Language of document : ECLI:EU:C:2015:293

SCHLUSSANTRÄGE DER GENERALANWÄLTIN

Juliane Kokott

vom 30. April 2015(1)

Rechtssache C‑105/14

Ivo Taricco u. a.

(Vorabentscheidungsersuchen des Tribunale di Cuneo [Italien])

„Schutz der finanziellen Interessen der Union – Steuerstraftaten im Bereich der Mehrwertsteuer – Pflicht der Mitgliedstaaten zur Verhängung wirksamer, verhältnismäßiger und abschreckender Sanktionen – Strafrechtliche Sanktionen – Verfolgungsverjährung – Gesetzliche Beschränkung der Gesamtdauer der Verjährung im Fall ihrer Unterbrechung – Nationale Verjährungsregelung, die in zahlreichen Fällen zur Straflosigkeit führen kann – Gesetzmäßigkeit der Strafen – Rückwirkungsverbot – Art. 325 AEUV – Richtlinie 2006/112/EG – Verordnung (EG, Euratom) Nr. 2988/95 – Übereinkommen über den Schutz der finanziellen Interessen der Europäischen Gemeinschaften (‚PIF-Übereinkommen‘)“





I –    Einleitung

1.        Gebietet das Unionsrecht, dass die Gerichte der Mitgliedstaaten bestimmte Vorschriften ihres innerstaatlichen Rechts über die Verjährung von Straftaten unangewendet lassen, um eine wirksame Ahndung von Steuerdelikten sicherzustellen? Das ist im Kern die Frage, mit der sich der Gerichtshof im vorliegenden Fall anhand des Vorabentscheidungsersuchens eines italienischen Strafgerichts zu befassen hat.

2.        Diese Frage stellt sich vor dem Hintergrund eines in Italien aufgedeckten, bandenmäßig organisierten Steuerbetrugs im Handel mit Champagner. Herrn Taricco und mehreren anderen Angeschuldigten wird zur Last gelegt, im Rahmen einer kriminellen Vereinigung unter Einsatz von Rechnungen für inexistente Geschäfte betrügerische Mehrwertsteuererklärungen abgegeben zu haben. Ihre Machenschaften ähnelten offenbar einem Karussellbetrug.

3.        Aller Voraussicht nach werden die in diesem Zusammenhang mutmaßlich begangenen Straftaten noch vor dem Erlass eines rechtskräftigen Strafurteils verjährt sein. Dies liegt nach den Angaben des vorlegenden Gerichts nicht allein an den Umständen dieses Einzelfalls, sondern an einem strukturellen Problem des italienischen Strafrechts, das verschiedene Möglichkeiten der Unterbrechung der Verfolgungsverjährung vorsieht, nicht jedoch ihre Hemmung während eines laufenden Strafprozesses. Darüber hinaus gilt eine absolute Verjährungsfrist, die aufgrund einer gesetzlichen Regelung von 2005 im Unterbrechungsfall lediglich noch ein Viertel mehr beträgt als die ursprüngliche Frist und nicht mehr – wie früher – um die Hälfte mehr. Anscheinend führt insbesondere diese absolute Verjährungsfrist in einer Vielzahl von Fällen zur Straflosigkeit der Täter.

4.        Da hier die Mehrwertsteuer betroffen ist, von der ein Anteil zu den Eigenmitteln der Europäischen Union zählt(2), gibt dieser Fall Anlass, einige Grundsatzfragen in Bezug auf den Schutz der finanziellen Interessen der Union zu klären. Dabei sind die Rechte der Beschuldigten im Strafverfahren angemessen zu berücksichtigen. In dieser Hinsicht mag der vorliegende Fall entfernt an den berühmten Fall Berlusconi u. a.(3) erinnern. Bei näherer Betrachtung unterscheiden sich aber die im vorliegenden Fall aufgeworfenen Rechtsfragen von jenen, die seinerzeit den Gerichtshof beschäftigten.

II – Rechtlicher Rahmen

A –    Unionsrecht

5.        Der unionsrechtliche Rahmen dieses Falles wird im Wesentlichen durch diverse Vorschriften über den Schutz der finanziellen Interessen der Europäischen Union (ehemals: Europäische Gemeinschaften) bestimmt. Hervorzuheben sind Art. 4 Abs. 3 EUV und Art. 325 AEUV, die Verordnung (EG, Euratom) Nr. 2988/95(4) und das sogenannte PIF-Übereinkommen(5). Außerdem ist auf die Richtlinie 2006/112/EG über das gemeinsame Mehrwertsteuersystem(6) hinzuweisen.

6.        Daneben wird der Gerichtshof auch mit der Auslegung der Art. 101 AEUV, 107 AEUV und 119 AEUV befasst, auf deren wörtliche Wiedergabe ich im Folgenden jedoch verzichte.

1.      Bestimmungen des AEU-Vertrags

7.        In Art. 325 AEUV ist Folgendes geregelt:

„(1)       Die Union und die Mitgliedstaaten bekämpfen Betrügereien und sonstige gegen die finanziellen Interessen der Union gerichtete rechtswidrige Handlungen mit Maßnahmen nach diesem Artikel, die abschreckend sind und in den Mitgliedstaaten sowie in den Organen, Einrichtungen und sonstigen Stellen der Union einen effektiven Schutz bewirken.

(2)       Zur Bekämpfung von Betrügereien, die sich gegen die finanziellen Interessen der Union richten, ergreifen die Mitgliedstaaten die gleichen Maßnahmen, die sie auch zur Bekämpfung von Betrügereien ergreifen, die sich gegen ihre eigenen finanziellen Interessen richten.

…“

2.      Die Verordnung (EG, Euratom) Nr. 2988/95

8.        Die Verordnung Nr. 2988/95 schafft eine Rahmenregelung für einheitliche Kontrollen sowie für verwaltungsrechtliche Maßnahmen und Sanktionen bei Unregelmäßigkeiten in Bezug auf das Unionsrecht (ehemals Gemeinschaftsrecht). Ihr Art. 1 Abs. 2 definiert den Tatbestand der Unregelmäßigkeit:

„Der Tatbestand der Unregelmäßigkeit ist bei jedem Verstoß gegen eine Gemeinschaftsbestimmung als Folge einer Handlung oder Unterlassung eines Wirtschaftsteilnehmers gegeben, die einen Schaden für den Gesamthaushaltsplan oder die Haushalte, die von den Gemeinschaften verwaltet werden, bewirkt hat bzw. haben würde, sei es durch die Verminderung oder den Ausfall von Eigenmitteleinnahmen, die direkt für Rechnung der Gemeinschaften erhoben werden, sei es durch eine ungerechtfertigte Ausgabe.“

9.        Art. 3 der Verordnung Nr. 2988/95 regelt die Verfolgungsverjährung:

„(1)      Die Verjährungsfrist für die Verfolgung beträgt vier Jahre ab Begehung der Unregelmäßigkeit nach Artikel 1 Absatz 1. Jedoch kann in den sektorbezogenen Regelungen eine kürzere Frist vorgesehen werden, die nicht weniger als drei Jahre betragen darf.

Bei andauernden oder wiederholten Unregelmäßigkeiten beginnt die Verjährungsfrist an dem Tag, an dem die Unregelmäßigkeit beendet wird. …

Die Verfolgungsverjährung wird durch jede der betreffenden Person zur Kenntnis gebrachte Ermittlungs- oder Verfolgungshandlung unterbrochen. Nach jeder eine Unterbrechung bewirkenden Handlung beginnt die Verjährungsfrist von neuem.

Die Verjährung tritt jedoch spätestens zu dem Zeitpunkt ein, zu dem eine Frist, die doppelt so lang ist wie die Verjährungsfrist, abläuft, ohne dass die zuständige Behörde eine Sanktion verhängt hat; ausgenommen sind die Fälle, in denen das Verwaltungsverfahren gemäß Artikel 6 Absatz 1 ausgesetzt worden ist.

(3)      Die Mitgliedstaaten behalten die Möglichkeit, eine längere Frist … anzuwenden.“

10.      In Art. 6 Abs. 1 der Verordnung Nr. 2988/95 sind Regelungen für das Verwaltungsverfahren im Fall eines parallel laufenden Strafverfahrens enthalten, das dieselbe Tat betrifft:

„Unbeschadet der verwaltungsrechtlichen Sanktionen der Gemeinschaft, die auf der Grundlage der zum Zeitpunkt des Inkrafttretens dieser Verordnung bestehenden sektorbezogenen Regelungen beschlossen werden, kann die Verhängung von finanziellen Sanktionen wie Geldbußen durch Beschluss der zuständigen Behörde ausgesetzt werden, wenn gegen die betreffende Person ein Strafverfahren eingeleitet worden ist, das dieselbe Tat betrifft. Die Aussetzung des Verwaltungsverfahrens hat eine Unterbrechung der Verjährungsfrist nach Artikel 3 zur Folge.

…“

3.      Das PIF-Übereinkommen

11.      Eine Reihe gemeinsamer Vorschriften zum strafrechtlichen Schutz der finanziellen Interessen der Union enthält darüber hinaus das am 26. Juli 1995 in Luxemburg unterzeichnete PIF-Übereinkommen, das von den seinerzeit 15 Mitgliedstaaten der Union auf der Grundlage von Art. K.3 Abs. 2 Buchst. c EU(7) geschlossen wurde(8) und am 17. Oktober 2002 in Kraft getreten ist.

12.      Unter der Überschrift „Allgemeine Bestimmungen“ definiert Art. 1 des PIF-Übereinkommens den Tatbestand des Betrugs und verpflichtet die Mitgliedstaaten, die davon erfassten Handlungen als Straftaten auszugestalten:

„(1)      Für die Zwecke dieses Übereinkommens umfasst der Tatbestand des Betrugs zum Nachteil der finanziellen Interessen der Europäischen Gemeinschaften

b)      im Zusammenhang mit Einnahmen jede vorsätzliche Handlung oder Unterlassung betreffend

–        die Verwendung oder Vorlage falscher, unrichtiger oder unvollständiger Erklärungen oder Unterlagen mit der Folge, dass Mittel aus dem Gesamthaushaltsplan der Europäischen Gemeinschaften oder aus den Haushalten, die von den Europäischen Gemeinschaften oder in deren Auftrag verwaltet werden, rechtswidrig vermindert werden;

–        das Verschweigen einer Information unter Verletzung einer spezifischen Pflicht mit derselben Folge;

–        die missbräuchliche Verwendung eines rechtmäßig erlangten Vorteils mit derselben Folge.

(2)      Vorbehaltlich des Artikels 2 Absatz 2 trifft jeder Mitgliedstaat die erforderlichen und geeigneten Maßnahmen, um Absatz 1 so in sein innerstaatliches Recht umzusetzen, dass die von ihm erfassten Handlungen als Straftaten umschrieben werden.

(3)      Vorbehaltlich des Artikels 2 Absatz 2 ergreift jeder Mitgliedstaat ferner die erforderlichen Maßnahmen, damit die vorsätzliche Handlung oder Bereitstellung falscher, unrichtiger oder unvollständiger Erklärungen oder Unterlagen mit der in Absatz 1 erwähnten Folge als Straftat umschrieben wird, sofern sie nicht bereits entweder als selbständige Straftat oder als Beteiligung am Betrug im Sinne von Absatz 1, als Anstiftung dazu oder als Versuch eines solchen Betrugs strafbar ist.

…“

13.      Art. 2 des PIF-Übereinkommens enthält folgende Verpflichtung der Mitgliedstaaten zur Einführung von Sanktionen:

„(1)      Jeder Mitgliedstaat trifft die erforderlichen Maßnahmen um sicherzustellen, dass die in Artikel 1 genannten Handlungen sowie die Beteiligungen an den Handlungen im Sinne von Artikel 1 Absatz 1, die Anstiftung dazu oder der Versuch solcher Handlungen durch wirksame, angemessene und abschreckende Strafen geahndet werden können, die zumindest in schweren Betrugsfällen auch Freiheitsstrafen umfassen, die zu seiner Auslieferung führen können; als schwerer Betrug gilt jeder Betrug, der einen in jedem Mitgliedstaat festzusetzenden Mindestbetrag zum Gegenstand hat. Dieser Mindestbetrag darf 50 000 ECU nicht überschreiten.

(2)      Jedoch kann ein Mitgliedstaat in minderschweren Betrugsfällen, die einen Gesamtbetrag von weniger als 4 000 ECU zum Gegenstand haben und bei denen gemäß seinen Rechtsvorschriften keine besonderen erschwerenden Umstände vorliegen, Sanktionen einer anderen Rechtsnatur als die in Absatz 1 vorgesehenen Strafen vorsehen.

