SCHLUSSANTRÄGE DES GENERALANWALTS
MELCHIOR WATHELET
vom 20. November 2014(1)
Rechtssache C‑170/13
Huawei Technologies Co. Ltd
gegen
ZTE Corp.,
ZTE Deutschland GmbH
(Vorabentscheidungsersuchen des Landgerichts Düsseldorf [Deutschland])
„Wettbewerb – Art. 102 AEUV – Missbrauch einer beherrschenden Stellung – Patentverletzungsklage, die vom Inhaber eines Patents erhoben wurde, das für einen von einer Standardisierungsorganisation normierten Standard essenziell ist – Verpflichtung zur Erteilung von Lizenzen an Dritte zu FRAND-Bedingungen (Fair, Reasonable and Non-Discriminatory terms), d. h. zu Bedingungen, die fair, zumutbar und diskriminierungsfrei sind“
I – Einführung
1. Das vorliegende Vorabentscheidungsersuchen des Landgerichts Düsseldorf (Deutschland), das am 5. April 2013 bei der Kanzlei des Gerichtshofs eingegangen ist, betrifft die Auslegung des Art. 102 AEUV.
2. Im Mittelpunkt der Rechtssache steht ein Patent, das „für einen von einer Standardisierungsorganisation normierten Standard essentiell“ ist (im Folgenden: SEP), und der Gerichtshof hat erstmals zu prüfen, ob und gegebenenfalls unter welchen Voraussetzungen die Patentverletzungsklage eines SEP-Inhabers gegen ein Unternehmen, das Erzeugnisse herstellt, die den genannten Standard ausführen, einen Missbrauch einer beherrschenden Stellung darstellt.
3. Das Vorabentscheidungsersuchen wurde im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen der Huawei Technologies Co. Ltd (im Folgenden: Huawei), einem weltweit auf dem Gebiet der Telekommunikation tätigen Unternehmen mit Sitz in Shenzhen (China), einerseits und der ZTE Corp. mit Sitz in Shenzhen sowie der ZTE Deutschland GmbH (im Folgenden: ZTE) mit Sitz in Düsseldorf (Deutschland) andererseits eingereicht, die zu einer ebenfalls weltweit auf dem genannten Gebiet tätigen Unternehmensgruppe gehören. Huawei verlangt mit ihrer Patentverletzungsklage Unterlassung, Rechnungslegung, Rückruf und Schadensersatzfeststellung.
4. Die Patentverletzungsklage betrifft ein unter der Nummer EP 2 090 050 B 1 eingetragenes Europäisches Patent von Huawei (im Folgenden: streitiges Patent). Zu dessen benannten Vertragsstaaten gehört u. a. die Bundesrepublik Deutschland. Das Patent ist „essentiell“ für den „Long Term Evolution“ (LTE)-Standard(2), der vom Europäischen Institut für Telekommunikationsnormen (im Folgenden: ETSI)(3) normiert wird, d. h., seine Lehre wird bei Nutzung des LTE-Standards zwangsläufig verwirklicht.
5. Huawei zeigte das streitige Patent ETSI gegenüber an und verpflichtete sich am 4. März 2009 zugleich zur Erteilung von Lizenzen an Dritte zu fairen, zumutbaren und diskriminierungsfreien, generell als FRAND (Fair, Reasonable and Non-discriminatory) bezeichneten Bedingungen (im Folgenden: FRAND-Bedingungen)(4).
6. Nach dem „Scheitern“(5) der Verhandlungen über den Abschluss eines Lizenzvertrags zu FRAND-Bedingungen erhob Huawei vor dem vorlegenden Gericht eine Patentverletzungsklage, mit der sie ZTE auf Unterlassung, Rechnungslegung, Rückruf und Schadensersatzfeststellung in Anspruch nahm. ZTE ist der Auffassung, die Klage stelle einen Missbrauch einer beherrschenden Stellung dar, da sie ihre Bereitschaft zu Verhandlungen über eine Lizenz erklärt habe.
7. Das Verhalten von SEP-Inhabern, die sich zur Erteilung von Lizenzen an Dritte zu FRAND-Bedingungen verpflichteten, führte zu zahlreichen Klagen vor Gerichten mehrerer Mitgliedstaaten und Drittländer. Die Vielzahl von Klagen, die nicht nur auf wettbewerbsrechtliche Vorschriften, sondern auch auf Vorschriften des Bürgerlichen Rechts gestützt waren, brachten eine große Anzahl unterschiedlicher rechtlicher Lösungen hervor und führten folglich zu erheblicher Unsicherheit darüber, unter welchen Voraussetzungen bestimmte Verhaltensweisen eines SEP-Inhabers und die eines Unternehmens, das bei Nutzung eines von einer Europäischen Standardisierungsorganisation genormten Standards die Lehre eines SEP verwirklicht, rechtmäßig sind.
8. Angesichts der Fragen des vorlegenden Gerichts werde ich mich in den vorliegenden Schlussanträgen auf das Wettbewerbsrecht und insbesondere auf die Frage des Missbrauchs einer beherrschenden Stellung beschränken.
9. Dies bedeutet indessen nicht, dass die im Ausgangsverfahren in Rede stehende Problematik, deren Grund meines Erachtens vor allem darin liegt, dass Begriff und Inhalt der FRAND-Bedingungen unklar sind, nicht in anderen Rechtsgebieten oder mit anderen Mechanismen als denen des Wettbewerbsrechts angemessen oder gar besser gelöst werden könnte.
10. Insoweit mag der Hinweis genügen, dass die Verpflichtung, Lizenzen zu FRAND-Bedingungen einzuräumen, weder einer Lizenz zu FRAND-Bedingungen entspricht noch irgendeinen Anhaltspunkt für FRAND-Bedingungen darstellt, die grundsätzlich von den betreffenden Parteien vereinbart werden müssen.
11. Für die FRAND-Lizenzbedingungen sind zwar ausschließlich die Parteien und gegebenenfalls die Zivilgerichte oder Schiedsgerichte zuständig, doch ist für mich klar, dass die Gefahr eines bösen Willens der betreffenden Parteien oder des Abbruchs der Verhandlungen in diesem Bereich zumindest teilweise vermieden oder verringert werden könnte, wenn die Standardisierungsorganisation Mindestbedingungen oder einen Rahmen oder „Verhaltensregeln“ für die Verhandlungen über die FRAND-Lizenzbedingungen normieren würde. Geschieht dies nicht, werden die Unterlassungsklagen, aber auch die Regeln über den Missbrauch einer beherrschenden Stellung, die nur als letzter Ausweg dienen sollten, vom Inhaber eines SEP oder von einem Unternehmen, das die Norm benutzt und die Lehre dieses SEP verwirklicht, als Verhandlungsinstrument oder Druckmittel verwendet.
