Language of document : ECLI:EU:C:2019:1079

Rechtssache C627/19 PPU

ZB

(Vorabentscheidungsersuchen der Rechtbank Amsterdam)

 Urteil des Gerichtshofs (Erste Kammer) vom 12. Dezember 2019

„Vorlage zur Vorabentscheidung – Eilvorabentscheidungsverfahren – Polizeiliche und justizielle Zusammenarbeit in Strafsachen – Europäischer Haftbefehl – Rahmenbeschluss 2002/584/JI – Art. 6 Abs. 1 – Begriff ‚ausstellende Justizbehörde‘ – Kriterien – Von der Staatsanwaltschaft eines Mitgliedstaats zur Vollstreckung einer Strafe ausgestellter Europäischer Haftbefehl“

Polizeiliche Zusammenarbeit – Justizielle Zusammenarbeit in Strafsachen – Rahmenbeschluss über den Europäischen Haftbefehl und die Übergabeverfahren zwischen den Mitgliedstaaten – Erlass eines Europäischen Haftbefehls zur Vollstreckung einer Strafe – Zuständigkeit, die einer Behörde übertragen wird, die kein Gericht dieses Mitgliedstaats ist und an der Strafrechtspflege dieses Mitgliedstaats mitwirkt – Beachtung der Anforderungen eines wirksamen gerichtlichen Rechtsschutzes – Pflicht, eine gerichtliche Kontrolle der Voraussetzungen für die Ausstellung eines Europäischen Haftbefehls vorzusehen – Bedeutung – Pflicht, einen gesonderten Rechtsbehelf gegen die Entscheidung über den Erlass des Europäischen Haftbefehls vorzusehen – Fehlen

(Rahmenbeschluss 2002/584 des Rates in der durch den Rahmenbeschluss 2009/299 geänderten Fassung)

(vgl. Rn. 29-39)

Zusammenfassung

Der Gerichtshof ist der Auffassung, dass die französische, die schwedische und die belgische Staatsanwaltschaft den Anforderungen genügen, die für den Erlass eines Europäischen Haftbefehls verlangt werden, und stellt auch den Umfang des gerichtlichen Schutzes klar, der von einem solchen Haftbefehl betroffenen Personen zugutekommt

In den Urteilen Parquet général du Grand-Duché de Luxembourg und Openbaar Ministerie (Staatsanwaltschaften Lyon und Tours) (C‑566/19 PPU und C‑626/19 PPU), Openbaar Ministerie (Staatsanwaltschaft Schweden) (C‑625/19 PPU) und Openbaar Ministerie (Prokurator des Königs Brüssel) (C‑627/19 PPU) vom 12. Dezember 2019 hat der Gerichtshof im Rahmen des Eilverfahrens seine jüngste Rechtsprechung(1) zum Rahmenbeschluss 2002/584 über den Europäischen Haftbefehl(2) durch Ausführungen zum Erfordernis der Unabhängigkeit der einen Europäischen Haftbefehl „ausstellenden Justizbehörde“ und zum Erfordernis des wirksamen gerichtlichen Rechtsschutzes, der den Personen sichergestellt werden muss, gegen die ein solcher Haftbefehl erlassen wird, vervollständigt.

In den Ausgangsverfahren waren Europäische Haftbefehle von der französischen (Rechtssachen C‑566/19 PPU und C‑626/19 PPU), der schwedischen (Rechtssache C 625/19 PPU) und der belgischen Staatsanwaltschaft (Rechtssache C‑627/19 PPU) erlassen worden, und zwar in den ersten drei Rechtssachen zur Strafverfolgung und im letztgenannten Fall zur Vollstreckung einer Strafe. Es stellte sich die Frage der Vollstreckung der Europäischen Haftbefehle, die u. a. von der Eigenschaft dieser jeweiligen Staatsanwaltschaften als „ausstellende Justizbehörde“ abhing.

Der Gerichtshof hat in einem ersten Schritt geprüft, ob der Status der französischen Staatsanwaltschaft ihr eine ausreichende Gewähr der Unabhängigkeit für den Erlass von Europäischen Haftbefehlen verschafft, und entschieden, dass dies der Fall ist.

Um zu diesem Schluss zu kommen, hat der Gerichtshof zunächst darauf hingewiesen, dass der Begriff „ausstellende Justizbehörde“ die Behörden eines Mitgliedstaats einschließen kann, die, ohne Richter oder Gerichte zu sein, an der Strafrechtspflege mitwirken und unabhängig handeln. Diese letztgenannte Voraussetzung verlangt, dass es Rechts- und Organisationsvorschriften gibt, mit denen sichergestellt werden kann, dass die betreffenden Behörden im Rahmen des Erlasses eines Europäischen Haftbefehls nicht in irgendeiner Weise Gefahr laufen, Anordnungen oder Einzelweisungen seitens der Exekutive unterworfen zu werden.

Was die Beamten der französischen Staatsanwaltschaft betrifft, genügen nach Ansicht des Gerichtshofs die vorgelegten Gesichtspunkte für den Nachweis, dass sie über die Befugnis verfügen, unabhängig – insbesondere in Bezug auf die Exekutive – die Notwendigkeit des Erlasses eines Europäischen Haftbefehls und seine Verhältnismäßigkeit zu beurteilen, und dass sie diese Befugnis in objektiver Weise unter Berücksichtigung aller be- und entlastenden Gesichtspunkte ausüben. Ihre Unabhängigkeit wird weder dadurch in Frage gestellt, dass sie mit der Strafverfolgung betraut sind, noch dadurch, dass der Justizminister ihnen allgemeine Weisungen auf dem Gebiet der Strafrechtspolitik erteilen kann, noch dadurch, dass sie der Leitung und Kontrolle ihrer Vorgesetzten, die selbst Mitglieder der Staatsanwaltschaft sind, unterliegen und verpflichtet sind, deren Anweisungen zu folgen.

