Language of document : ECLI:EU:C:2007:543

SCHLUSSANTRÄGE DER GENERALANWÄLTIN

JUliane Kokott

vom 20. September 2007(1)

Rechtssache C‑435/06

C

(Vorabentscheidungsersuchen des Korkein Hallinto-oikeus, Finnland)

„Justizielle Zusammenarbeit in Zivilsachen – Zuständigkeit und Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in Ehesachen und in Verfahren betreffend die elterliche Verantwortung – Verordnung (EG) Nr. 2201/2003 – Anwendungsbereich – Begriff der Zivilsache – Inobhutnahme und Unterbringung von Kindern“





I –    Einleitung

1.        In Finnland und Schweden werden Maßnahmen wie die Inobhutnahme und die Unterbringung in einer Pflegefamilie oder einem Heim, die Behörden zum Schutz von Kindern gegen den Willen ihrer Eltern veranlassen, als öffentlich-rechtliche Akte angesehen. Gegen diese Maßnahmen ist der Rechtsweg zu den Verwaltungsgerichten eröffnet. Zwischen den nordischen Staaten besteht eine Verwaltungskooperation, die die Überstellung von Kindern von einem Staat in einen anderen zur Vollstreckung dieser Entscheidungen über die elterliche Verantwortung ohne Förmlichkeiten ermöglicht.

2.        Im Ausgangsverfahren wendet sich Frau C gegen die (bereits durchgeführte) Überstellung ihrer beiden Kinder durch die finnischen Polizeibehörden an die schwedischen Behörden, die die Inobhutnahme und die Unterbringung der Kinder in Schweden, dem früheren Aufenthaltsstaat der Familie, angeordnet hatten.

3.        Der mit dem Rechtsstreit befasste Korkein Hallinto-oikeus (oberstes Verwaltungsgericht Finnlands) fragt mit dem vorliegenden Ersuchen, ob die Verordnung (EG) Nr. 2201/2003 des Rates vom 27. November 2003 über die Zuständigkeit und die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in Ehesachen und in Verfahren betreffend die elterliche Verantwortung und zur Aufhebung der Verordnung (EG) Nr. 1347/2000(2) auf die Anerkennung und Vollstreckung der Entscheidung über die Inobhutnahme und Unterbringung anwendbar ist. In diesem Fall wären in Finnland nicht die Verwaltungsgerichte, sondern die ordentlichen Gerichte zuständig. Außerdem würden die Verfahrensbestimmungen der Verordnung die im Rahmen der Verwaltungskooperation anwendbaren innerstaatlichen Bestimmungen verdrängen.

4.        Die Antwort hängt in erster Linie davon ab, ob der Begriff der Zivilsache in Art. 1 der Verordnung auch Sachverhalte wie den vorliegenden einschließt, die nach innerstaatlichem Recht als öffentlich-rechtliche Streitigkeit eingeordnet werden.

II – Rechtlicher Rahmen

A –    Gemeinschaftsrecht

5.        In die Schlussakte zum Vertrag über den Beitritt von Österreich, Finnland und Schweden haben die Vertragsparteien folgende gemeinsame Erklärung Nr. 28 zur nordischen Zusammenarbeit(3) aufgenommen:

„Die Vertragsparteien stellen fest, dass Schweden, Finnland und Norwegen als Mitglieder der Europäischen Union beabsichtigen, die zwischen ihnen sowie mit anderen Ländern und Gebieten bestehende nordische Zusammenarbeit in völligem Einklang mit dem Gemeinschaftsrecht und den sonstigen Bestimmungen des Vertrags über die Europäische Union weiterzuführen.“

6.        Im fünften und zehnten Erwägungsgrund der Verordnung Nr. 2201/2003 werden die hier interessierenden Regelungen für Entscheidungen über die elterliche Verantwortung wie folgt begründet:

„(5)  Um die Gleichbehandlung aller Kinder sicherzustellen, gilt diese Verordnung für alle Entscheidungen über die elterliche Verantwortung, einschließlich der Maßnahmen zum Schutz des Kindes, ohne Rücksicht darauf, ob eine Verbindung zu einem Verfahren in Ehesachen besteht.

(10)      Diese Verordnung soll weder für Bereiche wie die soziale Sicherheit oder Maßnahmen allgemeiner Art des öffentlichen Rechts in Angelegenheiten der Erziehung und Gesundheit noch für Entscheidungen über Asylrecht und Einwanderung gelten. Außerdem gilt sie weder für die Feststellung des Eltern-Kind-Verhältnisses, bei der es sich um eine von der Übertragung der elterlichen Verantwortung gesonderte Frage handelt, noch für sonstige Fragen im Zusammenhang mit dem Personenstand. Sie gilt ferner nicht für Maßnahmen, die im Anschluss an von Kindern begangenen Straftaten ergriffen werden.“

7.        Folgende auszugsweise wiedergegebenen Bestimmungen der Verordnung Nr. 2201/2003 sind für die vorliegende Rechtssache von Belang:

Artikel 1

Anwendungsbereich


(1) Diese Verordnung gilt, ungeachtet der Art der Gerichtsbarkeit, für Zivilsachen mit folgendem Gegenstand:

b)      die Zuweisung, die Ausübung, die Übertragung sowie die vollständige oder teilweise Entziehung der elterlichen Verantwortung.

(2)      Die in Absatz 1 Buchstabe b) genannten Zivilsachen betreffen insbesondere:

a)      das Sorgerecht und das Umgangsrecht,

b)       die Vormundschaft, die Pflegschaft und entsprechende Rechtsinstitute,

c)      die Bestimmung und den Aufgabenbereich jeder Person oder Stelle, die für die Person oder das Vermögen des Kindes verantwortlich ist, es vertritt oder ihm beisteht,

d)      die Unterbringung des Kindes in einer Pflegefamilie oder einem Heim,

e)      die Maßnahmen zum Schutz des Kindes im Zusammenhang mit der Verwaltung und Erhaltung seines Vermögens oder der Verfügung darüber.

(3) Diese Verordnung gilt nicht für

a)       die Feststellung und die Anfechtung des Eltern-Kind-Verhältnisses,

b)      Adoptionsentscheidungen und Maßnahmen zur Vorbereitung einer Adoption sowie die Ungültigerklärung und den Widerruf der Adoption,

c)      Namen und Vornamen des Kindes,

d)      die Volljährigkeitserklärung,

e)      Unterhaltspflichten,

f)      Trusts und Erbschaften,

g)      Maßnahmen infolge von Straftaten, die von Kindern begangen wurden.“

Artikel 2

Begriffsbestimmungen


Für die Zwecke dieser Verordnung bezeichnet der Ausdruck

1.      ‚Gericht‘ alle Behörden der Mitgliedstaaten, die für Rechtssachen zuständig sind, die gemäß Artikel 1 in den Anwendungsbereich dieser Verordnung fallen;

7.      ‚elterliche Verantwortung‘ die gesamten Rechte und Pflichten, die einer natürlichen oder juristischen Person durch Entscheidung oder kraft Gesetzes oder durch eine rechtlich verbindliche Vereinbarung betreffend die Person oder das Vermögen eines Kindes übertragen wurden. Elterliche Verantwortung umfasst insbesondere das Sorge- und das Umgangsrecht;

9.      ‚Sorgerecht‘ die Rechte und Pflichten, die mit der Sorge für die Person eines Kindes verbunden sind, insbesondere das Recht auf die Bestimmung des Aufenthaltsortes des Kindes;

…“

Artikel 8

Allgemeine Zuständigkeit


(1) Für Entscheidungen, die die elterliche Verantwortung betreffen, sind die Gerichte des Mitgliedstaats zuständig, in dem das Kind zum Zeitpunkt der Antragstellung seinen gewöhnlichen Aufenthalt hat.

…“

Artikel 16

Anrufung eines Gerichts


(1) Ein Gericht gilt als angerufen

a)       zu dem Zeitpunkt, zu dem das verfahrenseinleitende Schriftstück oder ein gleichwertiges Schriftstück bei Gericht eingereicht wurde, vorausgesetzt, dass der Antragsteller es in der Folge nicht versäumt hat, die ihm obliegenden Maßnahmen zu treffen, um die Zustellung des Schriftstücks an den Antragsgegner zu bewirken,

oder

b)      falls die Zustellung an den Antragsgegner vor Einreichung des Schriftstücks bei Gericht zu bewirken ist, zu dem Zeitpunkt, zu dem die für die Zustellung verantwortliche Stelle das Schriftstück erhalten hat, vorausgesetzt, dass der Antragsteller es in der Folge nicht versäumt hat, die ihm obliegenden Maßnahmen zu treffen, um das Schriftstück bei Gericht einzureichen.“

Artikel 21

Anerkennung einer Entscheidung

(1) Die in einem Mitgliedstaat ergangenen Entscheidungen werden in den anderen Mitgliedstaaten anerkannt, ohne dass es hierfür eines besonderen Verfahrens bedarf.

(3) Unbeschadet des Abschnitts 4 kann jede Partei, die ein Interesse hat, gemäß den Verfahren des Abschnitts 2 eine Entscheidung über die Anerkennung oder Nichtanerkennung der Entscheidung beantragen.