II – Rechtlicher Rahmen
A – Charta der Grundrechte der Europäischen Union
12. Die Charta der Grundrechte der Europäischen Union (im Folgenden: Charta) bestimmt in ihrem Art. 16 („Unternehmerische Freiheit“):
„Die unternehmerische Freiheit wird nach dem Unionsrecht und den einzelstaatlichen Rechtsvorschriften und Gepflogenheiten anerkannt.“
13. Art. 17 („Eigentumsrecht“) der Charta bestimmt:
„(1) Jede Person hat das Recht, ihr rechtmäßig erworbenes Eigentum zu besitzen, zu nutzen, darüber zu verfügen und es zu vererben. Niemandem darf sein Eigentum entzogen werden, es sei denn aus Gründen des öffentlichen Interesses in den Fällen und unter den Bedingungen, die in einem Gesetz vorgesehen sind, sowie gegen eine rechtzeitige angemessene Entschädigung für den Verlust des Eigentums. Die Nutzung des Eigentums kann gesetzlich geregelt werden, soweit dies für das Wohl der Allgemeinheit erforderlich ist.
(2) Geistiges Eigentum wird geschützt.“
14. In Art. 47 („Recht auf einen wirksamen Rechtsbehelf und ein unparteiisches Gericht“) der Charta heißt es:
„Jede Person, deren durch das Recht der Union garantierte Rechte oder Freiheiten verletzt worden sind, hat das Recht, nach Maßgabe der in diesem Artikel vorgesehenen Bedingungen bei einem Gericht einen wirksamen Rechtsbehelf einzulegen.
…“
15. Art. 52 („Tragweite und Auslegung der Rechte und Grundsätze“) der Charta bestimmt in seinem Abs. 1:
„Jede Einschränkung der Ausübung der in dieser Charta anerkannten Rechte und Freiheiten muss gesetzlich vorgesehen sein und den Wesensgehalt dieser Rechte und Freiheiten achten. Unter Wahrung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit dürfen Einschränkungen nur vorgenommen werden, wenn sie erforderlich sind und den von der Union anerkannten dem Gemeinwohl dienenden Zielsetzungen oder den Erfordernissen des Schutzes der Rechte und Freiheiten anderer tatsächlich entsprechen.“
B – Richtlinie 2004/48/EG
16. Die Richtlinie 2004/48/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 29. April 2004 zur Durchsetzung der Rechte des geistigen Eigentums(6) bestimmt in ihrem Art. 9 („Einstweilige Maßnahmen und Sicherungsmaßnahmen“):
„(1) Die Mitgliedstaaten stellen sicher, dass die zuständigen Gerichte die Möglichkeit haben, auf Antrag des Antragstellers
a) gegen den angeblichen Verletzer eine einstweilige Maßnahme anzuordnen, um eine drohende Verletzung eines Rechts des geistigen Eigentums zu verhindern …
…“
17. Art. 10 („Abhilfemaßnahmen“) der Richtlinie 2004/48 sieht vor:
„(1) Die Mitgliedstaaten stellen sicher, dass die zuständigen Gerichte auf Antrag des Antragstellers anordnen können, dass in Bezug auf Waren, die nach ihren Feststellungen ein Recht des geistigen Eigentums verletzen, und gegebenenfalls in Bezug auf Materialien und Geräte, die vorwiegend zur Schaffung oder Herstellung dieser Waren gedient haben, unbeschadet etwaiger Schadensersatzansprüche des Rechtsinhabers aus der Verletzung sowie ohne Entschädigung irgendwelcher Art geeignete Maßnahmen getroffen werden. Zu diesen Maßnahmen gehören
a) der Rückruf aus den Vertriebswegen,
b) das endgültige Entfernen aus den Vertriebswegen oder
c) die Vernichtung.
…
(3) Bei der Prüfung eines Antrags auf Anordnung von Abhilfemaßnahmen sind die Notwendigkeit eines angemessenen Verhältnisses zwischen der Schwere der Verletzung und den angeordneten Abhilfemaßnahmen sowie die Interessen Dritter zu berücksichtigen.“
18. Art. 11 („Gerichtliche Anordnungen“) der Richtlinie bestimmt:
„Die Mitgliedstaaten stellen sicher, dass die zuständigen Gerichte bei Feststellung einer Verletzung eines Rechts des geistigen Eigentums eine Anordnung gegen den Verletzer erlassen können, die ihm die weitere Verletzung des betreffenden Rechts untersagt. …“
19. Art. 12 („Ersatzmaßnahmen“) der Richtlinie 2004/48 bestimmt:
„Die Mitgliedstaaten können vorsehen, dass die zuständigen Gerichte in entsprechenden Fällen und auf Antrag der Person, der die in diesem Abschnitt vorgesehenen Maßnahmen auferlegt werden könnten, anordnen können, dass anstelle der Anwendung der genannten Maßnahmen eine Abfindung an die geschädigte Partei zu zahlen ist, sofern die betreffende Person weder vorsätzlich noch fahrlässig gehandelt hat, ihr aus der Durchführung der betreffenden Maßnahmen ein unverhältnismäßig großer Schaden entstehen würde und die Zahlung einer Abfindung an die geschädigte Partei als angemessene Entschädigung erscheint.“
20. Art. 13 („Schadensersatz“) der Richtlinie 2004/48 sieht vor:
„(1) Die Mitgliedstaaten stellen sicher, dass die zuständigen Gerichte auf Antrag der geschädigten Partei anordnen, dass der Verletzer, der wusste oder vernünftigerweise hätte wissen müssen, dass er eine Verletzungshandlung vornahm, dem Rechtsinhaber zum Ausgleich des von diesem wegen der Rechtsverletzung erlittenen tatsächlichen Schadens angemessenen Schadensersatz zu leisten hat.
Bei der Festsetzung des Schadensersatzes verfahren die Gerichte wie folgt:
a) Sie berücksichtigen alle in Frage kommenden Aspekte, wie die negativen wirtschaftlichen Auswirkungen, einschließlich der Gewinneinbußen für die geschädigte Partei und der zu Unrecht erzielten Gewinne des Verletzers, sowie in geeigneten Fällen auch andere als die rein wirtschaftlichen Faktoren, wie den immateriellen Schaden für den Rechtsinhaber,
oder
b) sie können stattdessen in geeigneten Fällen den Schadensersatz als Pauschalbetrag festsetzen, und zwar auf der Grundlage von Faktoren wie mindestens dem Betrag der Vergütung oder Gebühr, die der Verletzer hätte entrichten müssen, wenn er die Erlaubnis zur Nutzung des betreffenden Rechts des geistigen Eigentums eingeholt hätte.
