Language of document :

URTEIL DES GERICHTSHOFS (Fünfte Kammer)

12. Dezember 2013(*)

„Niederlassungsfreiheit – Gleichbehandlung – Einkommensteuer – Regelung zur Vermeidung der Doppelbesteuerung – In einem anderen Staat als dem Wohnsitzstaat erzielte Einkünfte – Methode zur Steuerbefreiung mit Progressionsvorbehalt im Wohnsitzstaat – Teilweise Berücksichtigung der persönlichen und familiären Situation – Verlust bestimmter Steuervergünstigungen im Zusammenhang mit der persönlichen und familiären Situation des Arbeitnehmers“

In der Rechtssache C‑303/12

betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Tribunal de première instance de Liège (Belgien) mit Entscheidung vom 31. Mai 2012, beim Gerichtshof eingegangen am 21. Juni 2012, in dem Verfahren

Guido Imfeld,

Nathalie Garcet

gegen

État belge

erlässt

DER GERICHTSHOF (Fünfte Kammer)

unter Mitwirkung des Kammerpräsidenten T. von Danwitz sowie der Richter E. Juhász, A. Rosas (Berichterstatter), D. Šváby und C. Vajda,

Generalanwalt: P. Cruz Villalón,

Kanzler: V. Tourrès, Verwaltungsrat,

aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 22. April 2013,

unter Berücksichtigung der Erklärungen

–        von Herrn Imfeld und Frau Garcet, vertreten durch M. Levaux und M. Gustin, avocats,

–        der belgischen Regierung, vertreten durch M. Jacobs und J.‑C. Halleux als Bevollmächtigte,

–        der estnischen Regierung, vertreten durch M. Linntam als Bevollmächtigte,

–        der Europäischen Kommission, vertreten durch F. Dintilhac und W. Mölls als Bevollmächtigte,

nach Anhörung der Schlussanträge des Generalanwalts in der Sitzung vom 13. Juni 2013

folgendes

Urteil

1        Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung des Art. 49 AEUV.

2        Es ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen Herrn Imfeld und Frau Garcet, einem in Belgien wohnhaften Ehepaar, auf der einen und dem belgischen Staat auf der anderen Seite, wegen der Berücksichtigung der von Herrn Imfeld in einem anderen Mitgliedstaat erzielten Einkünfte, die in Belgien von der Steuer befreit sind, jedoch als Besteuerungsgrundlage für die Gewährung von Steuervergünstigungen im Zusammenhang mit der persönlichen und familiären Situation dienen, im Rahmen der Berechnung ihrer gemeinsamen Veranlagung in Belgien mit der Folge, dass sie einen Teil der Steuervergünstigungen verlieren, auf die sie bei Nichtberücksichtigung Anspruch gehabt hätten.

 Rechtlicher Rahmen

 Das Abkommen von 1967

3        Das am 11. April 1967 in Brüssel unterzeichnete Abkommen zwischen der Bundesrepublik Deutschland und dem Königreich Belgien zur Vermeidung der Doppelbesteuerungen und zur Regelung verschiedener anderer Fragen auf dem Gebiete der Steuern vom Einkommen und vom Vermögen einschließlich der Gewerbesteuer und der Grundsteuern (Moniteur belge vom 30. Juli 1969, im Folgenden: Abkommen von 1967) bestimmt in Art. 14 („Freie Berufe“):

„(1)      Einkünfte, die eine in einem Vertragsstaat ansässige Person aus einem freien Beruf oder aus sonstiger selbständiger Tätigkeit ähnlicher Art bezieht, können nur in diesem Staat besteuert werden, es sei denn, dass die Person für die Ausübung ihrer Tätigkeit in dem anderen Staat regelmäßig über eine feste Einrichtung verfügt. Verfügt sie über eine solche feste Einrichtung, so können die Einkünfte in dem anderen Staat besteuert werden, jedoch nur insoweit, als sie der Tätigkeit, die über diese feste Einrichtung ausgeübt wird, zugerechnet werden können.

(2)       Der Ausdruck ‚freier Beruf‘ umfasst insbesondere … die selbständige Tätigkeit der Ärzte, Rechtsanwälte, Ingenieure, Architekten, Zahnärzte und Bücherrevisoren.“

4        Art. 23 Abs. 2 Nr. 1 des Abkommens von 1967 sieht insbesondere vor, dass die aus Deutschland stammenden Einkünfte, die nach diesem Abkommen in diesem Staat besteuert werden können, in Belgien von der Steuer befreit sind. Dieselbe Bestimmung stellt jedoch klar, dass diese Befreiung nicht das Recht des Königreichs Belgien einschränkt, die auf diese Weise befreiten Einkünfte bei der Festsetzung des Steuersatzes zu berücksichtigen.

 Belgisches Recht

5        Art. 126 Abs. 1 und 2 des Code des impôts sur le revenu de 1992 (Einkommensteuergesetzbuch, Moniteur belge vom 30. Juli 1992) in der auf den Sachverhalt des Ausgangsverfahrens anwendbaren Fassung (im Folgenden: CIR 1992) bestimmte:

„1.      Unabhängig vom ehelichen Güterstand werden andere als berufliche Einkünfte der Eheleute mit den beruflichen Einkünften des Ehegatten zusammengerechnet, der die höheren Einkünfte hat.

2.      Die Festsetzung der zu zahlenden Steuer erfolgt für beide Eheleute.“

6        Art. 131 des CIR 1992 gewährt jedem Steuerpflichtigen einen Einkommensteuerfreibetrag. Nach Art. 132 des CIR 1992 erhöht sich dieser Freibetrag, wenn der Steuerpflichtige anderen Personen gegenüber unterhaltspflichtig ist.

7        Wird die Steuer für beide Eheleute festgesetzt, wird diese Erhöhung gemäß Art. 134 Abs. 1 Unterabs. 2 des CIR 1992 vorrangig auf den Einkommensanteil des Ehegatten angerechnet, der das höchste Einkommen aus beruflicher Tätigkeit hat. So sieht Art. 134 Abs. 1 des CIR 1992 vor:

„Der Einkommensteuerfreibetrag wird für jeden Steuerpflichtigen festgesetzt und umfasst die Summe aus dem etwaig erhöhten Grundfreibetrag und den in den Art. 132 und 133 erwähnten Zusatzfreibeträgen.

Bei gemeinsamer Veranlagung werden die in Art. 132 genannten Zusatzfreibeträge bei dem Steuerpflichtigen angerechnet, der das höchste steuerpflichtige Einkommen hat. …“

8        Art. 155 des CIR 1992 bestimmt:

„Einkünfte, die aufgrund internationaler Abkommen zur Vermeidung der Doppelbesteuerung von der Steuer befreit sind, werden bei der Festsetzung der Steuer berücksichtigt, doch wird diese im Verhältnis des Anteils der befreiten Einkünfte an den gesamten Einkünften ermäßigt.

