Language of document : ECLI:EU:C:2020:349

URTEIL DES GERICHTSHOFS (Erste Kammer)

7. Mai 2020(*)

„Vorlage zur Vorabentscheidung – Justizielle Zusammenarbeit in Zivilsachen – Verordnung (EG) Nr. 44/2001 – Art. 1 Abs. 1 – Begriffe ‚Zivil- und Handelssachen‘ und ‚verwaltungsrechtliche Angelegenheiten‘ – Geltungsbereich – Tätigkeiten der Schiffsklassifikations- und ‑zertifizierungsgesellschaften – Acta iure imperii und acta iure gestionis – Hoheitliche Befugnisse – Staatenimmunität“

In der Rechtssache C‑641/18

betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Tribunale di Genova (Gericht Genua, Italien) mit Entscheidung vom 28. September 2018, beim Gerichtshof eingegangen am 12. Oktober 2018, in dem Verfahren

LG u. a.

gegen

Rina SpA,

Ente Registro Italiano Navale

erlässt

DER GERICHTSHOF (Erste Kammer)

unter Mitwirkung des Kammerpräsidenten J.‑C. Bonichot, der Vizepräsidentin des Gerichtshofs R. Silva de Lapuerta in Wahrnehmung der Aufgaben eines Richters der Ersten Kammer, der Richter M. Safjan und L. Bay Larsen sowie der Richterin C. Toader (Berichterstatterin),

Generalanwalt: M. Szpunar,

Kanzler: R. Schiano, Verwaltungsrat,

aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 18. September 2019,

unter Berücksichtigung der Erklärungen

–        von LG u. a., vertreten durch R. Ambrosio, S. Commodo, S. Bertone, M. Bona, A. Novelli und F. Pocar, avvocati, C. Villacorta Salis, abogado, J.‑P. Bellecave, avocat, sowie N. Taylor, Solicitor,

–        der Rina SpA und der Ente Registro Italiano Navale, vertreten durch G. Giacomini, F. Siccardi, R. Bassi, M. Campagna, T. Romanengo, F. Ronco und M. Giacomini, avvocati,

–        der französischen Regierung, vertreten durch D. Colas, D. Dubois und E. de Moustier als Bevollmächtigte,

–        der Europäischen Kommission, vertreten durch M. Heller, S. L. Kalėda und L. Malferrari als Bevollmächtigte,

nach Anhörung der Schlussanträge des Generalanwalts in der Sitzung vom 14. Januar 2020

folgendes

Urteil

1        Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 1 Abs. 1 und Art. 2 der Verordnung (EG) Nr. 44/2001 des Rates vom 22. Dezember 2000 über die gerichtliche Zuständigkeit und die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in Zivil- und Handelssachen (ABl. 2001, L 12, S. 1) im Licht von Art. 47 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (im Folgenden: Charta) und des 16. Erwägungsgrundes der Richtlinie 2009/15/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 23. April 2009 über gemeinsame Vorschriften und Normen für Schiffsüberprüfungs- und ‑besichtigungsorganisationen und die einschlägigen Maßnahmen der Seebehörden (ABl. 2009, L 131, S. 47).

2        Es ergeht in einem Rechtsstreit zwischen LG u. a. auf der einen und der Rina SpA und der Ente Registro Italiano Navale (im Folgenden zusammen: Rina-Gesellschaften) auf der anderen Seite über die im Rahmen der zivilrechtlichen Haftung bestehende Pflicht zum Ersatz des Vermögens- und des Nichtvermögensschadens, den LG u. a. aufgrund des Untergangs des Schiffes Al Salam Boccaccio ’98, der sich in der Nacht vom 2. Februar zum 3. Februar 2006 im Roten Meer ereignete, erlitten hatten.

 Rechtlicher Rahmen

 Völkerrecht

3        Das am 10. Dezember 1982 in Montego Bay unterzeichnete Seerechtsübereinkommen der Vereinten Nationen (im Folgenden: Montego-Bay-Übereinkommen) trat am 16. November 1994 in Kraft. Es wurde mit dem Beschluss 98/392/EG des Rates vom 23. März 1998 (ABl. 1998, L 179, S. 1) im Namen der Europäischen Gemeinschaft genehmigt.

4        Nach Art. 90 („Schifffahrtsrecht“) dieses Übereinkommens hat „[j]eder Staat… das Recht, Schiffe, die seine Flagge führen, auf hoher See zu fahren“.

5        Art. 91 („Staatszugehörigkeit der Schiffe“) des Übereinkommens sieht vor:

„(1)      Jeder Staat legt die Bedingungen fest, zu denen er Schiffen seine Staatszugehörigkeit gewährt, sie in seinem Hoheitsgebiet in das Schiffregister einträgt und ihnen das Recht einräumt, seine Flagge zu führen. Schiffe besitzen die Staatszugehörigkeit des Staates, dessen Flagge zu führen sie berechtigt sind. …

(2)      Jeder Staat stellt den Schiffen, denen er das Recht einräumt, seine Flagge zu führen, entsprechende Dokumente aus.“

6        Art. 94 Abs. 1 und 3 bis 5 des Montego-Bay-Übereinkommens bestimmt:

„(1)      Jeder Staat übt seine Hoheitsgewalt und Kontrolle in verwaltungsmäßigen, technischen und sozialen Angelegenheiten über die seine Flagge führenden Schiffe wirksam aus.