(2) Für Fälle, in denen der Verletzer eine Verletzungshandlung vorgenommen hat, ohne dass er dies wusste oder vernünftigerweise hätte wissen müssen, können die Mitgliedstaaten die Möglichkeit vorsehen, dass die Gerichte die Herausgabe der Gewinne oder die Zahlung von Schadensersatz anordnen, dessen Höhe im Voraus festgesetzt werden kann.“
C – ETSI IPR Policy
21. Das Ziel der Standardisierungsorganisation besteht nach Abschnitt 3.1 der ETSI IPR Policy darin, Standards zu normieren, die an die technischen Ziele des Europäischen Telekommunikationssektors angepasst sind, sowie darin, für ETSI, für seine Mitglieder und für andere, die die ETSI‑Standards anwenden, die Gefahr zu verringern, dass Investitionen in die Vorbereitung, Annahme und Anwendung von Standards verschwendet werden, weil für einen Standard kein essenzielles Schutzrecht zu Verfügung steht. Um dieses Ziel zu erreichen, soll die ETSI IPR Policy einen Ausgleich zwischen dem Standardisierungsbedarf für die öffentliche Nutzung im Bereich der Telekommunikation und den Rechten der Inhaber von Rechten des geistigen Eigentums herstellen. Abschnitt 3.2 der ETSI IPR Policy bestimmt, dass bei Umsetzung der Standards die Inhaber des geistigen Eigentums angemessen und fair für die Nutzung ihres geistigen Eigentums entlohnt werden müssen.
22. Abschnitt 4.1 der ETSI IPR Policy sieht vor, dass jedes ETSI‑Mitglied, insbesondere während des Verfahrens zur Erarbeitung eines Standards, an dessen Entwicklung es beteiligt ist, die erforderlichen Maßnahmen ergreift, um ETSI rechtzeitig über seine standardessenziellen Rechte des geistigen Eigentums zu informieren. Ein Mitglied, das einen Vorschlag für einen technischen Standard unterbreitet, hat ETSI daher über alle seine Rechte des geistigen Eigentums zu informieren, die im Fall der Annahme des Vorschlags standardessenziell werden könnten.
23. Abschnitt 6.1 der ETSI IPR Policy bestimmt, dass, wenn ETSI von einem standardessenziellen Recht des geistigen Eigentums erfährt, sein Generaldirektor den Inhaber des genannten Rechts unverzüglich auffordert, sich innerhalb von drei Monaten unwiderruflich zu verpflichten, für das genannte Recht des geistigen Eigentums Lizenzen zu FRAND-Bedingungen zu gewähren. Wird diese FRAND‑Selbstverpflichtung nicht abgegeben, beurteilt ETSI, ob die Arbeiten an den betreffenden Teilen des Standards bis zur Klärung der Angelegenheit auszusetzen sind und/oder ein betroffener Standard zur Genehmigung vorgelegt wird(7). Lehnt der Inhaber des Rechts des geistigen Eigentums es ab, die FRAND-Selbstverpflichtung gemäß Abschnitt 6.1 der ETSI IPR Policy abzugeben, prüft ETSI, ob es eine Ersatztechnologie gibt und, wenn dies nicht der Fall ist, die Arbeiten an dem betreffenden Standard eingestellt werden(8). Nach Abschnitt 14 der ETSI IPR Policy stellt der Verstoß eines Mitglieds gegen diese Regeln einen Verstoß gegen seine gegenüber ETSI bestehenden Verpflichtungen dar.
24. Gemäß Abschnitt 15.6 der ETSI IPR Policy ist das geistige Eigentum als „essentiell“ u. a. dann anzusehen, wenn es aus technischen Gründen nicht möglich ist, Produkte standardkonform herzustellen, ohne das genannte Eigentum zu verletzen. ETSI kontrolliert jedoch weder, ob das geistige Eigentum, das ihm von einem seiner Mitglieder mitgeteilt wurde, Bestand hat, noch, ob es essenziell ist.
25. Die ETSI IPR Policy definiert nicht genau, was unter FRAND-Lizenzbedingungen zu verstehen ist. Es ist Sache des Inhabers und des Nutzers des Patents, die Voraussetzungen und Bedingungen für die Benutzung eines SEP auszuhandeln(9). Die ETSI IPR Policy enthält überdies keine Regeln oder Bestimmungen darüber, wie die Streitigkeiten beizulegen sind, wenn den Parteien der Abschluss einer Vereinbarung zu konkreten FRAND-Bedingungen nicht gelingt(10).
III – Ausgangsverfahren und Vorlagefragen
26. ZTE bietet in Deutschland u. a. Basisstationen mit LTE-Software (im Folgenden: angegriffene Ausführungsformen) an und vertreibt sie dort. Die von ZTE angebotenen und vertriebenen angegriffenen Ausführungsformen sind nach Angaben des vorlegenden Gerichts unstreitig LTE-fähig und arbeiten nach dem LTE-Standard. Aufgrund der Essentialität des streitigen Patents von Huawei für den LTE-Standard führt dies automatisch zur Benutzung dieses Patents durch ZTE.
27. Aus der Vorlageentscheidung geht hervor, dass Huawei und ZTE in der Zeit von November 2010 bis Ende März 2011 u. a. die Verletzung des Patents und die Möglichkeit einer Lizenz erörterten. Huawei „nannte die aus ihrer Sicht angemessene Lizenzgebühr“. ZTE „strebte eine Kreuzlizenzierung … an“. Aus der Vorlageentscheidung ergibt sich außerdem, dass ZTE am 30. Januar 2013 ein Angebot auf Abschluss eines Kreuzlizenzvertrags unterbreitete und Huawei einen Lizenzbetrag (nämlich 50 Euro) vorschlug, aber nicht zahlte. Überdies weist das vorlegende Gericht darauf hin, dass „[die Parteien] [k]onkrete Lizenzvertragsangebote … nicht [austauschten]“. Am 28. April 2011 erhob Huawei vor dem vorlegenden Gericht die Klage, die zum vorliegenden Vorabentscheidungsverfahren führte.
28. ZTE legte beim Europäischen Patentamt (im Folgenden: EPA) gegen das streitige Patent Einspruch ein mit der Begründung, dass das Patent nicht gültig sei. Mit Entscheidung vom 25. Januar 2013 bestätigte das EPA die Gültigkeit des Patents und wies den Einspruch von ZTE zurück. Gegen diese Entscheidung ist gegenwärtig eine Klage anhängig.
29. Das vorlegende Gericht stellt fest, dass die Benutzung des streitigen Patents durch ZTE widerrechtlich sei. Es ist jedoch der Ansicht, dass der Durchsetzung des Unterlassungsanspruchs der kartellrechtliche Zwangslizenzeinwand u. a. nach Art. 102 AEUV entgegenstehen könnte, wenn die Geltendmachung dieses Anspruchs durch Huawei als Missbrauch „ihrer unstreitig gegebenen marktbeherrschenden Stellung“(11) anzusehen wäre.
30. Nach Auffassung des vorlegenden Gerichts wird die Frage, wann ein Inhaber eines SEP seine marktbeherrschende Stellung gegenüber einem Patentverletzer im Sinne von Art. 102 AEUV missbraucht, mittels zweier Ansätze beantwortet.
31. Erstens weist das vorlegende Gericht darauf hin, dass der Bundesgerichtshof (Deutschland) in seinem Urteil vom 6. Mai 2009, „Orange-Book-Standard“ (KZR 39/06)(12), festgestellt hat, dass ein Patentinhaber, der auf Unterlassung einer Patentverletzung klagt, obwohl dem Beklagten ein Anspruch auf Einräumung einer Lizenz am Patent zusteht, nur dann seine marktbeherrschende Stellung missbraucht, wenn die folgenden Voraussetzungen erfüllt sind:
„Zum einen muss der Beklagte dem Kläger ein unbedingtes (d. h. insbesondere nicht unter einen Verletzungsvorbehalt gestelltes) Angebot auf Abschluss eines Lizenzvertrags gemacht haben, an das er sich gebunden hält und das der Kläger nicht ablehnen darf, ohne den Beklagten unbillig zu behindern oder gegen das Diskriminierungsverbot zu verstoßen.
