichtshof vor, die Vorlagefrage wie im Urteil Manninen zu beantworten und folglich festzustellen, dass „[d]ie Artikel 56 EG und 58 EG … einer Regelung entgegen[stehen], wonach der Anspruch einer in einem Mitgliedstaat unbeschränkt steuerpflichtigen Person auf eine Steuergutschrift für die Dividenden, die ihr von Aktiengesellschaften gezahlt werden, ausgeschlossen ist, wenn die betreffenden Gesellschaften ihren Sitz nicht in diesem Staat haben“(11).

 Zur zeitlichen Wirkung des Urteils des Gerichtshofes

31.      Nun ist aber noch auf den Hilfsantrag der Bundesregierung einzugehen, die Wirkungen des in dieser Rechtssache ergehenden Urteils zeitlich zu beschränken, falls damit – wie von mir gerade vorgeschlagen – die Unvereinbarkeit der fraglichen nationalen Regelung mit dem Gemeinschaftsrecht festgestellt werden sollte.

32.      Insoweit ist sogleich daran zu erinnern, dass sich nach ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofes „die Auslegung einer Vorschrift des Gemeinschaftsrechts durch den Gerichtshof darauf beschränkt, zu erläutern und zu verdeutlichen, in welchem Sinne und mit welcher Tragweite diese Vorschrift seit ihrem Inkrafttreten zu verstehen und anzuwenden ist oder gewesen wäre. … Nur ausnahmsweise kann sich der Gerichtshof aufgrund des der Gemeinschaftsrechtsordnung innewohnenden allgemeinen Grundsatzes der Rechtssicherheit veranlasst sehen, mit Wirkung für alle Betroffenen die Möglichkeit einzuschränken, sich auf diese Auslegung der Vorschrift mit dem Ziel zu berufen, eine erneute Sachentscheidung über in gutem Glauben begründete Rechtsverhältnisse herbeizuführen“(12).

33.      Dazu stellt der Gerichtshof klar, dass die finanziellen Konsequenzen, die sich aus einem im Vorabentscheidungsverfahren ergangenen Urteil für einen Mitgliedstaat ergeben können, für sich allein nicht die zeitliche Begrenzung der Wirkung dieses Urteils rechtfertigen können(13).

34.      Eine solche Begrenzung ist dagegen – stets nur ausnahmsweise – möglich, wenn folgende Voraussetzungen erfüllt sind:

i) Es besteht eine „Gefahr schwerwiegender wirtschaftlicher Auswirkungen …, die insbesondere mit der großen Zahl von Rechtsverhältnissen [zusammenhängt], die gutgläubig auf der Grundlage der als gültig betrachteten Regelung eingegangen worden [sind]“(14). Dies gilt auch dann, wenn Abgaben zurückgefordert werden, die von den zuständigen nationalen Behörden vereinnahmt worden sind(15).

ii) „[D]ie Einzelnen und die nationalen Behörden [sind] zu einem mit der Gemeinschaftsregelung unvereinbaren Verhalten veranlasst worden …, weil eine objektive und bedeutende Unsicherheit hinsichtlich der Tragweite der Gemeinschaftsbestimmungen bestand, zu der gegebenenfalls auch das Verhalten anderer Mitgliedstaaten oder der Kommission beigetragen [hat]“(16).

35.      Hier könnte die erste Voraussetzung als erfüllt gelten, wenn sich die von der deutschen Regierung offiziell vorgelegten Zahlen als zutreffend erweisen sollten. Denn diese hat – unwidersprochen – die Erstattungen, die ohne eine Begrenzung der Wirkungen eines etwaigen Unvereinbarkeitsurteils vorzunehmen wären, auf 9 bis 13 Milliarden Euro (0,41 % bis 0,59 % des nationalen Bruttoinlandsprodukts 2004) veranschlagt. Zwar ist in der mündlichen Verhandlung dieser Betrag auf 5 Milliarden Euro (0,25 % des Bruttoinlandsprodukts 2004) gesenkt worden, weil aufgrund von Änderungen der nationalen Verfahren in Steuersachen nicht gewährte Steuergutschriften nur für ab 1998 gezahlte Dividenden beansprucht werden können. Aber mir scheint, dass es sich immerhin um beträchtliche Beträge handelt, die eine „Gefahr schwerwiegender wirtschaftlicher Auswirkungen“ implizieren.