Das örtlich zuständige Gericht, das in der Liste aufgeführt ist, die jeder Mitgliedstaat der Kommission gemäß Artikel 68 mitteilt, wird durch das nationale Recht des Mitgliedstaats bestimmt, in dem der Antrag auf Anerkennung oder Nichtanerkennung gestellt wird.

…“

Artikel 28

Vollstreckbare Entscheidungen


(1) Die in einem Mitgliedstaat ergangenen Entscheidungen über die elterliche Verantwortung für ein Kind, die in diesem Mitgliedstaat vollstreckbar sind und die zugestellt worden sind, werden in einem anderen Mitgliedstaat vollstreckt, wenn sie dort auf Antrag einer berechtigten Partei für vollstreckbar erklärt wurden.

…“

Artikel 29

Örtlich zuständiges Gericht


(1) Ein Antrag auf Vollstreckbarerklärung ist bei dem Gericht zu stellen, das in der Liste aufgeführt ist, die jeder Mitgliedstaat der Kommission gemäß Artikel 68 mitteilt.

…“

Artikel 59

Verhältnis zu anderen Rechtsinstrumenten


(1) Unbeschadet der Artikel 60, 61, 62 und des Absatzes 2 des vorliegenden Artikels ersetzt diese Verordnung die zum Zeitpunkt des Inkrafttretens dieser Verordnung bestehenden, zwischen zwei oder mehr Mitgliedstaaten geschlossenen Übereinkünfte, die in dieser Verordnung geregelte Bereiche betreffen.

(2) a)  Finnland und Schweden können erklären, dass das Übereinkommen vom 6. Februar 1931 zwischen Dänemark, Finnland, Island, Norwegen und Schweden mit Bestimmungen des internationalen Verfahrensrecht über Ehe, Adoption und Vormundschaft einschließlich des Schlussprotokolls anstelle dieser Verordnung ganz oder teilweise auf ihre gegenseitigen Beziehungen anwendbar ist. Diese Erklärungen werden dieser Verordnung als Anhang beigefügt und im Amtsblatt der Europäischen Union veröffentlicht. Die betreffenden Mitgliedstaaten können ihre Erklärung jederzeit ganz oder teilweise widerrufen.

…“

Artikel 64


(1) Diese Verordnung gilt nur für gerichtliche Verfahren, öffentliche Urkunden und Vereinbarungen zwischen den Parteien, die nach Beginn der Anwendung dieser Verordnung gemäß Artikel 72 eingeleitet, aufgenommen oder getroffen wurden.

(2) Entscheidungen, die nach Beginn der Anwendung dieser Verordnung in Verfahren ergangen sind, die vor Beginn der Anwendung dieser Verordnung, aber nach Inkrafttreten der Verordnung (EG) Nr. 1347/2000 eingeleitet wurden, werden nach Maßgabe des Kapitels III der vorliegenden Verordnung anerkannt und vollstreckt, sofern das Gericht aufgrund von Vorschriften zuständig war, die mit den Zuständigkeitsvorschriften des Kapitels II der vorliegenden Verordnung oder der Verordnung (EG) Nr. 1347/2000 oder eines Abkommens übereinstimmen, das zum Zeitpunkt der Einleitung des Verfahrens zwischen dem Ursprungsmitgliedstaat und dem ersuchten Mitgliedstaat in Kraft war.

…“

Artikel 72

In-Kraft-Treten


Diese Verordnung tritt am 1. August 2004 in Kraft.

Sie gilt ab 1. März 2005 mit Ausnahme der Artikel 67, 68, 69 und 70, die ab dem 1. August 2004 gelten.“

8.        In der Liste nach Art. 68 der Verordnung Nr. 2201/2003(4), auf die die Art. 21 Abs. 3 und 29 Abs. 1 Bezug nehmen, ist als zuständiges Gericht für die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen der Behörden eines anderen Mitgliedstaats in Finnland das Käräjäoikeus/Tingsrätt(Amtsgericht) aufgeführt.

B –    Innerstaatliches Recht

1.      Finnisches Recht

9.        Das Lastensuojelulaki (finnisches Kinderschutzgesetz) (683/1983) sieht vor, dass der Sozialausschuss der Gemeinde bei Gefahren für das Wohl eines Kindes unverzüglich Hilfsmaßnahmen treffen kann. Ein entsprechender Beschluss kann die Entscheidungen über die Inobhutnahme und über die Unterbringung zwecks einer Betreuung außerhalb der Familie umfassen. Eine gegen den Willen der Eltern durchgeführte Inobhutnahme ist dem Hallinto-oikeus (Verwaltungsgericht) zur Bestätigung zu unterbreiten. Die Inobhutnahme kann beim Hallinto-oikeus und dann weiter beim Korkein Hallinto-oikeus angefochten werden.

10.      Nach § 1 Abs. 1 des Gesetzes (761/1970) über die Überstellung nach Island, Norwegen, Schweden oder Dänemark zur Vollstreckung von Entscheidungen über die Betreuung oder Behandlung kann, wer aufgrund einer Entscheidung der isländischen, norwegischen, schwedischen oder dänischen Behörden betreut oder behandelt werden soll, nach diesem Gesetz auf Antrag zur Vollstreckung dieser Entscheidung von Finnland in den betreffenden Staat ausgeliefert werden. Das Gesetz 761/1970 beruht auf Vereinbarungen der nordischen Länder, die jedoch nicht in völkerrechtlich verbindlicher Form getroffen wurden.

11.      Nach § 2 des Gesetzes 761/1970 darf die Überstellung nur bewilligt werden, wenn der Antrag sich auf eine Entscheidung nach bestimmten Vorschriften des betreffenden Staates gründet, u. a. auf die Bestimmungen über die Kinder- und Jugendhilfe, wenn die Person, die überstellt werden soll, gemäß der Entscheidung in eine Einrichtung aufgenommen werden oder dort bleiben oder aber an einem ihr besonders zugewiesenen Ort verbleiben soll und wenn die Entscheidung in dem Staat, in dem sie erlassen worden ist, vollstreckbar ist. Nach § 3 des Gesetzes ist die Überstellung eines finnischen Staatsangehörigen darüber hinaus nur zulässig, wenn er seinen Wohnsitz in dem Staat hat, in dem die Entscheidung ergeht, wenn die Entscheidung auf eine Betreuung oder Behandlung gerichtet ist und wenn der Betroffene am zweckmäßigsten in diesem Staat betreut oder behandelt wird. Eine nach diesem Gesetz erlassene Entscheidung kann gemäß § 11 Abs. 1 des Gesetzes vor dem Hallinto-oikeus angefochten werden, gegen dessen Entscheidung ein Rechtsmittel zum Korkein Hallinto-oikeus eingelegt werden kann

12.      § 1 des Gesetzes (1153/2004) vom 21.12.2004 zur Durchführung der Verordnung Nr. 2201/2003 regelt ergänzende Maßnahmen zur Durchführung der Verordnung in Finnland. Nach § 2 Abs. 1 des Gesetzes ist das zuständige Gericht im Sinne der Artikel 21 Abs. 3 und 29 Abs. 1 der Verordnung Nr. 2201/2003 in Finnland das Käräjäoikeus (Amtsgericht).

2.      Schwedisches Recht

13.      Das schwedische Gesetz über besondere Bestimmungen zum Schutz Minderjähriger (1990:52) (lag med sarskilda bestammelser om vard av unga) regelt Schutzmaßnahmen für Kinder wie ihre Inobhutnahme und Unterbringung gegen den Willen der Eltern. Bei Gefahren für das Kindeswohl kann der Sozialausschuss der Gemeinde danach entsprechende Maßnahmen beim Länsrätt (Verwaltungsgericht) beantragen. In Eilfällen kann der Sozialausschuss auch zunächst selbst Schutzmaßnahmen anordnen, die nachträglich vom Länsrätt zu genehmigen sind. Eine Schutzmaßnahme nach dem Gesetz 1990:52 ist nicht mit der vollständigen Entziehung des Sorgerechts verbunden.

III – Sachverhalt und Vorlagefragen

14.      Frau C, die Klägerin und Rechtsmittelführerin im Ausgangsrechtsstreit, ist Mutter zweier minderjähriger Kinder, die beide die finnische und eines von ihnen außerdem die schwedische Staatsangehörigkeit besitzen. Die Klägerin lebte zunächst mit ihrem Ehemann und den Kindern in Schweden. Aufgrund von Ermittlungen, die die schwedischen Sozialbehörden im Herbst 2004 eingeleitet hatten, ordnete der Sozialausschuss der Wohnortgemeinde der Familie am 23. Februar 2005 die sofortige Inobhutnahme und die Unterbringung der beiden Kinder an. Am 25. Februar 2005 legte der Sozialausschuss seine Entscheidung über die sofortige Inobhutnahme dem Länsrätt vor, das die Entscheidung am 3. März 2005 bestätigte. Die Rechtsmittel von Frau C gegen die Entscheidung des Länsrätt blieben ohne Erfolg. Insbesondere bestätigte das Regeringsrätt in letzter Instanz die Zuständigkeit der schwedischen Gerichte.

