URTEIL DES GERICHTSHOFES
26. Oktober 1999 (1)
„Gleichbehandlung von Männern und Frauen Weigerung, eine Frau als
Köchin bei der Königlichen Marineinfanterie (Royal Marines) einzustellen“
In der Rechtssache C-273/97
betreffend ein dem Gerichtshof nach Artikel 177 EG-Vertrag (jetzt Artikel 234
EG) vom Industrial Tribunal Bury St Edmunds (Vereinigtes Königreich) in dem bei
diesem anhängigen Rechtsstreit
Angela Maria Sirdar
gegen
The Army Board,
Secretary of State for Defence
vorgelegtes Ersuchen um Vorabentscheidung über die Auslegung des EG-Vertrags,
insbesondere Artikel 224 (jetzt Artikel 297 EG), und der Richtlinie 76/207/EWG
des Rates vom 9. Februar 1976 zur Verwirklichung des Grundsatzes der
Gleichbehandlung von Männern und Frauen hinsichtlich des Zugangs zur
Beschäftigung, zur Berufsbildung und zum beruflichen Aufstieg sowie in bezug auf
die Arbeitsbedingungen (ABl. L 39, S. 40), insbesondere Artikel 2,
erläßt
DER GERICHTSHOF
unter Mitwirkung des Präsidenten G. C. Rodríguez Iglesias, der
Kammerpräsidenten J. C. Moitinho de Almeida, D. A. O. Edward und R. Schintgen
sowie der Richter P. J. G. Kapteyn, J.-P. Puissochet (Berichterstatter), G. Hirsch,
P. Jann und H. Ragnemalm
Generalanwalt: A. La Pergola
Kanzler: L. Hewlett, Verwaltungsrätin
unter Berücksichtigung der schriftlichen Erklärungen
von Frau Sirdar, vertreten durch P. Duffy, QC, und Barrister D. Rose,
beauftragt von Solicitor H. Slater, The Equal Opportunities Commission,
der Regierung des Vereinigten Königreichs, vertreten durch J. E. Collins,
Assistant Treasury Solicitor, als Bevollmächtigten im Beistand von R.
Plender, QC, und der Barrister S. Richards und R. McManus,
der französischen Regierung, vertreten durch K. Rispal-Bellanger,
Abteilungsleiterin für Internationales Wirtschaftsrecht und
Gemeinschaftsrecht in der Direktion für Rechtsfragen des Ministeriums für
Auswärtige Angelegenheiten, und A. de Bourgoing, Chargé de mission in
derselben Direktion, als Bevollmächtigte,
der portugiesischen Regierung, vertreten durch L. Fernandes, Direktor des
Juristischen Dienstes der Generaldirektion für die Europäischen
Gemeinschaften des Ministeriums für Auswärtige Angelegenheiten, und
Â. Seiça Neves, Angehöriger desselben Dienstes, als Bevollmächtigte,
der Kommission der Europäischen Gemeinschaften, vertreten durch die
Rechtsberater P. J. Kuijper und M. Wolfcarius als Bevollmächtigte,
aufgrund des Sitzungsberichts,
nach Anhörung der mündlichen Ausführungen von Frau Sirdar, vertreten durch
P. Duffy und D. Rose, der Regierung des Vereinigten Königreichs, vertreten durch
J. E. Collins im Beistand von R. Cranston, QC, und R. Plender, der französischen
Regierung, vertreten durch A. de Bourgoing, und der Kommission, vertreten durch
P. J. Kuijper, in der Sitzung vom 27. Oktober 1998,
nach Anhörung der Schlußanträge des Generalanwalts in der Sitzung vom 18. Mai
1999,
folgendes
Urteil
- 1.