36.      Weniger offensichtlich scheint die Erfüllung der zweiten oben genannten Voraussetzung zu sein. Aus den Akten ergibt sich nämlich, dass die Kommission die deutsche Regierung mit Schreiben vom 31. Oktober 1995 darauf hingewiesen hat, dass die Steuergutschriftregelung gegen das Gemeinschaftsrecht verstoße. Man könnte also schlussfolgern, dass die fragliche Voraussetzung hier deswegen nicht erfüllt ist, weil die nach der eben genannten Rechtsprechung erforderliche objektive und bedeutende Unsicherheit nicht vorlag.

37.      Ich muss jedoch darauf hinweisen, dass auf das genannte Schreiben aus dem Jahr 1995 kein weiteres Handeln der Kommission folgte. In ihren Erklärungen vor dem Gerichtshof hat diese erklärt, sie habe kein Vertragsverletzungsverfahren eingeleitet, weil die deutsche Steuergutschriftregelung später abgeschafft worden sei. Tatsächlich aber erfolgte die Reform, mit der der deutsche Gesetzgeber ein neues, anderes Besteuerungssystem ohne Steuergutschriften eingeführt hat, erst mit dem erwähnten Gesetz aus dem Jahr 2000 (vgl. oben, Nr. 7). Somit hat die Kommission ihren Warnungen während eines beträchtlichen Zeitraums keine Taten folgen lassen.

38.      Im Urteil Defrenne II hat der Gerichtshof aber ausgeführt, dass „[d]ie Tatsache, dass die Kommission trotz der ausgesprochenen Warnungen … nicht mit [einer] Klage wegen Vertragsverletzung … vorgegangen ist, … dazu angetan [war], einen unrichtigen Eindruck von den Wirkungen [der angeblich verletzten Gemeinschaftsnorm] zu verfestigen“(17).

39.      Es ließe sich also entsprechend die Auffassung vertreten, dass auch im vorliegenden Fall die lange Untätigkeit der Kommission eine objektive Unsicherheit darüber verursacht haben könnte, ob die nationale Steuergutschriftregelung geeignet war, den freien Kapitalverkehr zu beschränken.

40.      Dies gilt umso mehr, als, wie die Kommission selbst in der mündlichen Verhandlung eingeräumt hat (wie es aber tatsächlich einer sehr verbreiteten Auffassung entspricht(18)), bis zum Urteil Verkooijen die Tragweite der Vorschriften über den freien Kapitalverkehr im Verhältnis zu Steuermechanismen wie dem nun in Rede stehenden nicht völlig klar war. Dass diese Unsicherheit tatsächlich bestand und nicht nur vorgeschoben ist, scheint mittelbar auch dadurch bestätigt zu werden, dass die Bundesregierung nach dem Ergehen des genannten Urteils unverzüglich für die Anpassung des bis dahin geltenden Rechts gesorgt hat.

41.      Mir scheint es deshalb gute Gründe zu geben, die Voraussetzungen für eine zeitliche Begrenzung der Erklärung der Unvereinbarkeit der deutschen Regelung mit dem Gemeinschaftsrecht als erfüllt anzusehen.