Das Gleiche gilt für die

–      Einkünfte, die aufgrund anderer internationaler Verträge oder Abkommen steuerfrei sind, sofern sie eine Progressionsvorbehaltsklausel vorsehen;

Wenn eine gemeinsame Veranlagung erfolgt, wird die Ermäßigung für jeden Steuerpflichtigen aus seinem gesamten Nettoeinkommen berechnet.“

9        Außerdem hat das Königreich Belgien im Anschluss an das Urteil vom 12. Dezember 2002, de Groot (C‑385/00, Slg. 2002, I‑11819), das Rundschreiben Nr. Ci.RH.331/575.420 vom 12. März 2008 erlassen, das neben der in Art. 155 des CIR 1992 vorgesehenen Ermäßigung eine Steuerermäßigung für aufgrund eines Abkommens von der Steuer befreite Einkünfte vorsieht (im Folgenden: Rundschreiben von 2008).

10      In diesem Rundschreiben heißt es:

„1. Im belgischen Steuersystem gelten die Steuervergünstigungen im Zusammenhang mit der persönlichen und familiären Situation des Steuerpflichtigen … sowohl für Einkünfte belgischen Ursprungs als auch für Einkünfte ausländischen Ursprungs. Wurde die familiäre Situation nicht im Ausland berücksichtigt, geht ein Teil dieser Vergünstigungen verloren.

Die Niederlande wenden eine der belgischen entsprechende Methode der Steuerbefreiung mit Progressionsvorbehalt an. [Der Gerichtshof] hat jedoch im Urteil [de Groot] entschieden, dass diese Vorgehensweise gegen die Regelung der Freizügigkeit der Personen in der [Europäischen Union] verstößt.

Belgien wurde von der Europäischen Kommission aufgefordert, die belgischen steuerrechtlichen Bestimmungen über die Anwendung der Methode der Befreiung mit Progressionsvorbehalt … mit den Verpflichtungen aus den Art. 18 [EG], 39 [EG], 43 [EG] und 56 [EG] in Einklang zu bringen.

Die folgende Lösung wurde gewählt: Falls die persönliche oder familiäre Situation des Steuerpflichtigen im Ausland nicht berücksichtigt wurde, wird eine Steuerermäßigung neben der in Art. 155 des CIR 1992 vorgesehenen gewährt.

3.      Eine zusätzliche Ermäßigung der Einkünfte, die durch ein Abkommen von der Steuer befreit sind, kann nur gewährt werden, wenn folgende Bedingungen erfüllt sind:  

–      Der Steuerpflichtige hat Einkünfte erzielt, die aufgrund eines Abkommens in einem oder mehreren Mitgliedstaaten des Europäischen Wirtschaftsraums (EWR) von der Steuer befreit sind;

–        die persönliche oder familiäre Situation des Steuerpflichtigen ist bei der Berechnung der Steuer nicht berücksichtigt worden, die in den besagten Staaten auf die in Belgien von der Steuer befreiten Einkünfte geschuldet werden;

–        der Steuerpflichtige hat in Belgien nicht alle Steuervergünstigungen erhalten können, die mit seiner familiären oder persönlichen Situation zusammenhängen;

–        die in Belgien geschuldete Steuer, die um die im Ausland geschuldete Steuer erhöht worden ist, ist höher als die Steuer, die geschuldet wäre, wenn die Einkünfte ausschließlich belgischen Ursprungs wären und die Steuer hierauf in Belgien geschuldet würde.

4.      Der Steuerpflichtige, der eine zusätzliche Ermäßigung begehrt, muss den Nachweis erbringen, dass er die erforderlichen Voraussetzungen erfüllt.“

 Die Ausgangsrechtsstreitigkeiten

11      Herr Imfeld, ein deutscher Staatsangehöriger, und Frau Garcet, eine belgische Staatsangehörige, sind verheiratet, haben zwei Kinder und wohnen in Belgien. Obwohl Eheleute nach nationalem Recht grundsätzlich gemeinsam veranlagt werden, gaben sie ihre Einkommensteuererklärung für die Jahre 2003 und 2004 in Belgien getrennt ab, ohne anzugeben, dass sie verheiratet waren.

12      Herr Imfeld, der den Rechtsanwaltsberuf in Deutschland ausübt, wo er seine gesamten Einkünfte erzielt, nannte kein in Belgien zu versteuerndes Einkommen und keine unterhaltsberechtigte Person. Frau Garcet, die Arbeitnehmerin in Belgien ist, gab dagegen Hypothekenzinsen und zwei unterhaltsberechtigte Kinder sowie Kinderbetreuungskosten an.

13      Diese Erklärungen gaben Anlass zu drei Rechtsstreitigkeiten beim vorlegenden Gericht, die das vorliegende Vorabentscheidungsersuchen ausgelöst haben.

 Die den Veranlagungszeitraum 2003 betreffenden Rechtsstreitigkeiten

14      Am 5. April 2004 setzte die belgische Steuerverwaltung für den Veranlagungszeitraum 2003 die zu zahlende Steuer zunächst allein für Frau Garcet fest.

15      Am 16. November 2004 stellte die Steuerverwaltung jedoch fest, dass Frau Garcet nicht als unverheiratet angesehen werden könne, und erließ demzufolge einen Berichtigungsbescheid, in dem die gemeinsame Veranlagung der Kläger des Ausgangsverfahrens und eine Festsetzung der neuen zu zahlenden Steuer auf der Grundlage der von Frau Garcet angegebenen Einkünfte und der von Herrn Imfeld in Deutschland als Selbständiger erzielten Einkünfte angekündigt wurde.

16      Mit Schreiben vom 9. Dezember 2004 erklärten die Kläger des Ausgangsverfahrens, dass sie mit der angekündigten Berichtigung nicht einverstanden seien, wobei sie die Berechnung der in ihrer beider Namen geschuldeten Steuer beanstandeten und eine Einzelberechnung dieser Steuer forderten, um die Niederlassungsfreiheit und die tatsächliche und vollständige Steuerbefreiung der von Herrn Imfeld in Deutschland erzielten Einkünfte zu gewährleisten.

17      Am 13. Dezember 2004 stellte die Steuerverwaltung den Klägern des Ausgangsverfahrens den Steuerbescheid zu, wobei sie angab, dass die deutschen Einkünfte von Herrn Imfeld zwar vollständig von der Steuer befreit seien, bei der gemeinsamen Veranlagung die Ausgaben für Kinderbetreuung, der Einkommensteuerfreibetrag und die Ermäßigungen für Ersatzeinkommen aber zu berücksichtigen seien.