- Das Industrial Tribunal Bury St Edmunds hat mit Entscheidung vom 28. April 1997,
beim Gerichtshof eingegangen am 29. Juli 1997, gemäß Artikel 177 EG-Vertrag
(jetzt Artikel 234 EG) sechs Fragen nach der Auslegung dieses Vertrages,
insbesondere Artikel 224 (jetzt Artikel 297 EG), und der Richtlinie 76/207/EWG
des Rates vom 9. Februar 1976 zur Verwirklichung des Grundsatzes der
Gleichbehandlung von Männern und Frauen hinsichtlich des Zugangs zur
Beschäftigung, zur Berufsbildung und zum beruflichen Aufstieg sowie in bezug auf
die Arbeitsbedingungen (ABl. L 39, S. 40; im folgenden: Richtlinie), insbesondere
Artikel 2, zur Vorabentscheidung vorgelegt.
- 2.
- Diese Fragen stellen sich im Rahmen eines Rechtsstreits, den Frau Sirdar gegen
The Army Board und den Secretary of State for Defence wegen der Weigerung
angestrengt hat, sie als Köchin bei der Königlichen Marineinfanterie (Royal
Marines) einzustellen.
Rechtlicher Rahmen
- 3.
- Artikel 224 des Vertrages hat folgenden Wortlaut:
„Die Mitgliedstaaten setzen sich miteinander ins Benehmen, um durch
gemeinsames Vorgehen zu verhindern, daß das Funktionieren des Gemeinsamen
Marktes durch Maßnahmen beeinträchtigt wird, die ein Mitgliedstaat bei einer
schwerwiegenden innerstaatlichen Störung der öffentlichen Ordnung, im Kriegsfall,
bei einer ernsten, eine Kriegsgefahr darstellenden internationalen Spannung oder
in Erfüllung der Verpflichtungen trifft, die er im Hinblick auf die Aufrechterhaltung
des Friedens und der internationalen Sicherheit übernommen hat.“
- 4.
- Artikel 2 Absätze 1 und 2 der Richtlinie bestimmt:
„(1) Der Grundsatz der Gleichbehandlung im Sinne der nachstehenden
Bestimmungen beinhaltet, daß keine unmittelbare oder mittelbare Diskriminierung
auf Grund des Geschlechts insbesondere unter Bezugnahme auf den Ehe- oder
Familienstand erfolgen darf.
(2) Diese Richtlinie steht nicht der Befugnis der Mitgliedstaaten entgegen, solche
beruflichen Tätigkeiten und gegebenenfalls die dazu jeweils erforderliche
Ausbildung, für die das Geschlecht auf Grund ihrer Art oder der Bedingungen ihrer
Ausübung eine unabdingbare Voraussetzung darstellt, von ihrem
Anwendungsbereich auszuschließen.“
- 5.
- Nach Artikel 9 Absatz 2 der Richtlinie prüfen „[d]ie Mitgliedstaaten ... in
regelmäßigen Abständen die unter Artikel 2 Absatz 2 fallenden beruflichen
Tätigkeiten, um unter Berücksichtigung der sozialen Entwicklung festzustellen, ob
es gerechtfertigt ist, die betreffenden Ausnahmen aufrechtzuerhalten. Sie
übermitteln der Kommission das Ergebnis dieser Prüfung.“
Der Ausgangsrechtsstreit
- 6.
- Im Vereinigten Königreich ist der Grundsatz der Gleichbehandlung von Männern
und Frauen im Sex Discrimination Act [Gesetz gegen Diskriminierungen aufgrund
des Geschlechts] 1975 geregelt. Section 85(4) dieses Gesetzes lautet: „Nach keiner
Bestimmung dieses Gesetzes kann eine Handlung, die die Kampfkraft der See-,
Land- oder Luftstreitkräfte der Krone gewährleisten soll, rechtswidrig sein.“
- 7.
- Aus der Vorlageentscheidung geht hervor, daß die zuständigen Stellen der Royal
Marines die Politik verfolgen, Frauen vom Dienst auszuschließen, weil ihre
Anwesenheit mit dem Erfordernis der „interoperability“ [„allseitige
Verwendbarkeit“] unvereinbar sei, d. h. mit der Notwendigkeit, daß jeder
Marineinfanterist unabhängig von seiner Spezialisierung fähig ist, in einer
Kommandoeinheit zu kämpfen. Diese Politik ist in einem Bericht vom 10. Juni 1994
mit dem Titel „Neue Einstellungspolitik für Frauen in den Streitkräften
Auswirkung auf die Royal Marines“ dargelegt. In dem in Nummer 42 der
Vorlageentscheidung wiedergegebenen Abschnitt 2 b dieses Berichtes heißt es: „In
einer kleinen Truppe muß in Krisenzeiten und in Zeiten des Personalmangels jeder
Königliche Marineinfanterist in der Lage sein, jederzeit in seinem Rang und auf
seinem Ausbildungsniveau in einer Kommandoeinheit Dienst zu tun ... Frauen sind
bei den Royal Marines nicht allseitig verwendbar.“
- 8.