(3)      Jeder Staat ergreift für die seine Flagge führenden Schiffe die Maßnahmen, die zur Gewährleistung der Sicherheit auf See erforderlich sind, unter anderem in Bezug auf

a)      den Bau, die Ausrüstung und die Seetüchtigkeit der Schiffe;

(4)      Diese Maßnahmen umfassen solche, die notwendig sind, um sicherzustellen,

a)      dass jedes Schiff vor der Eintragung in das Schiffregister und danach in angemessenen Abständen von einem befähigten Schiffsbesichtiger besichtigt wird und diejenigen Seekarten, nautischen Veröffentlichungen sowie Navigationsausrüstungen und ‑instrumente an Bord hat, die für die sichere Fahrt des Schiffes erforderlich sind;

(5)      Wenn ein Staat Maßnahmen nach den Absätzen 3 und 4 ergreift, ist er verpflichtet, sich an die allgemein anerkannten internationalen Vorschriften, Verfahren und Gebräuche zu halten und alle erforderlichen Vorkehrungen zu treffen, um ihre Beachtung sicherzustellen.“

7        In diesem Zusammenhang bezweckt das am 1. November 1974 in London geschlossene Internationale Übereinkommen zum Schutz des menschlichen Lebens auf See (im Folgenden: SOLAS-Übereinkommen), dem alle Mitgliedstaaten beigetreten sind, in erster Linie die Festlegung von Mindestanforderungen für den Bau, die Ausrüstung und den Betrieb von Schiffen, die sicherheitsgerecht sind.

8        Nach Kapitel II-1 Teil A-1 Regel 3-1 dieses Übereinkommens müssen die Schiffe nach den strukturellen, mechanischen und elektrischen Anforderungen einer von der Verwaltung – d. h. nach dem Wortlaut des Übereinkommens von der Regierung des Staates, dessen Flagge das Schiff führen darf – nach den Bestimmungen der Regel XI/1 anerkannten Klassifikationsgesellschaft oder gemäß den geltenden nationalen Verwaltungsvorschriften, die ein gleichwertiges Sicherheitsniveau vorsehen, entworfen, gebaut und instand gehalten werden.

9        Regel 6 in Kapitel I des SOLAS-Übereinkommens bestimmt:

„a)      Soweit es sich um die Anwendung dieser Regeln und um die etwaige Befreiung davon handelt, erfolgt die Überprüfung und Besichtigung von Schiffen durch Bedienstete der Verwaltung. Die Verwaltung kann jedoch die Überprüfung und Besichtigung den für diesen Zweck ernannten Besichtigern oder den von ihr anerkannten Stellen übertragen.

b)      Eine Verwaltung, die zur Durchführung von Überprüfungen und Besichtigungen nach Buchstabe a Besichtiger ernennt oder Stellen anerkennt, ermächtigt jeden ernannten Besichtiger und jede anerkannte Stelle mindestens,

i)      die Reparatur eines Schiffes zu verlangen;

ii)      Überprüfungen und Besichtigungen durchzuführen, wenn sie von den zuständigen Behörden eines Hafenstaats darum ersucht werden.

Die Verwaltung teilt der Organisation die besonderen Verantwortlichkeiten und Bedingungen der den ernannten Besichtigern oder anerkannten Stellen übertragenen Befugnis mit.

c)      Stellt ein ernannter Besichtiger oder eine anerkannte Stelle fest, dass der Zustand des Schiffes oder seiner Ausrüstung nicht im Wesentlichen den Angaben des Zeugnisses entspricht oder so ist, dass das Schiff nicht geeignet ist, ohne Gefahr für das Schiff oder die an Bord befindlichen Personen in See zu gehen, so stellt der Besichtiger oder die Stelle sofort sicher, dass Abhilfemaßnahmen getroffen werden, und unterrichtet rechtzeitig die Verwaltung. Werden keine Abhilfemaßnahmen getroffen, so soll das betreffende Zeugnis eingezogen werden, und die Verwaltung wird sofort unterrichtet …

d)      In jedem Fall übernimmt die Verwaltung die volle Gewähr für die Vollständigkeit und Gründlichkeit der Überprüfung und Besichtigung und verpflichtet sich, für die erforderlichen Vorkehrungen zur Erfüllung dieser Pflicht zu sorgen.“

 Unionsrecht

 Verordnung Nr. 44/2001

10      Nach Art. 1 Abs. 1 der Verordnung Nr. 44/2001 „[ist d]iese Verordnung… in Zivil- und Handelssachen anzuwenden, ohne dass es auf die Art der Gerichtsbarkeit ankommt. Sie erfasst insbesondere nicht Steuer- und Zollsachen sowie verwaltungsrechtliche Angelegenheiten.“

11      Art. 2 Abs. 1 dieser Verordnung bestimmt:

„Vorbehaltlich der Vorschriften dieser Verordnung sind Personen, die ihren Wohnsitz im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats haben, ohne Rücksicht auf ihre Staatsangehörigkeit vor den Gerichten dieses Mitgliedstaats zu verklagen.“

 Richtlinie 2009/15

12      Der 16. Erwägungsgrund der Richtlinie 2009/15 lautet:

„Stellen eine anerkannte Organisation, ihre Besichtiger oder ihre technischen Mitarbeiter die einschlägigen Zeugnisse für die Verwaltung aus, sollten die Mitgliedstaaten in Betracht ziehen, ihnen zu ermöglichen, im Hinblick auf diese delegierten Tätigkeiten verhältnismäßige Rechtsgarantien und Rechtsschutz einschließlich der Ausübung angemessener Verteidigungsrechte in Anspruch zu nehmen, mit Ausnahme der Immunität, die ein Recht ist, das als untrennbares Hoheitsrecht nicht delegierbar ist und auf das sich daher nur die Mitgliedstaaten berufen können.“