18      Am 10. Februar 2005 wurde die für den Veranlagungszeitraum 2003 zu zahlende Steuer allein für Frau Garcet auf der Grundlage von auf null herabgesetzten Einkünften festgesetzt, wogegen die Kläger des Ausgangsverfahrens am 9. März 2005 Einspruch einlegten.

19      Dieser Einspruch wurde mit Bescheid des Directeur régional des contributions directes (Regionaldirektor für direkte Steuern) von Lüttich (Belgien) vom 11. Juli 2005 zurückgewiesen, gegen den die Kläger des Ausgangsverfahrens am 29. September 2005 Klage beim vorlegenden Gericht erhoben.

20      Am 13. Oktober 2005 wurde die für den Veranlagungszeitraum 2003 zu zahlende Steuer gemeinsam für die Kläger des Ausgangsverfahrens festgesetzt, wogegen diese am 13. Januar 2006 Einspruch einlegten.

21      Nachdem dieser Einspruch mit Bescheid des Directeur régional des contributions directes von Lüttich vom 7. März 2006 zurückgewiesen worden war, erhoben die Kläger des Ausgangsverfahrens gegen diesen Bescheid am 31. März 2006 Klage beim vorlegenden Gericht.

 Der den Veranlagungszeitraum 2004 betreffende Rechtsstreit

22      Am 24. Juni 2005 wurde die für den Veranlagungszeitraum 2004 zu zahlende Steuer gemeinsam für die Kläger des Ausgangsverfahrens festgesetzt, wogegen diese am 15. September 2005 Einspruch einlegten.

23      Nachdem dieser Einspruch mit Bescheid des Directeur régional des contributions directes von Lüttich vom 19. Oktober 2005 zurückgewiesen worden war, erhoben die Kläger des Ausgangsverfahrens gegen diesen Bescheid am 21. November 2005 Klage beim vorlegenden Gericht.

 Die steuerliche Behandlung der von Herrn Imfeld in Deutschland erzielten Einkünfte

24      Herr Imfeld wurde in Deutschland für seine in diesem Mitgliedstaat erzielten Einkünfte nach dem Abkommen von 1967 veranlagt. Aus seiner Antwort auf die vom Gerichtshof gestellte schriftliche Frage geht hervor, dass er im Rahmen der in Deutschland entrichteten Einkommensteuer eine Steuervergünstigung für unterhaltsberechtigte Kinder in Form eines Kinderfreibetrags genießt.

25      Herr Imfeld wurde einzeln veranlagt, d. h. ohne in den Genuss der Regelung des Ehegattensplittings gelangen zu können, die nach § 1a Abs. 1 Nr. 2 des Einkommensteuergesetzes nicht dauernd getrennt lebenden steuerpflichtigen Ehegatten zugutekommt, die in Deutschland steuerpflichtig sind, aber in einem anderen Mitgliedstaat wohnen. Aus der Vorlageentscheidung und den dem Gerichtshof vorliegenden Akten geht hervor, dass ihm der Genuss dieser Steuerregelung für den Veranlagungszeitraum 2003 von den deutschen Steuerbehörden versagt wurde.

26      Die von Herrn Imfeld gegen diese ablehnende Entscheidung erhobene Klage wurde durch Urteil des Finanzgerichts Köln (Deutschland) vom 25. Juli 2007 mit der Begründung abgewiesen, dass zum einen seine in Deutschland steuerpflichtigen Einkünfte weniger als 90 % der gesamten Einkünfte seines Haushalts ausmachten und zum anderen die Einkünfte seiner Ehefrau sowohl die absolute Grenze von 12 372 Euro als auch die relative Grenze von 10 % des Welteinkommens überstiegen, die im deutschen Steuerrecht vorgesehen seien. Das Finanzgericht Köln wies insbesondere darauf hin, dass der Gerichtshof diese Grenzen im Urteil vom 14. September 1999, Gschwind (C‑391/97, Slg. 1999, I‑5451, Randnr. 32), gebilligt habe.

27      Die vom Kläger des Ausgangsverfahrens gegen dieses Urteil eingelegte Revision wurde vom Bundesfinanzhof (Deutschland) durch Urteil vom 17. Dezember 2007 zurückgewiesen.

 Würdigung durch das vorlegende Gericht und Vorlagefrage

28      Das vorlegende Gericht führt aus, dass die gemeinsame Veranlagung von Herrn Imfeld und Frau Garcet gesetzeskonform sei. Eine gemeinsame Veranlagung sei, wie in Art. 126 Abs. 1 des CIR 1992 für Ehegatten vorgesehen erfolgt, und die Steuer sei gegen die Kläger des Ausgangsverfahrens in beider Namen festgesetzt worden. In Anwendung von Art. 134 Abs. 1 Unterabs. 2 des CIR 1992 sei der in Art. 132 Nr. 3 des CIR 1992 vorgesehene Zusatzfreibetrag für unterhaltsberechtigte Kinder „vorrangig auf den Einkommensanteil des Ehegatten angerechnet [worden], der das höchste Einkommen aus beruflicher Tätigkeit hat“, im vorliegenden Fall auf den Einkommensanteil von Herrn Imfeld.

29      Es stelle sich die Frage, ob die Berechnungsweise der belgischen Steuer mit dem Unionsrecht vereinbar sei. Das vorlegende Gericht vertritt dazu die Ansicht, dass die Methode der Steuerbefreiung mit Progressionsvorbehalt dazu führe, dass Steuerpflichtige wie die Kläger des Ausgangsverfahrens einen Teil der Steuerfreibeträge einbüßten, auf die sie wegen ihrer persönlichen und familiären Situation Anspruch hätten, da diese vorrangig auf den Einkommensanteil des Ehegatten angerechnet würden, der die höchsten Einkünfte erziele, selbst wenn diese aufgrund eines zwischenstaatlichen Doppelbesteuerungsabkommens von der Steuer befreit seien. In diesem Sinne scheine ihm die Anwendung von Art. 155 in Verbindung mit Art. 134 Abs. 1 des CIR 1992 auf einen grenzüberschreitenden Sachverhalt wie bei den Klägern des Ausgangsverfahrens geeignet, das Unionsrecht zu verletzen.

30      Unter diesen Umständen hat das Tribunal de première instance de Liège die verschiedenen von den Klägern des Ausgangsverfahrens bei ihm anhängig gemachten Rechtsstreitigkeiten miteinander verbunden und beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Frage zur Vorabentscheidung vorzulegen:

Steht Art. 39 EG der belgischen Steuerregelung in Art. 155 und Art. 134 Abs. 1 Unterabs. 2 des CIR 1992 entgegen, der zufolge, und zwar unabhängig davon, ob das Rundschreiben von 2008 Anwendung findet oder nicht, die deutschen Einkünfte des Klägers aus einer Berufstätigkeit, die nach Art. 14 des Abkommens von 1967 von der Steuer befreit sind, bei der Berechnung der belgischen Steuer mit einbezogen werden und als Bemessungsgrundlage für die Gewährung der im CIR 1992 vorgesehenen Steuervergünstigungen dienen und wonach diese Vergünstigungen wie der Steuerfreibetrag aufgrund der familiären Situation des Klägers herabgesetzt oder in geringerer Höhe, als wenn beide Kläger Einkünfte belgischen Ursprungs hätten und nicht der Kläger, sondern die Klägerin die höchsten Einkünfte erzielt hätte, gewährt werden, obwohl der Kläger in Deutschland seine Einkünfte aus beruflicher Tätigkeit einzeln versteuert und nicht alle Steuervergünstigungen erhalten kann, die mit seiner persönlichen oder familiären Situation verknüpft sind und die die deutsche Steuerverwaltung nur teilweise berücksichtigt?