Hält der Beklagte die Lizenzforderung des Klägers für missbräuchlich überhöht oder weigert sich der Kläger, die Lizenzgebühren zu beziffern, genügt dem Erfordernis eines unbedingten Angebots ein Angebot auf Abschluss eines Lizenzvertrages, bei dem der Kläger die Höhe der Lizenzgebühr nach billigem Ermessen bestimmt.
Zum anderen muss der Beklagte, wenn er den Gegenstand des Patents bereits benutzt, bevor der Kläger sein Angebot angenommen hat, diejenigen Verpflichtungen einhalten, die der abzuschließende Lizenzvertrag an die Benutzung des lizenzierten Gegenstandes knüpft. Das hat vor allem zur Folge, dass der Beklagte zu den Bedingungen eines nicht diskriminierenden Vertrags über den Umfang seiner Benutzungshandlungen abzurechnen hat, und dass er seinen sich aus der Abrechnung ergebenden Zahlungspflichten nachkommen muss.
Zur Erfüllung seiner Zahlungspflicht ist der Beklagte nicht gehalten, die Lizenzgebühr direkt an den Kläger zu zahlen. Ihm steht vielmehr die Möglichkeit offen, die Lizenzgebühren bei einem Amtsgericht zu hinterlegen.“
32. Zweitens weist das vorlegende Gericht darauf hin, dass die Europäische Kommission in einer Pressemitteilung(13) über die Mitteilung der Beschwerdepunkte wegen möglichen Patentmissbrauchs auf dem Mobiltelefonmarkt in einem gegen Samsung Electronics u. a. eingeleiteten Verfahren (COMP/C‑3/39.939) die vorläufige Auffassung vertreten hat, dass die Durchsetzung eines Unterlassungsanspruchs nach Art. 102 AEUV bereits dann rechtsmissbräuchlich ist, wenn ein SEP streitgegenständlich ist, der Patentinhaber gegenüber der Standardisierungsorganisation zugesagt hat, Lizenzen an diesem Patent zu FRAND-Bedingungen zu erteilen, und eine Verhandlungsbereitschaft des Patentverletzers gegeben ist.
33. Wie das vorlegende Gericht darlegt, wird in der Pressemitteilung jedoch nicht ausgeführt, wann ein Patentverletzer verhandlungsbereit ist. Auch finden laut Gericht die Kriterien, die der Bundesgerichtshof in seinem Urteil Orange-Book-Standard aufgestellt hat, keine Erwähnung.
34. Das vorlegende Gericht ist der Auffassung, dass bei Anwendung der vom Bundesgerichtshof aufgestellten Kriterien der kartellrechtliche Zwangslizenzeinwand von ZTE ohne Erfolg bliebe und der Verletzungsklage stattzugeben wäre. Huawei wäre in diesem Fall nicht verpflichtet gewesen, eines der von ZTE unterbreiteten schriftlichen Lizenzvertragsangebote anzunehmen, und zwar aus zwei Gründen.
35. Erstens seien die Lizenzvertragsangebote bereits deshalb unzureichend, weil es sich nicht um im Sinne der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs „unbedingte“ Angebote handele, da diese ausschließlich für solche Erzeugnisse gälten, für die eine Verletzung des Klagepatents festzustellen sei.
36. Zweitens habe ZTE – unabhängig von der Frage, ob die Höhe der zu zahlenden Lizenzgebühren zutreffend ermittelt worden sei – den sich ihrer Ansicht nach ergebenden Lizenzbetrag in Höhe von 50 Euro weder gezahlt, noch lasse sich feststellen, dass die für eine Hinterlegung erforderliche Annahmeanordnung vom Amtsgericht vorliege. Darüber hinaus fehle es an einer vollständigen und ordnungsgemäßen Rechnungslegung über vergangene Benutzungshandlungen.
37. Bei Anwendung der in der Pressemitteilung zum Ausdruck kommenden Rechtsansicht der Europäischen Kommission wäre die Unterlassungsklage von Huawei demgegenüber als rechtsmissbräuchlich abzuweisen. Da Huawei ihren Anspruch auf ein SEP stütze, müsse ZTE von ihm Gebrauch machen, um die LTE-fähigen angegriffenen Ausführungsformen auf den Markt bringen zu können. Huawei habe gegenüber ETSI eine Lizenzbereitschaftserklärung abgegeben, und ZTE sei, jedenfalls im maßgeblichen Zeitpunkt, dem Schluss der mündlichen Verhandlung, „verhandlungsbereit“ im Sinne der Rechtsansicht der Kommission gewesen. Diese Verhandlungsbereitschaft von ZTE komme jedenfalls durch die Vorlage der schriftlichen, bereits zum Teil Vorschläge von Huawei aufnehmenden Lizenzvertragsangebote zum Ausdruck. Dass die Parteien über den Inhalt verschiedener Klauseln und insbesondere über die Höhe der zu zahlenden Lizenzgebühr stritten, sei nach der genannten Rechtsansicht für die Verhandlungsbereitschaft ohne Belang.
38. Unter diesen Umständen hat das Landesgericht Düsseldorf beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen:
1. Missbraucht der Inhaber eines standardessentiellen Patentes, der gegenüber einer Standardisierungsorganisation seine Bereitschaft erklärt hat, jedem Dritten eine Lizenz zu fairen, angemessenen und nicht-diskriminierenden Bedingungen (FRAND) zu erteilen, seine marktbeherrschende Stellung, wenn er gegenüber einem Patentverletzer einen Unterlassungsanspruch gerichtlich geltend macht, obwohl der Patentverletzer seine Bereitschaft zu Verhandlungen über eine solche Lizenz erklärt hat,
oder
ist ein Missbrauch der marktbeherrschenden Stellung erst dann anzunehmen, wenn der Patentverletzer dem Inhaber des standardessentiellen Patentes ein annahmefähiges unbedingtes Angebot auf Abschluss eines Lizenzvertrages unterbreitet hat, das der Patentinhaber nicht ablehnen darf, ohne den Patentverletzer unbillig zu behindern oder gegen das Diskriminierungsverbot zu verstoßen, und der Patentverletzer im Vorgriff auf die zu erteilende Lizenz für bereits begangene Benutzungshandlungen die ihn treffenden Vertragspflichten erfüllt?
2. Sofern der Missbrauch einer marktbeherrschenden Stellung bereits infolge der Verhandlungsbereitschaft des Patentverletzers anzunehmen ist:
Stellt Art. 102 AEUV besondere qualitative und/oder zeitliche Anforderungen an die Verhandlungsbereitschaft? Kann eine solche insbesondere bereits dann angenommen werden, wenn der Patentverletzer lediglich in allgemeiner Art und Weise (mündlich) erklärt hat, bereit zu sein, in Verhandlungen einzutreten, oder muss der Patentverletzer bereits in Verhandlungen eingetreten sein, indem er beispielsweise konkrete Bedingungen nennt, zu denen er bereit ist, einen Lizenzvertrag abzuschließen?