15.      Am 1. März 2005 war die Klägerin aber bereits mit ihren Kindern nach Finnland umgezogen und hatte sich am 2. März 2005 dort angemeldet. Die finnischen Meldebehörden trugen den Wohnortwechsel am 10. März 2005 rückwirkend zum 1. März 2005 in das Melderegister ein.

16.      Am 3. März 2005 ersuchte die schwedische Polizeidienststelle die finnische Polizeidienststelle am neuen Aufenthaltsort der Kinder in Finnland um Amtshilfe bei der Vollstreckung ihrer Entscheidung. Mit Bescheid vom 8. März 2005 ordnete die ersuchte Polizeidienststelle an, die Kinder in Obhut zu nehmen und den schwedischen Sozialbehörden zu übergeben.

17.      Nach erfolgloser Klage vor dem Hallinto-oikeus gegen die Durchführung der Maßnahmen durch die finnischen Behörden legte Frau C Rechtsmittel beim Korkein Hallinto-oikeus ein. Sie beantragt, den Beschluss des Hallinto-oikeus sowie den Bescheid der Polizeidienststelle aufzuheben und die beiden Kinder nach Finnland zurückzubringen. Der Korkein Hallinto-oikeus hat mit Beschluss vom 13. Oktober 2006 folgende Fragen zur Vorabentscheidung gemäß Art. 234 EG und Art. 68 EG vorgelegt:

1.       a) Ist die Verordnung (EG) Nr. 2201/2003 des Rates über die Zuständigkeit und die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in Ehesachen und in Verfahren betreffend die elterliche Verantwortung und zur Aufhebung der Verordnung (EG) Nr. 1347/2000 … auf die Vollstreckung einer Entscheidung in allen ihren Teilen, wie sie hier vorliegt, anwendbar, wenn diese Entscheidung in Form eines einzigen Beschlusses über die sofortige Inobhutnahme und die Unterbringung eines Kindes außerhalb der eigenen Familie in einer Pflegefamilie im Rahmen des dem öffentlichen Recht unterliegenden Kindesschutzes ergangen ist,

b) oder ist die Verordnung angesichts ihres Art. 1 Abs. 2 Buchst. d nur auf den Teil des Beschlusses anwendbar, der die Unterbringung außerhalb der eigenen Familie in einer Pflegefamilie betrifft,

c) und ist im letztgenannten Fall die Verordnung Nr. 2201/2003 auf die Entscheidung über die Unterbringung, die Bestandteil des Beschlusses über die Inobhutnahme ist, anwendbar, auch wenn der Beschluss über die Inobhutnahme selbst, von der die Entscheidung über die Unterbringung abhängt, den Rechtsvorschriften der betroffenen Mitgliedstaaten unterliegen würde, die die gegenseitige Anerkennung und Vollstreckung von Urteilen und Verwaltungsentscheidungen betreffen und in Form einer Zusammenarbeit harmonisiert sind?

2.       Ist es, wenn die Frage 1a) bejaht wird, angesichts der Tatsache, dass diese auf Betreiben des Rates der nordischen Länder harmonisierten Rechtsvorschriften über die Anerkennung und Vollstreckung der dem öffentlichen Recht unterliegenden Betreuungsentscheidungen in der Verordnung nicht berücksichtigt werden, sondern nur das entsprechende, auf dem Gebiet des Zivilrechts erlassene Abkommen, dennoch möglich, die vorgenannten harmonisierten Rechtsvorschriften, die sich auf die unmittelbare Vollstreckung und Anerkennung von Verwaltungsentscheidungen in Form der Zusammenarbeit der Verwaltungsbehörden gründen, auf die Inobhutnahme eines Kindes anzuwenden?

3.       Ist die Verordnung Nr. 2201/2003, wenn die Frage 1a zu bejahen und die Frage 2 zu verneinen ist, in zeitlicher Hinsicht auf eine Rechtssache anwendbar, wenn die Artikel 72 und 64 Absatz 2 der Verordnung sowie die genannten harmonisierten Rechtsvorschriften der nordischen Länder über die dem öffentlichen Recht unterliegenden Unterbringungsentscheidungen Berücksichtigung finden und davon auszugehen ist, dass die schwedischen Behörden ihre Entscheidungen sowohl über die sofortige Inobhutnahme als auch über die Unterbringung in einer Familie am 23.2.2005 getroffen haben, ihre Entscheidung über die sofortige Inobhutnahme dem Länsrätt am 25.2.2005 zur Bestätigung vorgelegt haben und dieses Gericht aufgrund dieser Vorlage die Entscheidung am 3.3.2005 bestätigt hat?

18.      Im Verfahren vor dem Gerichtshof haben die deutsche, die französische, die niederländische, die slowakische, die finnische und die schwedische Regierung sowie die Kommission der Europäischen Gemeinschaften schriftlich Stellung genommen.

IV – Rechtliche Würdigung

A –    Zur ersten Vorlagefrage

19.      Mit der ersten Frage möchte das vorlegende Gericht wissen, ob die Verordnung Nr. 2201/2003 auf die Entscheidung einer Behörde, mit der die Inobhutnahme eines Kindes und seine Unterbringung außerhalb der eigenen Familie angeordnet wird, insgesamt anwendbar ist (Unterfrage 1 a) oder nur auf den Teil der Entscheidung, der die Unterbringung anordnet (Unterfrage 1 b). Mit der Unterfrage 1 c soll geklärt werden, welche Folgen es für die Anwendung der Verordnung auf die Unterbringungsentscheidung hat, wenn die Verordnung nur für sie nicht aber für die damit eng verknüpfte Inobhutnahme gilt.

20.      Nur die schwedische Regierung vertritt die Auffassung, dass die Verordnung insgesamt keine Anwendung finde, weil die streitigen Maßnahmen keine Zivilsachen seien, sondern öffentlich-rechtlichen Charakter besäßen. Alle anderen Verfahrensbeteiligten, einschließlich der finnischen Regierung, halten die Verordnung dagegen für anwendbar und betonen, dass der Begriff der Zivilsache ein autonomer Begriff des Gemeinschaftsrechts sei. Es stehe der Anwendung der Verordnung daher nicht entgegen, wenn ein Sachverhalt in einem Mitgliedstaat dem öffentlichen Recht unterfalle.

21.      Gemäß ihrem Art. 1 Abs. 1 Buchst. b gilt die Verordnung Nr. 2201/2003, ungeachtet der Gerichtsbarkeit, für Zivilsachen, die die Zuweisung, die Ausübung, die Übertragung sowie die vollständige oder teilweise Entziehung der elterlichen Verantwortung betreffen. Zu prüfen ist folglich zum einen, ob die Inobhutnahme und die Unterbringung von Kindern durch staatliche Behörden als Maßnahmen zur Regelung der elterlichen Verantwortung anzusehen sind. Zum anderen ist zu klären, ob es sich um eine Zivilsache handelt.

1.      Maßnahmen betreffend die elterliche Verantwortung

22.      Die elterliche Verantwortung bildet einen zentralen Begriff für die Bestimmung des sachlichen Anwendungsbereichs der Verordnung Nr. 2201/2003. Art. 2 Nr. 7 definiert sie als die gesamten Rechte und Pflichten, die einer natürlichen oder juristischen Person durch Entscheidung oder kraft Gesetzes oder durch eine rechtlich verbindliche Vereinbarung betreffend die Person oder das Vermögen eines Kindes übertragen wurden. Die elterliche Verantwortung umfasst insbesondere das Sorge- und das Umgangsrecht. Gemäß Art. 2 Nr. 9 beinhaltet das Sorgerecht die Rechte und Pflichten, die mit der Sorge für die Person eines Kindes verbunden sind, insbesondere das Recht auf die Bestimmung des Aufenthaltsortes des Kindes.

23.      Die abstrakte Definition der in den Anwendungsbereich fallenden Entscheidungen in Art. 1 Abs. 1 Buchst. b der Verordnung Nr. 2201/2003 wird durch zwei katalogartige Aufzählungen in Art. 1 Abs. 2 und 3 konkretisiert. Absatz 2 führt Bereiche bzw. Maßnahmen auf, auf die die Verordnung anwendbar ist. Diese Aufzählung ist nicht abschließend, wie sich aus ihrer Einleitung mit der Formulierung „insbesondere“ ergibt.(5) Absatz 3 nennt demgegenüber abschließend einige Bereiche, die aus dem Anwendungsbereich der Verordnung ausgeschlossen sind.

24.      Nach Art. 1 Abs. 2 Buchst. d zählt die Unterbringung eines Kindes in einer Pflegefamilie oder einem Heim zu den Zivilsachen, die in den Anwendungsbereich der Verordnung fallen.