13      Art. 1 dieser Richtlinie bestimmt:

„Mit dieser Richtlinie werden Vorschriften aufgestellt, die von den Mitgliedstaaten bei ihren Beziehungen mit den Organisationen, die mit der Überprüfung, Besichtigung und Zertifizierung von Schiffen hinsichtlich der Einhaltung der internationalen Übereinkommen zum Schutz des menschlichen Lebens auf See und zur Verhütung der Meeresverschmutzung betraut sind, zu befolgen sind und zugleich dem Ziel der Dienstleistungsfreiheit dienen. Hierzu gehören die Ausarbeitung und Durchführung von Sicherheitsvorschriften für Schiffskörper, Maschinen, elektrische sowie Steuer‑, Regel- und Überwachungseinrichtungen von Schiffen, auf die die internationalen Übereinkommen anwendbar sind.“

 Ausgangsrechtsstreit und Vorlagefrage

14      LG u. a., Familienangehörige von Opfern und Passagiere, die den Untergang des Schiffes Al Salam Boccaccio ’98 überlebten, der sich in der Nacht vom 2. Februar zum 3. Februar 2006 im Roten Meer ereignet und mehr als 1 000 Opfer gefordert hatte, erhoben beim Tribunale di Genova (Gericht Genua, Italien) Klage gegen Rina, Schiffsklassifikations- und ‑zertifizierungsgesellschaften mit Sitz in Genua.

15      LG u. a. begehren den Ersatz der sich aus der möglichen zivilrechtlichen Haftung der Rina-Gesellschaften ergebenden Vermögens- und Nichtvermögensschäden und machen geltend, der Untergang sei auf die Maßnahmen zur Klassifikation und Zertifizierung dieses Schiffes zurückzuführen, die die Rina-Gesellschaften aufgrund eines mit der Republik Panama geschlossenen Vertrags durchgeführt hätten, um für das Schiff die Flagge dieses Staates zu erhalten.

16      Die Rina-Gesellschaften halten das vorlegende Gericht unter Berufung auf den völkerrechtlichen Grundsatz der Immunität ausländischer Staaten für unzuständig. Insbesondere seien die von ihnen vorgenommenen Klassifikations- und Zertifizierungsmaßnahmen im Auftrag der Republik Panama durchgeführt worden und daher Ausdruck der hoheitlichen Befugnisse des beauftragenden Staates.

17      Nach Auffassung von LG u. a. sind die italienischen Gerichte nach Art. 2 Abs. 1 dieser Verordnung zuständig, da die Rina-Gesellschaften ihren Sitz in Italien hätten und der Ausgangsrechtsstreit zivilrechtlicher Natur im Sinne von Art. 1 der Verordnung Nr. 44/2001 sei. LG u. a. vertreten ferner die Ansicht, dass die von den Rina-Gesellschaften erhobene Einrede der Staatenimmunität nicht Tätigkeiten erfasse, die durch technische Vorschriften geregelt seien, die keinen Ermessensspielraum aufwiesen und jedenfalls nichts mit den politischen Entscheidungen und Befugnissen eines Staates zu tun hätten.

18      Das vorlegende Gericht wirft die Frage nach der Zuständigkeit der italienischen Gerichte auf, da die Rina-Gesellschaften zwar unstreitig ihren Sitz in Italien hätten, aber im Auftrag der Republik Panama gehandelt hätten.

19      In diesem Zusammenhang verweist es in seinem Vorabentscheidungsersuchen auf die Rechtsprechung der Corte costituzionale (Verfassungsgerichtshof, Italien) und der Corte Suprema di Cassazione (Kassationsgerichtshof, Italien) zur Staatenimmunität. Nach der Rechtsprechung dieser obersten Gerichte sei die Anerkennung der Staatenimmunität nur bei Handlungen ausländischer Staaten, bei denen es sich um Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit handele, oder, wenn eine solche Anerkennung gegen den Grundsatz des gerichtlichen Rechtsschutzes verstoße, ausgeschlossen.

20      Unter diesen Umständen hat das Tribunale di Genova (Gericht Genua) das Verfahren ausgesetzt und dem Gerichtshof folgende Frage zur Vorabentscheidung vorgelegt:

Sind Art. 1 Abs. 1 und Art. 2 Abs. 1 der Verordnung Nr. 44/2001 – auch im Licht von Art. 47 der Charta, Art. 6 Abs. 1 der am 4. November 1950 in Rom unterzeichneten Europäischen Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten (im Folgenden: EMRK) und des 16. Erwägungsgrundes der Richtlinie 2009/15 – dahin auszulegen, dass sich ein Gericht eines Mitgliedstaats für die Entscheidung über eine auf die Haftung für unerlaubte Handlung gestützte Klage auf Schadensersatz für durch den Schiffbruch einer Personenfähre verursachte Todesfälle und Personenschäden nicht mit der Begründung für unzuständig erklären kann, dass in dem betreffenden Mitgliedstaat ansässige privatrechtliche Organisationen und juristische Personen, die Tätigkeiten der Klassifizierung und/oder Zertifizierung ausüben, von der Gerichtsbarkeit befreit sind, weil sie diese Tätigkeiten für einen Drittstaat ausüben?

 Zur Vorlagefrage

 Zur Zulässigkeit

21      Die Rina-Gesellschaften machen in ihren schriftlichen Erklärungen geltend, das Vorabentscheidungsersuchen sei unzulässig. Hierzu tragen sie im Wesentlichen vor, dass die Auslegung der Bestimmungen der Verordnung Nr. 44/2001 für die Entscheidung über die im Ausgangsverfahren erhobene Einrede der Staatenimmunität, über die das vorlegende Gericht, bevor es den Gerichtshof um Vorabentscheidung ersucht habe, zur Feststellung seiner Zuständigkeit hätte entscheiden müssen, nicht erheblich sei. Außerdem sei die Verordnung Nr. 44/2001 auf den Ausgangsrechtsstreit sachlich nicht anwendbar, da es im vorliegenden Fall um einen Anspruch gehe, der seinen Ursprung in einem Hoheitsakt habe, was ausreiche, um die Klage vom Anwendungsbereich dieser Verordnung auszunehmen.

