Language of document : ECLI:EU:F:2007:161

URTEIL DES GERICHTS FÜR DEN ÖFFENTLICHEN DIENST
(Erste Kammer)

18. September 2007

Rechtssache F-10/07

Patricia Botos

gegen

Kommission der Europäischen Gemeinschaften

„Öffentlicher Dienst – Beamte – Soziale Sicherheit – Krankheitsfürsorge – Übernahme von Krankheitskosten – Schwere Krankheit – Verwaltungsausschuss – Medizinisches Gutachten“

Gegenstand: Klage nach den Art. 236 EG und 152 EA auf Aufhebung der Entscheidung der Anstellungsbehörde der Kommission vom 30. Oktober 2006 über die Zurückweisung der Beschwerde der Klägerin gegen mehrere Entscheidungen der Verwaltung des gemeinsamen Krankheitsfürsorgesystems der Europäischen Gemeinschaften, mit denen diese es abgelehnt hat, ihr Leiden (chronisches Erschöpfungssyndrom) als eine schwere, zu einer Erstattung der aufgewandten Kosten in Höhe von 100 % berechtigenden Krankheit anzuerkennen, und bestimmte Analysekosten sowie von dem Produkt Lactase mehr als zehn Packungen pro Jahr zu erstatten, und auf Aufhebung dieser ablehnenden Entscheidungen

Entscheidung: Die Entscheidungen der Kommission vom 23. Januar 2006 und vom 30. Oktober 2006 werden aufgehoben, soweit sie der Klägerin die Erstattung der Kosten der von RED Laboratories und Ategis durchgeführten Analysen zum normalen Satz des gemeinsamen Krankheitsfürsorgesystems der Europäischen Gemeinschaften versagen. Im Übrigen wird die Klage abgewiesen. Die Klägerin trägt zwei Drittel ihrer eigenen Kosten. Die Kommission trägt ihre eigenen Kosten und ein Drittel der Kosten der Klägerin.

Leitsätze

1.      Beamte – Soziale Sicherheit – Krankheitsfürsorge – Schwere Krankheit – Versagung der Anerkennung – Gerichtliche Nachprüfung – Grenze

(Beamtenstatut, Art. 72 Abs. 1)

2.      Beamte – Soziale Sicherheit – Krankheitsfürsorge – Krankheitskosten – Erstattung – Ablehnung – Behandlungen, die als nicht sachdienlich oder nicht notwendig gelten – Gerichtliche Nachprüfung – Grenzen

(Beamtenstatut, Art. 72 Abs. 1; Regelung zur Sicherstellung der Krankheitsfürsorge, Art. 20 Abs. 3 und 4)

1.       Von den Rechtsbehelfen des Statuts kann grundsätzlich nicht Gebrauch gemacht werden, um ärztliche Beurteilungen im eigentlichen Sinne in Frage zu stellen, die als endgültig gelten müssen, wenn sie unter ordnungsgemäßen Voraussetzungen zustande gekommen sind. Das Gericht hat weder zu prüfen, ob die Art und Weise, in der eine ärztliche Untersuchung durchgeführt wurde, den besten medizinischen Methoden entspricht, noch, ob sie für die Feststellung des Gesundheitszustands des Betroffenen am geeignetsten ist oder ob die Diagnose eines Arztes zum Geisteszustand eines Beamten gerechtfertigt ist. Ohne die ärztlichen Beurteilungen in Frage zu stellen, hat das Gericht jedoch zu prüfen, ob die Anstellungsbehörde mit ihrer Weigerung, die gesundheitliche Beeinträchtigung des Betroffenen als schwere Krankheit anzuerkennen, den Sachverhalt zutreffend gewürdigt und die einschlägigen rechtlichen Bestimmungen korrekt angewendet hat.

Es ist daher Sache des Gerichts, im Rahmen der beschränkten gerichtlichen Kontrolle, die es auf medizinischem Gebiet vorzunehmen hat, zu prüfen, ob sich die zuständige Behörde bei ihrer Weigerung, eine Krankheit als schwere Krankheit einzustufen, tatsächlich auf Kriterien gestützt hat, anhand deren diese Einstufung zu erfolgen hat, und keinen offensichtlichen Fehler begangen hat, als sie aus den ihr zur Kenntnis gebrachten ärztlichen Feststellungen – über die das Gericht nicht befinden kann, es sei denn, dass die Verwaltung deren Tragweite falsch wiedergibt – geschlossen hat, dass diese Kriterien nicht kumulativ erfüllt seien.