 Zur Vorlagefrage

 Vorbemerkungen

31      Das vorlegende Gericht ersucht den Gerichtshof um Entscheidung über die Vereinbarkeit der steuerlichen Behandlung, die ein Mitgliedstaat, im vorliegenden Fall das Königreich Belgien, den Einkünften eines dort ansässigen Ehepaars zuteilwerden lässt, bei dem ein Ehegatte Einkünfte in diesem Staat erzielt, während der andere einen freien Beruf in einem anderen Mitgliedstaat, im vorliegenden Fall der Bundesrepublik Deutschland, ausübt, wo er seine gesamten Einkünfte erzielt, die den größten Teil des Einkommens des Ehepaars darstellen und die in Deutschland steuerpflichtig und in Belgien in Anwendung eines zwischenstaatlichen Doppelbesteuerungsabkommens von der Steuer befreit sind, mit dem Unionsrecht.

32      Zwar geht es in den Ausgangsrechtsstreitigkeiten um zwei mit der persönlichen und familiären Situation der Steuerpflichtigen verknüpfte Steuervergünstigungen, nämlich den Abzug der Kinderbetreuungskosten und den Zusatzfreibetrag für unterhaltsberechtigte Kinder, doch stellt das vorlegende Gericht mit seiner Frage besonders auf den „Steuerfreibetrag aufgrund der familiären Situation des Klägers“ ab und bezieht sich dabei auf die in Art. 134 Abs. 1 Unterabs. 2 des CIR 1992 geregelten Berechnungsmodalitäten.

33      Mit dieser Wendung bezeichnet das vorlegende Gericht die Steuervergünstigung, die der in Art. 132 des CIR 1992 vorgesehene Zusatzfreibetrag für unterhaltsberechtigte Kinder darstellt. Ein solcher Steuervorteil werde vom belgischen Recht dem Ehepaar als Ganzes gewährt und wegen der in Art. 134 des CIR 1992 aufgeführten Berechnungsmodalitäten, wonach diese Erhöhung durch Anrechnung auf die höchsten steuerpflichtigen Einkünfte eines der beiden Ehegatten berechnet werde, werde er in einer Situation wie der der Kläger des Ausgangsverfahrens herabgesetzt oder in geringerer Höhe gewährt, als wenn beide Kläger in Belgien Einkünfte erzielten und nicht Herr Imfeld, sondern Frau Garcet die höchsten Einkünfte erzielt hätte.

34      Die Abziehbarkeit der Kinderbetreuungskosten gehört also nicht zu den Vergünstigungen, auf die das vorlegende Gericht in seiner Frage abstellt. Wie die belgische Regierung in der mündlichen Verhandlung bestätigt hat, richtet sich die Berechnung des Abzugs für unterhaltsberechtigte Kinder nach anderen Bestimmungen, denn ein solcher Abzug werde mittels anteilsmäßiger Verteilung auf die Einkünfte jedes einzelnen Ehegatten gewährt. Hinzu komme, dass im vorliegenden Fall Frau Garcet einen Steuerabzug für Kinderbetreuungskosten in Höhe des Anteils erhalten habe, den ihre Einkünfte an den Gesamteinkünften des Ehepaars ausmachten.

 Zur Frage, welche Freiheit auf die Situation der Kläger des Ausgangsverfahrens Anwendung findet

35      Das vorlegende Gericht bezieht sich in seiner Frage auf Art. 39 EG, dem jetzt Art. 45 AEUV entspricht und der die Freizügigkeit der Arbeitnehmer betrifft, erwähnt jedoch mehrfach in den Erläuterungen seiner Vorlageentscheidung die Niederlassungsfreiheit.

36      Herr Imfeld, der deutscher Staatsangehöriger ist und in Belgien wohnt, ist aber als Rechtsanwalt in Deutschland tätig und übt einen freien Beruf aus. Außerdem betrifft die vom vorlegenden Gericht ausdrücklich als auf die Ausgangsrechtsstreitigkeiten anwendbar angeführte Bestimmung des Abkommens von 1967 freie Berufe und entsprechende selbständige Tätigkeiten.

37      Daher fällt die Situation von Herrn Imfeld nicht unter die Freizügigkeit der Arbeitnehmer, sondern unter die Niederlassungsfreiheit, die für die Unionsbürger die Aufnahme und Ausübung selbständiger Erwerbstätigkeiten umfasst (vgl. u. a. Urteil vom 11. März 2004, de Lasteyrie du Saillant, C‑9/02, Slg. 2004, I‑2409, Randnr. 40).

38      Wie der Gerichtshof wiederholt entschieden hat, hindert, auch wenn das vorlegende Gericht seine Frage auf die Auslegung der Freizügigkeit der Arbeitnehmer beschränkt hat, dies den Gerichtshof nicht daran, dem nationalen Gericht unabhängig davon, worauf es in seiner Frage Bezug genommen hat, alle Hinweise zur Auslegung des Unionsrechts zu geben, die diesem bei der Entscheidung des bei ihm anhängigen Verfahrens von Nutzen sein können (vgl. in diesem Sinne u. a. Urteile vom 21. Februar 2006, Ritter-Coulais, C‑152/03, Slg. 2006, I‑1711, Randnr. 29, und vom 23. April 2009, Rüffler, C‑544/07, Slg. 2009, I‑3389, Randnr. 57).

39      Daher ist die Frage dahin zu verstehen, dass sie Art. 43 EG betrifft, der jetzt Art. 49 AEUV entspricht.

 Zur Frage

40      Mit seiner Frage möchte das vorlegende Gericht wissen, ob Art. 49 AEUV dahin auszulegen ist, dass er der Anwendung der Steuerregelung eines Mitgliedstaats wie der im Ausgangsverfahren fraglichen entgegensteht, die bewirkt, dass einem in diesem Staat wohnhaften Ehepaar, das Einkünfte sowohl in diesem Staat als auch in einem anderen Mitgliedstaat erzielt, in dem einer der Ehegatten einzeln für seine Einkünfte aus beruflicher Tätigkeit zur Steuer veranlagt wird und nicht sämtliche mit seiner persönlichen und familiären Situation verknüpften Steuervergünstigungen erhalten kann, eine bestimmte Steuervergünstigung wegen der Modalitäten ihrer Anrechnung versagt wird, obwohl dieses Ehepaar darauf Anspruch hätte, wenn beide Eheleute sämtliche Einkünfte oder deren größten Teil in ihrem Wohnsitzmitgliedstaat erzielen würden.