22      In diesem Zusammenhang ist darauf hinzuweisen, dass nach ständiger Rechtsprechung eine Vermutung für die Entscheidungserheblichkeit der Vorlagefragen des nationalen Gerichts spricht, die es zur Auslegung des Unionsrechts in dem rechtlichen und sachlichen Rahmen stellt, den es in eigener Verantwortung festgelegt und dessen Richtigkeit der Gerichtshof nicht zu prüfen hat. Er kann die Entscheidung über die Vorlagefrage eines nationalen Gerichts nur ablehnen, wenn die erbetene Auslegung des Unionsrechts offensichtlich in keinem Zusammenhang mit der Realität oder dem Gegenstand des Ausgangsrechtsstreits steht, wenn das Problem hypothetischer Natur ist oder er nicht über die tatsächlichen oder rechtlichen Angaben verfügt, die für eine sachdienliche Beantwortung der ihm vorgelegten Fragen erforderlich sind (Urteil vom 19. Dezember 2019, Airbnb Ireland, C‑390/18, EU:C:2019:1112, Rn. 29).

23      Im vorliegenden Fall geht aus dem Vorabentscheidungsersuchen hervor, dass zwischen Art. 1 Abs. 1 der Verordnung Nr. 44/2001, um dessen Auslegung das vorlegende Gericht ersucht, und dem Ausgangsrechtsstreit ein tatsächlicher und unmittelbarer Zusammenhang besteht. Die Auslegung ist nämlich erforderlich, um gemäß Art. 2 Abs. 1 dieser Verordnung die Zuständigkeit dieses Gerichts für die Entscheidung des Rechtsstreits festzustellen.

24      Der Einwand, diese Verordnung sei auf das Ausgangsverfahren nicht anwendbar, betrifft nicht die Zulässigkeit des Vorabentscheidungsersuchens, sondern den Inhalt der Vorlagefrage (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 4. Juli 2019, Kirschstein, C‑393/17, EU:C:2019:563, Rn. 28).

25      Im Übrigen ist darauf hinzuweisen, dass die Verordnung Nr. 44/2001 nicht nur dann anwendbar ist, wenn der Rechtsstreit mehrere Mitgliedstaaten betrifft, sondern auch dann, wenn er, weil wegen der Beteiligung eines Drittstaats ein Auslandsbezug besteht, einen einzigen Mitgliedstaat betrifft. Diese Situation ist nämlich geeignet, Fragen zur Bestimmung der völkerrechtlichen Zuständigkeit der Gerichte aufzuwerfen (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 1. März 2005, Owusu, C‑281/02, EU:C:2005:120, Rn. 24 bis 27, und vom 17. März 2016, Taser International, C‑175/15, EU:C:2016:176, Rn. 20).

26      Die Vorlagefrage ist folglich zulässig.

 Zur Sache

27      Mit seiner Vorlagefrage möchte das vorlegende Gericht wissen, ob Art. 1 Abs. 1 der Verordnung Nr. 44/2001 dahin auszulegen ist, dass eine Schadensersatzklage, die gegen juristische Personen des Privatrechts erhoben wird, die für Rechnung und im Auftrag eines Drittstaats eine Schiffsklassifikations‑ und ‑zertifizierungstätigkeit ausüben, unter den Begriff „Zivil- und Handelssachen“ im Sinne dieser Bestimmung und folglich in den Anwendungsbereich dieser Verordnung fällt und ob in diesem Fall der völkergewohnheitsrechtliche Grundsatz der Staatenimmunität der Ausübung der gemäß dieser Verordnung vorgesehenen gerichtlichen Zuständigkeit durch das angerufene nationale Gericht entgegensteht.

28      Um dem vorlegenden Gericht eine sachdienliche Antwort geben zu können, ist insoweit erstens bei der Prüfung der Frage, ob die italienischen Gerichte nach Art. 2 Abs. 1 der Verordnung Nr. 44/2001 zuständig sind, die Auslegung der Begriffe „Zivil- und Handelssachen“ und „verwaltungsrechtliche Angelegenheiten“ im Sinne von Art. 1 Abs. 1 dieser Verordnung in Bezug auf die Klassifikations- und Zertifizierungstätigkeiten der Rina-Gesellschaften zu klären und sind zweitens die Folgen der möglichen Anerkennung der Staatenimmunität für privatrechtliche Einrichtungen wie die Rina-Gesellschaften für die Durchführung dieser Verordnung zu prüfen, insbesondere für die Ausübung der gerichtlichen Zuständigkeit, über die das vorlegende Gericht nach Art. 2 Abs. 1 der Verordnung Nr. 44/2001 verfügen würde.

29      Nach Art. 1 Abs. 1 der Verordnung Nr. 44/2001 wird deren Anwendungsbereich auf den Begriff „Zivil- und Handelssachen“ beschränkt. Sie erfasst insbesondere nicht Steuer- und Zollsachen sowie verwaltungsrechtliche Angelegenheiten.

30      Erstens ist darauf hinzuweisen, dass der Begriff „Zivil- und Handelssachen“ nach ständiger Rechtsprechung nicht als bloße Verweisung auf das innerstaatliche Recht des einen oder anderen beteiligten Staates verstanden werden kann, da sichergestellt werden muss, dass sich aus der Verordnung Nr. 44/2001 für die Mitgliedstaaten und die betroffenen Personen so weit wie möglich gleiche und einheitliche Rechte und Pflichten ergeben. Der Begriff ist als autonomer Begriff anzusehen, bei dessen Auslegung die Zielsetzungen und die Systematik dieser Verordnung sowie die allgemeinen Rechtsgrundsätze, die sich aus der Gesamtheit der nationalen Rechtsordnungen ergeben, berücksichtigt werden müssen (Urteil vom 23. Oktober 2014, flyLAL-Lithuanian Airlines, C‑302/13, EU:C:2014:2319, Rn. 24).