42.      In diesem Sinne möchte ich noch einige allgemeinere Überlegungen hinzufügen, die sich in gewisser Weise aus denselben, oben genannten Kriterien der erwähnten Rechtsprechung des Gerichtshofes ableiten. Zwar kann nämlich danach die Begrenzung der Wirkungen eines Urteils nur ausnahmsweise ausgesprochen werden. Derselben Rechtsprechung lässt sich aber auch entnehmen, dass bei einer solchen Entscheidung die Notwendigkeit berücksichtigt werden muss, die Lage der Mitgliedstaaten nicht mehr zu erschweren als unbedingt nötig. Ziel und vorrangiges Interesse der Rechtsordnung ist es, die Wahrung des Rechts sicherzustellen und soweit wie möglich wiederherzustellen. Wenn diese Ziele durchgesetzt werden können, gibt es keinen Grund, strengere Auslegungskriterien ins Spiel zu bringen, die dann nur Ausdruck repressiver Absichten wären, nämlich der Absicht, den „Täter“ dafür zu „bestrafen“, dass er es gewagt hat, gegen das Gemeinschaftsrecht zu verstoßen (etwas Derartiges findet sich im neuen Artikel 228 EG, aber zu ganz anderen Zwecken und unter ganz anderen Voraussetzungen). Solche Ziele sind aber, so wenig dies in der Praxis manchmal offensichtlich ist, völlig systemfremd, während es systemkohärent (und kohärent mit der erwähnten Rechtsprechung des Gerichtshofes) ist, negative Auswirkungen für die Mitgliedstaaten zu vermeiden, wo sie nicht unbedingt erforderlich sind. Im Übrigen stoßen diese im Normalfall bekanntlich aufgrund extrem komplexer und zergliederter Strukturen auf eine Reihe von Schwierigkeiten bei der Beachtung des sich ständig weiterentwickelnden und nicht immer klaren Gemeinschaftsrechts; deshalb ist die Anstrengung, die sie größtenteils erfolgreich unternehmen, um dem Gemeinschaftsrecht nachzukommen, lobenswert. Es ist richtig und gerecht, dass sich die Kommission und der Gerichtshof, wenn das nicht geschieht, von solchen Schwierigkeiten nicht dahin gehend beeinflussen lassen, dass sie etwaige Verstöße nicht verfolgen oder, schlimmer noch, rechtfertigen; es ist aber nicht richtig und gerecht, sie nicht zu berücksichtigen, wenn die Ziele der Rechtsordnung verfolgt werden können, ohne dass es nötig wäre, zusätzlich noch weitere Sanktionen zu verhängen oder aber die schon nicht einfache Lage des Staates unnütz zu erschweren (dies könnte ferner auch für rein formale oder äußerst geringfügige Verstöße gelten).

43.      Wenn man also im Lichte der vorstehenden Ausführungen der Meinung ist, dass die Voraussetzungen für eine zeitliche Begrenzung der Wirkungen des zu ergehenden Urteils erfüllt sind, bleibt noch zu bestimmen, ab wann das Urteil Wirkungen entfalten soll. Ich muss allerdings darauf hinweisen, dass sich dies aufgrund der besonderen Merkmale des vorliegenden Falles als weniger leicht erweist, als zu erwarten wäre.

44.      Zunächst erinnere ich daran, dass die deutsche Regierung für den Fall, dass der Gerichtshof die beantragte Begrenzung bewilligt, vorgeschlagen hat, dass das Urteil Wirkungen entfaltet a) nach Ablauf einer vom Gerichtshof zu bestimmenden Frist, die den Mitgliedstaaten Zeit geben soll, ihre Steuersysteme zu vereinheitlichen oder die Anrechnung der Körperschaftsteuer und der Dividendensteuer in den entsprechenden Fällen durch zwischenstaatliche Vereinbarungen zu koordinieren, b) vorsorglich, allgemein „für die Zukunft“, wobei in der mündlichen Verhandlung aber die Vorstellung geäußert worden ist, dass das Urteil Wirkungen ab der mündlichen Verhandlung oder ab der Veröffentlichung des dem vorliegenden Verfahren zugrunde liegenden Vorlagebeschlusses entfaltet, oder c) höchst vorsorglich, ab dem 6. Juni 2000, also dem Verkündungsdatum des Urteils Verkooijen.