25.      Die Inobhutnahme eines Kindes erwähnt Art. 1 Abs. 2 dagegen nicht ausdrücklich. Die an dem Verfahren beteiligten Mitgliedstaaten mit Ausnahme Schwedens sind aber der Ansicht, dass die Inobhutnahme eine die elterliche Sorge betreffende Entscheidung darstellt, die nach den Bestimmungen der Verordnung anzuerkennen und zu vollstrecken ist. Die Kommission scheint die Inobhutnahme dagegen für eine bloße Vollstreckungshandlung zu halten, die der Durchsetzung der Unterbringung dient. Für das Vollstreckungsverfahren sei gemäß Art. 47 Abs. 1 der Verordnung aber allein das Recht des Vollstreckungsmitgliedstaats maßgebend.

26.      Die abschließende Bestimmung des Charakters der Inobhutnahme obliegt dem vorlegenden Gericht. Dieses geht in seiner Vorlageentscheidung anders als die Kommission offenbar davon aus, dass die Inobhutnahme und die Unterbringung zwei – wenn auch in einem Bescheid zusammengefasste – Anordnungen darstellen, die möglicherweise sogar unabhängig von einander anerkannt und vollstreckt werden können.

27.      Wenn diese Qualifikation der Inobhutnahme als zu vollstreckende Anordnung zutrifft, so richtet sich die Anerkennung und Vollstreckung – vorbehaltlich der noch zu prüfenden Einordnung als Zivilsache – nach der Verordnung Nr. 2201/2003. Wie die deutsche Regierung zutreffend ausführt, wird den Eltern durch diese staatliche Maßnahme nämlich die Möglichkeit genommen, ihr Sorgerecht im Sinne von Art. 2 Nr. 9 auszuüben. Sie können die Rechte und Pflichten, die mit der Sorge für die Person der Kinder verbunden sind, insbesondere das Recht auf die Bestimmung ihres Aufenthaltsortes, nicht mehr allein wahrnehmen. Die Inobhutnahme ist daher ebenso wie die Unterbringung als eine das Sorgerecht und damit die elterliche Verantwortung betreffende Maßnahme einzuordnen.

28.      Wie die deutsche und die französische Regierung im Übrigen zu Recht betonen, stehen Inobhutnahme und Unterbringung in einem sehr engen Zusammenhang, so dass sie in manchen Rechtsordnungen gar keine getrennten Entscheidungen darstellen. Eine Inobhutnahme kann höchstens als einstweilige Maßnahme isoliert ergehen. Im Allgemeinen bildet sie aber eine Begleitmaßnahme für die Unterbringung des Kindes in einer Pflegefamilie oder einem Heim. Die Unterbringung eines Kindes gegen den Willen der Eltern kann ihrerseits nur durchgeführt werden, wenn die Behörde das Kind zuvor in Obhut nimmt. Es würde daher zu erheblichen praktischen Schwierigkeiten führen, wenn der Anwendungsbereich der Verordnung allein die Unterbringung aber nicht die Inobhutnahme einschlösse. So könnte etwa die gerichtliche Zuständigkeit für die Anordnung dieser eng miteinander verbundenen Maßnahmen auseinander fallen, wenn sie sich teils nach nationalem Recht und teils nach der Verordnung Nr. 2201/2003 richtete.

29.      Nach Ansicht der schwedischen Regierung sind staatliche Schutzmaßnahmen jedoch keine Maßnahmen der elterlichen Verantwortung, da diese im öffentlichen Interesse ergriffen würden und nicht zu einer Übertragung des Sorgerechts auf die Behörden führten.

30.      Aus Art. 1 Abs. 1 Buchst. b folgt, dass der Verordnung Nr. 2201/2003 ein weiter Begriff der Entscheidungen über die elterliche Verantwortung zugrunde liegt. Sie gilt nicht nur für die Übertragung oder Entziehung der elterlichen Verantwortung, sondern auch für Maßnahmen, die deren Ausübung betreffen. Auch wenn die Eltern nach schwedischem Recht durch die Inobhutnahme und die Unterbringung des Kindes das Sorgerecht formal nicht verlieren, so können sie jedoch wesentliche Aspekte davon nicht mehr ausüben.

31.      Das Urteil des IGH in der Rechtssache Niederlande/Schweden (Boll)(6), auf das Schweden verweist, führt nicht zu einer anderen Beurteilung. Die Entscheidung betrifft die Auslegung des Haager Abkommens zur Regelung der Vormundschaft über Minderjährige von 1902. Der IGH stellte darin fest, dass ein Staat, der nach diesem Abkommen nicht für die Regelung der Vormundschaft zuständig ist, dennoch nicht daran gehindert ist, Schutzmaßnahmen für das Kind zu ergreifen. Dieses Verständnis der Vormundschaft nach dem Haager Abkommen von 1902 lässt nicht den Schluss zu, dass die viel weiter gehende elterliche Verantwortung im Sinne der Verordnung Nr. 2201/2003 ebenfalls durch staatliche Schutzmaßnahmen unberührt bleibt.

32.      Die Inobhutnahme und die Unterbringung der Kinder sind somit Entscheidungen, die die elterliche Verantwortung betreffen.

2.      Zivilsache

33.      Fraglich ist aber, ob derartige Schutzmaßnahmen auch Zivilsachen im Sinne der Verordnung Nr. 2201/2003 darstellen. Alle Beteiligten sind sich darin einig, dass es sich dabei um einen autonomen gemeinschaftsrechtlichen Begriff handelt und verweisen insoweit auf die ständige Rechtsprechung zu dem Begriff der „Zivil- und Handelssache“ im Sinne des Brüsseler Übereinkommens(7).

34.      Nach Auffassung der schwedischen Regierung bilden staatliche Schutzmaßnahmen wie die Inobhutnahme und die Unterbringung aber – auch bei gemeinschaftsautonomem Verständnis – keine Zivilsachen, da sie von Behörden in Ausübung hoheitlicher Befugnisse angeordnet würden.

a)      Rechtsprechung zum Begriff der „Zivil- und Handelssache“ im Sinne des Brüsseler Übereinkommens

35.      Die Rechtsprechung zum Begriff der „Zivil- und Handelssache“ im Sinne des Brüsseler Übereinkommens nahm ihren Ausgang im Urteil LTU/Eurocontrol(8). Der Gerichtshof hat sie jüngst in seinem Urteil Lechouritou(9) wie folgt wiedergegeben:

„Da sichergestellt werden muss, dass sich aus dem Brüsseler Übereinkommen für die Vertragsstaaten und die betroffenen Personen so weit wie möglich gleiche und einheitliche Rechte und Pflichten ergeben, können die in dieser Bestimmung verwendeten Ausdrücke nicht als bloße Verweisung auf das innerstaatliche Recht des einen oder anderen beteiligten Staates verstanden werden. Nach ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofs ist der Begriff „Zivil- und Handelssachen“ daher als autonomer Begriff anzusehen, bei dessen Auslegung die Zielsetzungen und die Systematik des Brüsseler Übereinkommens sowie die allgemeinen Rechtsgrundsätze, die sich aus der Gesamtheit der nationalen Rechtsordnungen ergeben, berücksichtigt werden müssen …(10)

Nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs führt diese Auslegung dazu, dass bestimmte Klagen und gerichtliche Entscheidungen wegen der Natur der zwischen den Parteien bestehenden Rechtsbeziehungen oder wegen des Gegenstands des Rechtsstreits vom Anwendungsbereich des Brüsseler Übereinkommens ausgeschlossen sind …(11)

So können zwar bestimmte Verfahren, in denen sich eine Behörde und eine Privatperson gegenüberstehen, unter das Brüsseler Übereinkommen fallen, doch verhält es sich anders, wenn die Behörde einen Rechtsstreit im Zusammenhang mit der Ausübung hoheitlicher Befugnisse führt …(12)“

36.      Im Bezug auf die Verordnung Nr. 2201/2003 besteht das gleiche Bedürfnis nach einer einheitlichen Geltung wie für das Brüsseler Übereinkommen. Diese lässt sich auch hier nur durch eine autonome Auslegung des Begriffs der Zivilsache sicherstellen. Damit ist allerdings nicht gesagt, dass der autonome Begriff der Zivilsache in beiden Rechtsakten dieselbe Bedeutung hat.

37.      Davon geht jedoch die schwedische Regierung aus, indem sie die Abgrenzung der Zivilsache von öffentlich-rechtlichen Streitigkeiten, die der Gerichtshof in der zitierten Rechtsprechung zum Brüsseler Übereinkommen vorgenommen hat, auf den Begriff der Zivilsache im Sinne der Verordnung Nr. 2201/2003 übertragen will. Demnach läge hier keine Zivilsache vor, weil der Sozialausschuss in Ausübung hoheitlicher Befugnisse tätig wurde, als er die Inhobhutnahme und Unterbringung der Kinder anordnete und die Bestätigung der Inobhutnahme beim Länsrätt erwirkte.