31      Zweitens wollte der Unionsgesetzgeber nach ständiger Rechtsprechung, wie es u. a. im siebten Erwägungsgrund der Verordnung Nr. 44/2001 heißt, den in Art. 1 Abs. 1 dieser Verordnung enthaltenen Begriff „Zivil- und Handelssachen“ und damit ihren Anwendungsbereich weit fassen (Urteil vom 6. Februar 2019, NK, C‑535/17, EU:C:2019:96, Rn. 25 und die dort angeführte Rechtsprechung).

32      Drittens ist darauf hinzuweisen, dass für die Feststellung, ob ein Bereich in den Anwendungsbereich der Verordnung Nr. 44/2001 fällt, die Gesichtspunkte zu prüfen sind, die die Natur der zwischen den Parteien des Rechtsstreits bestehenden Rechtsbeziehungen oder dessen Gegenstand kennzeichnen (Urteil vom 23. Oktober 2014, flyLAL-Lithuanian Airlines, C‑302/13, EU:C:2014:2319, Rn. 26).

33      So hat der Gerichtshof bereits entschieden, dass zwar bestimmte Rechtsstreitigkeiten, in denen sich eine Behörde und eine Privatperson gegenüberstehen, in den Anwendungsbereich der Verordnung Nr. 44/2001 fallen können, wenn sich die Klage auf Handlungen bezieht, die iure gestionis vorgenommen wurden, dass es sich jedoch anders verhält, wenn die Behörde in Ausübung hoheitlicher Befugnisse tätig wird (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 23. Oktober 2014, flyLAL-Lithuanian Airlines, C‑302/13, EU:C:2014:2319, Rn. 30 und die dort angeführte Rechtsprechung).

34      Die Wahrnehmung von Hoheitsrechten durch eine der Parteien des Rechtsstreits schließt einen solchen Rechtsstreit nämlich von den „Zivil- und Handelssachen“ im Sinne von Art. 1 Abs. 1 der Verordnung Nr. 44/2001 aus, da diese Partei Befugnisse ausübt, die von den im Verhältnis zwischen Privatpersonen geltenden allgemeinen Regeln abweichen (Urteil vom 28. April 2009, Apostolides, C‑420/07, EU:C:2009:271, Rn. 44 und die dort angeführte Rechtsprechung).

35      Um festzustellen, ob ein Rechtsstreit Handlungen betrifft, die in Ausübung hoheitlicher Befugnisse begangen werden, sind die Grundlage der erhobenen Klage und die Modalitäten ihrer Erhebung zu prüfen (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 11. April 2013, Sapir u. a., C‑645/11, EU:C:2013:228, Rn. 34 und die dort angeführte Rechtsprechung, und vom 12. September 2013, Sunico u. a., C‑49/12, EU:C:2013:545, Rn. 35 und die dort angeführte Rechtsprechung).

36      Wie aus den dem Gerichtshof vorgelegten Akten hervorgeht, stützt sich die Klage von LG u. a. insoweit auf die Art. 2043, 2049, 2050 und 2055 des italienischen Zivilgesetzbuchs über die außervertragliche Haftung sowie auf dessen Art. 1218 und 1228 über die vertragliche Haftung wegen Verletzung von Sicherheitspflichten.

37      Außerdem ist zu prüfen, ob die Schiffsklassifikations- und ‑zertifizierungsmaßnahmen, die von den Rina-Gesellschaften im Auftrag und für Rechnung der Republik Panama durchgeführt wurden, inhaltlich unter die Ausübung hoheitlicher Befugnisse fallen.

38      Im Rahmen des Verfahrens nach Art. 267 AEUV ist es Sache des vorlegenden Gerichts und nicht des Gerichtshofs, diese Maßnahmen insoweit rechtlich einzuordnen. Um dem vorlegenden Gericht eine sachdienliche Antwort zu geben, ist jedoch auf folgende Gesichtspunkte hinzuweisen.

39      Wie der Generalanwalt in den Nrn. 67 bis 70 seiner Schlussanträge im Wesentlichen ausgeführt hat, ist es insoweit unter Umständen wie denen des Ausgangsverfahrens unerheblich, dass bestimmte Tätigkeiten im Auftrag eines Staates ausgeübt wurden, da der Gerichtshof hierzu entschieden hat, dass die bloße Tatsache, dass bestimmte Befugnisse durch einen Hoheitsakt übertragen werden, nicht bedeutet, dass diese Befugnisse iure imperii ausgeübt werden (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 9. März 2017, Pula Parking, C‑551/15, EU:C:2017:193, Rn. 35).

40      Einer solchen Schlussfolgerung steht nicht entgegen, dass diese Klassifikations- und Zertifizierungsmaßnahmen von den Rina-Gesellschaften für Rechnung und im Interesse der Republik Panama durchgeführt wurden. Der Gerichtshof hat nämlich bereits für Recht erkannt, dass das Handeln für den Staat nicht immer eine Ausübung hoheitlicher Befugnisse bedeutet (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 21. April 1993, Sonntag, C‑172/91, EU:C:1993:144, Rn. 21).