3. Sofern die Abgabe eines annahmefähigen unbedingten Angebots auf Abschluss eines Lizenzvertrages Voraussetzung für den Missbrauch einer marktbeherrschenden Stellung ist:
Stellt Art. 102 AEUV besondere qualitative und/oder zeitliche Anforderungen an dieses Angebot? Muss das Angebot sämtliche Regelungen enthalten, die üblicherweise in Lizenzverträgen auf dem in Rede stehenden Technikgebiet enthalten sind? Darf das Angebot insbesondere unter die Bedingung gestellt werden, dass das standardessentielle Patent tatsächlich benutzt wird und/oder sich als rechtsbeständig erweist?
4. Sofern die Erfüllung von Pflichten aus der zu erteilenden Lizenz seitens des Patentverletzers Voraussetzung für den Missbrauch einer marktbeherrschenden Stellung ist:
Stellt Art. 102 AEUV besondere Anforderungen bezüglich dieser Erfüllungshandlungen? Ist der Patentverletzer namentlich gehalten, über vergangene Benutzungshandlungen Rechnung zu legen und/oder Lizenzgebühren zu zahlen? Kann eine Pflicht zur Zahlung der Lizenzgebühren gegebenenfalls auch mittels Leistung einer Sicherheit erfüllt werden?
5. Gelten die Bedingungen, unter denen ein Machtmissbrauch durch den Inhaber eines standardessentiellen Patents anzunehmen ist, auch für die klageweise Geltendmachung der sonstigen aus einer Patentverletzung herzuleitenden Ansprüche (auf Rechnungslegung, Rückruf, Schadenersatz)?
IV – Verfahren vor dem Gerichtshof
39. Schriftliche Erklärungen sind von Huawei, ZTE, der niederländischen und der portugiesischen Regierung sowie von der Kommission eingereicht worden. Huawei, ZTE, die niederländische und die finnische Regierung sowie die Kommission haben in der Sitzung vom 11. September 2014 mündliche Erklärungen abgegeben.
V – Würdigung
A – Vorbemerkungen
40. Der Gerichtshof soll feststellen, ob und gegebenenfalls unter welchen Voraussetzungen die Patentverletzungsklage eines SEP-Inhabers, der sich zur Erteilung von Lizenzen zu FRAND-Bedingungen verpflichtet hat, einen Missbrauch einer beherrschenden Stellung darstellt. Die Fragen des vorlegenden Gerichts betreffen nicht die spezifischen Voraussetzungen einer FRAND-Lizenz – was in die Zuständigkeit der Parteien und gegebenenfalls der Zivilgerichte und Schiedsgerichte fällt –, sondern sollen vielmehr in Bezug auf das Wettbewerbsrecht den Rahmen klären, in dem die Lizenzen für ein SEP zu FRAND-Bedingungen auszuhandeln sind.
41. Nach den Ausführungen des vorlegenden Gerichts hat der SEP-Inhaber bei der Verhandlung über Lizenzen gerade wegen des ihm zustehenden Unterlassungsanspruchs eine machtvolle Position inne. Es müsse folglich sichergestellt sein, dass der SEP-Inhaber nicht unter Verstoß gegen seine Verpflichtung, Lizenzen zu FRAND-Bedingungen zu erteilen, z. B. unangemessen hohe Lizenzgebühren durchsetzen könne, ein Verhalten, das als „patent hold-up“ bezeichnet wird(14).
42. Das vorlegende Gericht weist jedoch auch darauf hin, dass eine Beschränkung des Unterlassungsanspruchs die Verhandlungsposition des SEP-Inhabers erheblich schwäche, da ihm das für gleichberechtigte Lizenzverhandlungen notwendige Druckmittel fehle. Der SEP-Inhaber habe die rechtswidrige Benutzung seines Patents zu dulden, unabhängig davon, ob und wann es tatsächlich zum Abschluss eines Lizenzvertrags komme. Er erhalte lediglich im Nachhinein zu einem für ihn noch nicht absehbaren Zeitpunkt Schadensersatz, dessen Durchsetzbarkeit und Höhe ungewiss seien. Dies gelte selbst dann, wenn sich die Verhandlungen über eine Lizenz allein aus Gründen hinzögen, die im Verantwortungsbereich des Verletzers lägen. Dieses Verhalten wird als „patent hold-out“ oder als „reverse patent hold-up“ bezeichnet.
43. Mit seiner ersten Vorlagefrage möchte das vorlegende Gericht wissen, ob der SEP-Inhaber, der sich gegenüber einer Standardisierungsorganisation, hier ETSI, verpflichtet hat, jedem Dritten eine Lizenz zu FRAND-Bedingungen zu erteilen, seine marktbeherrschende Stellung missbraucht, wenn er gegenüber einem Patentverletzer einen Unterlassungsanspruch gerichtlich geltend macht, obwohl der Patentverletzer zu „Verhandlungen“ über eine solche Lizenz „bereit“ war.
44. Im Rahmen dieser Frage befasst sich das vorlegende Gericht mit einer zweiten Fallkonstellation, in der ein Missbrauch der marktbeherrschenden Stellung erst dann anzunehmen wäre, wenn der Patentverletzer dem SEP-Inhaber ein annahmefähiges unbedingtes Angebot unterbreitet hätte, das der Patentinhaber nicht ablehnen dürfte, ohne den Patentverletzer unbillig zu behindern oder gegen das Diskriminierungsverbot zu verstoßen, und der Patentverletzer im Vorgriff auf die Lizenz für bereits begangene Benutzungshandlungen die ihn treffenden Vertragspflichten erfüllt hätte.
45. Um dem vorlegenden Gericht auf die erste Frage eine sachdienliche und vollständige Antwort zu geben, sind meines Erachtens die beiden von ihm angeführten Fallkonstellationen gemeinsam zu prüfen.
46. Die Vorlagefragen 2 bis 4 betreffen jeweils die Anforderungen an die Verhandlungsbereitschaft des Patentverletzers, die Anforderungen an sein Angebot und an die Erfüllung der ihm obliegenden Pflichten aus der zu erteilenden Lizenz. Die Beantwortung dieser Fragen hängt weitgehend von der Beantwortung der ersten Frage ab. Die fünfte Frage betrifft die sonstigen, neben dem Unterlassungsanspruch bestehenden Ansprüche, die dem SEP-Inhaber zum Schutz seines geistigen Eigentums zustehen. Da die Fragen des vorlegenden Gerichts in erster Linie die Rechtmäßigkeit des Unterlassungsanspruchs betreffen, werde ich meine Schlussanträge auf diesen Anspruch konzentrieren.
B – Das Urteil Orange-Book-Standard des Bundesgerichtshofs und die Pressemitteilung der Kommission in der Sache Samsung Electronics u. a.