38.      Dem kann jedoch nicht gefolgt werden. In seinen Entscheidungen zum Brüsseler Übereinkommen hat der Gerichtshof nämlich stets betont, dass die autonome Auslegung des Begriffs der Zivil- und Handelssache die Zielsetzungen und die Systematik des Brüsseler Übereinkommens sowie die allgemeinen Rechtsgrundsätze, die sich aus der Gesamtheit der nationalen Rechtsordnungen ergeben, berücksichtigt.(13) Dessen Zielsetzungen und Systematik und – wie ich hinzufügen möchte – dessen Entstehungsgeschichte stimmen jedoch nicht notwendigerweise mit der Zielsetzung, Systematik und Entstehungsgeschichte der Verordnung Nr. 2201/2003 überein. Auch gelten im Bereich der elterlichen Verantwortung möglicherweise andere allgemeine Rechtsgrundsätze als diejenigen, die sich für die Streitigkeiten im Anwendungsbereich des Brüsseler Übereinkommens in den nationalen Rechtsordnungen finden lassen. Vielmehr muss der Begriff der Zivilsache in der Verordnung Nr. 2201/2003 eigenständig im Regelungskontext dieser Verordnung interpretiert werden.

b)      Zum Begriff der Zivilsache im Regelungskontext der Verordnung Nr. 2201/2003

39.      Die Verordnung Nr. 2201/2003 definiert den Begriff der Zivilsache nicht ausdrücklich. Jedoch kann man aus der Formulierung in Art. 1 Abs. 1 zunächst schließen, dass es für die Qualifikation als Zivilsache nicht darauf ankommt, welcher Zweig der Gerichtsbarkeit für die Streitigkeit zuständig ist. Entscheidend ist allein die materiell-rechtliche Einordnung des Verfahrensgegenstands.(14)

40.      Des Weiteren gilt die Verordnung Nr. 2201/2003 gemäß Art. 1 Abs.1 Buchst. b u. a. für die vollständige oder teilweise Entziehung der elterlichen Verantwortung, die meist durch Behörden im Rahmen ihrer staatlichen Aufsicht angeordnet wird. Hinzu kommt, dass der Katalog in Art. 1 Abs. 2 konkrete Maßnahmen bzw. Regelungsbereiche als Zivilsache im Sinne der Verordnung definiert, die im Allgemeinen staatliche Schutzmaßnahmen bilden. Art. 1 Abs. 2 Buchst. d nennt etwa die Unterbringung des Kindes in einer Pflegefamilie oder einem Heim, die in der Regel auf staatliche Veranlassung erfolgt, weil das Wohl des Kindes bei einem Verbleib in der eigenen Familie gefährdet wäre. Ferner erwähnt Buchst. e Maßnahmen zum Schutz des Kindes im Zusammenhang mit der Verwaltung und Erhaltung seines Vermögens oder der Verfügung darüber.

41.      Würde man diese in dem Positivkatalog aufgeführten Maßnahmen gleichwohl nicht als Zivilsache ansehen, wenn sich Private (die Eltern) auf der einen und eine Behörde, die hoheitliche Befugnisse ausübt, auf der anderen Seite gegenüberstehen, so verlöre die Nennung dieser Maßnahmen weitgehend ihren Sinn. Die im Kontext des Brüsseler Übereinkommens entwickelte Abgrenzung, die darauf abstellt, ob der Staat hoheitlich oder fiskalisch tätig wird, lässt sich daher nicht auf die Verordnung Nr. 2201/2003 übertragen.

42.      Für die Einbeziehung von staatlichen Schutzmaßnahmen in den Anwendungsbereich der Verordnung Nr. 2201/2003 spricht außerdem ihre Zielsetzung, die ihren Niederschlag im fünften Erwägungsgrund gefunden hat. Danach soll die Verordnung für alle Entscheidungen über die elterliche Verantwortung, einschließlich der Maßnahmen zum Schutz des Kindes gelten, um die Gleichbehandlung aller Kinder sicherzustellen. Folglich ist eine weite Auslegung des Begriffs der Zivilsache geboten, die Abgrenzungsprobleme im Einzelfall vermeidet. Dies ermöglicht vor allem eine eindeutige Bestimmung der gerichtlichen Zuständigkeit nach den Regeln der Verordnung Nr. 2201/2003.

43.      Dabei ist im Rahmen der Verordnung Nr. 2201/2003 der enge Zusammenhang des Begriffs der Zivilsache mit dem für die Verordnung zentralen Begriff der elterlichen Verantwortung zu berücksichtigen. Die entsprechenden Regeln über die Rechtsverhältnisse zwischen Eltern und Kind bilden in den meisten Rechtsordnungen einen Kernbestandteil des Zivilrechts. Jede Entscheidung, die die elterliche Verantwortung berührt, also auf dieses zivilrechtliche Rechtsverhältnis einwirkt,(15) sollte in den Anwendungsbereich der Verordnung fallen, soweit keine Ausnahme nach Art. 1 Abs. 3 eingreift.(16)

44.      Unbeachtlich ist insofern, ob die elterliche Verantwortung durch eine staatliche Schutzmaßnahme berührt wird oder durch eine Entscheidung, die auf Initiative eines bzw. der Sorgerechtsinhaber selbst ergangen ist. Da der Begriff der Zivilsache autonom auszulegen ist, kann er selbst solche Maßnahmen einschließen, die nach dem innerstaatlichen Recht eines Mitgliedstaats dem öffentlichen Recht zugeordnet werden.(17)

45.      Der zehnte Erwägungsgrund der Verordnung bestätigt, dass die Verwendung des Begriffs der Zivilsache nicht staatliche Schutzmaßnahmen, die die elterliche Sorge betreffen, aus dem Anwendungsbereich ausschließen sollte, wie die französische Regierung zutreffend hervorhebt. Vielmehr trägt die Wahl dieses Begriffs dem Umstand Rechnung, dass die Verordnung für einige nicht auf die Regelung der elterlichen Verantwortung gerichtete Bereiche des öffentlichen Rechts und des Strafrechts nicht gilt, wie die soziale Sicherheit oder Maßnahmen in Angelegenheiten der Erziehung und Gesundheit, Entscheidungen über Asylrecht und Einwanderung sowie Maßnahmen infolge von Straftaten, die von Kindern begangen wurden(18).

46.      Ein Blick auf die Entstehungsgeschichte bestätigt dieses Verständnis des Begriffs der Zivilsache. Die Verordnung Nr. 1347/2000(19), die der Verordnung Nr. 2201/2003 vorausging, galt nur für zivilgerichtliche Verfahren, die die elterliche Verantwortung für die gemeinsamen Kinder der Ehegatten betreffen und aus Anlass von Verfahren in Ehesachen betrieben werden (Art. 1 Abs. Buchst. b der Verordnung Nr. 1347/2000). Wegen des danach notwendigen Zusammenhangs zwischen der Entscheidung über die elterliche Verantwortung mit einer Ehesache, waren staatliche Schutzmaßnahmen nicht vom Anwendungsbereich der Verordnung Nr. 1347/2000 erfasst.

47.      Obwohl die Kommission eine umfassende Einbeziehung aller Entscheidungen über die elterliche Verantwortung anstrebte, knüpfte sie in ihrem Vorschlag für die spätere Verordnung Nr. 2201/2003(20) zunächst an die alte Formulierung an.(21) Der Vorschlag ließ daher nicht klar erkennen, ob staatliche Schutzmaßnahmen nunmehr in den Anwendungsbereich der Verordnung fallen sollten. Jedoch erläuterte die Kommission in der Begründung zu dem Vorschlag, dass nur bestimmte Schutzmaßnahmen, die im Zusammenhang mit der Ahndung von Straftaten stehen, von der Verordnung unberührt bleiben sollten.(22) Daraus konnte man lediglich den Umkehrschluss ziehen, dass andere staatliche Schutzmaßnahmen eingeschlossen sein sollten.(23) Dieser Mangel an Klarheit wurde während der Beratungen im Rat durch die Änderung des Art. 1 Abs. 1 und die Einfügung des Positiv- und Negativkatalogs in Art. 1 Abs. 2 und 3 sowie des zehnten Erwägungsgrunds bewusst beseitigt.

48.      Als weiterer entstehungsgeschichtlicher Aspekt kommt der enge inhaltliche Zusammenhang zwischen der Verordnung Nr. 2201/2003 und dem Haager Überkommen über die Zuständigkeit, das anzuwendende Recht, die Anerkennung, Vollstreckung und Zusammenarbeit auf dem Gebiet der elterlichen Verantwortung und Maßnahmen zum Schutz von Kindern vom 19. Oktober 1996 (KSÜ)(24) hinzu.

49.      Die jetzige Fassung der Verordnung weist bei der Bestimmung des Anwendungsbereichs deutliche Parallelen zum KSÜ auf. So beruht der Anwendungsbereich beider Regelungen übereinstimmend auf einem weiten Verständnis der elterlichen Verantwortung. Ferner näherte sich die Methode der Regelung des Anwendungsbereichs der Verordnung Nr. 2201/2003 im Laufe der Beratungen des Entwurfs im Rat offenbar dem KSÜ an, indem ebenfalls ein Positiv- und ein Negativkatalog in Art. 1 Abs. 2 und 3 der Verordnung eingeführt wurde, die sich weitgehend mit den entsprechenden Katalogen in Art. 3 und 4 KSÜ decken.(25) Das KSÜ schließt dabei ausdrücklich staatliche Maßnahmen in seinen Anwendungsbereich ein wie etwa die Unterbringung (Art. 3 Buchst. e KSÜ), die Paul Lagarde in seinem erläuternden Bericht zum KSÜ(26) sogar als klassische Schutzmaßnahme bezeichnet. Ausgenommen sind auch vom KSÜ Maßnahmen, die infolge von Straftaten erlassen werden (Art. 4 Buchst. i KSÜ).