- Frau Sirdar war seit 1983 Angehörige des britischen Heeres und diente seit 1990
als Köchin bei einem Kommandoregiment der Königlichen Artillerie, als ihr im
Februar 1994 mitgeteilt wurde, daß sie mit Wirkung vom Februar 1995 aus
wirtschaftlichen Gründen entlassen werde. Derartige Entlassungen, die Folge einer
Untersuchung über die Verteidigungskosten waren, betrafen insgesamt mehr als
500 Köche.
- 9.
- Im Juli 1994 wurde Frau Sirdar schriftlich angeboten, zu den Royal Marines, bei
denen ein Mangel an Köchen herrschte, zu wechseln. Hierbei wurde darauf
hingewiesen, daß sie sich für ihre Versetzung zunächst einem Vorauswahlausschuß
stellen und anschließend einer Ausbildung für Kommandounternehmen unterziehen
müsse. Als sich die zuständigen Stellen der Royal Marines jedoch bewußt wurden,
daß sie das Angebot versehentlich einer Frau unterbreitet hatten, teilten sie Frau
Sirdar mit, daß sie aufgrund der Politik, Frauen von dieser Einheit auszuschließen,
für eine Versetzung nicht in Betracht komme.
- 10.
- Nach ihrer Entlassung strengte Frau Sirdar ein Verfahren vor dem Industrial
Tribunal Bury St Edmunds an und machte geltend, sie sei aufgrund des Geschlechts
diskriminiert worden. Dieses Gericht hat in der Erwägung, daß die Entscheidung
des Rechtsstreits eine Auslegung des Vertrages und der Richtlinie erforderlich
mache, dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorgelegt:
1. Sind politische Entscheidungen eines Mitgliedstaats in Friedenszeiten
und/oder bei der Vorbereitung auf einen Krieg, die den Zugang zur
Beschäftigung, die Berufsbildung, die Arbeitsbedingungen oder den Einsatz
in seinen Streitkräften betreffen und im Hinblick auf die Kampfkraft
erlassen worden sind, vom Anwendungsbereich des EG-Vertrags und/oder
der auf seiner Grundlage erlassenen Rechtsvorschriften, insbesondere der
Richtlinie 76/207/EWG des Rates, ausgenommen?
2. Sind die Entscheidungen eines Mitgliedstaats bei der Vorbereitung auf
einen Krieg und in Friedenszeiten in bezug auf die Einstellung, die
Ausbildung und den Einsatz von Soldaten in Marinekommando-Einheiten
seiner Streitkräfte, die im Kriegsfall für den Nahkampf mit dem Feind
bestimmt sind, vom Anwendungsbereich des EG-Vertrags oder der auf
seiner Grundlage erlassenen Rechtsvorschriften ausgenommen, wenn diese
Entscheidungen zur Gewährleistung der Kampfkraft solcher Einheiten
erlassen worden sind?
3. Erlaubt Artikel 224 EG-Vertrag bei zutreffender Auslegung einem
Mitgliedstaat, vom Anwendungsbereich der Richtlinie 76/207
Diskriminierungen aufgrund des Geschlechts auszunehmen, die in bezug auf
den Zugang zur Beschäftigung, die Berufsbildung, die Arbeitsbedingungen
einschließlich der Bedingungen für die Entlassung in den Streitkräften in
Friedenszeiten und/oder bei der Vorbereitung auf einen Krieg zur
Gewährleistung der Kampfkraft erfolgen?