....“

4.      Die Mehrwertsteuerrichtlinie (Richtlinie 2006/112)

14.      In Titel IX der Richtlinie 2006/112, der mit „Steuerbefreiungen“ überschrieben ist, legt Art. 131 als Teil der „Allgemeinen Bestimmungen“ des Kapitels 1 Folgendes fest:

„Die Steuerbefreiungen der Kapitel 2 bis 9 werden unbeschadet sonstiger Gemeinschaftsvorschriften und unter den Bedingungen angewandt, die die Mitgliedstaaten zur Gewährleistung einer korrekten und einfachen Anwendung dieser Befreiungen und zur Verhinderung von Steuerhinterziehung, Steuerumgehung oder Missbrauch festlegen.“

15.      In Art. 138 Abs. 1, der zu den Vorschriften über „Steuerbefreiungen bei innergemeinschaftlichen Umsätzen“ in Titel IX Kapitel 4 der Richtlinie 2006/112 gehört, ist im Zusammenhang mit Steuerbefreiungen bei der Lieferung von Gegenständen Folgendes bestimmt:

„Die Mitgliedstaaten befreien die Lieferungen von Gegenständen, die durch den Verkäufer, den Erwerber oder für ihre Rechnung nach Orten außerhalb ihres jeweiligen Gebiets, aber innerhalb der Gemeinschaft versandt oder befördert werden von der Steuer, wenn diese Lieferung an einen anderen Steuerpflichtigen oder an eine nichtsteuerpflichtige juristische Person bewirkt wird, der/die als solche/r in einem anderen Mitgliedstaat als dem des Beginns der Versendung oder Beförderung der Gegenstände handelt.“

16.      Außerdem enthalten die Vorschriften zu „Steuerbefreiungen beim grenzüberschreitenden Warenverkehr“ in Titel IX Kapitel 10 der Richtlinie 2006/112 in Abschnitt 1 über „Zolllager, andere Lager als Zolllager sowie gleichartige Regelungen“ einen Art. 158, der auszugsweise wie folgt lautet:

„(1)      Abweichend von Artikel 157 Absatz 2 können die Mitgliedstaaten eine Regelung für andere Lager als Zolllager in folgenden Fällen vorsehen:

a)      sofern die Gegenstände für Tax-free-Verkaufsstellen für Zwecke ihrer gemäß Artikel 146 Absatz 1 Buchstabe b befreiten Lieferungen zur Mitführung im persönlichen Gepäck von Reisenden bestimmt sind, die sich per Flugzeug oder Schiff in ein Drittgebiet oder ein Drittland begeben;

b)      sofern die Gegenstände für Steuerpflichtige für Zwecke ihrer Lieferungen an Reisende an Bord eines Flugzeugs oder eines Schiffs während eines Flugs oder einer Seereise bestimmt sind, deren Zielort außerhalb der Gemeinschaft gelegen ist;

c)      sofern die Gegenstände für Steuerpflichtige für Zwecke ihrer gemäß Artikel 151 von der Mehrwertsteuer befreiten Lieferungen bestimmt sind.

(2) Mitgliedstaaten, die von der in Absatz 1 Buchstabe a vorgesehenen Möglichkeit der Steuerbefreiung Gebrauch machen, treffen die erforderlichen Maßnahmen, um eine korrekte und einfache Anwendung dieser Befreiung zu gewährleisten und Steuerhinterziehung, Steuerumgehung oder Missbrauch zu verhindern.

…“

B –    Italienisches Recht

17.      Art. 157 des italienischen Codice penale(9) in der Fassung des Gesetzes Nr. 251 vom 5. Dezember 2005(10) (im Folgenden: Gesetz Nr. 251/2005) sieht unter der Überschrift „Verjährung. Verjährungsfrist“ Folgendes vor:

„Eine Straftat verjährt innerhalb einer Frist, die dem Höchstmaß der in der Strafvorschrift für diese Tat vorgesehenen Strafe entspricht; unabhängig davon beträgt die Verjährungsfrist bei Verbrechen mindestens sechs Jahre und bei Vergehen mindestens vier Jahre, selbst wenn diese nur mit einer Geldbuße bestraft werden können.

Für die Ermittlung der Verjährungsfrist wird auf die für die vollendete bzw. versuchte Straftat gesetzlich vorgesehene Strafe abgestellt, ohne dass strafmildernde oder straferhöhende Umstände berücksichtigt werden, mit Ausnahme jener Umstände, für die das Gesetz eine andere Strafe als die Regelstrafe vorsieht …

…“

18.      In Art. 158 des Codice penale ist der Beginn der Verjährungsfrist geregelt:

„Die Verjährungsfrist beginnt mit dem Tag, an dem die Straftat vollendet ist, bei dem Versuch einer Straftat oder bei einem Dauerdelikt an dem Tag, an dem die Handlung des Täters bzw. die Fortdauer beendet ist.

…“

19.      Art. 159 des Codice penale bestimmt die Fälle, in denen die Verjährung ruht. Zu ihnen gehören die Fälle, in denen die Sache einem anderen Gericht vorgelegt wird oder der Verteidiger oder der Angeklagte verhindert ist. „Die Verjährung beginnt an dem Tag weiterzulaufen, an dem der Grund für das Ruhen entfällt.“

20.      Zur Unterbrechung der Verjährung findet sich in Art. 160 des Codice penale diese Regelung:

„Die Verjährung wird durch das Urteil oder den Strafbefehl unterbrochen.

Der Beschluss, mit dem persönliche Sicherungsmaßnahmen angeordnet werden, oder … mit dem die Festnahme oder die Verhaftung bestätigt wird, die richterliche oder staatsanwaltschaftliche Vernehmung, die Vorladung zur Vernehmung durch die Staatsanwaltschaft, die Anordnung, mit der die Verhandlung zur Entscheidung über den Einstellungsantrag anberaumt wird, der Antrag auf Eröffnung des Hauptverfahrens, die Entscheidung über die Anberaumung eines Anhörungsverfahrens … unterbrechen die Verjährung ebenfalls.

Wenn sie unterbrochen worden ist, beginnt die Frist mit dem Tag der Unterbrechung von neuem. Wenn es mehrere Unterbrechungshandlungen gibt, beginnt die Verjährungsfrist mit der letzten dieser Handlungen; die in Art. 157 genannten Fristen können sich jedoch in keinem Fall über die in Art. 161 Abs. 2 vorgesehenen Fristen hinaus verlängern ...“

21.      Vor der Neufassung der Verjährungsvorschriften durch das Gesetz Nr. 251/2005 war bei Verjährungsunterbrechung eine Verlängerung der Verjährungsfrist um höchstens die Hälfte vorgesehen.

22.      Die Wirkungen des Ruhens und der Unterbrechung der Verjährung sind in Art. 161 des Codice penale folgendermaßen festgelegt:

„Das Ruhen und die Unterbrechung der Verjährung haben Auswirkungen auf alle, die die Straftat begangen haben.

Mit Ausnahme der Verfolgung von Straftaten gemäß Art. 51 Abs. 3 b) und c) der Strafprozessordnung kann die Unterbrechung der Verjährung zu einer Verlängerung von höchstens einem Viertel der Verjährungsfrist, zu einer Verlängerung von höchstens der Hälfte in den Fällen des Art. 99 zweiter Spiegelstrich, von höchstens zwei Dritteln in den Fällen des Art. 99 vierter Spiegelstrich führen oder zu nicht mehr als einer Verdopplung in den in den Art. 102, 103 und 105 vorgesehenen Fällen beitragen.“

23.      Art. 416 des Codice penale bestimmt, dass mit Freiheitsstrafe von drei bis sieben Jahren bestraft wird, wer eine Vereinigung gründet, deren Zweck auf die Begehung von Straftaten gerichtet ist. Wer sich an einer solchen Vereinigung nur als Mitglied beteiligt, wird mit Freiheitsstrafe von einem bis zu fünf Jahren bestraft.

24.      Die Abgabe einer betrügerischen Mehrwertsteuererklärung durch Gebrauch von Rechnungen oder sonstigen Unterlagen für inexistente Geschäfte (Scheinrechnungen) wird gemäß Art. 2 des Decreto legislativo(11) Nr. 74 des Präsidenten der Republik vom 10. März 2000 (im Folgenden: DLgs 74/2000)(12) mit Freiheitsstrafe von einem Jahr und sechs Monaten bis zu sechs Jahren bestraft. Mit demselben Strafmaß wird gemäß Art. 8 DLgs 74/2000 bedroht, wer Scheinrechnungen ausstellt, um Dritten die Hinterziehung der Mehrwertsteuer zu ermöglichen.

III – Sachverhalt und Ausgangsverfahren

25.      Herrn Ivo Taricco und einigen weiteren Personen (im Folgenden auch: die Angeschuldigten) wird zur Last gelegt, im Zeitraum zwischen 2005 und 2009 eine kriminelle Vereinigung gegründet oder sich an ihr als Mitglied beteiligt zu haben. Der Zweck dieser kriminellen Vereinigung soll darin bestanden haben, die Straftat der Erstellung von Scheinrechnungen sowie die Straftat der betrügerischen Mehrwertsteuererklärung durch Gebrauch von Scheinrechnungen zu begehen.

26.      Gegenstand der Scheinrechnungen, deren Gesamtbetrag sich auf mehrere Millionen Euro belief, waren Handelsgeschäfte mit Champagner. Auf der Basis von Absprachen zwischen den Angeschuldigten sollen Inlandsverkäufe von Champagner unter Zuhilfenahme mehrerer Unternehmen, als deren gesetzlich Bevollmächtigte einzelne der Angeschuldigten jeweils tätig waren, fälschlich als innergemeinschaftliche Lieferungen ausgewiesen worden sein.

27.      Im Mittelpunkt stand dabei die Firma Planet Srl. Sie nahm wissentlich Scheinrechnungen einiger anderer Unternehmen – sogenannter „missing traders“(13) – entgegen, die ihrerseits als vermeintliche Importeure von Champagner auftraten. Planet verbuchte diese Rechnungen bei sich, wobei sie jeweils die ausgewiesene Mehrwertsteuer als Vorsteuer abzog und in der Folgezeit unrichtige Jahres-Mehrwertsteuererklärungen abgab. Auf diese Weise konnte Planet über den Champagner zu weit unter dem Marktpreis liegenden Kosten verfügen und letztlich den Wettbewerb verfälschen. Die „missing traders“ gaben ihrerseits teils überhaupt keine Jahres-Mehrwertsteuererklärungen ab, teils nahmen sie solche Erklärungen vor, ohne allerdings ihrerseits die entsprechende Mehrwertsteuer zu entrichten.

28.      Nach Abschluss der Ermittlungen wurde gegen die Angeschuldigten Anklage erhoben. Der Antrag auf Eröffnung des Hauptverfahrens wurde zunächst vor dem Tribunale di Mondovi gestellt. Nach einer Reihe von Anträgen, die die Strafverteidiger der Angeschuldigten im Verfahren der vorläufigen Anhörung(14) stellten und die dazu führten, dass das Verfahren in die Ermittlungsphase zurückversetzt wurde, befindet sich das Strafverfahren erneut in der Phase der vorläufigen Anhörung, nunmehr vor dem Tribunale di Cuneo, dem vorlegenden Gericht(15). In diesem Verfahrensabschnitt hat der Richter der vorläufigen Anhörung(16) zu entscheiden, ob die Ermittlungsergebnisse die Eröffnung des Hauptverfahrens gegen die Angeschuldigten und die Anberaumung eines Termins für die Hauptverhandlung rechtfertigen.

29.      Nach Angaben des vorlegenden Gerichts werden alle Steuerstraftaten, die den Angeschuldigten zur Last gelegt werden, gemäß den in Italien geltenden Bestimmungen über die Verfolgungsverjährung – auch unter Beachtung der gesetzlich vorgesehenen Verlängerung der Verjährungsfrist aufgrund diverser Maßnahmen, die zur Verjährungsunterbrechung geführt haben – spätestens am 8. Februar 2018 verjährt sein. In Bezug auf einen der Angeschuldigten, Herrn Anakiev, ist sogar schon seit dem 11. Mai 2013 Verjährung eingetreten.

30.      Wie das vorlegende Gericht betont, ist es im vorliegenden Fall „ziemlich wahrscheinlich“, dass die Verfolgungsverjährung für alle Angeschuldigten eingetreten sein wird, bevor ein rechtskräftiges Urteil ergeht. Dies ist, wie das Gericht betont, keine Besonderheit des vorliegenden Falles, sondern betrifft eine Vielzahl von Strafverfahren, die in Italien geführt werden, vor allem solche in Wirtschaftsstrafsachen, die naturgemäß oft besonders umfangreiche Ermittlungen erfordern und sich durch eine große Komplexität auszeichnen.

31.      Das vorlegende Gericht äußert vor diesem Hintergrund die Besorgnis, dass das Institut der Verfolgungsverjährung in Italien – entgegen seiner eigentlichen Zweckbestimmung – in Wirklichkeit zu einer „Garantie der Straffreiheit“ für Wirtschaftskriminelle werde und Italien letztlich seine unionsrechtlichen Verpflichtungen vernachlässige. Es führt dies ganz maßgeblich auf das Gesetz Nr. 251/2005 zurück, mit dem die Verlängerung der Verjährungsfristen im Fall ihrer Unterbrechung auf nur mehr ein Viertel begrenzt wird, wohingegen zuvor noch eine Verlängerung um die Hälfte erfolgte.