 Zum Bestehen einer Beschränkung der Niederlassungsfreiheit

41      Eingangs ist daran zu erinnern, dass nach ständiger Rechtsprechung die Mitgliedstaaten in Ermangelung von Vereinheitlichungs‑ oder Harmonisierungsmaßnahmen der Union dafür zuständig bleiben, die Kriterien für die Besteuerung des Einkommens und des Vermögens festzulegen, um – gegebenenfalls im Vertragsweg – die Doppelbesteuerung zu beseitigen. Dabei können die Mitgliedstaaten im Rahmen bilateraler Abkommen zur Beseitigung der Doppelbesteuerung die Anknüpfungspunkte für die Bestimmung ihrer jeweiligen Steuerhoheit festlegen (vgl. u. a. Urteile de Groot, Randnr. 93, vom 16. Oktober 2008, Renneberg, C‑527/06, Slg. 2008, I‑7735, Randnr. 48, und vom 28. Februar 2013, Beker, C‑168/11, Randnr. 32).

42      Diese Aufteilung der Steuerhoheit erlaubt es den Mitgliedstaaten jedoch nicht, Maßnahmen anzuwenden, die gegen die vom AEU-Vertrag garantierten Verkehrsfreiheiten verstoßen. Bei der Ausübung der in dieser Weise in bilateralen Doppelbesteuerungsabkommen aufgeteilten Steuerhoheit sind die Mitgliedstaaten nämlich verpflichtet, den Unionsvorschriften nachzukommen (Urteile de Groot, Randnr. 94, Renneberg, Randnrn. 50 und 51, sowie Beker, Randnrn. 33 und 34).

43      Ferner ist daran zu erinnern, dass es nach ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofs grundsätzlich Sache des Wohnsitzstaats ist, dem Steuerpflichtigen sämtliche an seine persönliche und familiäre Situation geknüpften steuerlichen Vergünstigungen zu gewähren, da dieser Staat, von Ausnahmen abgesehen, am besten die persönliche Steuerkraft des Steuerpflichtigen beurteilen kann, weil dieser dort den Mittelpunkt seiner persönlichen und seiner Vermögensinteressen hat (vgl. u. a. Urteile vom 14. Februar 1995, Schumacker, C‑279/93, Slg. 1995, I‑225, Randnr. 32, vom 16. Mai 2000, Zurstrassen, C‑87/99, Slg. 2000, I‑3337, Randnr. 21, und Beker, Randnr. 43).

44      Die Verpflichtung, die persönliche und familiäre Situation zu berücksichtigen, kann den Beschäftigungsmitgliedstaat nämlich nur dann treffen, wenn der Steuerpflichtige sein gesamtes oder fast sein gesamtes zu versteuerndes Einkommen aus einer in diesem Staat ausgeübten Tätigkeit erzielt und in seinem Wohnsitzstaat keine nennenswerten Einkünfte hat, so dass dieser nicht in der Lage ist, ihm die Vergünstigungen zu gewähren, die sich aus der Berücksichtigung seiner persönlichen und familiären Situation ergeben (vgl. u. a. Urteile Schumacker, Randnr. 36, Gschwind, Randnr. 27, Zurstrassen, Randnrn. 21 bis 23, und de Groot, Randnr. 89).

45      Anhand dieser Grundsätze ist die Vereinbarkeit der Anwendung der belgischen Regelung auf den im Ausgangsverfahren in Rede stehenden Sachverhalt mit der Niederlassungsfreiheit zu prüfen.

46      Die Kläger des Ausgangsverfahrens sind im vorliegenden Fall zu einer gemeinsamen Veranlagung ihrer Einkünfte in ihrem Wohnsitzstaat Belgien herangezogen worden, wobei die in Deutschland von Herrn Imfeld erzielten Einkünfte von der Steuer befreit sind und dieser aufgrund des Abkommens von 1967 in Deutschland, wo er arbeitet, einer Einzelveranlagung seiner dort erzielten Einkünfte unterworfen wurde.

47      Sowohl in Deutschland als auch in Belgien wurde zumindest teilweise beider persönliche und familiäre Situation berücksichtigt. Herr Imfeld hatte nach dem deutschen Steuerrecht Anspruch auf einen Steuerfreibetrag für unterhaltsberechtigte Kinder, ohne jedoch in den Genuss des Ehegattensplittings kommen zu können.

48      Nach der belgischen Steuerregelung hat das von den Klägern des Ausgangsverfahrens gebildete Ehepaar grundsätzlich Anspruch auf den Zusatzfreibetrag für unterhaltsberechtigte Kinder. Es konnte ihn jedoch nicht tatsächlich in Anspruch nehmen. Der Zusatzfreibetrag wurde nämlich auf die von Herrn Imfeld in Deutschland erzielten Einkünfte angerechnet, da sie die höchsten des Ehepaars waren. Diese Einkünfte wurden jedoch dann wieder von der Besteuerungsgrundlage abgezogen, da sie nach dem Abkommen von 1967 von der Steuer befreit waren, so dass schließlich kein Einkommensanteil speziell durch den Zusatzfreibetrag für unterhaltsberechtigte Kinder von der Steuer befreit war.

49      Eine Steuerregelung wie die im Ausgangsverfahren in Rede stehende, genauer gesagt das Zusammenwirken der Befreiungsmethode mit Progressionsvorbehalt nach Art. 155 des CIR 1992 und der in Art. 134 des CIR 1992 festgelegten Modalitäten der Anrechnung des Zusatzfreibetrags für unterhaltsberechtigte Kinder, benachteiligt folglich Ehepaare in der Lage der Kläger des Ausgangsverfahrens, die dadurch gekennzeichnet ist, dass der größte Teil ihrer Einkünfte in einem anderen Mitgliedstaat als dem Königreich Belgien erzielt wird, gegenüber Ehepaaren, die die Gesamtheit oder den größten Teil ihrer Einkünfte in Belgien erzielen.

50      Die Kläger des Ausgangsverfahrens haben als Ehepaar insofern einen Nachteil erlitten, als sie nicht in den Genuss der Steuervergünstigung gekommen sind, die sich aus der Anwendung des Zusatzfreibetrags für unterhaltsberechtigte Kinder ergibt, auf den sie Anspruch gehabt hätten, wenn sie ihre gesamten Einkünfte in Belgien erzielt hätten oder wenn zumindest die von Frau Garcet in Belgien erzielten Einkünfte höher gewesen wären als die von ihrem Ehemann in Deutschland erzielten.