45.      Ich muss freilich sogleich ausschließen, dass dem ersten Antrag stattgegeben werden könnte. Nicht, weil es dem Gerichtshof unter bestimmten Umständen nicht möglich wäre, den Mitgliedstaaten eine Frist zu setzen, die es ihnen gestattet, zu den von der deutschen Regierung genannten Ergebnissen zu gelangen. Eine ähnliche Lösung hat bekanntlich Generalanwalt Jacobs mit absolut vernünftigen und überzeugenden Ausführungen in seinen Schlussanträgen in der Rechtssache C-475/03 (Banca popolare di Cremona) ins Auge gefasst(19). Tatsache ist jedoch, dass eine solche Lösung im vorliegenden Fall an eine Eventualität geknüpft wäre, deren Eintritt so ungewiss und bestenfalls so weit in der Zukunft liegt, dass sie diese Lösung wenig glaubhaft und noch weniger praktikabel macht.

46.      Aber abgesehen davon sprechen gegen den Antrag dieselben Einwände wie gegen die zweite, von der Bundesregierung vorsorglich beantragte Variante, nämlich Entfaltung der Wirkungen des Urteils ab seiner Verkündung (oder gegebenenfalls ab der mündlichen Verhandlung oder der Veröffentlichung des Vorlagebeschlusses). Wenn man nämlich davon ausgeht, dass die richtige Auslegung des Gemeinschaftsrechts bereits mit dem Urteil Verkooijen erfolgt ist, würden die genannten Anträge Deutschlands grundsätzlich die Bestätigung des unrechtmäßigen Verhaltens eines Staates in einer zweifelsfrei gemeinschaftsrechtswidrigen Situation implizieren und es somit gestatten, die Erstattung rechtsgrundlos erhobener Abgaben ungerechtfertigterweise auszuschließen.

47.      Es gibt aber noch einen anderen Einwand. Denn bekanntlich „[muss n]ach ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofes … eine [zeitliche Begrenzung der Wirkungen eines Urteils] in dem Auslegungsurteil selbst enthalten sein“(20). So wäre es hier aber nicht, weil sich, wie bereits mehrfach angesprochen, die Auslegung der Gemeinschaftsvorschriften, aus denen die Rechtswidrigkeit des nun in Rede stehenden deutschen Rechts folgt, im Wesentlichen aus dem Urteil Verkooijen ergibt, für das eine zeitliche Begrenzung der Wirkungen weder beantragt noch von Amts wegen bewilligt wurde.

48.      Mir scheint also, dass der einzige Antrag der deutschen Regierung, der mit diesen Grundsätzen vereinbar ist, der – wenngleich höchst vorsorglich gestellte – Antrag ist, dem zu ergehenden Urteil Wirkung erst ab dem 6. Juni 2000, dem Tag der Verkündung des Urteils Verkooijen, zuzusprechen.

49.      Es ginge nämlich darum, dem in diesem Urteil unterbliebenen Ausspruch in diesem Punkt abzuhelfen und die Frage rückwirkend zu regeln, ohne aber den erwähnten Grundsatz aus der Rechtsprechung des Gerichtshofes in der Substanz zu verletzen, da die Wirkungen trotzdem immer noch auf das „Auslegungsurteil selbst“ zurückgingen.

50.      Diese Lösung hätte zur Folge, dass der Anspruch auf die Steuergutschrift denen zustünde, die ab dem genannten Zeitpunkt Dividenden von nicht in Deutschland ansässigen Gesellschaften bezogen haben, wobei immer noch im Einklang mit der Rechtsprechung des Gerichtshofes, die Ansprüche derjenigen unberührt bleiben, die etwa vor dem Urteil Verkooijen tätig geworden waren, um die Steuergutschrift zu beantragen oder einen etwaigen Ablehnungsbescheid anzufechten(21).