50.      Zwar geht die Verordnung Nr. 2201/2003 im Verhältnis zwischen den Mitgliedstaaten den internationalen Übereinkommen in ihrem Anwendungsbereich vor (vgl. Art. 60 und 61 der Verordnung). Zwischen Mitgliedstaaten und Drittstaaten gelten aber weiterhin die internationalen Instrumente. Daher sollten die Bestimmungen der Verordnung und entsprechende Abkommensbestimmungen möglichst in derselben Weise ausgelegt werden, damit es nicht zu abweichenden Ergebnissen kommt, je nachdem ob ein Fall mit Bezug zu einem anderen Mitgliedstaat oder zu einem Drittstaat vorliegt.(27)

c)      Zur Vereinbarkeit der Einbeziehung staatlicher Schutzmaßnahmen in den Anwendungsbereich der Verordnung Nr. 2201/2003 mit ihrer Rechtsgrundlage in Art. 61 EG

51.      Abschließend ist darauf hinzuweisen, dass die Einbeziehung staatlicher Schutzmaßnahmen, die in einigen Mitgliedstaaten dem öffentlichen Recht zugeordnet werden, in den Anwendungsbereich der Verordnung Nr. 2201/2003 nicht im Widerspruch zu der Rechtsgrundlage steht, auf die die Verordnung gestützt wurde.

52.      Sicher erlaubt der hierfür herangezogene Art. 61 Buchst. c EG nur den Erlass von Maßnahmen im Bereich der justiziellen Zusammenarbeit in Zivilsachen nach Art. 65 EG. Gemäß Art. 65 Buchst. a, 3. Spiegelstrich EG schließen die Maßnahmen in diesem Bereich u. a. die Verbesserung und Vereinfachung der Anerkennung und Vollstreckung gerichtlicher und außergerichtlicher Entscheidungen in Zivil- und Handelssachen ein. Der Begriff der Zivilsache im Sinne der genannten Vorschriften des EG-Vertrags ist jedoch ebenso wie der entsprechende Begriff der Verordnung Nr. 2201/2003 als autonomer gemeinschaftsrechtlicher Begriff zu verstehen. Zivilsachen im Sinne von Art. 61 Buchst. C EG und Art. 65 EG können daher ebenfalls staatliche Maßnahmen einschließen, die Zivilrechtsverhältnisse wie etwa die Ausübung der elterlichen Verantwortung betreffen, auch wenn entsprechende Maßnahmen in einigen Mitgliedstaaten als öffentlich-rechtlich eingeordnet werden.

3.      Zwischenergebnis

53.      Die vorstehenden Ausführungen zu den Unterfragen 1 a und b haben ergeben, dass eine Entscheidung über die sofortige Inobhutnahme und die Unterbringung eines Kindes außerhalb der eigenen Familie in einer Pflegefamilie als Zivilsache zu qualifizieren ist, die die Ausübung der elterlichen Verantwortung betrifft und auf die daher die Verordnung Nr. 2201/2003 anzuwenden ist. Dies gilt auch dann, wenn die betreffende Entscheidung nach dem innerstaatlichen Recht des Ursprungsstaats oder des ersuchten Staates dem öffentlichen Recht unterliegt. Folglich bedarf die Unterfrage 1 c keiner Antwort, da sie nur für den Fall Bedeutung hat, dass nur die Unterbringung in den Anwendungsbereich der Verordnung fällt, nicht aber die Inobhutnahme.

B –    Zur zweiten Vorlagefrage

54.      Mit der zweiten Frage möchte der Korkein Hallinto-oikeus klären lassen, ob die harmonisierten innerstaatlichen Regeln der nordischen Staaten, die eine unmittelbare Vollstreckung und Anerkennung von Verwaltungsentscheidungen in Form der Zusammenarbeit der Verwaltungsbehörden ermöglichen, auch dann weiterhin auf die Inobhutnahme eines Kindes angewendet werden können, wenn die entsprechenden Maßnahmen in den Anwendungsbereich der Verordnung Nr. 2201/2003 fallen.

55.      In diesem Zusammenhang verweist das Gericht auf Art. 59 Abs. 2 der Verordnung Nr. 2201/2003. Danach können Finnland und Schweden das Übereinkommen vom 6. Februar 1931 zwischen Dänemark, Finnland, Island, Norwegen und Schweden mit Bestimmungen des internationalen Verfahrensrechts über Ehe, Adoption und Vormundschaft einschließlich des Schlussprotokolls anstelle dieser Verordnung ganz oder teilweise auf ihre gegenseitigen Beziehungen anwenden. Es erwägt, ob diese Bestimmung analog auf die Kooperation der nordischen Staaten bei Überstellung zur Vollstreckung von Maßnahmen der Betreuung und Behandlung übertragen werden kann.

56.      Dem steht jedoch, wie die Beteiligten, die sich zu dieser Frage geäußert haben, übereinstimmend hervorheben, der Grundsatz des Vorrangs des Gemeinschaftsrechts(28) entgegen. Er verpflichtet die Behörden und Gerichte der Mitgliedstaaten, dem Gemeinschaftsrecht entgegenstehendes innerstaatliches Recht unangewendet zu lassen.(29)

57.      Etwas anderes kann nur gelten, wenn der betreffende Gemeinschaftsrechtsakt den Mitgliedstaaten ausdrücklich Abweichungen erlaubt. Art. 59 der Verordnung Nr. 2201/2003 enthält jedoch keine entsprechende Ermächtigung im Hinblick auf die innerstaatlichen Vorschriften Finnlands und Schwedens über die Überstellung zur Vollstreckung von Maßnahmen der Betreuung und Behandlung im Rahmen der Kooperation der nordischen Staaten. (30)

58.      Eine analoge Anwendung von Art. 59 Abs. 2 Buchst. a der Verordnung Nr. 2201/2003 kommt schon deswegen nicht in Betracht, weil es sich dabei um eine Ausnahmevorschrift handelt, die eng auszulegen ist. Zudem müssten die betreffenden Mitgliedstaaten nach Art. 59 Abs. 2 Buchst. a eine Erklärung über die Anwendung abweichender Vorschriften abgegeben haben, die der Verordnung als Anhang beigefügt und im Amtsblatt der Europäischen Union veröffentlicht ist.

59.      Die anlässlich des Beitritts von Österreich, Finnland und Schweden abgegebene Erklärung Nr. 28 zur nordischen Zusammenarbeit erlaubt ebenfalls keine Anwendung von Bestimmungen, die von der Verordnung Nr. 2201/2003 abweichen. In dieser Erklärung stellen die Vertragsparteien nämlich ausdrücklich fest, dass Schweden und Finnland als Mitglieder der Europäischen Union beabsichtigen, die zwischen ihnen sowie mit anderen Ländern und Gebieten bestehende nordische Zusammenarbeit in völligem Einklang mit dem Gemeinschaftsrecht weiterzuführen.

60.      Soweit die Verordnung Nr. 2201/2003 in zeitlicher und sachlicher Hinsicht anwendbar ist, müssen Finnland und Schweden Bestimmungen der Verordnung für die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen über die elterliche Verantwortung zur Anwendung bringen und davon abeichende innerstaatliche Regeln unangewendet lassen.

61.      Dieses Ergebnis mag zwar angesichts der offenbar gut eingespielten Verwaltungszusammenarbeit zwischen Finnland und Schweden, die dem Kindeswohl dient, bedauerlich erscheinen. Andererseits haben sich die Mitgliedstaaten aber mit dem Erlass der Verordnung Nr. 2201/2003 auf bestimmte einheitliche Verfahrensstandards geeinigt wie etwa die Beibehaltung des Exequatur-Erfordernisses, die ihrerseits dem Schutz der Verfahrensbeteiligten dienen, wie die niederländische Regierung zu Recht hervorhebt.

C –    Zur dritten Vorlagefrage

62.      Die dritte Vorlagefrage betrifft den zeitlichen Anwendungsbereich der Verordnung Nr. 2201/2003. Nach der Übergangsregelung in Art. 64 Abs. 2 ist die Verordnung unter folgenden drei Voraussetzungen für die Anerkennung und Vollstreckung einer Entscheidung anwendbar:

–        die Entscheidung ist nach Beginn der Anwendung der Verordnung Nr. 2201/2003 ergangen,

–        das Verfahren, das zu der Entscheidung geführt hat, ist vor dem Beginn der Anwendung der Verordnung Nr. 2201/2003 aber nach Inkrafttreten der Verordnung Nr. 1347/2000 eingeleitet worden,

–        das Gericht, das die Entscheidung erlassen hat, war aufgrund von Vorschriften zuständig, die mit den Zuständigkeitsvorschriften der Verordnung Nr. 2201/2003, der Verordnung Nr. 1347/2000 oder einem Abkommen übereinstimmen, das im Zeitpunkt der Einleitung des Verfahrens zwischen dem Ursprungsmitgliedstaat und dem ersuchten Mitgliedstaat in Kraft war.