IV – Vorabentscheidungsersuchen und Verfahren vor dem Gerichtshof

32.      Mit Beschluss vom 17. Januar 2014, eingegangen am 5. März 2014, hat das Tribunale di Cuneo dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorgelegt:

1)      Ist die in Art. 101 AEUV enthaltene Vorschrift zum Schutz des Wettbewerbs verletzt worden, indem durch das Gesetz Nr. 251/2005 Art. 160 letzter Absatz des Codice penale dahin gehend geändert wurde, dass dieser eine Verlängerung der Verjährungsfrist um lediglich ein Viertel nach Eintritt der Unterbrechung vorsieht und somit die Verjährung der Straftaten trotz zeitnaher Ermittlungs- und Strafverfahren mit der Folge der Straffreiheit zulässt?

2)      Hat der italienische Staat eine nach Art. 107 AEUV verbotene Form der Beihilfe eingeführt, indem er durch das Gesetz Nr. 251/2005 Art. 160 letzter Absatz des Codice penale dahin gehend änderte, dass dieser eine Verlängerung der Verjährungsfrist um lediglich ein Viertel nach Eintritt der Unterbrechung vorsieht und damit die von unredlichen Wirtschaftsteilnehmern begangenen Straftaten strafrechtlich folgenlos bleiben lässt?

3)      Hat der italienische Staat zusätzlich zu den in Art. 158 der Richtlinie 2006/112/EG abschließend aufgeführten Steuerbefreiungen zu Unrecht eine weitere Befreiung hinzugefügt, indem er durch das Gesetz Nr. 251/2005 Art. 160 letzter Absatz des Codice penale dahin gehend änderte, dass dieser eine Verlängerung der Verjährungsfrist um lediglich ein Viertel nach Eintritt der Unterbrechung vorsieht und damit denjenigen Straffreiheit verschafft, die die Gemeinschaftsrichtlinie instrumentalisieren?

4)      Ist der in Art. 119 AEUV verankerte Grundsatz der gesunden Finanzen verletzt worden, indem durch das Gesetz Nr. 251/2005 Art. 160 letzter Absatz des Codice penale dahin gehend geändert wurde, dass dieser eine Verlängerung der Verjährungsfrist um lediglich ein Viertel nach Eintritt der Unterbrechung vorsieht und darauf verzichtet, Verhaltensweisen, durch die dem Staat notwendige Ressourcen entzogen werden, zu bestrafen und die Verpflichtungen gegenüber der Europäischen Union zu erfüllen?

33.      Von den Angeschuldigten des Ausgangsrechtsstreits hat sich allein Herr Anakiev mit einem Schriftsatz am Vorabentscheidungsverfahren beteiligt. Außerdem haben die Regierungen Italiens, Deutschlands und Polens sowie die Europäische Kommission am schriftlichen Verfahren teilgenommen. Mit Ausnahme von Herrn Anakiev und der polnischen Regierung waren dieselben Beteiligten auch in der mündlichen Verhandlung vom 3. März 2015 vertreten.

V –    Vorbemerkungen prozeduraler Art

34.      Bevor ich mich der inhaltlichen Würdigung der Vorlagefragen widme, sind angesichts der von mehreren Verfahrensbeteiligten geäußerten Zweifel einige Vorbemerkungen prozeduraler Art veranlasst, die zum einen die Zuständigkeit des Gerichtshofs zur Beantwortung der Vorlagefragen (dazu sogleich, Abschnitt A) und zum anderen die Zulässigkeit dieser Fragen (vgl. unten, Abschnitt B) betreffen.

A –    Zuständigkeit des Gerichtshofs zur Beantwortung der Vorlagefragen

35.      Im Vorabentscheidungsverfahren ist der Gerichtshof gemäß Art. 267 AEUV für die Auslegung der Verträge sowie der Handlungen der Organe, Einrichtungen und sonstigen Stellen der Union zuständig, d. h., seine Befugnisse erstrecken sich im Prinzip auf die Auslegung des gesamten Unionsrechts(17).

36.      Dieser Zuständigkeit steht im vorliegenden Fall nicht entgegen, dass es im Ausgangsverfahren um Steuerstraftaten nach innerstaatlichem Recht geht. Selbst wenn nämlich die Kompetenz für das Strafrecht und das Strafverfahren noch weitgehend bei den Mitgliedstaaten verbleibt, so haben doch die nationalen Stellen ihre jeweiligen Befugnisse unter Beachtung der unionsrechtlichen Vorgaben auszuüben(18). Speziell für Strafverfahren auf dem Gebiet der Mehrwertsteuer hat der Gerichtshof zudem erst kürzlich klargestellt, dass solche Verfahren vom Anwendungsbereich des Unionsrechts erfasst sind(19).

37.      Zuständig ist der Gerichtshof in diesem Zusammenhang für die Auslegung des gesamten Unionsrechts, einschließlich des PIF-Übereinkommens, soweit dieses für die Lösung des vorliegenden Falles relevant werden sollte. Zwar ist jenes Übereinkommen 1995 noch im Rahmen der ehemaligen „dritten Säule“ der Europäischen Union auf der Grundlage des EU-Vertrags in seiner ursprünglichen Fassung(20) geschlossen worden. Gemäß Art. 9 des Protokolls über die Übergangsbestimmungen(21) gilt das besagte Übereinkommen aber auch nach Abschaffung der Säulenstruktur der Union mit Inkrafttreten des Vertrags von Lissabon fort. Es ist also weiterhin integraler Bestandteil des Unionsrechts.

38.      Seit dem 1. Dezember 2014 bestehen außerdem keine Beschränkungen mehr, was die Vorabentscheidungszuständigkeit des Gerichtshofs auf dem Gebiet der ehemaligen dritten Säule der Union betrifft (vgl. Art. 10 Abs. 1 und 3 des Protokolls über die Übergangsbestimmungen). Dies gilt auch für die noch vor dem 1. Dezember 2014 eingereichten Vorabentscheidungsersuchen wie das vorliegende(22).

39.      Abgesehen davon war der Gerichtshof ohnehin schon vor dem 1. Dezember 2014 für die Vorabentscheidungsersuchen aller italienischen Gerichte zuständig, welche die Auslegung des PIF-Übereinkommens betrafen. Denn die Italienische Republik hatte bereits auf anderer Grundlage die Zuständigkeit des Gerichtshofs für solche Vorabentscheidungen von Beginn an anerkannt, und zwar zum einen aufgrund eines Zusatzprotokolls zum PIF-Übereinkommen(23) sowie zum anderen aufgrund von Art. 35 Abs. 2 und Abs. 3 Buchst. b EU(24), wobei sie stets allen innerstaatlichen Gerichten die Vorlageberechtigung einräumte(25).

40.      Vor diesem Hintergrund steht die Zuständigkeit des Gerichtshofs zur Erörterung sämtlicher mit diesem Vorabentscheidungsersuchen aufgeworfenen Rechtsprobleme außer Frage.

B –    Zulässigkeit der Vorlagefragen

41.      Mehrere Verfahrensbeteiligte erheben darüber hinaus Einwände gegen die Zulässigkeit der dem Gerichtshof vorgelegten Fragen (Art. 267 AEUV, Art. 94 der Verfahrensordnung). Im Kern zweifeln sie die Entscheidungserheblichkeit dieser Fragen zur Lösung des Ausgangsrechtsstreits an.

42.      Dazu ist anzumerken, dass es nach ständiger Rechtsprechung ausschließlich Sache des vorlegenden Gerichts ist, im Hinblick auf die Besonderheiten des Einzelfalls die Erforderlichkeit einer Vorabentscheidung des Gerichtshofs wie auch die Entscheidungserheblichkeit der dem Gerichtshof vorgelegten Fragen zu beurteilen. Daher ist der Gerichtshof grundsätzlich gehalten, über ihm vorgelegte Fragen zu befinden, wenn diese die Auslegung des Unionsrechts betreffen. Legt ein nationales Gericht dem Gerichtshof Fragen zum Unionsrecht vor, so gilt zugunsten seines Vorabentscheidungsersuchens überdies eine Vermutung der Entscheidungserheblichkeit(26).

43.      Dementsprechend ist dem Gerichtshof die Zurückweisung des Ersuchens eines nationalen Gerichts nur möglich, wenn die erbetene Auslegung des Unionsrechts offensichtlich in keinem Zusammenhang mit der Realität oder dem Gegenstand des Ausgangsrechtsstreits steht, wenn das Problem hypothetischer Natur ist oder wenn der Gerichtshof nicht über die tatsächlichen und rechtlichen Angaben verfügt, die für eine zweckdienliche Beantwortung der ihm vorgelegten Fragen erforderlich sind(27).

44.      Dergleichen ist im vorliegenden Fall nicht zu befürchten.

45.      Die im Vorlagebeschluss enthaltenen Angaben zum Sachverhalt des Ausgangsverfahrens, zum anwendbaren nationalen Recht und zur Notwendigkeit einer Vorabentscheidung sind ausreichend, um dem Gerichtshof wie auch den Verfahrensbeteiligten im Sinne von Art. 23 der Satzung des Gerichtshofs eine fundierte Stellungnahme zu den vorgelegten Fragen zu ermöglichen.

46.      Denn den Schilderungen des vorlegenden Gerichts lässt sich unschwer entnehmen, worum es im Ausgangsverfahren geht und was auf dem Spiel steht: Mehrere Personen sind in einem italienischen Steuerstrafverfahren angeklagt, und das vorlegende Gericht befürchtet, dass sie – wie auch viele andere mutmaßliche Straftäter in ähnlicher Lage – ihrer gesetzlich vorgesehenen Strafe entgehen werden, weil die innerstaatlichen Vorschriften über die Verfolgungsverjährung zu knappe Verjährungsfristen vorsehen, insbesondere eine zu geringe Verlängerung dieser Fristen im Fall ihrer Unterbrechung, so dass eine rechtskräftige Verurteilung der Angeschuldigten vor Eintritt der Verjährung als illusorisch erscheint.

47.      Es kann auch keine Rede davon sein, dass die dem Gerichtshof vorgelegten Fragen hypothetischer Natur seien oder dass ihnen offensichtlich der Bezug zur Realität des Ausgangsrechtsstreits fehlen würde. Denn von der Antwort des Gerichtshofs hängt es dem Vorlagebeschluss zufolge ganz maßgeblich ab, ob die Verjährungsvorschriften des innerstaatlichen Rechts im Ausgangsverfahren zur Anwendung kommen können und ob ein rechtskräftiger Abschluss des Ausgangsverfahrens vor Eintritt der Verjährung realistischerweise möglich ist.

48.      Anders als die italienische Regierung meint, ist es dem vorlegenden Gericht überdies nicht verwehrt, die von ihm wahrgenommenen systemischen Mängel des italienischen Strafrechts ausgehend von einem konkret bei ihm anhängigen Rechtsstreit zum Gegenstand einer Vorlage an den Gerichtshof zu machen. Im Gegenteil hat sich der Gerichtshof bereits mehrfach mit behaupteten strukturellen Problemen eines innerstaatlichen Sanktionssystems befasst, und zwar auch und gerade aus Anlass von Vorabentscheidungsersuchen in laufenden nationalen Strafverfahren(28).

49.      Selbst wenn allgemeine Grundsätze des Unionsrechts – etwa der Grundsatz der Gesetzmäßigkeit der Strafen – ein Abweichen von den streitbefangenen innerstaatlichen Verjährungsvorschriften verbieten sollten, würde dies entgegen der Auffassung der italienischen Regierung und von Herrn Anakiev nicht die Zulässigkeit des Vorabentscheidungsersuchens berühren, sondern allenfalls Anlass zu Klarstellungen seitens des Gerichtshofs im Rahmen seiner inhaltlichen Antwort auf die Vorlagefragen geben(29).

50.      Zweifel an der Entscheidungserheblichkeit der vorgelegten Fragen mögen zwar insoweit aufkommen, als das vorlegende Gericht den Gerichtshof mit der Auslegung einiger primärrechtlicher Bestimmungen (Art. 101 AEUV, 107 AEUV und 119 AEUV) befasst, die auf den ersten Blick nichts mit den hier in Rede stehenden strafrechtlichen Verjährungsproblemen zu tun haben. Gleichwohl erscheint es mir nicht offensichtlich zu sein, dass den genannten Vorschriften jeglicher Bezug zum Ausgangsrechtsstreit fehlt. Nur eine – wenn auch knappe – inhaltliche Auseinandersetzung des Gerichtshofs mit den genannten AEUV-Bestimmungen kann ergeben, ob diese einer strafrechtlichen Verjährungsregelung wie der italienischen entgegenstehen oder nicht(30).

51.      Der Vollständigkeit halber ist schließlich noch anzumerken, dass auch das vergleichsweise frühe Verfahrensstadium des Ausgangsrechtsstreits – d. h. der Verfahrensabschnitt vor Zulassung der Anklage zur Hauptverhandlung – der Zulässigkeit des Vorabentscheidungsersuchens keinen Abbruch tut(31).

52.      Insgesamt sind somit die vor dem Gerichtshof geäußerten Bedenken gegen die Zulässigkeit dieses Vorabentscheidungsersuchens zurückzuweisen.