51.      Diesen Ausführungen ist jedoch hinzuzufügen, dass es gute Gründe für die Ansicht gibt, dass das Problem im letzten Punkt nicht als vollständig und billig gelöst gelten kann. Zwar käme nämlich der ins Auge gefassten Lösung mit dem angegebenen, nicht gering zu schätzenden Korrektiv das Verdienst zu, die Rechtsprechung des Gerichtshofes zur zeitlichen Begrenzung der Wirkungen eines Urteils exakt auf den vorliegenden Fall zu übertragen. Ich bin aber auch überzeugt, dass sie angesichts der Merkmale des vorliegenden Falles weiter präzisiert und korrekter abgegrenzt werden muss.

52.      Zunächst sei darauf hingewiesen, dass diese Lösung, so wie sie dargestellt worden ist, auf praktischer Ebene nicht von großem Nutzen wäre. Denn, wie oben angesprochen, dürfte sich das Problem der Gewährung von Steuergutschriften für nach dem genannten Gesetz aus dem Jahr 2000 (vgl. Nr. 7) angefallene Dividenden nicht mehr stellen, während sich hier gezeigt hat, dass es gerade für die vor diesem Gesetz ausgeschütteten Dividenden weiterzubestehen scheint.

53.      Zum anderen, und das scheint mir das wichtigere Argument, ist zu berücksichtigen, dass die ins Auge gefasste Lösung auf dem zeitlichen Auseinanderfallen des „Auslegungsurteils“ und des Urteils mit der Entscheidung über die Begrenzung der Wirkungen aufbaut. Wenn nämlich der ersuchten Auslegung aus Gründen der rechtlichen Stimmigkeit Rückwirkung auf das erste Urteil verliehen würde, so würde die zeitliche Begrenzung doch gleichwohl in dem hier zu ergehenden Urteil ausgesprochen.

54.      Das Datum des Urteils Verkooijen als den Zeitpunkt festzulegen, bis zu dem Steuerpflichtige, die damals Anspruch auf eine Steuergutschrift hatten, ihre Ansprüche hätten geltend machen müssen, würde in dieser Situation dann meiner Meinung nach bedeuten, dass dem erwähnten zeitlichen Auseinanderfallen keine Rechnung getragen würde; damit bestünde insbesondere die Gefahr einer Bestrafung dieser Steuerpflichtigen, indem die ihnen obliegende Sorgfaltspflicht verschärft und gegenüber der der Kommission gewissermaßen sogar erhöht würde.

55.      Wenn man also ein solches Ergebnis verhindern und dem zu ergehenden Urteil gleichzeitig einen konkreten Nutzen geben möchte, scheint mir die vernünftigste Lösung darin zu liegen, die Ansprüche nicht nur derjenigen Steuerpflichtigen unberührt zu lassen, die vor dem Urteil Verkooijen tätig geworden sind, sondern auch derjenigen, die zu einem späteren Zeitpunkt gehandelt haben, stets vorausgesetzt, die Ansprüche sind nicht verjährt.

56.      Welches jedoch dieser „spätere Zeitpunkt“ ist, ist keinesfalls offensichtlich. Zwar denkt man dabei naturgemäß an das Datum des Urteils, das das vorliegende Verfahren abschließt; bei genauerer Betrachtung scheint mir dies jedoch nicht die Lösung zu sein, die mit den oben dargelegten Kriterien am besten im Einklang steht.

57.      Denn nach den Erkenntnissen aus dem vorliegenden Verfahren können nach deutschem Recht Steuerpflichtige, die keine Steuergutschrift für in ihren Einkommensteuererklärungen angemeldete Dividenden beantragt haben, dies tun, solange der betreffende Vorgang der Überprüfung durch den Fiskus unterliegt und deshalb nicht als endgültig abgeschlossen gilt. Da dieser Zeitraum offenbar durchschnittlich sieben Jahre beträgt, könnten also heute noch Steuergutschriften für im Jahr 1998 angemeldete Dividenden gefordert werden.