63.      Gemäß ihrem Art. 72 Abs. 1 trat die Verordnung Nr. 2201/2003 zwar bereits am 1. August 2004 in Kraft, ihre Vorschriften galten jedoch – von einigen hier nicht bedeutsamen Ausnahmen abgesehen – erst ab dem 1. März 2005 (Art. 72 Abs. 2). Folglich begann die Anwendung der Verordnung am 1. März 2005. Die Verordnung Nr. 1347/2000 trat am 1. März 2001 in Kraft.

64.      Erste Voraussetzung ist also, dass die Entscheidung nach am 1. März 2005 oder später ergangen ist. Das vorlegende Gericht hält den Beschluss des Länsrätt, mit dem die Entscheidung des Sozialausschusses vom 23. Februar 2005 bestätigt wurde, für die zu vollstreckende Entscheidung. Diese erging am 3. März 2005, also nach Beginn der Anwendung der Verordnung Nr. 2201/2003.

65.      Zwar könnte man grundsätzlich auch den Beschluss des Sozialausschusses vom 23. Februar 2005 selbst bereits als Entscheidung ansehen. Nach Art. 2 Nr. 4 ist eine Entscheidung im Sinne der Verordnung u. a. jede Entscheidung über die elterliche Verantwortung, ohne Rücksicht auf ihre Bezeichnung. Aus Art. 2 Nr. 1 folgt zudem, dass der Begriff des Gerichts alle Behörden einschließt, die in den Rechtssachen zuständig sind, die gemäß Art. 1 in den Anwendungsbereich der Verordnung fallen. Auch behördliche Entscheidungen sind daher grundsätzlich einer Anerkennung und Vollstreckung in einem anderen Mitgliedstaat auf der Grundlage der Verordnung zugänglich.

66.      Jedoch muss die betreffende Entscheidung im Ursprungsstaat vollstreckbar sein, um im Wege der Rechtshilfe durch das Gericht eines anderen Mitgliedstaats vollstreckt werden zu können (Art. 28 Abs. 1 der Verordnung Nr. 2201/2003). Zumindest muss sie Wirkungen nach außen entfalten, damit von einer ergangenen Entscheidung ausgegangen werden kann, was nach der Lex fori zu beurteilen ist.(31) Da die Wirkung und die Vollstreckbarkeit der Entscheidung nach schwedischem Recht offenbar ihre Bestätigung durch das Länsrätt voraussetzt, erscheint es sachgerecht, den Zeitpunkt der gerichtlichen Bestätigung im Rahmen des Art. 64 Abs. 2 der Verordnung als maßgeblich anzusehen. Jedenfalls ist es Sache des vorlegenden Gerichts, zu beurteilen, worin nach innerstaatlichem Recht die vollstreckbare Entscheidung liegt.

67.      Zur zweiten Voraussetzung (vgl. Nr. 62) geht das vorlegende Gericht davon aus, dass das Verfahren eingeleitet wurde, als der Sozialausschuss im Herbst 2004 die Ermittlungen aufgenommen hat. Die Kommission meint demgegenüber, das Verfahren sei erst durch den Antrag des Sozialausschusses vom 25. Februar 2005 an das Länsrätt auf Bestätigung seiner Entscheidung eingeleitet worden.

68.      Näher geregelt ist in Art. 16 der Verordnung Nr. 2201/2003 nur, was als Anrufung eines Gerichts anzusehen ist, nämlich – vereinfacht gesagt – die Einreichung des verfahrenseinleitenden Schriftstücks bei Gericht oder die Zustellung des Schriftstücks an den Gegner, wenn diese vor der Einreichung bei Gericht zu erfolgen hat. Die Bestimmung erfasst dagegen nicht unmittelbar den Fall, dass eine Behörde von Amts wegen tätig wird und Maßnahmen zum Schutz von Kindern ergreift. Wenn für den Zeitpunkt des Erlasses der maßgeblichen Entscheidung indes nicht auf den Beschluss des Sozialausschusses vom 23. Februar 2005 abgestellt wird, sondern auf seine Bestätigung durch das Länsrätt vom 3. März 2005, so spricht einiges dafür, mit der Kommission erst den Antrag des Sozialausschusses an das Länsrätt als Einleitung des Verfahrens im Sinne des Art. 64 Abs. 2 anzusehen.

69.      Letztlich kann die Frage jedoch offen bleiben, da sowohl die Aufnahme der Ermittlungen des Sozialausschusses als auch die Stellung des Antrags an das Länsrätt vor dem Beginn der Anwendung der Verordnung Nr. 2201/2003 und nach dem Inkrafttreten der Verordnung Nr. 1347/2000 erfolgt sind.

70.      Auch die dritte Voraussetzung liegt vor. Die in Schweden im Zeitpunkt der Einleitung des Verfahrens geltenden Zuständigkeitsvorschriften entsprechen denjenigen der Verordnung Nr. 2201/2003. Die vor Beginn der Anwendung der Verordnung geltenden nationalen Vorschriften begründeten die Zuständigkeit der Behörde bzw. des Gerichts am ständigen Wohnort der Kinder in Schweden. Art. 8 Abs. 1 der Verordnung Nr. 2201/2003 enthält eine entsprechende Zuständigkeitsregel.

71.      Auf die dritte Vorlagefrage ist daher zu antworten, dass Art. 64 Abs. 2 der Verordnung Nr. 2201/2003 dahin auszulegen ist, dass eine Entscheidung über die elterliche Verantwortung, die am 3. März 2005 in einem Verfahren ergangen ist, das nach dem 1. März 2001 und vor dem 1. März 2005 eingeleitet wurde, nach Maßgabe des Kapitels III der Verordnung Nr. 2201/2003 anerkannt und vollstreckt wird, wenn die bei Einleitung des Verfahrens geltenden Zuständigkeitsvorschriften ebenso wie Art. 8 Abs. 1 der Verordnung die Zuständigkeit der Behörden am ständigen Aufenthaltsort der Kinder begründeten.

V –    Ergebnis

72.      Aufgrund der vorstehenden Ausführungen schlage ich dem Gerichtshof vor, wie folgt auf die Vorlagefragen des Korkein Hallinto-oikeus zu antworten

1.       Art. 1 Abs. 1 Buchst. b in Verbindung mit Abs. 2 Buchst. a und d der Verordnung (EG) Nr. 2201/2003 des Rates über die Zuständigkeit und die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in Ehesachen und in Verfahren betreffend die elterliche Verantwortung und zur Aufhebung der Verordnung (EG) Nr. 1347/2000 ist dahin gehend auszulegen, dass eine Entscheidung über die sofortige Inobhutnahme und die Unterbringung eines Kindes außerhalb der eigenen Familie in einer Pflegefamilie als Zivilsache zu qualifizieren ist, die die Ausübung der elterlichen Verantwortung betrifft und auf die daher die Verordnung Nr. 2201/2003 anzuwenden ist. Dies gilt auch dann, wenn die betreffende Entscheidung nach dem innerstaatlichen Recht des Ursprungsstaats oder des ersuchten Staates dem öffentlichen Recht unterliegt.

2.      Soweit die Verordnung Nr. 2201/2003 in zeitlicher und sachlicher Hinsicht anwendbar ist und keine entsprechende ausdrückliche Ausnahme vorsieht, dürfen die Mitgliedstaaten keine von der Verordnung abweichenden innerstaatlichen Vorschriften zur Anwendung bringen.

3.      Art. 64 Abs. 2 der Verordnung Nr. 2201/2003 ist dahin auszulegen, dass eine Entscheidung über die elterliche Verantwortung, die am 3. März 2005 in einem Verfahren ergangen ist, das nach dem 1. März 2001 und vor dem 1. März 2005 eingeleitet wurde, nach Maßgabe des Kapitels III der Verordnung Nr. 2201/2003 anerkannt und vollstreckt wird, wenn die bei Einleitung des Verfahrens geltenden Zuständigkeitsvorschriften ebenso wie Art. 8 Abs. 1 der Verordnung die Zuständigkeit der Behörden am ständigen Aufenthaltsort der Kinder begründeten.


1 – Originalsprache: Deutsch.


2 – ABl. L 338, S. 1 – auch Brüssel-IIa-Verordnung genannt.


3 – Akte über die Bedingungen des Beitritts des Königreichs Norwegen, der Republik Österreich, der Republik Finnland und des Königreichs Schweden und die Anpassungen der die Europäische Union begründenden Verträge, Schlussakte – III. Sonstige Erklärungen – E. Gemeinsame Erklärungen: Die derzeitigen Mitgliedstaaten/Einzelne neue Mitgliedstaaten – 28. Gemeinsame Erklärung zur nordischen Zusammenarbeit, ABl. 1994, C 241, S. 392.