51      Die im Ausgangsverfahren in Rede stehende Regelung bewirkt somit eine unterschiedliche steuerliche Behandlung im Hoheitsgebiet des Königreichs Belgien wohnender Ehepaare, die Unionsbürger sind, je nach Ursprung und Höhe ihrer Einkünfte, die diese Ehepaare von der Ausübung der durch den Vertrag garantierten Grundfreiheiten und insbesondere der Niederlassungsfreiheit abhalten kann (vgl. in diesem Sinne Urteil Beker, Randnr. 52).

52      Diese Regelung ist daher geeignet, Staatsangehörige dieses Mitgliedstaats davon abzuhalten, von ihrer Niederlassungsfreiheit dadurch Gebrauch zu machen, dass sie eine wirtschaftliche Tätigkeit in einem anderen Mitgliedstaat ausüben, während sie weiter in dem erstgenannten Mitgliedstaat wohnen (vgl. u. a. Urteile vom 13. April 2000, Baars, C‑251/98, Slg. 2000, I‑2787, Randnrn. 28 und 29, sowie vom 19. November 2009, Filipiak, C‑314/08, Slg. 2009, I‑11049, Randnr. 60).

53      Sie ist auch geeignet, die Staatsangehörigen anderer Mitgliedstaaten als des Königreichs Belgien davon abzuhalten, in ihrer Eigenschaft als Unionsbürger ihr Recht auf Freizügigkeit dadurch auszuüben, dass sie ihren Wohnsitz, insbesondere zur Familienzusammenführung, in diesem Mitgliedstaat begründen, aber weiterhin eine wirtschaftliche Tätigkeit in dem Mitgliedstaat ausüben, dessen Staatsangehörige sie sind.

54      Außerdem berücksichtigt die belgische Steuerregelung grenzüberschreitende Sachverhalte wie den im Ausgangsverfahren in Rede stehenden nicht und erlaubt es daher nicht, gegebenenfalls die negativen Auswirkungen aufzufangen, die sie auf die Ausübung der den Unionsbürgern durch den Vertrag gewährleisteten Freiheiten haben kann.

55      Wie die Kommission in ihren schriftlichen Erklärungen unterstrichen hat, hat die Regel der Anrechnung des Zusatzfreibetrags für unterhaltsberechtigte Kinder auf den höchsten Einkommensanteil des Ehepaars vom Grundsatz her das Ziel, die Wirkung der Vergünstigung zugunsten des Ehepaars als Ganzes, einschließlich des Ehegatten mit dem geringeren Einkommen, zu maximieren. Da der Steuertarif progressiv ist, ist die Zuweisung des Zusatzfreibetrags zu dem Ehegatten mit den höchsten Einkünften für das Ehepaar günstiger als eine Aufteilung zu gleichen Teilen oder auch anteilsmäßig. Paradoxerweise entfaltet diese Regel, wenn sie auf einen grenzüberschreitenden Sachverhalt wie den des Ausgangsverfahrens angewendet wird, unter bestimmten Umständen eine genau umgekehrte Wirkung, im vorliegenden Fall deshalb, weil der Ehegatte mit den höchsten Einkünften seine gesamten Einkünfte in einem anderen Mitgliedstaat als dem Königreich Belgien erzielt.

56      Entgegen dem Vorbringen der belgischen Regierung ist die somit festgestellte Beschränkung der Niederlassungsfreiheit nicht die notwendige Folge der Unterschiedlichkeit der im Ausgangsverfahren in Rede stehenden nationalen Regelungen.

57      Dem durch die Kläger des Ausgangsverfahrens gebildeten Ehepaar ist nämlich ein Teil der für gebietsansässige Ehepaare vorgesehenen Steuerbefreiungen vorenthalten worden, weil einer der beiden seine Niederlassungsfreiheit ausgeübt hat, und zwar wegen der Modalitäten der in der belgischen Steuerregelung vorgesehenen Anrechnung des Zusatzfreibetrags für unterhaltsberechtigte Kinder (vgl. in diesem Sinne Urteil de Groot, Randnr. 87).

58      Die belgische Regierung kann auch nicht geltend machen, dass die im Ausgangsverfahren in Rede stehende Steuerregelung keine Beschränkung der Niederlassungsfreiheit darstelle, da die Ausübung der Niederlassungsfreiheit durch Herrn Imfeld seine steuerliche Stellung insofern in keiner Weise verschlechtert habe, als er zum einen in Deutschland keine höhere Steuer zu entrichten gehabt habe als die Steuer, die er in Belgien entrichtet hätte, und als zum anderen seine persönliche und familiäre Situation in Deutschland berücksichtigt worden sei, so dass das Königreich Belgien insoweit von jeder Verpflichtung frei sei.

59      Zwar hat Herr Imfeld, wie aus der Schilderung des dem Ausgangsverfahren zugrunde liegenden Sachverhalts hervorgeht, im vorliegenden Fall durch die Gewährung eines Kinderfreibetrags in Deutschland in den Genuss einer teilweisen Berücksichtigung seiner persönlichen und familiären Situation kommen können.

60      Jedoch kann nicht angenommen werden, dass die Gewährung dieser steuerlichen Vergünstigung in Deutschland den von den Klägern des Ausgangsverfahrens in Belgien verzeichneten Verlust der steuerlichen Vergünstigung ausgleichen könnte.

61      Ein Mitgliedstaat kann sich nämlich nicht auf das Bestehen eines von einem anderen Mitgliedstaat, im vorliegenden Fall dem Mitgliedstaat, in dem Herr Imfeld arbeitet und seine gesamten Einkünfte erzielt, einseitig gewährten Vorteils berufen, um seinen Verpflichtungen aus dem Vertrag, insbesondere aufgrund der Vertragsbestimmungen über die Niederlassungsfreiheit, zu entgehen (vgl. in diesem Sinne Urteile u. a. vom 8. November 2007, Amurta, C‑379/05, Slg. 2007, I‑9569, Randnr. 78, vom 11. September 2008, Eckelkamp u. a., C‑11/07, Slg. 2008, I‑6845, Randnr. 69, und Arens-Sikken, C‑43/07, Slg. 2008, I‑6887, Randnr. 66).

62      Die im Ausgangsverfahren in Rede stehende Steuerregelung begründet aber eine steuerliche Vergünstigung zugunsten von Ehepaaren, nämlich in Form eines Zusatzfreibetrags für unterhaltsberechtigte Kinder, der auf die Einkünfte des Ehegatten angerechnet wird, der den größten Teil der Einkünfte erzielt, ohne in irgendeiner Weise den Umstand zu berücksichtigen, dass dieser nach der Ausübung der durch den Vertrag garantierten Grundfreiheiten persönlich in Belgien keine Einkünfte erzielen kann, was zur unmittelbaren und automatischen Folge hat, dass das Ehepaar dann diese Vergünstigung vollständig verliert. Durch den automatischen Eintritt dieses Verlusts unabhängig von der steuerlichen Behandlung von Herrn Imfeld in Deutschland wird die Niederlassungsfreiheit beeinträchtigt.