41      Im Einklang mit den Ausführungen von LG u. a. in ihren Erklärungen reicht der Umstand, dass bestimmte Tätigkeiten einem öffentlichen Zweck dienen, für sich genommen nicht aus, um diese Tätigkeiten als Tätigkeiten iure imperii einzustufen, da sie nicht der Wahrnehmung von Befugnissen entsprechen, die von den im Verhältnis zwischen Privatpersonen geltenden Regeln abweichen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 21. April 1993, Sonntag, C‑172/91, EU:C:1993:144, Rn. 22). Auch wenn die Tätigkeit der Rina-Gesellschaften darauf abzielt, die Sicherheit der Passagiere eines Schiffs zu gewährleisten, bedeutet dies nicht, dass ihre Tätigkeit in Ausübung hoheitlicher Befugnisse erfolgt.

42      Ebenso hat der Umstand, dass bestimmte Handlungen unter Berücksichtigung ihrer Zielsetzung im Interesse eines Staates erfolgen, für sich genommen nicht zur Folge, dass die im Ausgangsverfahren in Rede stehenden Handlungen im Sinne der in Rn. 34 des vorliegenden Urteils angeführten Rechtsprechung in Ausübung hoheitlicher Befugnisse vorgenommen werden, da das maßgebliche Kriterium die Berufung auf Befugnisse ist, die von den im Verhältnis zwischen Privatpersonen geltenden Regeln abweichen.

43      Um festzustellen, ob dies der Fall ist, ist darauf hinzuweisen, dass die Klassifikations- und Zertifizierungstätigkeiten in internationalen Übereinkommen über die Sicherheit des Seeverkehrs und zur Verhütung der Meeresverschmutzung wie dem Montego-Bay-Übereinkommen und dem SOLAS-Übereinkommen geregelt sind. Genauer gesagt, besteht die Tätigkeit der Schiffsklassifikation in der Ausstellung einer Bescheinigung durch eine vom Reeder ausgewählte Klassifikationsgesellschaft. Diese Bescheinigung dokumentiert, dass das Schiff nach den von dieser Gesellschaft nach den Grundsätzen der Internationalen Seeschifffahrts-Organisation (International Maritime Organization, IMO) festgelegten Klassenvorschriften entworfen und gebaut wurde. Die Erlangung eines Klassenzertifikats ist Voraussetzung für die Ausstellung des staatlich vorgesehenen Zeugnisses, die erfolgt, nachdem der Reeder den Flaggenstaat gewählt hat.

44      Die Zertifizierungstätigkeit besteht in der Ausstellung eines staatlich vorgesehenen Zeugnisses durch den Flaggenstaat oder in dessen Namen durch eine der von diesem Staat zur Durchführung von Überprüfungen sowie zur Ausstellung bestimmter Dokumente und Bescheinigungen gemäß dem SOLAS-Übereinkommen anerkannten Stellen. Die Klassifikations- und Zertifizierungstätigkeiten werden häufig von derselben Gesellschaft ausgeübt.

45      Nach den dem Gerichtshof vorliegenden Akten wurden die Klassifikations- und Zertifizierungsmaßnahmen von den Rina-Gesellschaften gegen Entgelt und aufgrund einer unmittelbar mit dem Reeder des Schiffes Al Salam Boccaccio ’98 geschlossenen privatrechtlichen Geschäftsvereinbarung durchgeführt, wonach die von den Rina-Gesellschaften erbrachten Dienstleistungen nur darin bestanden, festzustellen, ob das untersuchte Schiff die Anforderungen der anwendbaren Rechtsvorschriften erfüllt, und, wenn ja, die entsprechenden Zeugnisse auszustellen. Außerdem ergibt sich aus den dem Gerichtshof vorliegenden Informationen, dass die Auslegung und die Wahl der anwendbaren technischen Anforderungen den Behörden der Republik Panama vorbehalten waren.

46      Insoweit ergibt sich aus Art. 91 und Art. 94 Abs. 3 und 5 des Montego-Bay-Übereinkommens, für dessen Auslegung der Gerichtshof zuständig ist (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 24. Juni 2008, Commune de Mesquer, C‑188/07, EU:C:2008:359, Rn. 85, und vom 11. Juli 2018, Bosphorus Queen Shipping, C‑15/17, EU:C:2018:557, Rn. 44), dass es Sache der Staaten ist, die Bedingungen festzulegen, zu denen sie den Schiffen das Recht einräumen, ihre Flagge zu führen, und die Maßnahmen zu ergreifen, die für die Gewährung der Sicherheit auf See erforderlich sind, u. a. in Bezug auf den Bau, die Ausrüstung und die Seetüchtigkeit der Schiffe.

47      So besteht die Rolle der anerkannten Stellen wie der Rina-Gesellschaften darin, das Schiff gemäß den Anforderungen der anwendbaren Rechtsvorschriften zu überprüfen, was gegebenenfalls zum Entzug des Zeugnisses führen kann, weil das Schiff diesen Anforderungen nicht entspricht. Wie der Generalanwalt in Nr. 95 seiner Schlussanträge ausgeführt hat, ergibt sich ein solcher Entzug jedoch nicht aus der Entscheidungsbefugnis dieser anerkannten Stellen, die in einem zuvor festgelegten rechtlichen Rahmen tätig werden. Wenn ein Schiff nach dem Entzug eines Zeugnisses nicht mehr zur See fahren kann, dann wegen der Sanktion, die, wie die Rina-Gesellschaften in der mündlichen Verhandlung eingeräumt haben, gesetzlich vorgeschrieben ist.

48      Im Übrigen ergibt sich aus Regel 6 Buchst. c und d des Kapitels I des SOLAS-Übereinkommens, dass die anerkannte Stelle, falls das Schiff den Anforderungen nicht entspricht, die Behörden des betreffenden Staates unterrichtet, die für die Vollständigkeit und Gründlichkeit der Überprüfung und Besichtigung die Gewähr übernehmen und sich verpflichten müssen, für die erforderlichen Vorkehrungen zu sorgen.