58.      Wie aber von den Beteiligten, insbesondere (aber nicht nur) von der deutschen Regierung, geltend gemacht worden ist, hat das Echo in der Fachpresse seit Einleitung des vorliegenden Verfahrens dazu geführt, dass die Frage verbreitet mit neu erwachter Aufmerksamkeit verfolgt wird. So hätten sich die Aussicht auf eine zeitliche Begrenzung der Wirkungen des betreffenden Urteils und vor allem die Möglichkeit einer Ausnahme zugunsten von etwa vor Urteilsverkündung tätig gewordenen Steuerpflichtigen bereits in einer erheblichen Zunahme von Erstattungsanträgen der vielen Steuerpflichtigen, deren Ansprüche wie eben dargelegt nicht verjährt sind, niedergeschlagen, und diese Entwicklung könne sich fortsetzen.

59.      Gerade solche Entwicklungen nähren aber jene „Gefahr schwerwiegender wirtschaftlicher Auswirkungen“, aufgrund deren ich die Begrenzung der Wirkungen des zu ergehenden Urteils vorgeschlagen habe. Denn in Anbetracht des Vorstehenden wäre, wenn das Datum des zu ergehenden Urteils der Stichtag für die Erstattungsanträge wäre, fast kein Erstattungsantrag präkludiert: nicht nur die Anträge derjenigen, die Dividenden nach dem Urteil Verkooijen, sondern auch die Anträge derjenigen, die Dividenden vor diesem Urteil vereinnahmt haben, und zwar unabhängig davon, ob der Antrag vor diesem Urteil gestellt wurde oder ob er noch vor dem Urteil in der vorliegenden Rechtssache gestellt wird. Dies liefe schließlich auf eine gleichsam allgemeine Erstattung hinaus, und die Ausgaben des Staates stiegen gerade auf das befürchtete Niveau, wodurch der vorgeschlagenen Begrenzung jede praktische Wirksamkeit genommen würde.

60.      Welche Lösung soll man also in dieser Situation vorschlagen, wenn man im Rahmen der Grundsätze und innerhalb der Schranken, wie ich sie oben definiert habe, bleiben und das Gleichgewicht zwischen den widerstreitenden Interessen wahren will? Mir scheint die einzig vernünftige Antwort auf diese Frage darin zu liegen, die Grenze für Erstattungsanträge nach Maßgabe der Sorgfalt zu ziehen, die die Betroffenen nach dem Urteil Verkooijen haben walten lassen.

61.      Nach diesem Kriterium sollte meiner Meinung nach denjenigen Steuerpflichtigen das zu erlassende Urteil nicht zugute kommen, die lange Jahre nichts unternommen haben, um die Steuergutschrift zu beanspruchen oder einen entsprechenden Ablehnungsbescheid anzufechten, und die sich nun, geleitet von der Aussicht auf das Urteil in der vorliegenden Rechtssache, plötzlich der lange unbeachteten Ansprüche wieder neu besinnen.

62.      Aus dieser Perspektive scheint mir, dass als Bezugszeitpunkt, wie auch in der mündlichen Verhandlung vorgetragen, der Tag dienen sollte, an dem der dem vorliegenden Verfahren zugrunde liegende Vorlagebeschluss im Amtsblatt der Europäischen Union mitgeteilt wurde(22), also der 11. September 2004. Vernünftigerweise kann nämlich davon ausgegangen werden, dass ab diesem Zeitpunkt die Möglichkeit einer Wiedererlangung angemessen ins öffentliche Bewusstsein rückte und folglich auch weniger sorgfältige Steuerpflichtige wieder darauf aufmerksam wurden.

63.      In dem Versuch, die Fäden all dessen zusammenzuführen, was vorstehend ausgeführt worden ist, glaube ich also, im Ergebnis vorschlagen zu können, dass der Unvereinbarkeit der fraglichen deutschen Regelung mit dem Gemeinschaftsrecht Wirkung ab dem Datum des Urteils vom 6. Juni 2000 in der Rechtssache C-35/98 (Verkooijen) zugesprochen werden sollte und dass eine Berufung auf die Unvereinbarkeit zur Erlangung von Steuergutschriften für vor diesem Urteil erhaltene Dividenden ausgeschlossen werden sollte, wovon jedoch nicht die Ansprüche derjenigen berührt werden, die vor diesem Urteil oder bis zum 11. September 2004, dem Tag, an dem die Mitteilung des dem vorliegenden Verfahren zugrunde liegenden Vorlagebeschlusses im Amtsblatt der Europäischen Union veröffentlicht wurde, die Steuergutschrift beantragt oder einen entsprechenden Ablehnungsbescheid angefochten haben, vorausgesetzt, ihre Ansprüche sind nicht nach dem nationalen Recht verjährt.