In einem zweiten Schritt hat der Gerichtshof das in seiner jüngeren Rechtsprechung aufgestellte Erfordernis präzisiert, wonach gegen die Entscheidung, einen Europäischen Haftbefehl zu erlassen, im Ausstellungsmitgliedstaat ein Rechtsbehelf eingelegt werden können muss, der die Anforderungen an einen wirksamen gerichtlichen Rechtsschutz beachtet, wenn die Entscheidung von einer Behörde getroffen wird, die an der Rechtspflege mitwirkt, aber kein Gericht ist.

Erstens hat der Gerichtshof hervorgehoben, dass das Vorliegen eines solchen Rechtsbehelfs keine Voraussetzung dafür darstellt, dass die Behörde als ausstellende Justizbehörde angesehen werden kann.

Zweitens hat der Gerichtshof ausgeführt, dass es Sache der Mitgliedstaaten ist, darauf zu achten, dass ihre Rechtsordnungen das geforderte Rechtsschutzniveau mittels von ihnen umgesetzten Verfahrensregeln, die von System zu System unterschiedlich sein können, wirksam garantieren. Die Einrichtung eines gesonderten Rechtsbehelfs gegen die Entscheidung, einen Europäischen Haftbefehl zu erlassen, stellt nur eine Möglichkeit dar. Daher hat der Gerichtshof entschieden, dass die einem wirksamen gerichtlichen Rechtsschutz innewohnenden Anforderungen, die einer Person zugutekommen müssen, gegen die von einer anderen Behörde als einem Gericht ein Europäischer Haftbefehl zur Strafverfolgung erlassen wurde, erfüllt sind, wenn die Voraussetzungen für die Ausstellung dieses Haftbefehls und insbesondere seine Verhältnismäßigkeit im Ausstellungsmitgliedstaat gerichtlich geprüft werden.

Im vorliegenden Fall erfüllen das französische und das schwedische System diese Anforderungen, da die nationalen Verfahrensregeln die Feststellung erlauben, dass die Verhältnismäßigkeit der Entscheidung der Staatsanwaltschaft, einen Europäischen Haftbefehl zu erlassen, Gegenstand einer gerichtlichen Kontrolle vor oder sogar fast zeitgleich zum Erlass dieser Entscheidung, aber auch danach sein kann. Insbesondere wird eine solche Prüfung u. a. vorher von dem Gericht vorgenommen, das die nationale Entscheidung erlässt, auf die in der Folge der Europäische Haftbefehl gestützt werden kann.

Für den Fall, dass der Europäische Haftbefehl von der Staatsanwaltschaft nicht zur Strafverfolgung, sondern zur Vollstreckung einer mit rechtskräftigem Urteil verhängten Freiheitsstrafe erlassen wird, hat der Gerichtshof entschieden, dass die Anforderungen, die sich aus einem wirksamen gerichtlichen Rechtsschutz ergeben, auch nicht verlangen, dass ein gesonderter Rechtsbehelf gegen die Entscheidung der Staatsanwaltschaft vorgesehen ist. Das belgische System, das einen solchen Rechtsbehelf nicht vorsieht, genügt daher auch diesen Anforderungen. Hierzu hat der Gerichtshof hervorgehoben, dass, wenn der Europäische Haftbefehl auf die Vollstreckung einer Strafe gerichtet ist, die gerichtliche Kontrolle durch das vollstreckbare Urteil ausgeübt wird, auf das dieser Haftbefehl gestützt ist. Die Vollstreckungsbehörde kann nämlich annehmen, dass die Entscheidung, einen Europäischen Haftbefehl zu erlassen, in einem gerichtlichen Verfahren getroffen wird, in dem die gesuchte Person Garantien in Bezug auf den Schutz ihrer Grundrechte erhalten hat. Zudem ergibt sich die Verhältnismäßigkeit dieses Haftbefehls auch aus der Verurteilung, da der Rahmenbeschluss über den Europäischen Haftbefehl vorsieht, dass diese in einer Strafe oder einer Maßregel der Sicherung, deren Maß mindestens vier Monate beträgt, bestehen muss.


1      Vgl. u. a. Urteile vom 27. Mai 2019, OG und PI (Staatsanwaltschaften Lübeck und Zwickau) (C‑508/18 und C‑82/19 PPU, EU:C:2019:456), vom 27. Mai 2019, PF (Generalstaatsanwalt von Litauen) (C‑509/18, EU:C:2019:457), sowie vom 9. Oktober 2019, NJ (Staatsanwaltschaft Wien) (C‑489/19 PPU, EU:C:2019:849).


2      Rahmenbeschluss 2002/584/JI des Rates vom 13. Juni 2002 über den Europäischen Haftbefehl und die Übergabeverfahren zwischen den Mitgliedstaaten (ABl. 2002, L 190, S. 1) in der durch den Rahmenbeschluss 2009/299/JI des Rates vom 26. Februar 2009 (ABl. 2009, L 81, S. 24) geänderten Fassung.