VI – Inhaltliche Würdigung der Vorlagefragen

53.      Wie sich dem Vorlagebeschluss entnehmen lässt, geht das Tribunale di Cuneo für die meisten im Ausgangsverfahren relevanten Straftatbestände von einer Verjährungsfrist von sechs Jahren aus, für die Gründung einer kriminellen Vereinigung von einer Verjährungsfrist von sieben Jahren. Ist die Verjährung, wie hier, durch bestimmte Ermittlungs- oder Verfolgungsmaßnahmen unterbrochen worden, so verlängert sie sich laut Vorlagebeschluss um ein Viertel, was die sechsjährige Verjährungsfrist auf sieben Jahre und sechs Monate ausdehnt, die siebenjährige Verjährungsfrist auf acht Jahre und neun Monate, wobei diese Fristen während eines anhängigen Strafprozesses grundsätzlich weiterlaufen. Diese Regelung der absoluten Verjährung führt anscheinend in einer Vielzahl von Fällen zur Straflosigkeit der Täter.

54.      Vor diesem Hintergrund möchte das vorlegende Gericht mit seinem Vorabentscheidungsersuchen im Wesentlichen wissen, ob das Unionsrecht einer innerstaatlichen Regelung der strafrechtlichen Verfolgungsverjährung wie Art. 160 vierter Absatz des Codice penale in der Fassung des Gesetzes Nr. 251/2005 entgegensteht, nach der sich die Verjährungsfrist für Steuerstraftaten auf dem Gebiet der Mehrwertsteuer im Fall ihrer Unterbrechung um lediglich ein Viertel der ursprünglichen Frist verlängert und dann die absolute Verjährung eintritt.

55.      Im Einzelnen begehrt das vorlegende Gericht im Rahmen seiner vier Vorlagefragen Auskunft über die Auslegung der Art. 101 AEUV, 107 AEUV und 119 AEUV sowie des Art. 158 der Richtlinie 2006/112.

56.      Diesen Vorschriften wende ich mich im Folgenden zuallererst zu (siehe dazu sogleich, Abschnitt A), bevor ich einige weiterführende Ausführungen über die Pflicht der Mitgliedstaaten zur Verhängung wirksamer Sanktionen mache (vgl. unten, Abschnitt B) und mich abschließend mit den Auswirkungen der etwaigen Unionsrechtswidrigkeit der innerstaatlichen Verjährungsregelung auf den Ausgangsrechtsstreit befasse (vgl. unten, Abschnitt C).

A –    Die vom vorlegenden Gericht aufgeworfenen Bestimmungen des Unionsrechts

57.      Seine insgesamt vier Vorlagefragen hat das Tribunale di Cuneo dem Wettbewerbsrecht der Union (siehe dazu sogleich, Abschnitt 1), den Möglichkeiten der Befreiung von der Mehrwertsteuer (vgl. unten, Abschnitt 2) sowie dem Grundsatz gesunder öffentlicher Finanzen gewidmet (vgl. unten, Abschnitt 3).

1.      Das Wettbewerbsrecht der Union (erste und zweite Vorlagefrage)

58.      Mit seinen ersten beiden Fragen möchte das vorlegende Gericht im Wesentlichen wissen, ob eine Verjährungsregelung wie die italienische den Wettbewerb auf dem Europäischen Binnenmarkt beeinträchtigt und damit die Vorschriften der Art. 101 AEUV und 107 AEUV verletzt.

59.      Dazu ist anzumerken, dass eine allzu laxe Verjährungsregelung und das mit ihr einhergehende Fehlen wirksamer strafrechtlicher Sanktionen für Unregelmäßigkeiten auf dem Gebiet der Mehrwertsteuer den in diese Unregelmäßigkeiten verstrickten Unternehmen durchaus einen unlauteren Wettbewerbsvorteil auf dem Binnenmarkt verschaffen können. Einen Verstoß gegen Art. 101 AEUV oder 107 AEUV bedeutet dies jedoch nicht.

60.      Zwar verbietet Art. 101 AEUV in Verbindung mit Art. 4 Abs. 3 EUV den Mitgliedstaaten, eine Lage zu schaffen, in der es Unternehmen erleichtert wird, untereinander wettbewerbswidrige Absprachen zu treffen(32). Es würde aber zu weit führen, aus einer womöglich mangelhaften Durchsetzung der innerstaatlichen Strafvorschriften für Steuerdelikte auf dem Gebiet der Mehrwertsteuer zu folgern, dass dadurch notwendigerweise ein kollusives Verhalten zwischen Unternehmen gefördert wird. Sollte es gleichwohl zu wettbewerbswidrigen Absprachen zwischen Unternehmen kommen, können diese im Übrigen völlig unabhängig vom Steuerstrafrecht nach den im Wettbewerbsrecht vorgesehenen Verfahren und mit den dort vorgesehenen spezifischen Sanktionen geahndet werden.

61.      Was das Verbot staatlicher Beihilfen gemäß Art. 107 AEUV anbelangt, so kann zwar die mangelhafte Durchsetzung von Strafen auf dem Gebiet der Mehrwertsteuer womöglich zu einem finanziellen Vorteil für Unternehmen führen. Dieser Vorteil ist jedoch nicht selektiv, weil er nicht bestimmte Unternehmen oder Unternehmenszweige gegenüber anderen begünstigt, sondern gleichermaßen für alle Unternehmen gilt, die dem innerstaatlichen Strafrecht unterworfen sind(33).

62.      Dem vorlegenden Gericht ist zuzugeben, dass systemische Mängel in einem Mitgliedstaat bei der Ahndung von Steuerstraftaten auf dem Gebiet der Mehrwertsteuer zu einer Wettbewerbsverzerrung gegenüber Unternehmen aus anderen Mitgliedstaaten führen können, in denen die nationalen Stellen strenger auf Unregelmäßigkeiten reagieren. Diese Problematik kann jedoch nicht nach kartellrechtlichen oder beihilferechtlichen Maßstäben beurteilt werden, sondern muss mit Blick auf das Mehrwertsteuersystem und die mit diesem System verbundene Pflicht zur Verhängung wirksamer Sanktionen erörtert werden(34).

2.      Die Befreiungstatbestände der Mehrwertsteuerrichtlinie (dritte Vorlagefrage)

63.      Mit seiner dritten Frage möchte das vorlegende Gericht wissen, ob eine Verjährungsregelung wie die italienische zur Schaffung einer neuen, in der Richtlinie 2006/112 nicht vorgesehenen Befreiung von der Mehrwertsteuer führt.

64.      Dazu ist zunächst anzumerken, dass sich das Tribunale di Cuneo scheinbar in der anwendbaren Vorschrift der Richtlinie 2006/112 geirrt hat. Denn der im Vorlagebeschluss zitierte Art. 158 jener Richtlinie betrifft die Mehrwertsteuer-Befreiung von bestimmten Umsätzen unter ganz besonderen Umständen, etwa in Tax-free-Verkaufsstellen, an Bord von Flugzeugen oder Schiffen sowie im diplomatischen und konsularischen Verkehr. Solche Umstände liegen hier ganz offenkundig nicht vor.

65.      Zu denken ist aber, wie die Kommission zu Recht bemerkt hat, an Art. 138 der Richtlinie 2006/112, in dem geregelt ist, unter welchen Umständen die innergemeinschaftliche Lieferung von Gegenständen von der Mehrwertsteuer befreit ist. Diese Bestimmung weist insoweit einen gewissen Bezug zum Sachverhalt des Ausgangsverfahrens auf, als den Angeschuldigten vorgeworfen wird, bei ihren inländischen Handelsgeschäften mit Champagner in betrügerischer Weise innergemeinschaftliche Lieferungen vorgetäuscht zu haben.

66.      Allerdings führt der vom vorlegenden Gericht beschriebene Umstand, dass in Steuerstrafverfahren aufgrund von systemischen Mängeln des innerstaatlichen Rechts in zahlreichen Fällen die Verfolgungsverjährung eintritt, für sich allein genommen zu keiner Befreiung der betroffenen Unternehmen von der Mehrwertsteuer. Denn ein Steueranspruch gegen sie hängt in seinem Bestand nicht von der Durchsetzbarkeit eines etwaigen Strafanspruchs des Staates ab.

3.      Der Grundsatz gesunder öffentlicher Finanzen (vierte Vorlagefrage)

67.      Zu guter Letzt begehrt das vorlegende Gericht mit seiner vierten Frage Auskunft darüber, ob eine Verjährungsregelung wie die italienische mit dem Grundsatz gesunder öffentlicher Finanzen im Einklang steht, wie er in Art. 119 AEUV zum Ausdruck kommt.

68.      Als einleitende Vorschrift zu den Bestimmungen über die Wirtschafts- und Währungsunion in Titel VIII des AEU-Vertrags stellt Art. 119 AEUV in seinem dritten Absatz bestimmte „richtungweisende Grundsätze“ für die Tätigkeit der Mitgliedstaaten und der Union auf, zu denen u. a. gesunde öffentliche Finanzen gehören.

69.      Anders als die Kommission zu meinen scheint, wird den Mitgliedstaaten damit nicht nur in politischer Hinsicht eine Orientierung gegeben, sondern auch in rechtlich bindender Weise eine unionsrechtliche Vorgabe für die Gestaltung ihrer öffentlichen Haushalte gemacht. Der rechtlichen Natur dieser Vorgabe tut es keinen Abbruch, dass sie inhaltlich nicht besonders konkret ist und noch der Präzisierung durch andere Vorschriften und Rechtsakte bedarf(35). Allerdings folgt aus dem vergleichsweise allgemeinen Charakter von Art. 119 Abs. 3 AEUV notwendigerweise, dass den Mitgliedstaaten ein weiter Spielraum hinsichtlich der Wahl der innerstaatlichen Mittel verbleibt, die sie – auf der Grundlage von komplexen wirtschaftlichen Beurteilungen – für am besten geeignet halten, um in ihrem jeweiligen Zuständigkeitsbereich gesunde öffentliche Finanzen zu gewährleisten(36).

70.      Nicht jede ausgabe- oder einnahmewirksame Maßnahme nationaler Stellen, auch nicht jeder Verzicht auf die Durchsetzung eines eigentlich bestehenden Steueranspruchs, ist notwendigerweise als Verstoß gegen den Grundsatz gesunder öffentlicher Finanzen anzusehen. Vielmehr kommt es darauf an, ob die Finanzen des jeweiligen Mitgliedstaats in ihrer Gesamtheit als „gesund“ bezeichnet werden können, was sich insbesondere an den Bestimmungen und Kriterien betreffend die Vermeidung übermäßiger öffentlicher Defizite misst (Art. 126 Abs. 1 und 2 AEUV in Verbindung mit dem Protokoll Nr. 12 zum EU-Vertrag und zum AEU-Vertrag).

71.      Somit kann der Umstand allein, dass die in Italien geltenden Verjährungsregeln im Bereich des Steuerstrafrechts möglicherweise die vom vorlegenden Gericht beschriebenen systemischen Mängel aufweisen, nicht als Grundlage für die Annahme eines Verstoßes gegen den Grundsatz gesunder öffentlicher Finanzen dienen, wie er in Art. 119 Abs. 3 AEUV verankert ist.

4.      Zwischenergebnis

72.      Zusammenfassend lässt sich feststellen, dass keine der vom vorlegenden Gericht konkret aufgeworfenen Vorschriften des Unionsrechts einer Regelung der Verfolgungsverjährung entgegensteht, wie sie im italienischen Strafrecht mit Art. 160 letzter Absatz des Codice penale in der Fassung des Gesetzes Nr. 251/2005 eingeführt wurde.

73.      Diese Feststellung allein reicht jedoch nicht aus, um dem vorlegenden Gericht eine sachdienliche Antwort zu geben, die ihm die Entscheidung des Ausgangsrechtsstreits erleichtert. Vielmehr sind einige ergänzende Ausführungen über die Pflicht der Mitgliedstaaten zur Verhängung wirksamer Sanktionen geboten (siehe dazu sogleich, Abschnitt B); außerdem ist kurz auf die Auswirkungen der etwaigen Unionsrechtswidrigkeit der nationalen Verjährungsregelung auf den Ausgangsrechtsstreit einzugehen (vgl. unten, Abschnitt C).

B –    Die Pflicht der Mitgliedstaaten zur Verhängung wirksamer Sanktionen

74.      Die Pflicht der Mitgliedstaaten zur Verhängung wirksamer Sanktionen für Steuerstraftaten auf dem Gebiet der Mehrwertsteuer ist vom vorlegenden Gericht in seinem Vorabentscheidungsersuchen nicht ausdrücklich thematisiert worden.

75.      Sicherlich ist es grundsätzlich allein Sache des vorlegenden Gerichts, den Gegenstand der Fragen festzulegen, mit denen es den Gerichtshof befassen will(37), und der Gerichtshof ist seinerseits nicht berufen, sich mit Rechtsproblemen zu beschäftigen, die der nationale Richter von seinem Vorabentscheidungsersuchen ausdrücklich oder implizit ausgenommen hat(38).

76.      Abgesehen davon kann der Gerichtshof jedoch, wenn er mit einem Vorabentscheidungsersuchen befasst ist, dem vorlegenden Gericht im Hinblick auf die Aktenlage zweckdienliche Hinweise für die Entscheidung im Ausgangsverfahren geben und dabei auch auf Vorschriften eingehen, die das vorlegende Gericht nicht erwähnt hat(39).