IV – Ergebnis

64.      Nach alledem schlage ich dem Gerichtshof vor, die vom Finanzgericht Köln zur Vorabentscheidung vorgelegte Frage wie folgt zu beantworten:

1. Die Artikel 56 EG und 58 EG stehen einer Regelung entgegen, wonach der Anspruch einer in einem Mitgliedstaat unbeschränkt steuerpflichtigen Person auf eine Steuergutschrift für die Dividenden, die ihr von Aktiengesellschaften gezahlt werden, ausgeschlossen ist, wenn die betreffenden Gesellschaften ihren Sitz nicht in diesem Staat haben.

2. Die Unvereinbarkeit dieser Regelung mit dem Gemeinschaftsrecht entfaltet Wirkung ab dem Tag der Verkündung des Urteils vom 6. Juni 2000 in der Rechtssache C-35/98 (Verkooijen). Eine Berufung auf die Unvereinbarkeit zur Erlangung von Steuergutschriften für vor diesem Urteil erhaltene Dividenden ist nicht möglich; davon unberührt bleiben die Ansprüche derjenigen, die vor diesem Urteil oder bis zum 11. September 2004, dem Tag, an dem die Mitteilung des dem vorliegenden Verfahren zugrunde liegenden Vorlagebeschlusses im Amtsblatt der Europäischen Union veröffentlicht wurde, die Steuergutschrift beantragt oder einen entsprechenden Ablehnungsbescheid angefochten haben, vorausgesetzt, ihre Ansprüche sind nicht nach dem nationalen Recht verjährt.


1 – Originalsprache: Italienisch.


2 – Die letzte Bekanntmachung der vollständigen Fassung dieses Gesetzes findet sich im BGBl. I 1990 S. 1898. Zur Zeit des hier in Rede stehenden Sachverhalts galt das Einkommensteuergesetz in der durch Artikel 1 des Gesetzes zur Verbesserung der steuerlichen Bedingungen zur Sicherung des Wirtschaftsstandorts Deutschland im Europäischen Binnenmarkt (Standortsicherungsgesetz – StandOG) (BGBl. I 1993 S. 1569) und Artikel 1 des Jahressteuergesetzes 1996 (JStG 1996) (BGBl. 1995 S. 1250) geänderten Fassung.


3 – Angenommen eine Gesellschaft erzielt z. B. einen Bruttogewinn von 100 Euro pro Aktie, so muss sie für jede Aktie 30 Euro Ertragsteuer zahlen. Werden die übrigen 70 Euro als Dividenden ausgeschüttet, wird den Anteilseignern eine Steuergutschrift in Höhe von 3/7 von 70 Euro, also 30 Euro, und damit genau in Höhe des bereits von der Gesellschaft entrichteten Betrages gewährt.


4 – Gesetz zur Senkung der Steuersätze und zur Reform der Unternehmensbesteuerung (Steuersenkungsgesetz – StSenkG) vom 23. Oktober 2000 (BGBI. I 2000 S. 1433).


5 – In einer Mitteilung an den Rat, das Europäische Parlament und den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss vom 19. Dezember 2003 – Besteuerung von Dividenden natürlicher Personen im Binnenmarkt (KOM[2003]810 endg.) hat die Kommission erklärt, dass das fragliche System für Steuerpflichtige mit hohem Einkommen zu gleichen Ergebnissen wie das Steuergutschriftsystem führe, während im Fall von Steuerpflichtigen mit niedrigerem Einkommen mehr als die Hälfte der Dividenden von der Einkommensteuer befreit werden müsste, um das gleiche Ergebnis zu erhalten (Abschnitt 2.2.2).