47. Es ist offensichtlich, dass die Vorlagefragen des vorlegenden Gerichts stark vom Urteil Orange-Book-Standard des Bundesgerichtshofs und von der Pressemitteilung der Kommission in der Sache Samsung Electronics u. a. beeinflusst sind.
48. Bezüglich des genannten Urteils sind wichtige Abweichungen des Sachverhalts von dem des Ausgangsverfahrens festzustellen. Das streitige Patent ist ein Patent, das für den LTE-Standard essenziell ist, also für einen Standard, der einvernehmlich von den am Standardisierungsverfahren von ETSI beteiligten Unternehmen (darunter Huawei und ZTE) verabschiedet wurde, während das in der Sache Orange-Book-Standard fragliche Patent eine De-facto-Norm war(15). In der genannten Sache bestand daher keine Verpflichtung des Patentinhabers, Lizenzen zu FRAND-Bedingungen zu erteilen. Es ist normal, dass in diesem Fall die dem Patentinhaber zukommende Verhandlungsmacht größer ist als im Fall eines SEP, dessen Inhaber ebenso wie der Lizenzsucher Mitglied einer Europäischen Standardisierungsorganisation ist, und dass seine Geltendmachung eines Unterlassungsanspruchs überhaupt nur als missbräuchlich angesehen wird, wenn die Lizenzgebühr, die er verlangt, eindeutig überhöht ist.
49. Angesichts dieser wichtigen Abweichung des Sachverhalts von dem des Ausgangsverfahrens bin ich der Auffassung, dass das genannte Urteil nicht im Wege der Analogie auf die vorliegende Rechtssache übertragbar ist.
50. Dagegen betrifft die Pressemitteilung in der Sache Samsung Electronics u. a. zwar ein SEP, dessen Inhaber gegenüber einer Standardisierungsorganisation zugesagt hat, Lizenzen an diesem Patent zu FRAND-Bedingungen zu erteilen, doch kann meines Erachtens eine nur äußerst vage und unverbindliche Verhandlungsbereitschaft des Patentverletzers(16) nicht genügen(17), um den Unterlassungsanspruch des SEP-Inhabers zu beschränken(18).
51. Meines Erachtens würde sich aus der einfachen Übertragung des Urteils Orange-Book-Standard des Bundesgerichtshofs oder der Pressemitteilung auf den vorliegenden Fall eine Situation ergeben, bei der der SEP-Inhaber, der Benutzer der Lehre des Patents oder der Verbraucher entweder zu viel oder zu wenig Schutz erhalte(19).
52. Es muss daher ein Mittelweg gefunden werden.
C – Die Vermutung des Vorliegens einer marktbeherrschenden Stellung
53. Mit der Kommission weise ich darauf hin, dass das vorlegende Gericht eine marktbeherrschende Stellung von Huawei unterstellt(20) und den Gerichtshof weder zu den Kriterien für die Abgrenzung des relevanten Marktes(21) noch zu der Feststellung einer marktbeherrschenden Stellung befragt(22).
54. Die portugiesische Regierung und die Kommission beschränken ihre Stellungnahmen auf den eventuellen Missbrauch der beherrschenden Stellung durch den SEP-Inhaber, während Huawei(23), ZTE(24) und die niederländische Regierung sich in ihren Stellungnahmen nur sehr wenig mit der Frage des Vorliegens einer beherrschenden Stellung befassen.
55. Nach ständiger Rechtsprechung kann sich der Gerichtshof nur auf der Grundlage des ihm vom nationalen Gericht unterbreiteten Sachverhalts zur Auslegung oder zur Gültigkeit einer Vorschrift der Union äußern. Außerdem wäre eine Änderung des Gehalts der Vorabentscheidungsfragen unvereinbar mit der dem Gerichtshof durch Art. 267 AEUV übertragenen Rolle und mit seiner Verpflichtung gemäß Art. 23 der Satzung des Gerichtshofs der Europäischen Union, sicherzustellen, dass die Regierungen der Mitgliedstaaten und die Verfahrensbeteiligten die Möglichkeit haben, Erklärungen abzugeben, weil den Verfahrensbeteiligten nach dieser Vorschrift nur die Vorlageentscheidungen zugestellt werden(25).
56. Da im vorliegenden Fall das vorlegende Gericht eine Frage nach dem Vorliegen einer beherrschenden Stellung weder für notwendig noch für erheblich gehalten hat, kann der Gerichtshof insoweit keine Prüfung vornehmen.
57. Das vorlegende Gericht hat jedoch in seinem Vorlagebeschluss nicht dargelegt, dass es die Feststellung, dass der SEP-Inhaber im Ausgangsverfahren unstreitig über eine marktbeherrschende Stellung verfügt, erst nach vollständiger Prüfung der gesamten Umstände und des im vorliegenden Fall gegebenen besonderen Zusammenhangs getroffen habe. Ebenso wie die niederländische Regierung bin ich der Ansicht, dass der Umstand, dass ein Unternehmen ein SEP besitzt, nicht zwingend bedeutet, dass eine beherrschende Stellung im Sinne von Art. 102 AEUV vorliegt(26), und dass vom nationalen Gericht im Einzelfall geprüft werden muss, ob dies tatsächlich der Fall ist(27).
58. Da sich aus der Feststellung, dass eine beherrschende Stellung vorliegt, für das betreffende Unternehmen eine besondere Verantwortung(28) dafür ergibt, dass es durch sein Verhalten nicht einen wirksamen Wettbewerb beeinträchtigt, darf diese Feststellung nicht auf Vermutungen gegründet werden. Der Umstand, dass jeder, der einen von einer Standardisierungsorganisation normierten Standard benutzt, zwangsläufig die Lehre eines SEP verwirklicht und damit eine Lizenz des Inhabers dieses Patents benötigt, kann zwar die einfache Vermutung begründen, dass der Inhaber dieses Patents über eine beherrschende Stellung verfügt. Meines Erachtens muss es jedoch möglich sein, diese Vermutung durch konkrete und substantiierte Angaben zu widerlegen.
D – Der Missbrauch der beherrschenden Stellung oder die missbräuchliche Ausnutzung der technologischen Abhängigkeit
59. Die Beantwortung der Vorlagefragen des vorlegenden Gerichts erfordert unter Berücksichtigung des Wettbewerbsrechts eine Abwägung zwischen einerseits dem Recht des geistigen Eigentums und dem Recht des SEP-Inhabers auf Zugang zu den Gerichten (Huawei) und andererseits der unternehmerischen Freiheit, die den Wirtschaftsteilnehmern – wie etwa den Unternehmen, die den LTE-Standard umsetzen – nach Art. 16 der Charta zusteht (ZTE). Der Erlass einer Anordnung, auf den eine Unterlassungsklage gerichtet ist, beschränkt nämlich diese Freiheit erheblich(29) und ist daher geeignet, den Wettbewerb zu verfälschen(30).