77.      Im vorliegenden Fall zieht sich wie ein roter Faden durch den gesamten Vorlagebeschluss die Besorgnis des nationalen Gerichts, die Verjährungsregelung gemäß Art. 160 letzter Absatz des Codice penale in der Fassung des Gesetzes Nr. 251/2005 könnte Ausdruck eines systemischen Mangels sein, der bei einer Vielzahl von Steuerdelikten in Italien zur Straflosigkeit der Täter führe.

78.      Damit wirft das Vorabentscheidungsersuchen – zumindest implizit – die Zusatzfrage auf, ob eine Verjährungsregelung wie die italienische mit der unionsrechtlichen Pflicht der Mitgliedstaaten zur Verhängung von Sanktionen für Unregelmäßigkeiten auf dem Gebiet der Mehrwertsteuer vereinbar ist. Ohne die Erörterung dieser Zusatzfrage ist keine sachdienliche Antwort auf das Vorabentscheidungsersuchen denkbar.

79.      Im Folgenden erörtere ich zunächst, ob eine Regelung wie die italienische der allgemeinen Pflicht der Mitgliedstaaten zur Verhängung wirksamer Sanktionen für Verstöße gegen das Unionsrecht Genüge tut (siehe sogleich, Abschnitt 1), bevor ich mich im Anschluss der spezielleren Pflicht der Mitgliedstaaten zuwende, Betrug zum Nachteil der finanziellen Interessen der Union strafrechtlich zu ahnden (vgl. dazu unten, Abschnitt 2).

1.      Die allgemeine Pflicht, wirksame Sanktionen vorzusehen

80.      Es entspricht einem allgemeinen Grundsatz des Unionsrechts, der letztlich auf die Pflicht zu loyaler Zusammenarbeit (Art. 4 Abs. 3 EUV) zurückzuführen ist, dass die Mitgliedstaaten für Verstöße Einzelner gegen das Unionsrecht Sanktionen vorsehen müssen, die wirksam, verhältnismäßig und abschreckend sind(40), und dass Verstöße gegen das Unionsrecht darüber hinaus – mindestens – nach ähnlichen sachlichen und verfahrensrechtlichen Regeln zu ahnden sind wie nach Art und Schwere gleichartige Verstöße gegen nationales Recht(41). Letztlich handelt es sich dabei um besondere Ausprägungen der Grundsätze der Effektivität und der Äquivalenz.

81.      Was zunächst den Äquivalenzgrundsatz anbelangt, so hat die Kommission in der mündlichen Verhandlung vorgebracht, im italienischen Recht seien durchaus Straftatbestände bekannt, auf die keinerlei absolute Verjährungsfrist Anwendung finde. Sollte es sich dabei um Straftatbestände auf dem Gebiet der Wirtschaftskriminalität handeln, die dem Mehrwertsteuerbetrug gleichwertig sind, so müsste auch für Mehrwertsteuerbetrug auf eine absolute Verjährungsfrist verzichtet werden.

82.      Das aus dem Effektivitätsgrundsatz folgende Erfordernis wirksamer, verhältnismäßiger und abschreckender Sanktionen hat der Gerichtshof in jüngerer Zeit auch für den Bereich der Mehrwertsteuer ausdrücklich hervorgehoben. Dabei stützte er sich neben diversen Bestimmungen der Richtlinie 2006/112 erneut auf die Loyalitätspflicht der Mitgliedstaaten gemäß Art. 4 Abs. 3 EUV(42).

83.      Auf dem Gebiet der Mehrwertsteuer ist ein funktionierendes System von Sanktionen für Verstöße gegen das Unionsrecht von besonderer Bedeutung, da es nicht nur der Gleichbehandlung aller auf dem Binnenmarkt tätigen Unternehmen dient, sondern darüber hinaus auch die finanziellen Interessen der Union schützen soll, zu deren Eigenmitteln ein Anteil der von den Mitgliedstaaten erhobenen Mehrwertsteuer gehört(43). Gemäß Art. 325 AEUV haben die Mitgliedstaaten deshalb zur Bekämpfung von rechtswidrigen Handlungen, die sich gegen die finanziellen Interessen der Union richten, „abschreckende und wirksame Maßnahmen zu ergreifen“(44). Gleiches folgt aus der Verordnung Nr. 2988/95, die ebenfalls dem Schutz der finanziellen Interessen der Union dient.

84.      Zwar folgt weder aus den primärrechtlichen Vorgaben (Art. 4 Abs. 3 EUV und Art. 325 AEUV) noch aus dem einschlägigen Sekundärrecht (Verordnung Nr. 2988/95 und Richtlinie 2006/112) eine irgendwie geartete Pflicht der Mitgliedstaaten, Unregelmäßigkeiten auf dem Gebiet der Mehrwertsteuer notwendigerweise strafrechtlich zu ahnden. Vielmehr können die Mitgliedstaaten – vorbehaltlich dessen, was aus dem PIF-Übereinkommen folgt(45) – die anwendbaren Sanktionen frei wählen, so dass im innerstaatlichen System grundsätzlich auch auf eine Kombination aus verwaltungsrechtlichen und strafrechtlichen Sanktionen zurückgegriffen werden darf(46). Allerdings ist es dem Begriff der „Sanktion“ inhärent, dass mehr getan werden muss, als lediglich die ohnehin geschuldete Mehrwertsteuer, gegebenenfalls mit Verzugszinsen, nachzuerheben.

85.      Allerdings müssen die im jeweiligen Mitgliedstaat tatsächlich praktizierten Sanktionen – gleichviel, ob sie verwaltungsrechtlicher oder strafrechtlicher Natur sind – wirksam, verhältnismäßig und abschreckend sein(47). Den unionsrechtlichen Vorgaben widerspricht es, wenn ein Mitgliedstaat sein innerstaatliches Sanktionssystem mit einer Kombination aus verwaltungs- und strafrechtlichen Sanktionen auf zwei Standbeine stellt, die weder einzeln noch zusammen den Kriterien der Wirksamkeit, Verhältnismäßigkeit und Abschreckung genügen.

86.      Ob die im innerstaatlichen System vorgesehenen Sanktionen wirksam, verhältnismäßig und abschreckend sind, hat das vorlegende Gericht zu beurteilen. Dabei ist die jeweilige Sanktionsvorschrift unter Berücksichtigung ihrer Stellung im gesamten Regelungssystem, einschließlich des Verfahrensablaufs und der Besonderheiten des Verfahrens vor den verschiedenen nationalen Stellen, in jedem Fall zu prüfen, in dem sich diese Frage stellt(48).

87.      Wie ich in meinen Schlussanträgen im Fall Berlusconi u. a.(49) ausgeführt habe, bestehen keine grundsätzlichen Bedenken dagegen, dass die Mitgliedstaaten Sanktionen, welche sie kraft Unionsrechts einzuführen haben, der Verjährung unterwerfen, denn Verjährungsfristen dienen der Rechtssicherheit und dem Schutz der Beschuldigten und schließen eine wirksame Verhängung von Sanktionen nicht grundsätzlich aus. Übrigens sieht auch die Verordnung Nr. 2988/95 in ihrem Art. 3 mit Blick auf die dort geregelten verwaltungsrechtlichen Sanktionen eine Verjährung vor.

88.      Jedoch muss sichergestellt sein, dass die anwendbaren Verjährungsregeln nicht insgesamt die Wirksamkeit und Abschreckungswirkung der vorgesehenen Sanktionen untergraben. Unregelmäßigkeiten auf dem Gebiet der Mehrwertsteuer dürfen also nicht lediglich theoretisch mit Sanktionen belegt werden. Das Sanktionssystem ist vielmehr so auszugestalten, dass jeder, der unrichtige Angaben im Hinblick auf die Mehrwertsteuer macht oder sich an entsprechenden Machenschaften beteiligt, auch tatsächlich befürchten muss, mit Sanktionen belegt zu werden(50).

89.      Außerdem sind, wie die Kommission zu Recht hervorhebt, etwaige Wechselwirkungen zwischen straf- und verwaltungsrechtlichen Sanktionen zu bedenken. So können sich Unzulänglichkeiten des strafrechtlichen Sanktionssystems nachteilig auf das verwaltungsrechtliche Sanktionssystem auswirken. Dies ist etwa dann der Fall, wenn im nationalen Recht vorgesehen ist, dass das Verwaltungsverfahren während eines laufenden Strafverfahrens ausgesetzt wird(51) und es später, nach dem Eintritt der strafrechtlichen Verfolgungsverjährung, nicht mehr weiterbetrieben werden kann, weil die betreffende Zuwiderhandlung dann auch nach verwaltungsrechtlichen Maßstäben verjährt ist.

90.      In diesem Zusammenhang verdient die Rechtsprechung Erwähnung, die bereits früher zu einigen italienischen Verfahrensregelungen auf dem Gebiet des Steuerrechts ergangen ist. Danach dürfen die Mitgliedstaaten zwar lang dauernde Steuerverfahren unter bestimmten Umständen einstellen(52), sie dürfen jedoch nicht allgemein und undifferenziert auf die Überprüfung der in mehreren Besteuerungszeiträumen bewirkten steuerbaren Umsätze im Hinblick auf eine etwaige Mehrwertsteuerpflicht verzichten(53).

91.      Führt eine innerstaatliche Verjährungsregelung bei Berücksichtigung all dieser Gesichtspunkte dazu, dass eine tatsächliche Verhängung wirksamer, verhältnismäßiger und abschreckender Sanktionen in Wirklichkeit systemisch bedingt nur selten zu erwarten ist, so widerspricht dies der allgemeinen Pflicht der Mitgliedstaaten zur Verhängung wirksamer Sanktionen für Verstöße gegen das Unionsrecht(54).

2.      Die spezielle Pflicht, wirksame strafrechtliche Sanktionen vorzusehen

92.      Neben der soeben erörterten allgemeinen Pflicht zur Verhängung wirksamer Sanktionen besteht überdies eine besondere Pflicht der Mitgliedstaaten, Betrug zum Nachteil der finanziellen Interessen der Union strafrechtlich zu ahnden.

93.      Diese Pflicht, strafrechtliche Sanktionen vorzusehen, ergibt sich aus dem PIF-Übereinkommen, namentlich aus dessen Art. 2 Abs. 1, der vorschreibt, dass Betrug zum Nachteil der finanziellen Interessen der Union durch wirksame, angemessene und abschreckende Strafen zu ahnden ist; in schweren Betrugsfällen sind sogar Freiheitsstrafen vorzusehen.

94.      Zwar legt der Rat der Europäischen Union den Anwendungsbereich des PIF-Übereinkommens eng aus und möchte die Mehrwertsteuer davon ausnehmen. In seinem Erläuternden Bericht(55) hat er den Standpunkt bezogen, dass unter Einnahmen im Sinne des PIF-Übereinkommens nur die beiden ersten Eigenmittelkategorien der Union zu verstehen sind, d. h. einerseits Zölle und andererseits bestimmte Abschöpfungen und Abgaben im Bereich der Landwirtschaft. Demgegenüber umfassen die Einnahmen der Union im Sinne des PIF-Übereinkommens nach Auffassung des Rates nicht jene, die sich aus der Anwendung eines für alle Mitgliedstaaten einheitlichen Mehrwertsteuersatzes ergeben, da diese Eigenmittel nicht unmittelbar für die Union erhoben werden.

95.      Nach der vom Rat in seinem Erläuternden Bericht vertretenen Ansicht, der sich auch Deutschland in der mündlichen Verhandlung vor dem Gerichtshof angeschlossen hat, würde folglich die unionsrechtliche Pflicht zur Verhängung strafrechtlicher Sanktionen im Fall von Unregelmäßigkeiten auf dem Gebiet der Mehrwertsteuer keine Anwendung finden(56).

96.      Jedoch handelt es sich bei dem Erläuternden Bericht des Rates lediglich um die rechtlich unverbindliche Meinungsäußerung eines Unionsorgans, welches zudem nicht selbst Partei des PIF-Übereinkommens ist, sondern nur an den Vorarbeiten dazu mitwirkte, indem es den Text des Übereinkommens ausarbeitete und ihn den Mitgliedstaaten zur Annahme gemäß ihren verfassungsrechtlichen Vorschriften empfahl (Art. K.3 Abs. 2 Buchst. c EU).

97.      Der Erläuternde Bericht des Rates kann folglich nicht als authentische Auslegung des PIF-Übereinkommens angesehen werden, zumal weder das Übereinkommen selbst noch sein Zusatzprotokoll in irgendeiner Weise auf jenen Bericht Bezug nehmen. Eine innerhalb der Union rechtsverbindliche Auslegung des PIF-Übereinkommens steht allein dem Gerichtshof zu; dies ließ sich schon ursprünglich dem Zusatzprotokoll zum PIF-Übereinkommen entnehmen, das den Gerichtshof zur Auslegung jenes Übereinkommens ermächtigte, und folgt heute aus Art. 19 Abs. 1 Satz 2 und Abs. 3 Buchst. b EUV sowie aus Art. 267 AEUV.