49      Aus dem Vorstehenden folgt, dass vorbehaltlich der vom vorlegenden Gericht vorzunehmenden Prüfungen Klassifizierungs- und Zertifizierungsmaßnahmen, wie sie auf dem Schiff Al Salam Boccaccio ’98 von den Rina-Gesellschaften im Auftrag und für Rechnung der Republik Panama durchgeführt wurden, nicht als in Ausübung hoheitlicher Befugnisse im Sinne des Unionsrechts durchgeführt angesehen werden können, so dass eine Schadensersatzklage, die diese Vorgänge zum Gegenstand hat, vom Begriff „Zivil- und Handelssachen“ im Sinne des Art. 1 Abs. 1 der Verordnung Nr. 44/2001 erfasst wird und in den Anwendungsbereich dieser Verordnung fällt.

50      Überdies ist im Rahmen einer weiteren systematischen Auslegung darauf hinzuweisen, dass nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs zur Niederlassungsfreiheit und zum freien Dienstleistungsverkehr Zertifizierungstätigkeiten von Gesellschaften, die Zertifizierungseinrichtungen sind, nicht unter die Ausnahme in Art. 51 AEUV fallen, weil es sich bei diesen Gesellschaften um gewinnorientierte Unternehmen handelt, die ihre Tätigkeiten unter Wettbewerbsbedingungen ausüben und über keine Entscheidungsbefugnis im Zusammenhang mit der Ausübung hoheitlicher Befugnisse verfügen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 16. Juni 2015, Rina Services u. a., C‑593/13, EU:C:2015:399, Rn. 16 bis 21).

51      Der Gerichtshof hat nämlich die Tätigkeiten privatrechtlicher Einrichtungen, die mit der Überprüfung und Zertifizierung betraut sind, ob bzw. dass Unternehmen, die öffentliche Arbeiten ausführen, die gesetzlich vorgesehenen Bedingungen erfüllen, von der Ausnahmeregelung für die Ausübung öffentlicher Gewalt im Sinne von Art. 51 AEUV ausgenommen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 12. Dezember 2013, SOA Nazionale Costruttori, C‑327/12, EU:C:2013:827, Rn. 50).

52      Insbesondere kann die Prüfung der technischen und finanziellen Leistungsfähigkeit der zertifizierungspflichtigen Unternehmen, der Richtigkeit und des Inhalts der Erklärungen, Bescheinigungen und Unterlagen, die von den Personen, denen die Bescheinigung ausgestellt wird, vorgelegt worden sind, nicht als Tätigkeit angesehen werden, die Ausfluss der Entscheidungsautonomie wäre, die der Ausübung hoheitlicher Befugnisse eigen ist, da diese Prüfung, die unter unmittelbarer staatlicher Aufsicht erfolgt, gänzlich durch den nationalen Regelungsrahmen bestimmt wird (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 12. Dezember 2013, SOA Nazionale Costruttori, C‑327/12, EU:C:2013:827, Rn. 54, und entsprechend Urteile vom 22. Oktober 2009, Kommission/Portugal, C‑438/08, EU:C:2009:651, Rn. 41, sowie vom 15. Oktober 2015, Grupo Itevelesa u. a., C‑168/14, EU:C:2015:685, Rn. 56).

53      Das vorlegende Gericht hat Zweifel geäußert hinsichtlich der Auswirkungen der auf den völkergewohnheitsrechtlichen Grundsatz der Staatenimmunität gestützten Einrede, die von den Rina-Gesellschaften erhoben worden ist, auf die Anwendbarkeit der Verordnung Nr. 44/2001 im Ausgangsrechtsstreit, wenn es darum geht, festzustellen, ob sich das angerufene nationale Gericht, wenn es diese Immunität zugunsten der Ausübung von Klassifikations- und Zertifizierungstätigkeiten durch diese Gesellschaften bejaht, für den Rechtsstreit für unzuständig erklären kann.

54      Insoweit ist darauf hinzuweisen, dass die Regeln, in denen sich das Völkergewohnheitsrecht niederschlägt, als solche für die Organe der Union verbindlich und Teil der Unionsrechtsordnung sind (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 16. Juni 1998, Racke, C‑162/96, EU:C:1998:293, Rn. 46, vom 25. Februar 2010, Brita, C‑386/08, EU:C:2010:91, Rn. 42, sowie vom 23. Januar 2014, Manzi und Compagnia Naviera Orchestra, C‑537/11, EU:C:2014:19, Rn. 39).

55      Ein nationales Gericht, das das Recht der Union umsetzt, indem es die Verordnung Nr. 44/2001 anwendet, muss jedoch die Anforderungen erfüllen, die sich aus Art. 47 der Charta ergeben (Urteil vom 25. Mai 2016, Meroni, C‑559/14, EU:C:2016:349, Rn. 44). Daher muss sich das vorlegende Gericht im vorliegenden Fall vergewissern, dass LG u. a., wenn es der Einrede der Staatenimmunität stattgäbe, nicht ihr Recht auf Zugang zu den Gerichten genommen würde, das einen Bestandteil des in Art. 47 der Charta verankerten Rechts auf effektiven gerichtlichen Rechtsschutz darstellt.