63      Daher kann sich die belgische Regierung auf den Umstand, dass im Ausgangsverfahren die persönliche und familiäre Situation von Herrn Imfeld in Deutschland im Rahmen seiner Einzelveranlagung zur Steuer teilweise berücksichtigt worden ist und er also dort in den Genuss einer steuerlichen Vergünstigung hat kommen können, nicht berufen, um darzutun, dass keine Beschränkung der Niederlassungsfreiheit vorliege.

 Zu den Rechtfertigungen der Beschränkung der Niederlassungsfreiheit

64      Nach ständiger Rechtsprechung kann eine Maßnahme, die geeignet ist, die in Art. 49 AEUV verankerte Niederlassungsfreiheit zu beschränken, nur zulässig sein, wenn mit ihr ein berechtigtes und mit dem Vertrag zu vereinbarendes Ziel verfolgt wird und wenn sie durch zwingende Gründe des Allgemeininteresses gerechtfertigt ist. In einem derartigen Fall muss aber die Anwendung einer solchen Maßnahme auch geeignet sein, die Verwirklichung des mit ihr verfolgten Ziels zu gewährleisten, und darf nicht über das hinausgehen, was hierzu erforderlich ist (vgl. u. a. Urteile de Lasteyrie du Saillant, Randnr. 49, vom 13. Dezember 2005, Marks & Spencer, C‑446/03, Slg. 2005, I‑10837, Randnr. 35, und vom 21. Januar 2010, SGI, C‑311/08, Slg. 2010, I‑487, Randnr. 56).

65      Die belgische Regierung macht geltend, dass die im Ausgangsverfahren in Rede stehende Steuerregelung – selbst angenommen, sie stellte eine Beschränkung der Niederlassungsfreiheit dar – auf jeden Fall durch die Notwendigkeit gerechtfertigt sei, eine ausgewogene Aufteilung der Besteuerungsbefugnis zwischen den Mitgliedstaaten zu wahren.

66      Insbesondere aus den Urteilen Schumacker und de Groot leitet sie ab, dass eine Wechselbeziehung zwischen der Besteuerung der Einkünfte und der Berücksichtigung der persönlichen und familiären Situation der Steuerpflichtigen in dem Sinne bestehe, dass diese Situation im Wohnsitzstaat nur dann berücksichtigt werden dürfe, wenn in diesem Staat steuerpflichtige Einkünfte erzielt würden. Nach dem Abkommen von 1967 seien die im Beschäftigungsstaat erzielten Einkünfte im Wohnsitzstaat von der Steuer befreit. Die Eigenheit der Befreiungsregelung bestehe darin, dass die Besteuerungsgrundlage auf null vermindert werde und dass Abzüge unabhängig davon verhindert würden, ob sie mit der persönlichen und familiären Situation verknüpft seien.

67      Würde dadurch über die Nichtbesteuerung hinausgegangen, dass die mit der persönlichen und familiären Situation verbundenen Steuervergünstigungen auf einen anderen Steuerpflichtigen übertragen würden, so würde dies über die vom Unionsrecht in seiner Auslegung durch den Gerichtshof im Urteil de Groot gestellten Anforderungen hinausgehen, aus dem lediglich hervorgehe, dass die Vergünstigungen in vollem Umfang zu gewähren seien und in vollem Umfang von den steuerpflichtigen Einkünften abziehbar sein müssten. Eine Übertragung der Vergünstigungen auf den Ehegatten gefährde letztlich das Recht des Königreichs Belgien auf Ausübung seiner Steuerhoheit für die in seinem Hoheitsgebiet von diesem Ehegatten durchgeführten Tätigkeiten.

68      Hierzu ist festzustellen, dass die Wahrung der Aufteilung der Besteuerungsbefugnis zwischen den Mitgliedstaaten zwar einen zwingenden Grund des Allgemeininteresses darstellen kann, der eine Beschränkung der Ausübung einer Verkehrsfreiheit innerhalb der Union rechtfertigen kann (Urteil Beker, Randnr. 56).

69      Wie der Gerichtshof bereits entschieden hat, kann sich der Wohnsitzstaat eines Steuerpflichtigen jedoch nicht auf eine solche Rechtfertigung berufen, um sich der grundsätzlich ihm obliegenden Verantwortung zu entziehen, die dem Steuerpflichtigen zustehenden personen- und familienbezogenen Abzüge zu gewähren, es sei denn, dieser Staat wäre im Vertragswege von seiner Verpflichtung zur vollständigen Berücksichtigung der persönlichen und familiären Situation der Steuerpflichtigen, die in seinem Hoheitsgebiet wohnen und ihre wirtschaftliche Betätigung teilweise in einem anderen Mitgliedstaat ausüben, entbunden oder er stellte fest, dass ein oder mehrere Beschäftigungsstaaten – auch außerhalb irgendeiner Übereinkunft – in Bezug auf die von ihnen besteuerten Einkünfte Vorteile gewähren, die mit der Berücksichtigung der persönlichen und familiären Situation derjenigen Steuerpflichtigen im Zusammenhang stehen, die nicht im Hoheitsgebiet dieser Staaten wohnen, dort aber zu versteuernde Einkünfte erzielen (vgl. in diesem Sinne Urteile de Groot, Randnrn. 99 und 100, und Beker, Randnr. 56).

70      Im Urteil de Groot hat der Gerichtshof in Randnr. 101 in diesem Zusammenhang festgestellt, dass die zur Vermeidung der Doppelbesteuerung verwendeten Mechanismen oder die nationalen Steuersysteme, die eine Ausschließung oder Milderung der Doppelbesteuerung bewirken, den Steuerpflichtigen der betreffenden Staaten gewährleisten müssen, dass ihre gesamte persönliche und familiäre Situation im Ganzen gebührend berücksichtigt wird, unabhängig davon, wie die betreffenden Mitgliedstaaten diese Verpflichtung untereinander aufgeteilt haben, da andernfalls eine mit den Vertragsbestimmungen über die Freizügigkeit unvereinbare Ungleichbehandlung entstünde, die sich keineswegs aus den Unterschieden zwischen den nationalen Steuervorschriften ergeben würde.

71      Diese Erwägungen lassen sich auf die Situation des durch die Kläger des Ausgangsverfahrens gebildeten Ehepaars übertragen.

72      Zum einen erlegt das Abkommen von 1967 dem Beschäftigungsmitgliedstaat keine Verpflichtung in Bezug auf die Berücksichtigung der persönlichen und familiären Situation der in einem anderen Mitgliedstaat wohnenden Steuerpflichtigen auf.