98.      Meines Erachtens sollte der Gerichtshof den Erläuternden Bericht des Rates zum PIF-Übereinkommen nicht anders behandeln als Presseerklärungen der Unionsorgane zu Gesetzgebungsakten oder Protokollerklärungen anlässlich der Annahme solcher Rechtsakte: Derartige Verlautbarungen können nach ständiger Rechtsprechung zur Auslegung einer sekundärrechtlichen Vorschrift nicht herangezogen werden, wenn sie in dieser Vorschrift keinen Ausdruck gefunden haben(57).

99.      So verhält es sich hier. Um die Herausnahme der Mehrwertsteuer aus dem Anwendungsbereich des PIF-Übereinkommens zu rechtfertigen, bezieht sich der Rat in seinem Erläuternden Bericht einzig und allein auf den Umstand, dass die Mehrwertsteuer „nicht zu den Eigenmitteln gehört, die unmittelbar für die [Union] erhoben werden“(58). Genau diese Erwägung findet jedoch im Wortlaut des PIF-Übereinkommens keinen Niederschlag und kann keine restriktive Auslegung seines Anwendungsbereichs rechtfertigen.

100. Vielmehr ist der Anwendungsbereich des PIF-Übereinkommens denkbar weit gefasst. Ausweislich seines Art. 1 Abs. 1 Buchst. b erstreckt er sich pauschal und ohne jede Einschränkung auf die „Einnahmen“ der Union betreffend die „Mittel“ aus ihrem „Gesamthaushaltsplan“. Zu diesen Mitteln gehören nicht zuletzt auch die aus der Mehrwertsteuer fließenden Eigenmittel der Union(59). Es besteht nämlich ein unmittelbarer Zusammenhang zwischen der Erhebung der Mehrwertsteuer durch die Mitgliedstaaten und der Zurverfügungstellung entsprechender Mehrwertsteuermittel für den Haushalt der Union(60).

101. Ein weit verstandener Anwendungsbereich unter Einschluss der Mehrwertsteuer entspricht im Übrigen der Zielsetzung des PIF-Übereinkommens, das ganz allgemein der Bekämpfung des Betrugs zum Nachteil der finanziellen Interessen der Union dient und mit dem eine möglichst wirksame Bekämpfung dieses Betrugs angestrebt wird(61).

102. Hingegen würde eine Beschränkung des Anwendungsbereichs des PIF-Übereinkommens allein auf Betrugsfälle im Bereich der Zölle und der landwirtschaftlichen Abschöpfungen bzw. Abgaben den Beitrag dieses Rechtsinstruments zum Schutz der finanziellen Interessen der Union erheblich schmälern. Ein derart enges Verständnis vom Anwendungsbereich des PIF-Übereinkommens, wie es dem Rat vorzuschweben scheint, widerspräche der Regel, wonach die von einem Unionsorgan vorgeschlagene Auslegung einer Bestimmung des Unionsrechts diese nicht in ihrer praktischen Wirksamkeit beeinträchtigen darf(62).

103. Somit begründet das PIF-Übereinkommen eine Pflicht der Mitgliedstaaten, Fälle von Betrug zum Nachteil der finanziellen Interessen der Union auf dem Gebiet der Mehrwertsteuer – jedenfalls Betrugsfälle von einer gewissen Schwere – strafrechtlich zu ahnden. Diese Pflicht ist hier von besonderer Bedeutung, da rein verwaltungsrechtliche Sanktionen für sich allein genommen – insbesondere Geldbußen und Säumniszuschläge – angesichts der Umstände, die Betrugsfällen auf dem Gebiet der Mehrwertsteuer häufig zugrunde liegen, kaum eine hinreichend abschreckende Wirkung entfalten dürften. So befinden sich viele Personen und Unternehmen, die in derartige Betrugsfälle verstrickt sind, ohnehin in einer äußerst prekären finanziellen Situation.

104. Ob die im nationalen System vorgesehenen strafrechtlichen Sanktionen „wirksam, angemessen und abschreckend“ im Sinne von Art. 2 Abs. 1 des PIF-Übereinkommens sind, hat das vorlegende Gericht zu beurteilen. Dabei gilt das oben Gesagte(63): Die jeweilige Sanktionsvorschrift ist unter Berücksichtigung ihrer Stellung im gesamten Regelungssystem, einschließlich des Verfahrensablaufs und der Besonderheiten des Verfahrens vor den verschiedenen nationalen Stellen, in jedem Fall zu prüfen, in dem sich diese Frage stellt.

105. Führt eine innerstaatliche Verjährungsregelung dazu, dass eine tatsächliche Verhängung wirksamer, verhältnismäßiger und abschreckender Strafen in Wirklichkeit systemisch bedingt nur selten zu erwarten ist, so widerspricht dies der aus Art. 2 des PIF-Übereinkommens fließenden Pflicht der Mitgliedstaaten, für Betrug zum Nachteil der finanziellen Interessen der Union angemessene strafrechtliche Sanktionen vorzusehen.

C –    Die Auswirkungen der etwaigen Unionsrechtswidrigkeit der nationalen Verjährungsregelung auf den Ausgangsrechtsstreit

106. Für den Fall, dass das vorlegende Gericht unter Zugrundelegung der oben dargestellten Maßstäbe zu dem Ergebnis kommen sollte, dass die nationale Verjährungsregelung und insbesondere die im Vorabentscheidungsersuchen hervorgehobene Vorschrift des Art. 160 letzter Absatz des Codice penale in der Fassung des Gesetzes Nr. 251/2005 unionsrechtswidrig ist, bleibt abschließend zu erörtern, welche Auswirkungen damit für den Ausgangsrechtsstreit verbunden sind.

107. Nach ständiger Rechtsprechung sind die nationalen Gerichte gehalten, für die volle Wirksamkeit des Unionsrechts Sorge zu tragen(64).

108. Zu diesem Zweck obliegt ihnen zuallererst die Pflicht, das gesamte innerstaatliche Recht im Einklang mit dem Unionsrecht auszulegen und anzuwenden. Die nationalen Gerichte haben dabei das innerstaatliche Recht so weit wie möglich anhand des Wortlauts und des Zwecks der einschlägigen unionsrechtlichen Bestimmungen auszulegen, um das mit diesen angestrebte Ergebnis zu erreichen(65). Unter Berücksichtigung des gesamten nationalen Rechts und unter Anwendung ihrer Auslegungsmethoden haben sie alles zu tun, was in ihrer Zuständigkeit liegt, um die volle Wirksamkeit der unionsrechtlichen Vorgaben zu gewährleisten und zu einem Ergebnis zu gelangen, das mit dem vom Unionsrecht verfolgten Ziel übereinstimmt(66).

109. Insbesondere wird das vorlegende Gericht zu prüfen haben, ob im Wege der unionsrechtskonformen Auslegung ein Ergebnis erzielt werden kann, das zu einer Hemmung der Verjährung führt, solange die italienischen Strafgerichte – oder zumindest bestimmte Gerichtsinstanzen – mit dem Ausgangsverfahren befasst sind.

110. Die Verpflichtung zur unionsrechtskonformen Auslegung findet allerdings in den allgemeinen Rechtsgrundsätzen ihre Schranken und darf nicht als Grundlage für eine Auslegung contra legem des nationalen Rechts dienen(67).

111. Sollte das vorlegende Gericht im Wege der Auslegung des nationalen Rechts kein unionsrechtskonformes Resultat erzielen können, so wäre es gehalten, für die volle Wirksamkeit des Unionsrechts Sorge zu tragen, indem es erforderlichenfalls jede – auch spätere – entgegenstehende Bestimmung des nationalen Rechts aus eigener Entscheidungsbefugnis unangewandt lässt, ohne dass es die vorherige Beseitigung dieser Bestimmung auf gesetzgeberischem Wege oder durch irgendein anderes verfassungsrechtliches Verfahren beantragen oder abwarten müsste(68).

112. Gegebenenfalls müsste also das vorlegende Gericht eine Vorschrift wie Art. 160 letzter Absatz des Codice penale in der Fassung des Gesetzes Nr. 251/2005 im Ausgangsverfahren unangewendet lassen, wenn diese Vorschrift Ausdruck eines systemischen Mangels sein sollte, der die Erzielung eines unionsrechtskonformen Ergebnisses wegen übermäßig kurzer Verjährungsfristen verhindert.

113. Näherer Erörterung bedarf allerdings noch die Frage, ob einer solchen Vorgehensweise allgemeine Prinzipien des Unionsrechts entgegenstehen, namentlich der Grundsatz der Gesetzmäßigkeit der Strafen (nullum crimen, nulla poena sine lege). Dieser Grundsatz gehört zu den allgemeinen Rechtsgrundsätzen, die den gemeinsamen Verfassungstraditionen der Mitgliedstaaten zugrunde liegen(69), und genießt inzwischen durch Art. 49 der Charta der Grundrechte den Rang eines Unionsgrundrechts. Gemäß dem Homogenitätsgebot (Art. 52 Abs. 3 Satz 1 der Charta) sind bei der Auslegung von Art. 49 der Charta nicht zuletzt Art. 7 EMRK und die dazu ergangene Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) zu beachten.

114. Der Grundsatz der Gesetzmäßigkeit der Strafen besagt, dass niemand wegen einer Handlung oder Unterlassung verurteilt werden darf, die zur Zeit ihrer Begehung nach innerstaatlichem oder internationalem Recht nicht strafbar war, und dass auch keine schwerere Strafe als die zur Zeit der Begehung angedrohte Strafe verhängt werden darf (Art. 49 Abs. 1 Sätze 1 und 2 der Charta). Damit einher geht die Regel, dass Richtlinien nicht unmittelbar zur Begründung oder Verschärfung der Strafbarkeit herangezogen werden können(70).

115. Anders als Herr Anakiev und die italienische Regierung meinen, ist aber in einem Fall wie dem vorliegenden kein Konflikt mit dem Grundsatz der Gesetzmäßigkeit der Strafen zu befürchten. Denn dieser Grundsatz verlangt lediglich in materiell-rechtlicher Hinsicht, dass das Gesetz klar die Straftaten und die für sie angedrohten Strafen definiert(71). Verjährungsvorschriften sagen jedoch weder über die Strafbarkeit eines Verhaltens noch über die Strafhöhe etwas aus, sondern allein über die Verfolgbarkeit einer Straftat, und fallen somit überhaupt nicht in den Anwendungsbereich der Regel nullum crimen, nulla poena sine lege(72). Aus demselben Grund findet auch der Grundsatz der rückwirkenden Anwendung des milderen Strafgesetzes (Art. 49 Abs. 1 Satz 3 der Charta der Grundrechte(73)) auf Verjährungsfragen keine Anwendung.

116. Darin unterscheidet sich übrigens der vorliegende Fall grundlegend von der Rechtssache Berlusconi u. a., in der es – anders als hier – um eine Änderung der materiell-rechtlichen Bestimmungen des nationalen Rechts und insbesondere des anwendbaren Strafrahmens für bestimmte Straftaten ging, was u. a. zu geringeren Strafen führte und damit mittelbar Auswirkungen auf die Verfolgungsverjährung hatte(74).

117. Vor diesem Hintergrund ist den Anforderungen an die Gesetzmäßigkeit der Strafen in einem Fall wie dem vorliegenden vollauf Genüge getan, ergibt sich doch die Strafbarkeit des den Angeschuldigten vorgeworfenen Verhaltens und das dafür angedrohte Strafmaß unverändert aus dem italienischen Strafgesetz, genauer gesagt aus den Art. 2 und 8 DLgs 74/2000. Keineswegs folgen Strafbarkeit oder Strafmaß unmittelbar aus unionsrechtlichen Bestimmungen wie Art. 4 Abs. 3 EUV und Art. 325 AEUV, der Richtlinie 2006/112, der Verordnung Nr. 2988/95 oder dem PIF-Übereinkommen.

118. Anders als im Fall Berlusconi u. a. würde also die Anwendung unionsrechtlicher Vorgaben hier nicht selbst Verpflichtungen für einen Einzelnen begründen und insbesondere nicht zur Begründung oder Verschärfung der Strafbarkeit von Einzelnen führen. Sie würde lediglich – auf der verfahrensrechtlichen Ebene – die nationalen Strafverfolgungsbehörden von unionsrechtswidrigen Fesseln befreien.

119. Aus dem Grundsatz der Gesetzmäßigkeit der Strafen lässt sich nicht herleiten, dass sich die anwendbaren Regeln über die Dauer, den Lauf und die Unterbrechung der Verjährung zwingend stets nach denjenigen gesetzlichen Vorschriften richten müssten, die zur Zeit der Begehung der Tat in Kraft waren. Ein dahin gehendes schutzwürdiges Vertrauen besteht nicht.

120. Vielmehr kann sich der Zeitrahmen, innerhalb dessen eine Straftat verfolgt werden darf, auch nach Tatbegehung noch ändern, solange keine Verjährung eingetreten ist(75). Letztlich gilt hier nichts anderes als bei der Anwendung neuer Verfahrensvorschriften auf Sachverhalte, die zwar in der Vergangenheit ihren Ausgang genommen haben, aber noch nicht abgeschlossen sind(76).