1. Recht des geistigen Eigentums
60. Aus den dem Gerichtshof vorliegenden Akten ergibt sich, dass Huawei trotz ihrer Verpflichtungszusage gegenüber ETSI, jedem Dritten eine Lizenz zu FRAND-Bedingungen zu erteilen, nicht ihr Recht aufgegeben hat, gegen Personen, die die Lehre des streitigen Patents ohne ihre Genehmigung benutzen, einen Unterlassungsanspruch geltend zu machen. Dagegen ergibt sich aus dieser Verpflichtungszusage eindeutig, dass Huawei bereit ist(31), das streitige Patent nicht nur durch alleinige Nutzung, sondern auch durch Vergabe von Lizenzen rentabel zu machen. Huawei stimmt ferner zu, dass eine zu FRAND-Bedingungen festgesetzte Lizenzgebühr einen angemessenen und fairen Ausgleich für die Nutzung des genannten Patents durch andere darstellt.
61. Mit Huawei, ZTE, der niederländischen und der portugiesischen Regierung sowie der Kommission bin ich der Ansicht, dass nach ständiger Rechtsprechung die Ausübung eines Ausschließlichkeitsrechts, das an ein Recht des geistigen Eigentums gebunden ist, d. h. im vorliegenden Fall die Ausübung des Rechts auf Geltendmachung eines Unterlassungsanspruchs im Fall einer Patentverletzung, für sich genommen kein Missbrauch einer beherrschenden Stellung sein kann(32). Das genannte Recht ist nämlich für den Patentinhaber ein wesentliches Mittel(33), um sein in Art. 17 Abs. 2 der Charta ausdrücklich geschütztes geistiges Eigentum geltend zu machen(34).
62. Hieraus folgt, dass jede Beschränkung des Rechts auf Geltendmachung dieses Unterlassungsanspruchs zwangsläufig eine erhebliche Beschränkung des geistigen Eigentums darstellt und somit nur unter außergewöhnlichen und genau bestimmten Umständen zugelassen werden kann.
63. Das Recht des geistigen Eigentums ist jedoch kein uneingeschränktes Recht. So stellt der zwölfte Erwägungsgrund der Richtlinie 2004/48, ohne vom Rechtsmissbrauch zu sprechen, fest, dass „[d]iese Richtlinie … die Anwendung der Wettbewerbsvorschriften, insbesondere der Artikel [101 AEUV und 102 AEUV] nicht berühren [darf]. Die in dieser Richtlinie vorgesehenen Maßnahmen dürfen nicht dazu verwendet werden, den Wettbewerb entgegen den Vorschriften des Vertrags unzulässig einzuschränken.“ Das Recht auf Geltendmachung eines Unterlassungsanspruchs zum Schutz des geistigen Eigentums ist daher kein uneingeschränktes und unantastbares Recht und muss im Allgemeininteresse mit den in den Art. 101 AEUV und 102 AEUV vorgesehenen Wettbewerbsregeln vereinbar sein(35). Art. 12 der genannten Richtlinie sieht z. B. vor, dass die Gerichte unter bestimmten Umständen auf Antrag der Person, gegen die eine gerichtliche Anordnung ergehen kann, anordnen können, dass anstelle der gerichtlichen Anordnung eine Abfindung an den Inhaber eines Rechts des geistigen Eigentums zu zahlen ist. Beschränkungen des Rechts auf Geltendmachung eines Unterlassungsanspruchs und die Substitution dieses Rechts durch die Zahlung einer Abfindung werden somit von der Richtlinie eindeutig in Betracht gezogen(36).
64. Außerdem kann der Eigentümer eines Rechts des geistigen Eigentums die Art seiner Ausübung selbst beschränken.
65. Insoweit bin ich der Ansicht, dass es sich bei der Verpflichtung von Huawei im Ausgangsverfahren, jedem Dritten eine Lizenz zu FRAND-Bedingungen zu erteilen, teilweise um eine „Lizenzbereitschaft“ handelt(37). Anders als im Fall von Zwangslizenzen, die aufgrund Gesetzes erteilt werden(38), kann der Patentinhaber die Verwirklichung der Lehre seines Patents durch Dritte unter bestimmten Bedingungen von sich aus genehmigen. Ich weise darauf hin, dass im Fall der Lizenzbereitschaft gegen den Lizenznehmer eines Patents grundsätzlich keine Anordnung ergehen kann(39).
2. Recht auf Zugang zu den Gerichten
66. Das Recht auf Zugang zu den Gerichten und die Möglichkeit, seine Rechte vor einem Gericht geltend zu machen, sind in Art. 47 der Charta anerkannt. In Rn. 51 des Urteils ZZ (C‑300/11, EU:C:2013:363) hat der Gerichtshof jedoch festgestellt, dass Art. 52 Abs. 1 der Charta zwar Einschränkungen der Ausübung der in Art. 47 der Charta niederlegten Rechte zulässt, unter Berücksichtigung der Bedeutung des mit Art. 47 der Charta gewährleisteten Grundrechts aber zu beachten ist, dass Art. 52 Abs. 1 der Charta verlangt, dass jede Einschränkung(40) insbesondere den Wesensgehalt des fraglichen Grundrechts achtet, und außerdem voraussetzt, dass jede Einschränkung unter Wahrung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit erforderlich ist und tatsächlich den von der Union anerkannten dem Gemeinwohl dienenden Zielsetzungen entspricht(41).
67. Ungeachtet dessen, dass die Charta für die von ihr anerkannten Grundrechte – abgesehen von der Würde des Menschen, die ohne Ausnahme unantastbar ist(42) – keine Hierarchie aufstellt, kann die gerichtliche Geltendmachung eines Unterlassungsanspruchs angesichts der Bedeutung des Rechts auf Zugang zu den Gerichten aber nur unter außergewöhnlichen Umständen einen Missbrauch einer marktbeherrschenden Stellung darstellen.
3. Unternehmerische Freiheit und unverfälschter Wettbewerb
68. Nach ständiger Rechtsprechung ist der Begriff der missbräuchlichen Ausnutzung einer beherrschenden Stellung ein objektiver Begriff, der solche Verhaltensweisen eines Unternehmens in beherrschender Stellung erfasst, die die Struktur eines Marktes beeinflussen können, auf dem der Wettbewerb gerade wegen der Präsenz des fraglichen Unternehmens bereits geschwächt ist, und die zur Folge haben, dass die Aufrechterhaltung des auf dem Markt noch bestehenden Wettbewerbs oder dessen Entwicklung durch den Einsatz von Mitteln behindert wird, die von den Mitteln eines normalen Produkt- oder Dienstleistungswettbewerbs auf der Grundlage der Leistung der Wirtschaftsteilnehmer abweichen(43).