4. Kann die Politik eines Mitgliedstaats, nach der in Friedenszeiten und/oder
bei der Vorbereitung auf einen Krieg alle Frauen vom Dienst als allseits
verwendbare Marineinfanteristen ausgeschlossen sind, aufgrund von Artikel
224 vom Anwendungsbereich der Richtlinie 76/207 ausgenommen werden?
Welche Leitlinien oder Kriterien sind, wenn dies der Fall ist, anzuwenden,
um zu bestimmen, ob eine solche Politik auf diese Weise aufgrund von
Artikel 224 vom Anwendungsbereich der Richtlinie 76/207 ausgeschlossen
werden darf?
5. Kann die Politik eines Mitgliedstaats, nach der alle Frauen in Friedenszeiten
und/oder bei der Vorbereitung auf einen Krieg vom Dienst als allseits
verwendbare Marineinfanteristen ausgeschlossen sind, nach Artikel 2 Absatz
2 der Richtlinie 76/207 gerechtfertigt sein?
6. Welches Kriterium ist, wenn dies der Fall ist, von einem nationalen Gericht
anzuwenden, wenn es um die Entscheidung geht, ob die Anwendung dieser
Politik gerechtfertigt ist?
Zur ersten und zur zweiten Vorlagefrage
- 11.
- Mit seinen ersten beiden Fragen möchte das vorlegende Gericht wissen, ob
Entscheidungen der Mitgliedstaaten, die den Zugang zur Beschäftigung, die
Berufsbildung und die Arbeitsbedingungen in den Streitkräften, insbesondere in
Marinekommando-Einheiten, betreffen und zur Gewährleistung der Kampfkraft
erlassen worden sind, vom Anwendungsbereich des Gemeinschaftsrechts
ausgenommen sind.
- 12.
- Frau Sirdar schlägt dem Gerichtshof vor, die Frage zu verneinen. Sie ist der
Auffassung, daß keine Bestimmung die Streitkräfte ausdrücklich vom
Anwendungsbereich des Vertrages ausnehme und sich ein solcher allgemeiner
Ausschluß auch nicht aus den speziellen Ausnahmen herleiten lasse, die aus
verschiedenen Gründen im Vertrag oder in der Richtlinie vorgesehen seien.
- 13.
- Die französische und die portugiesische Regierung sowie die Regierung des
Vereinigten Königreichs tragen demgegenüber vor, die Entscheidungen über
Organisation und Führung der Streitkräfte, insbesondere diejenigen, die bei der
Vorbereitung auf einen Krieg zur Gewährleistung der Kampfkraft erlassen würden,
fielen nicht in den Anwendungsbereich des Vertrages. Die Regierungen stützen sich
u. a. auf allgemeine Erwägungen im Zusammenhang mit dem Zweck des Vertrages
oder auf spezielle Vertragsbestimmungen wie Artikel 48 Absatz 4 (nach Änderung
jetzt Artikel 39 Absatz 4 EG) und Artikel 224.
- 14.
- Die Kommission ist der Ansicht, die Entscheidungen über Organisation und
Führung der Streitkräfte seien nicht vom Anwendungsbereich des Vertrages
ausgenommen, könnten aber unter die in Artikel 224 vorgesehene Ausnahme
fallen.
- 15.
- Es ist Sache der Mitgliedstaaten, die die geeigneten Maßnahmen zur
Gewährleistung ihrer inneren und äußeren Sicherheit zu treffen haben, die
Entscheidungen über die Organisation ihrer Streitkräfte zu erlassen. Daraus ergibt
sich jedoch nicht, daß derartige Entscheidungen vollständig der Anwendung des
Gemeinschaftsrechts entzogen wären.
- 16.