6 – Urteil vom 6. Juni 2000 in der Rechtssache C-35/98 (Slg. 2000, I‑4071).


7 – Urteil vom 7. September 2004 in der Rechtssache C-319/02 (Slg. 2004, I‑2000).


8 – Urteil vom 5. Juli 2005 in der Rechtssache C-376/03 (Slg. 2005, I‑0000).


9 – Richtlinie 77/799/EWG des Rates vom 19. Dezember 1977 über die Amtshilfe zwischen den zuständigen Behörden der Mitgliedstaaten im Bereich der direkten Steuern (ABl. L 336, S. 15).


10 – Urteil vom 14. Februar 1995 in der Rechtssache C-279/93 (Schumacker, Slg. 1995, I‑225, Randnr. 45).


11 – Vgl. Tenor des Urteils Manninen.


12 – Vgl. jüngst Urteil vom 15. März 2005 in der Rechtssache C-209/03 (Bidar, noch nicht in der amtlichen Sammlung veröffentlicht, Randnrn. 66-67). Vgl. auch die Schlussanträge von Generalanwalt Jacobs in der noch anhängigen Rechtssache C‑475/03 (Banca Popolare di Cremona, Nr. 75).


13 – Urteil Bidar (Randnr. 68) sowie Urteile vom 11. August 1995 in den verbundenen Rechtssachen C-367/93 bis C-377/93 (Roders u. a., Slg. 1995, I-2229, Randnr. 48), vom 19. Oktober 1995 in der Rechtssache C-137/94 (Richardson, Slg. 1995, I‑3407, Randnr. 37), vom 13. Februar 1996 in den verbundenen Rechtssachen C‑197/94 und C-252/94 (Bautiaa und Société française maritime, Slg. 1996, I-505, Randnr. 55) und vom 20. September 2001 in der Rechtssache C-184/99 (Grzelczyk, Slg. 2001, I-6193, Randnr. 52).


14 –      Vgl. jüngst Urteil Bidar (Randnr. 69).


15 –      Vgl. z. B. Urteil vom 9. März 2000 in der Rechtssache C-437/97 (EKW und Wein & Co., Slg. 2000, I‑1157, Randnr. 59).


16 –      Vgl. jüngst Urteil Bidar (Randnr. 69; Hervorhebung hinzugefügt). Vgl. auch die Schlussanträge von Generalanwalt Jacobs in der noch anhängigen Rechtssache C‑475/03 (Banca Popolare di Cremona, Nr. 75).


17 – Urteil vom 8. April 1976 in der Rechtssache 43/75 (Defrenne II, Slg. 1976, 455, Randnrn. 71-75). Vgl. aber auch im gleichen Sinn Urteile vom 16. Juli 1992 in der Rechtssache C-163/90 (Legros u. a., Slg. 1992, I-4625, Randnr. 32) und EKW und Wein & Co. (Randnr. 58).


18 – Vgl. z. B. die Schlussanträge der Generalanwältin Kokott in der Rechtssache Manninen (Nr. 36).


19 – Nrn. 85 ff.


20 – Urteile vom 2. Februar 1988 in der Rechtssache 24/86 (Blaizot, Slg. 1988, 379, Randnr. 28), Legros u. a. (Randnr. 30) und EKW und Wein & Co. (Randnr. 57). In diesem Sinn vgl. auch Urteil vom 17. März 1990 in der Rechtssache C-262/88 (Barber, Slg. 1990, I-1889, Randnr. 41).


21 – Vgl. in diesem Sinn Urteile vom 26. April 1994 in der Rechtssache C-228/92 (Roquette Frères, Slg. 1994, I‑1445, Randnrn. 26-29) und vom 8. Februar 1996 in der Rechtssache C-212/94 (FMC u  a., Slg. 1996, I‑389, Randnr. 58).


22 – ABl. C 228, S. 27.