4 – ABl. 2005, C 40, S. 2.


5 – Vgl. den Leitfaden zur Anwendung der neuen Verordnung Brüssel II, den die Kommission im Einvernehmen mit dem Europäischen Justiziellen Netz für Zivil- und Handelssachen ausgearbeitet hat (Stand 1. Juni 2005), S. 9. Abrufbar unter: http://ec.europa.eu/civiljustice/parental_resp/parental_resp_ec_vdm_de.pdf.


6 – Urteil des IGH vom 28. November 1958, CIJ Recueil 1958, S. 55.


7 – Übereinkommen vom 27. September 1968 über die gerichtliche Zuständigkeit und die Vollstreckung gerichtlicher Entscheidungen in Zivil- und Handelssachen (ABl. 1972, L 299, S. 32) in der durch die Übereinkommen vom 9. Oktober 1978 über den Beitritt des Königreichs Dänemark, Irlands und des Vereinigten Königreichs Großbritannien und Nordirland (ABl. L 304, S. 1 und – geänderter Text – S. 77), vom 25. Oktober 1982 über den Beitritt der Republik Griechenland (ABl. L 388, S. 1), vom 26. Mai 1989 über den Beitritt des Königreichs Spanien und der Portugiesischen Republik (ABl. L 285, S. 1) und vom 29. November 1996 über den Beitritt der Republik Österreich, der Republik Finnland und des Königreichs Schweden (ABl. 1997, C 15, S. 1) geänderten Fassung (im Folgenden: EuGVÜ).


8 – Urteil vom 14. Oktober 1976, LTU (29/76, Slg. 1976, 1541).


9 – Urteil vom 15. Februar 2007 (C-292/05, Slg. 2007, I-0000, Randnrn. 29 bis 31).


10 –      Der Gerichtshof verweist auf die Urteile LTU (zitiert in Fn. 8, Randnrn. 3 und 5), vom 16. Dezember 1980, Rüffer (814/79, Slg. 1980, 3807, Randnr. 7), vom 14. November 2002, Baten (C-271/00, Slg. 2002, I-10489, Randnr. 28), vom 15. Mai 2003, Préservatrice foncière TIARD (C-266/01, Slg. 2003, I-4867, Randnr. 20), und vom 18. Mai 2006, ČEZ (C-343/04, Slg. 2006, I‑4557, Randnr. 22).


11 –      Der Gerichtshof verweist auf das Urteil LTU (zitiert in Fn. 8, Randnr. 4), die in Fn. 10 zitierten Urteile Rüffer (Randnr. 14), Baten (Randnr. 29), Préservatrice foncière TIARD (Randnr. 21), ČEZ (Randnr. 22), und das Urteil vom 1. Oktober 2002, Henkel (C-167/00, Slg. 2002, I-8111, Randnr. 29).


12 –      Der Gerichtshof verweist auf die Urteile LTU (zitiert in Fn. 8, Randnr. 4), Rüffer (zitiert in Fn. 10, Randnr. 8), Henkel (zitiert in Fn. 11, Randnr. 26), Baten (zitiert in Fn. 10, Randnr. 30), Préservatrice foncière TIARD (zitiert in Fn. 10, Randnr. 22), und vom 21. April 1993, Sonntag, (C-172/91, Slg. 1993, I-1963, Randnr. 20).


13 – Vgl. die in Fn. 10 zitierte Rechtsprechung.


14 – Vgl. M. Busch/U. Rölke, Europäisches Kinderschutzrecht mit offenen Fragen - Die neue EU-Verordnung Brüssel IIa zur elterlichen Verantwortung aus der Sicht der Jugendhilfe, Zeitschrift für das gesamte Familienrecht (FamRZ) 2004, 1338, 1340.


15 – C weist hier auf die Parallele in der Rechtsprechung des EGMR zu Art. 6 Abs. 1 EMRK hin. Die Garantie des fairen Verfahrens gilt u. a. bei Streitigkeiten in Bezug auf zivilrechtliche Ansprüche (civil rights). Auch Streitigkeiten über behördliche Maßnahmen, die die elterliche Verantwortung betreffen, fallen nach Auffassung des EGMR in den Anwendungsbereich des Art 6 Abs. 1, weil sie sich auf ein zivilrechtlich geprägtes Rechtsverhältnis auswirken. Vgl. u. a. Urteil des EGMR vom 8. Juli 1987 W gegen Vereinigtes Königreich (9749/82, Randnr. 78). Zusammenfassend zur Rechtsprechung des EGMR zu dem Begriff der civil rights Grabenwarter/Pabel in: Grote/Marauhn (Hrsg.), EMRK/GG, 2006, Kap 14, Randnrn. 13-15.


16 – Vgl. in diesem Sinne V. Kress, Internationale Zuständigkeit für elterliche Verantwortung in der Europäischen Union, 2005, S. 49.


17 – Darauf werden die Rechtsanwender im Leitfaden zur Anwendung der neuen Verordnung Brüssel II (zitiert in Fn. 5, S. 10) ausdrücklich hingewiesen.


18 – Art. 1 Abs. 3 Buchst. g der Verordnung Nr. 2201/2003.


19 – Verordnung (EG) Nr. 1347/2000 des Rates vom 29. Mai 2000 über die Zuständigkeit und die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in Ehesachen und in Verfahren betreffend die elterliche Verantwortung für die gemeinsamen Kinder der Ehegatten, ABl. L 160, S. 19.


20 – KOM(2002) 222 endg./2 vom 17.5.2002 (ABl. 2002, C 203E, S. 155).


21 – Art. 1. des Entwurfs lautete: „1. Diese Verordnung gilt für alle zivilgerichtlichen Verfahren mit folgendem Gegenstand:…


b) die Zuweisung, die Ausübung, die vollständige oder teilweise Entziehung der elterlichen Verantwortung sowie deren Übertragung.


2. Unbeschadet von Absatz 1 gilt diese Verordnung nicht für zivilgerichtliche Verfahren, die …


b) Maßnahmen zum Gegenstand haben, die im Anschluss an von Kindern begangenen Straftaten ergriffen werden.


3. Gerichtlichen Verfahren stehen andere in einem Mitgliedstaat amtlich anerkannte Verfahren gleich.“


22 – KOM(2002) 222 endg./2, S. 6.


23 – Vgl. Kress (zitiert in Fn. 16, S. 44 f.)


24 – Actes et documents de la XVIIIième session de la Conférence international de La Haye de droit privé, 1998, S. 14. Auch in deutscher Übersetzung abrufbar auf der Homepage der Haager Konferenz: http://hcch.e-vision.nl/upload/text34d.pdf. Die Mitgliedsaaten sind durch die Entscheidung des Rates vom 19. Dezember 2002 (ABl. 2003, L 48 vom 21.2.2003, S. 1) zur Unterzeichnung des Übereinkommens im Interesse der Europäischen Gemeinschaft ermächtigt worden und haben auch alle von dieser Ermächtigung Gebrauch gemacht. Jedoch haben sie erst acht Mitgliedstaaten ratifiziert. Die Ratifikation wird offenbar noch immer durch die Gibraltar-Frage blockiert (vgl. J. Pirrung, Brüche zwischen internationaler und europäischer Rechtsvereinheitlichung – das Beispiel des internationalen Kindschaftsrechts in der Brüssel-IIa-Verordnung, in: Internationales Familienrecht für das 21. Jahrhundert, Symposion zum 65. Geburtstag von Ulrich Spellenberg, 2006, S. 89, 91). Das KSÜ ist am 1. Januar 2002 in Kraft getreten.


25 – Siehe dazu J. Pirrung, Internationale Zuständigkeit in Sorgerechtssachen nach der Verordnung (EG) Nr. 2201/2003, in: Festschrift für P. Schlosser, 2005, S. 695, 696 f. und J. Pirrung in: Internationales Familienrecht für das 21. Jahrhundert (zitiert in Fn. 24, S. 93).


26 – In deutscher Fassung abrufbar unter http://hcch.e-vision.nl/upload/expl34d.pdf, Randnr. 23 der zitierten Fassung (zu Art. 3 Buchst. e).


27 – Vgl. J. Pirrung in: Internationales Familienrecht für das 21. Jahrhundert (zitiert in Fn. 24, S. 100).


28 – Urteil vom 15. Juli 1964, Costa/ENEL (6/64, Slg. 1964, 1253, 1269 f.).


29 – Urteil vom 9. März 1978, Simmenthal (106/77, Slg. 1978, 629, Randnr. 21/23).


30 – Insofern unterscheidet sich die Lage hier gegenüber dem KSÜ, das in Art. 52 ausdrücklich die Beibehaltung oder den Erlass von regional harmonisiertem Einheitsrecht gestattet.


31 – Vgl. Rauscher/Rauscher, Europäisches Zivilprozessrecht, 2. Aufl., München, 2006, Art. 64 Brüssel IIa-VO, Randnr. 9; M. Fleige; Die Zuständigkeit für Sorgerechtsentscheidungen und die Rückführung von Kindern nach Entführungen nach dem Europäischen IZVR, Würzburg, 2006, S. 114.