- Wie der Gerichtshof bereits festgestellt hat, sieht der Vertrag Ausnahmen aus
Gründen der öffentlichen Sicherheit nur in den Artikeln 36, 48, 56, 223 (nach
Änderung jetzt Artikel 30 EG, 39 EG, 46 EG und 296 EG) und 224 vor; diese
betreffen ganz bestimmte außergewöhnliche Fälle. Aus ihnen läßt sich keinallgemeiner, dem Vertrag immanenter Vorbehalt ableiten, der jede Maßnahme, die
im Interesse der öffentlichen Sicherheit getroffen wird, vom Anwendungsbereich
des Gemeinschaftsrechts ausnimmt. Würde ein solcher Vorbehalt unabhängig von
den besonderen Tatbestandsmerkmalen der Bestimmungen des Vertrages
anerkannt, so könnte das die Verbindlichkeit und die einheitliche Anwendung des
Gemeinschaftsrechts beeinträchtigen (in diesem Sinne Urteil vom 15. Mai 1986 in
der Rechtssache 222/84, Johnston, Slg. 1986, 1651, Randnr. 26).
- 17.
- Der Begriff der öffentlichen Sicherheit im Sinne der genannten Artikel des
Vertrages umfaßt aber sowohl die innere Sicherheit eines Mitgliedstaats, um die es
in dem Verfahren ging, das dem Urteil Johnston zugrunde lag, als auch seine
äußere Sicherheit (vgl. Urteile vom 4. Oktober 1991 in der Rechtssache C-367/89,
Richardt und „Les Accessoires Scientifiques“, Slg. 1991, I-4621, Randnr. 22, und
vom 17. Oktober 1995 in der Rechtssache C-83/94, Leifer u. a., Slg. 1995, I-3231,
Randnr. 26).
- 18.
- Außerdem betreffen einige der im Vertrag vorgesehenen Ausnahmen nur die
Bestimmungen über den freien Waren-, Personen- und Dienstleistungsverkehr und
nicht die Sozialvorschriften des Vertrages, zu denen der von Frau Sirdar geltend
gemachte Grundsatz der Gleichbehandlung von Männern und Frauen gehört. Es
entspricht ständiger Rechtsprechung, daß dieser Grundsatz allgemeine Geltung hat
und daß die Richtlinie auf öffentlich-rechtliche Dienstverhältnisse anwendbar ist
(vgl. Urteile vom 21. Mai 1985 in der Rechtssache 248/83,
Kommission/Deutschland, Slg. 1985, 1459, Randnr. 16, und vom 2. Oktober 1997
in der Rechtssache C-1/95, Gerster, Slg. 1997, I-5253, Randnr. 18).
- 19.
- Folglich gibt es für Maßnahmen zur Organisation der Streitkräfte, die mit dem
Schutz der öffentlichen Sicherheit begründet werden, keinen allgemeinen Vorbehalt
gegenüber dem Grundsatz der Gleichbehandlung von Männern und Frauen. Etwas
anderes mag für die Anwendung von Artikel 224 des Vertrages gelten, der einen
ganz besonderen Ausnahmefall regelt und Gegenstand der dritten und der vierten
Frage ist (vgl. Urteil Johnston, Randnr. 27).
- 20.
- Auf die erste und die zweite Frage ist daher zu antworten, daß Entscheidungen der
Mitgliedstaaten, die den Zugang zur Beschäftigung, die Berufsbildung und die
Arbeitsbedingungen in den Streitkräften betreffen und zur Gewährleistung der
Kampfkraft erlassen worden sind, nicht allgemein vom Anwendungsbereich des
Gemeinschaftsrechts ausgenommen sind.
Zur fünften und zur sechsten Vorlagefrage
- 21.
- Mit diesen Fragen, die vor der dritten und der vierten Frage zu prüfen sind,
möchte das vorlegende Gericht wissen, ob und gegebenenfalls unter welchen
Voraussetzungen der Ausschluß von Frauen vom Dienst in Kampftruppen wie den
Royal Marines nach Artikel 2 Absatz 2 der Richtlinie gerechtfertigt sein kann.
- 22.
- Frau Sirdar und die Kommission sowie, hilfsweise, die Regierungen, die
Erklärungen abgegeben haben, sind der Meinung, daß die Rechtfertigungsgründe
für einen solchen Ausschluß unter Bezugnahme auf die vom Gerichtshof im Urteil
Johnston herausgearbeiteten Kriterien und insbesondere im Hinblick auf die
Beachtung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit zu beurteilen seien. Die
Regierung des Vereinigten Königreichs meint jedoch, daß die gerichtliche
Nachprüfung in diesem Bereich notwendigerweise begrenzt sei und sich auf die
Frage beschränken müsse, ob die nationalen Stellen vernünftigerweise davon hätten
ausgehen können, daß die betreffende Politik erforderlich und angemessen sei.