(vgl. Randnrn. 39 bis 41)

Verweisung auf:

Gerichtshof: 19. Januar 1988, Biedermann/Rechnungshof, 2/87, Slg. 1988, 143, Randnr. 8

Gericht erster Instanz: 16. März 1993, Blackman/Parlament, T‑33/89 und T‑74/89, Slg. 1993, II‑249, Randnr. 44; 7. November 2002, G/Kommission, T‑199/01, Slg. ÖD 2002, I‑A‑217 und II‑1085, Randnr. 59; 12. Mai 2004, Hecq/Kommission, T‑191/01, Slg. ÖD 2004, I‑A‑147 und II‑659, Randnr. 63

Gericht für den öffentlichen Dienst: 28. Juni 2006, Beau/Kommission, F‑39/05, Slg. ÖD 2006, I-A-1-51 und II-A-1-175, Randnr. 74; 13. Dezember 2006, De Brito Sequeira Carvalho/Kommission, F‑17/05, Slg. ÖD 2006, I-A-1-149 und II‑A-1-577, Randnr. 85

2.      Die dem gemeinsamen Krankheitsfürsorgesystem der Europäischen Gemeinschaften angeschlossenen Mitglieder haben nicht ohne Weiteres Anspruch auf Erstattung all ihrer Krankheitskosten. Zur Sicherstellung des finanziellen Gleichgewichts des gemeinsamen Krankheitsfürsorgesystems haben die Gemeinschaftsorgane nämlich in der Regelung zur Sicherstellung der Krankheitsfürsorge für die Beamten der Europäischen Gemeinschaften u. a. Fälle, in denen die Erstattung bestimmter Arten von Krankheitskosten verweigert wird, oder spezifische Voraussetzungen für einen Anspruch auf Erstattung bestimmter Leistungen vorgesehen. So werden nach Art. 20 Abs. 3 der Regelung Kosten für Behandlungen, die die Abrechnungsstelle als nicht sachdienlich oder nicht notwendig ansieht, nicht erstattet. Außerdem ist nach Art. 20 Abs. 4 der Regelung im Rahmen der gemeinsamen Krankheitsfürsorge die Erstattung von Leistungen, die in den allgemeinen Durchführungsbestimmungen nicht vorgesehen sind, lediglich möglich, und dies auch nur in Höhe von 80 % und nach Stellungnahme des Vertrauensarztes der Abrechnungsstelle.

Demzufolge hat das dem gemeinsamen Krankheitsfürsorgesystem angeschlossene Mitglied zwar Grund zu der Annahme, dass seine Krankheitskosten grundsätzlich bis zu der in Art. 72 Abs. 1 des Statuts vorgesehenen Höhe erstattet werden, doch kann die Abrechnungsstelle die Erstattung bestimmter Kosten gleichwohl ablehnen, wenn sie nach Stellungnahme des Vertrauensarztes und gegebenenfalls nach Stellungnahme des Ärztebeirats der Ansicht ist, dass sich diese Kosten auf eine Behandlung oder auf Leistungen beziehen, deren wissenschaftliche Validität nicht erwiesen ist. Es ist nämlich völlig gerechtfertigt, dass die Kosten von Behandlungen oder Leistungen, deren therapeutischer Nutzen oder deren Zuverlässigkeit als diagnostische Mittel wissenschaftlich umstritten ist, vom gemeinsamen Krankheitsfürsorgesystem, das von den angeschlossenen Mitgliedern und den Gemeinschaftsorganen finanziert wird, nicht übernommen werden.

Gerade um endlose oder unlösbare Sachverständigendebatten zu vermeiden, wurden mit den in diesem Rahmen zu treffenden Beurteilungen die ärztlichen Instanzen des gemeinsamen Krankheitsfürsorgesystems, d. h. die Vertrauensärzte und der Ärztebeirat, betraut, die auf der Grundlage der wissenschaftlichen Literatur und, falls erforderlich, nach Stellungnahmen von Fachärzten oder medizinischen Kapazitäten auf dem betreffenden Gebiet zu befinden haben.

In einem solchen Kontext, in dem das dem gemeinsamen Krankheitsfürsorgesystem angeschlossene Mitglied keinen Anspruch auf Erstattung der bei diesem eingereichten Kosten geltend machen kann, kann dieses Mitglied in Anbetracht der begrenzten gerichtlichen Kontrolle, die der Gemeinschaftsrichter in Bezug auf rein medizinische Beurteilungen durchführt, die Ablehnung einer Erstattung wegen fehlender wissenschaftlicher Validität einer Behandlung oder Leistung vor dem Gericht nur dadurch in Frage stellen, dass es einen offensichtlichen Fehler in dieser Begründung dartut.

Offensichtlich fehlerhaft in diesem Sinne ist die Ablehnung einer Erstattung von Analysekosten, wenn keine andere diagnostische Methode eine höhere Validität aufweist als diese Analysen und wenn die Anstellungsbehörde der Diagnose, zu der sie geführt haben, gefolgt ist.

(vgl. Randnrn. 62 bis 76)