56      Es ist darauf hinzuweisen, dass der Gerichtshof bereits entschieden hat, dass die Staatenimmunität völkerrechtlich verankert ist und sich auf den Grundsatz par in parem non habet imperium stützt, wonach ein Staat nicht der Gerichtsbarkeit eines anderen Staates unterworfen werden kann. Beim gegenwärtigen Stand der internationalen Praxis gilt diese Immunität jedoch nicht absolut, sondern wird dann allgemein anerkannt, wenn der Rechtsstreit iure imperii vorgenommene Rechtshandlungen betrifft. Sie kann hingegen ausgeschlossen sein, wenn sich der gerichtliche Rechtsbehelf auf Handlungen bezieht, die nicht unter die hoheitlichen Befugnisse fallen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 19. Juli 2012, Mahamdia, C‑154/11, EU:C:2012:491, Rn. 54 und 55).

57      Im vorliegenden Fall ist, wie der Generalanwalt in den Nrn. 108 bis 128 seiner Schlussanträge ausgeführt hat, die Befreiung privatrechtlicher Einrichtungen wie der Rina-Gesellschaften von der Gerichtsbarkeit in Bezug auf die Schiffsklassifikations- und ‑zertifizierungsmaßnahmen, wenn diese nicht iure imperii im Sinne des Völkerrechts durchgeführt wurden, nicht allgemein anerkannt.

58      Daher ist davon auszugehen, dass der völkergewohnheitsrechtliche Grundsatz der Staatenimmunität der Anwendung der Verordnung Nr. 44/2001 in einem Rechtsstreit über eine Schadensersatzklage gegen privatrechtliche Einrichtungen wie die Rina-Gesellschaften wegen Klassifikations- und Zertifizierungstätigkeiten, die im Auftrag und für Rechnung eines Drittstaats ausgeübt wurden, nicht entgegensteht, wenn das angerufene Gericht feststellt, dass diese Einrichtungen keine hoheitlichen Befugnisse im Sinne des Völkerrechts wahrgenommen haben.

59      Im Übrigen bestätigt, auch wenn die Richtlinie 2009/15 auf den Ausgangsrechtsstreit unbestreitbar nicht anwendbar ist, da sie ausschließlich die Mitgliedstaaten betrifft, ihr in der Vorlagefrage des vorlegenden Gerichts erwähnter 16. Erwägungsgrund den Willen des Unionsgesetzgebers, seiner Auslegung des völkergewohnheitsrechtlichen Grundsatzes der Staatenimmunität eine begrenzte Tragweite zu verleihen, soweit es um Schiffsklassifikations- und -zertifizierungstätigkeiten geht. Stellen eine anerkannte Organisation, ihre Besichtiger oder ihre technischen Mitarbeiter die einschlägigen Zeugnisse für die Verwaltung aus, sollten nämlich nach diesem Erwägungsgrund die Mitgliedstaaten in Betracht ziehen, ihnen zu ermöglichen, im Hinblick auf diese delegierten Tätigkeiten verhältnismäßige Rechtsgarantien und Rechtsschutz einschließlich der Ausübung angemessener Verteidigungsrechte in Anspruch zu nehmen, mit Ausnahme der Immunität, die ein Recht ist, das als untrennbares Hoheitsrecht nicht delegierbar ist und auf das sich daher nur die Mitgliedstaaten berufen können.

60      Nach alledem ist auf die Vorlagefrage zu antworten, dass Art. 1 Abs. 1 der Verordnung Nr. 44/2001 dahin auszulegen ist, dass eine Schadensersatzklage, die gegen juristische Personen des Privatrechts erhoben wird, die für Rechnung und im Auftrag eines Drittstaats eine Schiffsklassifikations- und ‑zertifizierungstätigkeit ausüben, unter den Begriff „Zivil- und Handelssachen“ im Sinne dieser Bestimmung und folglich in den Anwendungsbereich dieser Verordnung fällt, soweit diese Tätigkeit nicht aufgrund hoheitlicher Befugnisse im Sinne des Unionsrechts ausgeübt wird, was zu prüfen Sache des vorlegenden Gerichts ist. Der völkergewohnheitsrechtliche Grundsatz der Staatenimmunität steht der Ausübung der in dieser Verordnung vorgesehenen gerichtlichen Zuständigkeit durch das angerufene nationale Gericht in einem Rechtsstreit über einen solchen Rechtsbehelf nicht entgegen, wenn es feststellt, dass die betreffenden Einrichtungen keinen Gebrauch von hoheitlichen Befugnissen im Sinne des Völkerrechts gemacht haben.

 Kosten

61      Für die Parteien des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren ein Zwischenstreit in dem beim vorlegenden Gericht anhängigen Rechtsstreit; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig.

Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Erste Kammer) für Recht erkannt:

Art. 1 Abs. 1 der Verordnung (EG) Nr. 44/2001 des Rates vom 22. Dezember 2000 über die gerichtliche Zuständigkeit und die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in Zivil- und Handelssachen ist dahin auszulegen, dass eine Schadensersatzklage, die gegen juristische Personen des Privatrechts erhoben wird, die für Rechnung und im Auftrag eines Drittstaats eine Schiffsklassifikations und zertifizierungstätigkeit ausüben, unter den Begriff „Zivil- und Handelssachen“ im Sinne dieser Bestimmung und folglich in den Anwendungsbereich dieser Verordnung fällt, soweit diese Tätigkeit nicht aufgrund hoheitlicher Befugnisse im Sinne des Unionsrechts ausgeübt wird, was zu prüfen Sache des vorlegenden Gerichts ist. Der völkergewohnheitsrechtliche Grundsatz der Staatenimmunität steht der Ausübung der in dieser Verordnung vorgesehenen gerichtlichen Zuständigkeit durch das angerufene nationale Gericht in einem Rechtsstreit über einen solchen Rechtsbehelf nicht entgegen, wenn es feststellt, dass die betreffenden Einrichtungen keinen Gebrauch von hoheitlichen Befugnissen im Sinne des Völkerrechts gemacht haben.

Unterschriften


*      Verfahrenssprache: Italienisch.