73      Zum anderen stellt die im Ausgangsverfahren in Rede stehende Steuerregelung keine wechselseitige Beziehung zwischen den steuerlichen Vergünstigungen, die sie den Gebietsansässigen des betreffenden Mitgliedstaats gewährt, und den steuerlichen Vergünstigungen her, in deren Genuss diese im Rahmen ihrer steuerlichen Veranlagung in einem anderen Mitgliedstaat kommen können. Die Kläger des Ausgangsverfahrens haben nicht deshalb nicht in den Genuss des Zusatzfreibetrags für unterhaltsberechtigte Kinder kommen können, weil sie in Deutschland eine gleichwertige Vergünstigung in Anspruch genommen haben, sondern allein deshalb, weil der Vorteil aus dieser Vergünstigung durch deren Anrechnungsmodalitäten aufgehoben wird.

74      Das Königreich Belgien hat in diesem Zusammenhang übrigens unterstrichen, dass das Rundschreiben von 2008, das als ein Mechanismus zu beurteilen ist, der eine solche wechselseitige Beziehung herstellt, auf die Situation von Herrn Imfeld nicht anwendbar sei.

75      Eine Rechtfertigung mit der Notwendigkeit der Wahrung einer ausgewogenen Aufteilung der Besteuerungsbefugnis zwischen den Mitgliedstaaten kann jedenfalls insbesondere dann anerkannt werden, wenn mit der betreffenden Regelung Verhaltensweisen verhindert werden sollen, die geeignet sind, das Recht eines Mitgliedstaats auf Ausübung seiner Steuerhoheit für die in seinem Hoheitsgebiet durchgeführten Tätigkeiten zu gefährden (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 29. März 2007, Rewe Zentralfinanz, C‑347/04, Slg. 2007, I‑2647, Randnr. 42, vom 18. Juli 2007, Oy AA, C‑231/05, Slg. 2007, I‑6373, Randnr. 54, SGI, Randnr. 60, und Beker, Randnr. 57).

76      Im vorliegenden Fall würde dieses Recht aber nicht gefährdet, wenn das Königreich Belgien den Klägern des Ausgangsverfahrens die personen- und familienbezogenen Abzüge in vollem Umfang gewähren würde. Dieser Mitgliedstaat würde dadurch nicht zugunsten anderer Mitgliedstaaten auf einen Teil seiner Steuerhoheit verzichten. Wie die Kommission ausführt, betrifft im vorliegenden Fall der Verlust der dem Ehepaar gewährten Vergünstigung einen Ehegatten, der in Belgien zur Steuer veranlagt wird. Die beschränkende Wirkung für das Ehepaar liegt nicht in einer ungünstigen Behandlung des von der Steuer befreiten Einkommens von Herrn Imfeld, sondern in der des ausschließlich in Belgien erzielten und in vollem Umfang zur belgischen Steuer veranlagten Einkommens von Frau Garcet, seiner Ehefrau, ohne dass diese in den Genuss der in Rede stehenden Steuervorteile gelangt.

77      Ferner ist die estnische Regierung der Auffassung, dass die im Ausgangsverfahren in Rede stehende belgische Steuerregelung verhindern solle, dass die persönliche und familiäre Situation des Steuerpflichtigen gleichzeitig in zwei Mitgliedstaaten berücksichtigt werde und demzufolge zur ungerechtfertigten Gewährung einer doppelten Vergünstigung führe. Sie macht unter diesem Gesichtspunkt geltend, dass der Gerichtshof bejaht habe, dass die Mitgliedstaaten einen doppelten Abzug von Verlusten verhindern könnten, und verweist hierzu auf Randnr. 47 des Urteils Marks & Spencer.

78      Wie der Generalanwalt in Nr. 82 seiner Schlussanträge ausgeführt hat, ist, selbst angenommen, dass die verschiedenen steuerlichen Vergünstigungen, die jeweils von den beiden Mitgliedstaaten gewährt werden, vergleichbar sind, und sollte der Schluss gezogen werden können, dass die Kläger des Ausgangsverfahrens tatsächlich in den Genuss einer doppelten Vergünstigung gekommen sind, dieser Umstand auf jeden Fall nur die Folge der parallelen Anwendung der deutschen und der belgischen Steuerregelung, so wie diese unter den im Abkommen von 1967 festgelegten Bedingungen zwischen diesen beiden Mitgliedstaaten vereinbart worden ist.

79      Dagegen dürfen die betroffenen Mitgliedstaaten von einem anderen Besteuerungsmitgliedstaat möglicherweise gewährte Steuervergünstigungen berücksichtigen, unter dem Vorbehalt, dass, wie aus Randnr. 70 des vorliegenden Urteils hervorgeht, unabhängig davon, wie diese Mitgliedstaaten diese Verpflichtung untereinander aufgeteilt haben, für ihre Steuerpflichtigen gewährleistet ist, dass ihre gesamte persönliche und familiäre Situation im Ganzen gebührend berücksichtigt wird.

80      Daher ist auf die gestellte Frage zu antworten, dass Art. 49 AEUV dahin auszulegen ist, dass er der Anwendung der Steuerregelung eines Mitgliedstaats wie der im Ausgangsverfahren fraglichen entgegensteht, die bewirkt, dass einem in diesem Staat wohnhaften Ehepaar, das Einkünfte sowohl in diesem Staat als auch in einem anderen Mitgliedstaat erzielt, der tatsächliche Genuss einer bestimmten Steuervergünstigung wegen der Modalitäten ihrer Anrechnung versagt wird, obwohl dieses Ehepaar in deren Genuss käme, wenn der Ehegatte mit den höchsten Einkünften nicht seine sämtlichen Einkünfte in einem anderen Mitgliedstaat erzielte.

 Kosten

81      Für die Parteien des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren ein Zwischenstreit in dem bei dem vorlegenden Gericht anhängigen Rechtsstreit; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig.

Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Fünfte Kammer) für Recht erkannt:

Art. 49 AEUV ist dahin auszulegen, dass er der Anwendung der Steuerregelung eines Mitgliedstaats wie der im Ausgangsverfahren fraglichen entgegensteht, die bewirkt, dass einem in diesem Staat wohnhaften Ehepaar, das Einkünfte sowohl in diesem Staat als auch in einem anderen Mitgliedstaat erzielt, der tatsächliche Genuss einer bestimmten Steuervergünstigung wegen der Modalitäten ihrer Anrechnung versagt wird, obwohl dieses Ehepaar in deren Genuss käme, wenn der Ehegatte mit den höchsten Einkünften nicht seine sämtlichen Einkünfte in einem anderen Mitgliedstaat erzielte.

Unterschriften


* Verfahrenssprache: Französisch.