- 23.
- Nach Artikel 2 Absatz 2 der Richtlinie haben die Mitgliedstaaten die Befugnis,
solche beruflichen Tätigkeiten, für die das Geschlecht aufgrund ihrer Art oder der
Bedingungen ihrer Ausübung eine unabdingbare Voraussetzung darstellt, vom
Anwendungsbereich der Richtlinie auszuschließen, wobei jedoch daran zu erinnern
ist, daß diese Bestimmung als Ausnahme von einem in der Richtlinie verankerten
individuellen Recht eng auszulegen ist (vgl. Urteil Johnston, Randnr. 36).
- 24.
- So hat der Gerichtshof z. B. festgestellt, daß das Geschlecht für
Beschäftigungsverhältnisse wie die eines Aufsehers und eines Chefaufsehers in
Haftanstalten (Urteil vom 30. Juni 1988 in der Rechtssache 318/86,
Kommission/Frankreich, Slg. 1988, 3559, Randnrn. 11 bis 18) oder für bestimmte
Tätigkeiten wie die der Polizei bei schweren inneren Unruhen (Urteil Johnston,
Randnr. 37) eine unabdingbare Voraussetzung darstellen kann.
- 25.
- Ein Mitgliedstaat kann solche Tätigkeiten und die hierauf vorbereitende
Berufsausbildung je nach Lage des Falles Männern oder Frauen vorbehalten. Die
Mitgliedstaaten sind, wie sich aus Artikel 9 Absatz 2 der Richtlinie ergibt, in einem
solchen Fall verpflichtet, die betreffenden Tätigkeiten in regelmäßigen Abständen
zu prüfen, um unter Berücksichtigung der sozialen Entwicklung festzustellen, ob die
Ausnahme von der allgemeinen Regelung der Richtlinie noch aufrechterhalten
werden kann (Urteil Johnston, Randnr. 37).
- 26.
- Bei der Festlegung der Reichweite der Ausnahme von einem Individualrecht wie
dem auf Gleichbehandlung ist ferner, wie der Gerichtshof in Randnummer 38 des
Urteils Johnston ausgeführt hat, der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit zu
beachten, der zu den allgemeinen Grundsätzen des Gemeinschaftsrechts gehört.
Danach dürfen Ausnahmen nicht über das hinausgehen, was zur Erreichung des
verfolgten Zieles angemessen und erforderlich ist; ferner ist der Grundsatz der
Gleichbehandlung soweit wie möglich mit den Erfordernissen der öffentlichen
Sicherheit, die für die Bedingungen der Ausübung der jeweiligen Tätigkeiten
bestimmend sind, in Einklang zu bringen.
- 27.
- Die nationalen Stellen verfügen jedoch je nach den Umständen über einen
bestimmten Ermessensspielraum, wenn sie die für die öffentliche Sicherheit eines
Mitgliedstaats erforderlichen Maßnahmen treffen (vgl. Urteil Leifer u. a.,
Randnr. 35).
- 28.
- Es ist daher zu prüfen, ob unter den Umständen des vorliegenden Falles die
Maßnahmen, die die nationalen Stellen in Ausübung des ihnen zuerkannten
Ermessens getroffen haben, tatsächlich das Ziel verfolgen, die öffentliche Sicherheit
zu gewährleisten, und ob sie angemessen und erforderlich sind, um dieses Ziel zu
erreichen.
- 29.
- Wie in Randnummer 7 des vorliegenden Urteils ausgeführt, wurde die Weigerung,
die Klägerin des Ausgangsverfahrens als Köchin bei den Royal Marines
einzustellen, damit begründet, daß wegen der zur Gewährleistung der Kampfkraft
aufgestellten Regel der sogenannten „allseitigen Verwendbarkeit“ Frauen von
diesem Truppenteil vollständig ausgeschlossen seien.