121. Im Rahmen der Verfahrensautonomie der Mitgliedstaaten eröffnet dies in allen Fällen, in denen noch keine Verjährung eingetreten ist(77), einen Spielraum für die Berücksichtigung unionsrechtlicher Wertungen, den die Gerichte der Mitgliedstaaten bei der Anwendung ihres jeweiligen innerstaatlichen Rechts unter Beachtung der Grundsätze der Äquivalenz und der Effektivität voll ausschöpfen müssen.

122. Um eine Herleitung neuer Verjährungsfristen direkt aus dem Unionsrecht geht es dabei nicht. Ohnehin enthalten Art. 4 Abs. 3 EUV und Art. 325 AEUV dazu, ebenso wie die Verordnung Nr. 2988/95 und das PIF-Übereinkommen, keine hinreichend konkreten Regelungen, die einer unmittelbaren Anwendung gegenüber dem Einzelnen zugänglich wären. Dasselbe gilt – schon aufgrund ihrer Rechtsnatur – für die Richtlinie 2006/112(78).

123. Vielmehr muss sich eine konkrete, unionsrechtskonforme Handhabung der Dauer und des Laufs der Verjährungsfristen aus dem innerstaatlichen Recht ergeben. Das Unionsrecht entfaltet insoweit allenfalls eine mittelbare Wirkung für den Ausgangsrechtsstreit, indem es dem nationalen Gericht hilft, die Weichen für die unionsrechtskonforme Anwendung des innerstaatlichen Rechts richtig zu stellen.

124. Dabei geht es nicht um eine komplette Aufhebung der Verjährung, sondern um die Anwendung einer angemessenen Verjährungsregelung(79), welche die Verhängung wirksamer, verhältnismäßiger und abschreckender Sanktionen in einem fairen und mit angemessener Dauer geführten Verfahren (Art. 47 Abs. 2 der Charta der Grundrechte, Art. 6 Abs. 1 Satz 1 EMRK) als realistisch erscheinen lässt.

125. Zu den Maßnahmen, die das vorlegende Gericht in diesem Zusammenhang zu ergreifen hat, kann insbesondere eine Anwendung der Verjährungsvorschriften ohne die in Art. 160 letzter Absatz des Codice penale in der Fassung des Gesetzes Nr. 251/2005 vorgesehene absolute Verjährungsfrist gehören. Wie bereits erwähnt(80), scheint es im italienischen Recht nach den Angaben der Kommission in der mündlichen Verhandlung durchaus Straftatbestände zu geben – auch solche auf dem Gebiet der Wirtschaftskriminalität –, auf die keinerlei absolute Verjährungsfrist Anwendung findet.

126. Alternativ wäre an einen Rückgriff auf die zwischenzeitlich neu geregelten, um ein Drittel verlängerten Verjährungsfristen für Steuerstraftaten zu denken, wie sie sich nunmehr in Italien aus dem Gesetz Nr. 148/2011(81) ergeben(82). Schließlich käme noch in Betracht, die früheren Verjährungsregeln, wie sie sich aus dem Codice penale in seiner Fassung vor dem Gesetz Nr. 251/2005 ergaben, als für den vorliegenden Fall fortgeltend anzusehen.

127. Welcher dieser verschiedenen Wege zu beschreiten ist, ist letztlich eine Frage des innerstaatlichen Rechts und seiner Auslegung, deren Beurteilung allein dem nationalen Richter obliegt. Aus unionsrechtlicher Sicht ist lediglich darauf zu achten, dass die gefundene Lösung in einem fairen Verfahren (Art. 47 Abs. 2 der Charta der Grundrechte, Art. 6 Abs. 1 Satz 1 EMRK) in nicht diskriminierender Weise gefunden wird und auf klaren, nachvollziehbaren, sowie allgemein anwendbaren Kriterien beruht.

VII – Ergebnis

128. Aufgrund der vorstehenden Erwägungen schlage ich dem Gerichtshof vor, die ihm vom Tribunale di Cuneo vorgelegten Fragen wie folgt zu beantworten:

1)      Art. 4 Abs. 3 EUV und Art. 325 AEUV, die Verordnung (EG, Euratom) Nr. 2988/95 und die Richtlinie 2006/112/EG sind dahin auszulegen, dass sie die Mitgliedstaaten verpflichten, für Unregelmäßigkeiten auf dem Gebiet der Mehrwertsteuer wirksame, verhältnismäßige und abschreckende Sanktionen vorzusehen.

2)      Art. 2 Abs. 1 des Übereinkommens über den Schutz der finanziellen Interessen der Europäischen Gemeinschaften, unterzeichnet in Luxemburg am 26. Juli 1995, verpflichtet die Mitgliedstaaten, Betrug auf dem Gebiet der Mehrwertsteuer durch wirksame, verhältnismäßige und abschreckende strafrechtliche Sanktionen zu ahnden, die zumindest in schweren Betrugsfällen auch Freiheitsstrafen umfassen müssen.

3)      Eine innerstaatliche Regelung über die Verfolgungsverjährung, welche aus systemischen Gründen in zahlreichen Fällen zur Straflosigkeit der für Betrugsfälle auf dem Gebiet der Mehrwertsteuer Verantwortlichen führt, ist mit den genannten unionsrechtlichen Vorgaben unvereinbar. In anhängigen Strafverfahren haben die nationalen Gerichte eine solche Regelung unangewendet zu lassen.


1 – Originalsprache: Deutsch.


2 – Vgl. Art. 2 Abs. 1 Buchst. b des Beschlusses 2007/436/EG, Euratom des Rates vom 7. Juni 2007 über das System der Eigenmittel der Europäischen Gemeinschaften (ABl. L 163, S. 17, im Folgenden: Eigenmittel-Beschluss).


3 – Urteil Berlusconi u. a. (C‑387/02, C‑391/02 und C‑403/02, EU:C:2005:270).


4 – Verordnung (EG, Euratom) Nr. 2988/95 des Rates vom 18. Dezember 1995 über den Schutz der finanziellen Interessen der Europäischen Gemeinschaften (ABl. L 312, S. 1).


5 – Übereinkommen über den Schutz der finanziellen Interessen der Europäischen Gemeinschaften, unterzeichnet in Luxemburg am 26. Juli 1995 (ABl. C 316, S. 49). Die Abkürzung „PIF“ steht für die französische Entsprechung des Begriffs „Schutz der finanziellen Interessen“ („protection des intérêts financiers“).


6 – Richtlinie 2006/112/EG des Rates vom 28. November 2006 über das gemeinsame Mehrwertsteuersystem (ABl. L 347, S. 1).


7 – Vertrag über die Europäische Union in der Fassung des Vertrags von Maastricht.


8 – ABl. 1995, C 316, S. 48.


9 – Strafgesetzbuch.


10 – GURI Nr. 285 vom 7. Dezember 2005.


11 – Gesetzesvertretende Verordnung oder Legislativdekret.


12 – Das DLgs 74/2000 trägt den Titel „Nuova disciplina dei reati in materia di imposte sui redditi e sul valore aggiunto“ (Neuregelung der Steuerstraftaten auf dem Gebiet der Einkommensteuer und der Mehrwertsteuer) und ist veröffentlicht in GURI Nr. 76 vom 31. März 2000.


13 – Zu Deutsch: „verschwundene Händler“; darunter sind Unternehmen zu verstehen, die sich ausschließlich mit der Herstellung fiskalischer Unterlagen zum Zwecke der Steuerhinterziehung befassen.


14 – In der Verfahrenssprache: udienza preliminare.


15 – Das Tribunale di Mondovi war zwischenzeitlich mit dem Tribunale di Cuneo zusammengelegt worden.


16 – Giudice dell’Udienza Preliminare.


17 – Ausgenommen von dieser Vorabentscheidungszuständigkeit sind lediglich bestimmte Teile des Unionsrechts, die zum Bereich der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik gehören (Art. 24 Abs. 1 Unterabs. 2 Satz 6 EUV und Art. 275 Abs. 1 AEUV).


18 – Urteile Cowan (186/87, EU:C:1989:47, Rn. 19), Placanica (C‑338/04, C‑359/04 und C‑360/04, EU:C:2007:133, Rn. 68) und Achughbabian (C‑329/11, EU:C:2011:807, Rn. 33).


19 – Urteil Åkerberg Fransson (C‑617/10, EU:C:2013:105, Rn. 27 und 28).


20 – Vertrag über die Europäische Union in der Fassung des Vertrags von Maastricht.


21 – Protokoll Nr. 36 zum EU-Vertrag und zum AEU-Vertrag (ABl. 2008, C 115, S. 322).


22 – In diesem Sinne Urteil Weryński (C‑283/09, EU:C:2011:85, Rn. 30 und 31).


23 – Protokoll betreffend die Auslegung des Übereinkommens über den Schutz der finanziellen Interessen der Europäischen Gemeinschaften durch den Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften im Wege der Vorabentscheidung, unterzeichnet in Brüssel am 29. November 1996 (ABl. 1997, C 151, S. 1). Wie schon das PIF-Übereinkommen selbst, so wurde auch dieses Zusatzprotokoll auf der Grundlage von Art. K.3 Abs. 2 Buchst. c EU geschlossen und ist am 17. Oktober 2002 in Kraft getreten.


24 – Vertrag über die Europäische Union in der Fassung des Vertrags von Amsterdam.


25 – Vgl. einerseits die Erklärung der Italienischen Republik nach Art. 35 Abs. 2 und Abs. 3 Buchst. b EU (Bekanntmachung in ABl. 1999, L 114, S. 56) und andererseits die Erklärung der Italienischen Republik vom 19. Juli 2002 nach dem Zusatzprotokoll zum PIF-Übereinkommen, Letztere abrufbar auf folgender Internetseite des Rates der Europäischen Union (zuletzt besucht am 20. Februar 2015): http://www.consilium.europa.eu/fr/documents-publications/agreements-conventions/ratification/?v=decl&aid=1996090&pid=I.


26 – Urteile Beck und Bergdorf (C‑355/97, EU:C:1999:391, Rn. 22), Régie Networks (C‑333/07, EU:C:2008:764, Rn. 46) und Križan u. a. (C‑416/10, EU:C:2013:8, Rn. 54).


27 – Urteile Bosman (C‑415/93, EU:C:1995:463, Rn. 61), Beck und Bergdorf (C‑355/97, EU:C:1999:391, Rn. 22), Régie Networks (C‑333/07, EU:C:2008:764, Rn. 46) und Križan u. a. (C‑416/10, EU:C:2013:8, Rn. 53 und 54).


28 – Vgl. insbesondere die Urteile Berlusconi u. a. (C‑387/02, C‑391/02 und C‑403/02, EU:C:2005:270) und Åkerberg Fransson (C‑617/10, EU:C:2013:105).


29 – Vgl. in diesem Sinne das Urteil Berlusconi u. a. (C‑387/02, C‑391/02 und C‑403/02, EU:C:2005:270) und den Beschluss Mulliez u. a. (C‑23/03, C‑52/03, C‑133/03, C‑337/03 und C‑473/03, EU:C:2006:285), in denen der Gerichtshof kein Wort zu den von verschiedenen Verfahrensbeteiligten vorgebrachten Zulässigkeitsrügen verlor, sondern sogleich inhaltlich auf die Vorlagefragen antwortete.


30 – Vgl. dazu unten, Rn. 57 bis 72 dieser Schlussanträge.


31 – Im selben Sinne hat der Gerichtshof im Urteil E und F (C‑550/09, EU:C:2010:382) das Vorabentscheidungsersuchen eines deutschen Gerichts beantwortet, das ebenfalls auf der Grundlage einer Anklageschrift der Staatsanwaltschaft über die Eröffnung des strafrechtlichen Hauptverfahrens zu befinden hatte. Vgl. außerdem – allgemeiner – die Urteile AGM-COS.MET (C‑470/03, EU:C:2007:213, Rn. 45) und Coleman (C‑303/06, EU:C:2008:415, Rn. 28 bis 32).


32 – Urteile Asjes u. a. (209/84 bis 213/84, EU:C:1986:188, Rn. 71 und 72), Vlaamse Reisbureaus (311/85, EU:C:1987:418, Rn. 10), Cipolla u. a. (C‑94/04 und C‑202/04, EU:C:2006:758, Rn. 46 und 47) sowie API u. a. (C‑184/13 bis C‑187/13, C‑194/13, C‑195/13 und C‑208/13, EU:C:2014:2147, Rn. 28 und 29).


33 – In diesem Sinne Urteile Deutschland/Kommission (C‑156/98, EU:C:2000:467, Rn. 22), Kommission/Government of Gibraltar und Vereinigtes Königreich (C‑106/09 P und C‑107/09 P, EU:C:2011:732, Rn. 72 und 73), 3M Italia (C‑417/10, EU:C:2012:184, Rn. 41 bis 44) und P (C‑6/12, EU:C:2013:525, Rn. 18).


34 – Vgl. dazu unten, Rn. 74 bis 121 dieser Schlussanträge.


35 – Letzteren Umstand betont das Urteil Caja de Ahorros y Monte de Piedad de Madrid (C‑484/08, EU:C:2010:309, Rn. 46), mit Bezug auf den ebenfalls in Art. 119 AEUV verankerten Grundsatz einer offenen Marktwirtschaft mit freiem Wettbewerb.


36 – Im selben Sinne Urteil Échirolles Distribution (C‑9/99, EU:C:2000:532, Rn. 25), wiederum im Hinblick auf den in Art. 119 AEUV verankerten Grundsatz einer offenen Marktwirtschaft mit freiem Wettbewerb.


37 – Urteile Franzén (C‑189/95, EU:C:1997:504, Rn. 79) und Belgian Electronic Sorting Technology (C‑657/11, EU:C:2013:516, Rn. 28) sowie Beschluss Szabó (C‑204/14, EU:C:2014:2220, Rn. 16).


38 – Urteile Alsatel (247/86, EU:C:1988:469, Rn. 7 und 8) und Hennen Olie (C‑302/88, EU:C:1990:455, Rn. 20); vgl. außerdem jüngst die Schlussanträge des Generalanwalts Mengozzi in der Rechtssache Wagner-Raith (C‑560/13, EU:C:2014:2476, Rn. 16 bis 48).


39 – Urteile SARPP (C‑241/89, EU:C:1990:459, Rn. 8), Ritter-Coulais (C‑152/03, EU:C:2006:123, Rn. 29), Promusicae (C‑275/06, EU:C:2008:54, Rn. 42), Aventis Pasteur (C‑358/08, EU:C:2009:744, Rn. 50) und Centre public d’action sociale d’Ottignies-Louvain-La-Neuve (C‑562/13, EU:C:2014:2453, Rn. 37).


40 – Urteile Kommission/Griechenland (68/88, EU:C:1989:339, Rn. 24), Berlusconi u. a. (C‑387/02, C‑391/02 und C‑403/02, EU:C:2005:270, Rn. 65), Adeneler u. a. (C‑212/04, EU:C:2006:443, Rn. 94) und Fiamingo u. a. (C‑362/13, C‑363/13 und C‑407/13, EU:C:2014:2044, Rn. 62 und 64).


41 – Urteile Kommission/Griechenland (68/88, EU:C:1989:339, Rn. 23 und 24) und Berlusconi u. a. (C‑387/02, C‑391/02 und C‑403/02, EU:C:2005:270, Rn. 64 und 65); im selben Sinne Urteil SGS Belgium u. a. (C‑367/09, EU:C:2010:648, Rn. 41).


42 – Urteil Åkerberg Fransson (C‑617/10, EU:C:2013:105, Rn. 25 und 36).


43 – Art. 2 Abs. 1 Buchst. b des Eigenmittel-Beschlusses; vgl. ergänzend Urteile Kommission/Italien (C‑132/06, EU:C:2008:412, Rn. 39) und Belvedere Costruzioni (C‑500/10, EU:C:2012:186, Rn. 22) sowie Urteil Kommission/Deutschland (C‑539/09, EU:C:2011:733, Rn. 71 und 72).


44 – Urteil Åkerberg Fransson (C‑617/10, EU:C:2013:105, Rn. 26 und 36).


45 – Vgl. dazu unten, Rn. 92 bis 105 dieser Schlussanträge.


46 – Urteil Åkerberg Fransson (C‑617/10, EU:C:2013:105, Rn. 34). Der Rückgriff auf strafrechtliche Sanktionen bleibt den Mitgliedstaaten ausweislich von Art. 6 der Verordnung Nr. 2988/95 unbenommen.


47 – In diesem Sinne – wenn auch in anderem Zusammenhang – Urteile von Colson und Kamann (14/83, EU:C:1984:153, Rn. 28), Adeneler u. a. (C‑212/04, EU:C:2006:443, Rn. 102 bis 104) und Fiamingo u. a. (C‑362/13, C‑363/13 und C‑407/13, EU:C:2014:2044, Rn. 61 am Ende).


48 – So schon meine Schlussanträge Berlusconi u. a. (C‑387/02, C‑391/02 und C‑403/02, EU:C:2004:624, Rn. 91).


49 – Siehe dazu wiederum meine Schlussanträge Berlusconi u. a. (C‑387/02, C‑391/02 und C‑403/02, EU:C:2004:624, Rn. 107).


50 – Siehe meine Schlussanträge Berlusconi u. a. (C‑387/02, C‑391/02 und C‑403/02, EU:C:2004:624, Rn. 108).


51 – Diese Möglichkeit eröffnet Art. 6 der Verordnung Nr. 2988/95 den Mitgliedstaaten.


52 – Urteil Belvedere Costruzioni (C‑500/10, EU:C:2012:186, Rn. 28).


53 – Urteil Kommission/Italien (C‑132/06, EU:C:2008:412, Rn. 43 bis 47 und 52).


54 – Im selben Sinne meine Schlussanträge Berlusconi u. a. (C‑387/02, C‑391/02 und C‑403/02, EU:C:2004:624, Rn. 110).


55 – Erläuternder Bericht zum Übereinkommen über den Schutz der finanziellen Interessen der Europäischen Gemeinschaften, vom Rat am 26. Mai 1997 gebilligt (ABl. 1997, C 191, S. 1); vgl. dort insbesondere die Erläuterungen zu Art. 1 Abs. 1 des Übereinkommens (ABl. 1997, C 191, S. 4, letzter Absatz).


56 – Nach Ansicht der deutschen Regierung würde erst ein noch anhängiger Gesetzgebungsvorschlag der Kommission zur Einbeziehung der Mehrwertsteuer in den Kreis der Gegenstände führen, für die das Unionsrecht den Mitgliedstaaten die Einführung strafrechtlicher Sanktionen gebietet: Vorschlag für eine Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates über den strafrechtlichen Schutz der finanziellen Interessen der Gemeinschaft, KOM(2001) 272 endgültig (ABl. C 240 E, S. 125).


57 – Urteile Antonissen (C‑292/89, EU:C:1991:80, Rn. 18), Skov und Bilka (C‑402/03, EU:C:2006:6, Rn. 42) und Quelle (C‑404/06, EU:C:2008:231, Rn. 32).


58 – Vgl. dazu die Passage des Erläuternden Berichts in ABl. 1997, C 191, S. 4, letzter Absatz.


59 – Art. 2 Abs. 1 Buchst. b des Eigenmittel-Beschlusses.


60 – Urteile Kommission/Deutschland (C‑539/09, EU:C:2011:733, Rn. 72) und Åkerberg Fransson (C‑617/10, EU:C:2013:105, Rn. 26).


61 – Erwägungsgründe 1 und 2 des Rechtsakts des Rates über die Ausarbeitung des PIF-Übereinkommens (ABl. 1995, C 316, S. 48).


62 – Urteil Kommission/Belgien (C‑437/04, EU:C:2007:178, Rn. 56 am Ende).


63 – Vgl. oben, Rn. 86 bis 90 dieser Schlussanträge.


64 – Gutachten 1/09 (EU:C:2011:123, Rn. 68); speziell für Richtlinien vgl. außerdem, statt vieler, Urteil Kücükdeveci (C‑555/07, EU:C:2010:21, Rn. 48).


65 –      Zur primärrechtskonformen Auslegung vgl. Urteile Murphy u. a. (157/86, EU:C:1988:62, Rn. 11) und ITC (C‑208/05, EU:C:2007:16, Rn. 68); zur sekundärrechtskonformen Auslegung vgl. Urteile Marleasing (C‑106/89, EU:C:1990:395, Rn. 8), Pfeiffer u. a. (C‑397/01 bis C‑403/01, EU:C:2004:584, Rn. 113), Dominguez (C‑282/10, EU:C:2012:33, Rn. 24) und Asociaţia Accept (C‑81/12, EU:C:2013:275, Rn. 71).


66 – Urteile Pfeiffer u. a. (C‑397/01 bis C‑403/01, EU:C:2004:584, Rn. 115 bis 119), Adeneler u. a. (C‑212/04, EU:C:2006:443, Rn. 111), Dominguez (C‑282/10, EU:C:2012:33, Rn. 27), Association de médiation sociale (C‑176/12, EU:C:2014:2, Rn. 38) und Schoenimport „Italmoda“ Mariano Previti (C‑131/13, C‑163/13 und C‑164/13, EU:C:2014:2455, Rn. 52); ähnlich bereits das Urteil von Colson und Kamann (14/83, EU:C:1984:153, Rn. 28: „unter voller Ausschöpfung des Beurteilungsspielraums, den ihm das nationale Recht einräumt“).


67 – Urteil Association de médiation sociale (C‑176/12, EU:C:2014:2, Rn. 39); vgl. außerdem Urteile Kolpinghuis Nijmegen (80/86, EU:C:1987:431, Rn. 13) und Adeneler u. a. (C‑212/04, EU:C:2006:443, Rn. 110).


68 – Urteile Simmenthal (106/77, EU:C:1978:49, Rn. 21 und 24), Melki und Abdeli (C‑188/10 und C‑189/10, EU:C:2010:363, Rn. 43) und Åkerberg Fransson (C‑617/10, EU:C:2013:105, Rn. 45).


69 – Urteile Advocaten voor de Wereld (C‑303/05, EU:C:2007:261, Rn. 49) und Intertanko u. a. (C‑308/06, EU:C:2008:312, Rn. 70).


70 – Urteile X (14/86, EU:C:1987:275, Rn. 20), Kolpinghuis Nijmegen (80/86, EU:C:1987:431, Rn. 13), X (C‑74/95 und C‑129/95, EU:C:1996:491, Rn. 24), Berlusconi u. a. (C‑387/02, C‑391/02 und C‑403/02, EU:C:2005:270, Rn. 74) sowie Grøngaard und Bang (C‑384/02, EU:C:2005:708, Rn. 30).


71 – Urteile Advocaten voor de Wereld (C‑303/05, EU:C:2007:261, Rn. 50), Intertanko u. a. (C‑308/06, EU:C:2008:312, Rn. 71) und Lafarge/Kommission (C‑413/08 P, EU:C:2010:346, Rn. 94).


72 – Vgl. dazu EGMR, Urteil vom 22. Juni 2000, Coëme u. a./Belgien (Beschwerde-Nr. 32492/96 u. a., Recueil des arrêts et décisions 2000-VII, Rn. 149), und vom 17. September 2009, Scoppola/Italien (Nr. 2) (Beschwerde-Nr. 10249/03, Rn. 110); an das EGMR-Urteil Coëme u. a./Belgien anknüpfend: Italienischer Verfassungsgerichtshof (Corte costituzionale), Urteil Nr. 236 vom 19. Juli 2011, Rn. 15; im selben Sinne schon früher das deutsche Bundesverfassungsgericht (BVerfGE 25, 269, 286 ff.).


73 – Zur Verankerung dieses Grundsatzes in den gemeinsamen Verfassungstraditionen der Mitgliedstaaten sowie in den allgemeinen Rechtsgrundsätzen des Unionsrechts vgl. außerdem Urteil Berlusconi u. a. (C‑387/02, C‑391/02 und C‑403/02, EU:C:2005:270, Rn. 68 und 69) sowie meine Schlussanträge in jenem Fall (EU:C:2004:624, Rn. 155 bis 157). Neuerdings erkennt auch der EGMR diesen Grundsatz im Rahmen von Art. 7 EMRK an (Urteil vom 17. September 2009, Scoppola/Italien [Nr. 2], Beschwerde-Nr. 10249/03, Rn. 105 bis 109).


74 – Vgl. das Urteil Berlusconi u. a. (C‑387/02, C‑391/02 und C‑403/02, EU:C:2005:270, Rn. 18 bis 22) sowie meine Schlussanträge in jenem Fall (EU:C:2004:624, Rn. 31).


75 – EGMR, Urteil vom 22. Juni 2000, Coëme u. a./Belgien (Beschwerde-Nr. 32492/96 u. a., Recueil des arrêts et décisions 2000-VII, Rn. 149).


76 – Vgl. dazu Urteile Meridionale Industria Salumi u. a. (212/80 bis 217/80, EU:C:1981:270, Rn. 9), Pokrzeptowicz-Meyer (C‑162/00, EU:C:2002:57, Rn. 49), Molenbergnatie (C‑201/04, EU:C:2006:136, Rn. 31) und Kommission/Spanien (C‑610/10, EU:C:2012:781, Rn. 45) sowie meine Schlussanträge in der Rechtssache Kommission/Moravia Gas Storage (C‑596/13 P, EU:C:2014:2438, Rn. 28 bis 31).


77 –      Im Fall des Angeschuldigten Anakiev sind die Taten, die Gegenstand der Anklage sind, nach Angaben des vorlegenden Gerichts bereits verjährt.


78 – Urteile Arcaro (C‑168/95, EU:C:1996:363, Rn. 36), X (C‑74/95 und C‑129/95, EU:C:1996:491, Rn. 23) und Berlusconi u. a. (C‑387/02, C‑391/02 und C‑403/02, EU:C:2005:270, Rn. 73).


79 – Vgl. dazu schon oben, Rn. 87 und 88 dieser Schlussanträge.


80 – Vgl. dazu oben, Rn. 81 dieser Schlussanträge.


81 – Vgl. dort Art. 2 Abs. 36-vicies semel Buchst. l (GURI Nr. 216 vom 16. September 2011).


82 – Auf diese Neuregelung hat der Angeschuldigte Anakiev im Verfahren vor dem Gerichtshof hingewiesen.