- 30.
- Insoweit geht aus den Akten hervor, daß sich die Organisation der Royal Marines
nach den bereits vom vorlegenden Gericht getroffenen Feststellungen grundlegend
von der der übrigen Einheiten der britischen Streitkräfte, deren „Speerspitze“ sie
bilden, unterscheidet. Es handelt sich um eine Truppe von geringer Personalstärke,
deren Angehörige an vorderster Front eingreifen müssen. Es steht fest, daß in
dieser Einheit die Köche tatsächlich auch als Angehörige eines Kampftrupps zu
dienen haben, daß alle Mitglieder der Einheit zu diesem Zweck eingestellt und
ausgebildet werden und daß es im Zeitpunkt der Einstellung keine Ausnahme von
dieser Regel gibt.
- 31.
- Somit konnten die zuständigen Stellen bei Ausübung des Ermessens, über das sie
im Hinblick auf die Möglichkeit verfügen, unter Berücksichtigung der sozialen
Entwicklung den betreffenden Ausschluß aufrechtzuerhalten, ohne Verstoß gegen
den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit davon ausgehen, daß die speziellen
Bedingungen in Kampfeinheiten, die die Royal Marines darstellen, und
insbesondere die Regel der „allseitigen Verwendbarkeit“, der sie unterworfen sind,
es rechtfertigten, daß diese Einheiten ausschließlich aus Männern bestehen.
- 32.
- Auf die fünfte und die sechste Frage ist daher zu antworten, daß der Ausschluß von
Frauen vom Dienst in speziellen Kampfeinheiten wie den Royal Marines aufgrund
der Art und der Bedingungen der Ausübung der betreffenden Tätigkeiten nach
Artikel 2 Absatz 2 der Richtlinie gerechtfertigt sein kann.
Zur dritten und zur vierten Vorlagefrage
- 33.
- Angesichts der Antwort auf die fünfte und die sechste Frage erübrigt sich eine
Antwort auf die dritte und die vierte Frage.
Kosten
- 34.
- Die Auslagen der Regierung des Vereinigten Königreichs, der französischen und
der portugiesischen Regierung sowie der Kommission, die vor dem Gerichtshof
Erklärungen abgegeben haben, sind nicht erstattungsfähig. Für die Parteien des
Ausgangsverfahrens ist das Verfahren ein Zwischenstreit in dem bei dem
vorlegenden Gericht anhängigen Rechtsstreit; die Kostenentscheidung ist daher
Sache dieses Gerichts.
Aus diesen Gründen
hat
DER GERICHTSHOF
auf die ihm vom Industrial Tribunal Bury St Edmunds mit Entscheidung vom 28.
April 1997 vorgelegten Fragen für Recht erkannt:
1. Entscheidungen der Mitgliedstaaten, die den Zugang zur Beschäftigung, die
Berufsbildung und die Arbeitsbedingungen in den Streitkräften betreffen
und zur Gewährleistung der Kampfkraft erlassen worden sind, sind nicht
allgemein vom Anwendungsbereich des Gemeinschaftsrechts ausgenommen.
2. Der Ausschluß von Frauen vom Dienst in speziellen Kampfeinheiten wie
den Royal Marines kann aufgrund der Art und der Bedingungen der
Ausübung der betreffenden Tätigkeiten nach Artikel 2 Absatz 2 der
Richtlinie 76/207/EWG des Rates vom 9. Februar 1976 zur Verwirklichung
des Grundsatzes der Gleichbehandlung von Männern und Frauen
hinsichtlich des Zugangs zur Beschäftigung, zur Berufsbildung und zum
beruflichen Aufstieg sowie in bezug auf die Arbeitsbedingungen
gerechtfertigt sein.
Rodríguez Iglesias Moitinho de Almeida
Edward
Schintgen Kapteyn
Puissochet
Hirsch Jann
Ragnemalm
|
Verkündet in öffentlicher Sitzung in Luxemburg am 26. Oktober 1999.
Der Kanzler
Der Präsident
R. Grass
G. C. Rodríguez Iglesias