69. Huawei, ZTE, die niederländische und die portugiesische Regierung sowie die Kommission sind der Ansicht, dass die Feststellung des Missbrauchs einer beherrschenden Stellung infolge der Geltendmachung eines Unterlassungsanspruchs nach ständiger Rechtsprechung das Vorliegen „außergewöhnlicher Umstände“ voraussetze(44). Ich weise darauf hin, dass, „[w]ie aus dieser Rechtsprechung hervorgeht“, der Inhaber eines Rechts des geistigen Eigentums, der die Erteilung einer Lizenz für die Benutzung dieses Eigentums verweigert, die „für eine bestimmte Tätigkeit unerlässlich [ist], bereits dann missbräuchlich [handelt], wenn drei Bedingungen kumulativ erfüllt sind: Die Weigerung muss das Auftreten eines neuen Erzeugnisses verhindern, nach dem eine potenzielle Nachfrage der Verbraucher besteht, sie darf nicht gerechtfertigt sein, und sie muss geeignet sein, jeglichen Wettbewerb auf einem abgeleiteten Markt auszuschließen.“(45)
70. Wie Huawei ausführt, liegen dieser Rechtsprechung Sachverhalte zugrunde, die mit dem Sachverhalt des Ausgangsverfahrens nicht unmittelbar vergleichbar sind. Es ist offensichtlich, dass, wie in den Rechtssachen, die zu dieser Rechtsprechung führten, für die Herstellung von Erzeugnissen und die Erbringung von Dienstleistungen, die dem LTE-Standard entsprechen, eine Lizenz an dem streitigen Patent unerlässlich ist. Im Unterschied zu den genannten Rechtssachen jedoch, die die Weigerung betreffen, Lizenzen für die Benutzung von Rechten des geistigen Eigentums zu erteilen, zeigte Huawei das streitige Patent ETSI gegenüber an(46) und verpflichtete sich aus freien Stücken zur Erteilung von Lizenzen an diesem Patent zu FRAND-Bedingungen, was auf den ersten Blick nicht mit Weigerungen wie denen gleichgestellt werden kann, um die es in der oben in Nr. 44 der vorliegenden Schlussanträge angeführten Rechtsprechung ging. Infolgedessen ist diese Rechtsprechung nur teilweise im Ausgangsverfahren anwendbar, in dem es entscheidend darauf ankommt, wie Huawei seine Verpflichtungszusage gegenüber ETSI, Lizenzen über das streitige Patent zu FRAND-Bedingungen zu erteilen, eingehalten hat.
71. Insoweit weise ich darauf hin, dass Huaweis Anzeige des genannten Patents gegenüber ETSI sowie ihre Verpflichtungszusage den Ablauf des Standardisierungsverfahrens und selbst den Inhalt des LTE-Standards beeinflusst haben(47). Die Aufnahme der Lehre des streitigen Patents in den LTE-Standard und die sich hieraus ergebende Unerlässlichkeit einer Lizenz schaffen nämlich ein Abhängigkeitsverhältnis zwischen dem SEP-Inhaber und den Unternehmen, die Erzeugnisse und Dienstleistungen hervorbringen, die diesem Standard entsprechen. Diese Abhängigkeit technologischer Art führt zu eine wirtschaftlichen Abhängigkeit.
72. In Rn. 9 seines Urteils Volvo (EU:C:1988:477) hat der Gerichtshof festgestellt, dass „die Ausübung des ausschließlichen Rechts durch den Inhaber eines Musters für Kraftfahrzeugkarosserieteile gemäß Artikel [102 AEUV] verboten sein kann, wenn sie bei einem Unternehmen, das eine beherrschende Stellung einnimmt, zu bestimmten missbräuchlichen Verhaltensweisen führt, etwa der willkürlichen Weigerung, unabhängige Reparaturwerkstätten mit Ersatzteilen zu beliefern, der Festsetzung unangemessener Ersatzteilpreise oder der Entscheidung, für ein bestimmtes Modell keine Ersatzteile mehr herzustellen, obwohl noch viele Fahrzeuge dieses Modells verkehren, sofern diese Verhaltensweisen geeignet sind, den Handel zwischen Mitgliedstaaten zu beeinträchtigen“.
73. Meines Erachtens sind die Hinweise des Gerichtshofs in diesem Urteil über Verhaltensweisen, die einen Missbrauch einer beherrschenden Stellung darstellen können, zum einen durch ein Abhängigkeitsverhältnis zwischen dem Inhaber eines Rechts des geistigen Eigentums in beherrschender Stellung und anderen Unternehmen sowie zum anderen durch einen Missbrauch dieser Stellung durch den genannten Eigentümer mit Hilfe von Mitteln gekennzeichnet, die von den Mitteln eines normalen Wettbewerbs abweichen(48).
74. Unter Umständen wie diesen, wenn zum einen eine technologische Abhängigkeit des Patentverletzers infolge der Aufnahme der Lehre eines Patents in einen Standard gegeben ist und zum anderen sich der SEP-Inhaber entgegen seiner Verpflichtung, Lizenzen zu FRAND-Bedingungen zu erteilen, unlauter oder unangemessen gegenüber einem Patentverletzer verhält(49), der objektiv bereit, willens und fähig ist, einen Vertrag über eine solche Lizenz zu schließen, stellt die Geltendmachung eines Unterlassungsanspruchs den Einsatz von Mitteln dar, die von den Mitteln eines normalen Wettbewerbs abweichen, beeinträchtigt ferner den Wettbewerb(50) zum Nachteil insbesondere der Verbraucher und der Unternehmen, die in die Vorbereitung, Annahme und Anwendung des Standards investiert haben(51), und ist zudem als ein Missbrauch einer beherrschenden Stellung im Sinne von Art. 102 AEUV anzusehen.
75. Es liegt auf der Hand, dass die Feststellung, dass im Zusammenhang mit der Standardisierung und der Verpflichtung zur Erteilung von Lizenzen an einem SEP zu FRAND-Bedingungen ein Missbrauch einer beherrschenden Stellung vorliegt, erst getroffen werden kann, nachdem nicht nur des Verhalten des SEP-Inhabers, sondern auch das des Patentverletzers geprüft wurde.
E – Die Anwendung auf den vorliegenden Fall
1. Zur ersten Frage
76. Der Gerichtshof ist zwar nach Art. 267 AEUV nicht befugt, Art. 102 AEUV auf einen Einzelfall anzuwenden, er kann aber diesen Artikel im Rahmen der durch Art. 267 AEUV eingeführten Zusammenarbeit zwischen den Gerichten anhand der Akten insoweit auslegen, als dies dem vorlegenden Gericht bei der Befassung mit dem ihm vorliegenden konkreten Sachverhalt dienlich sein könnte(52).
77. Es steht außer Frage, dass die Benutzung eines Patents ohne Lizenz grundsätzlich das geistige Eigentum des Patentinhabers verletzt und dass dieser nach der Richtlinie 2004/48 über mehrere Rechtsbehelfe zur Durchsetzung seiner Rechte verfügt, darunter die Unterlassungsklage. In einem solchen Fall muss der Patentverletzer vor Begehung der Verletzung in Verhandlungen mit dem Patentinhaber eintreten, um einen Lizenzvertrag zu schließen.
78. Das Ausgangsverfahren unterscheidet sich hiervon insoweit, als der Inhaber sich gegenüber einer Standardisierungsorganisation (deren Mitglied er und auch der mutmaßliche Patentverletzer sind) verpflichtet hat, jedem Dritten eine Lizenz zu FRAND-Bedingungen zu erteilen.
79. Die in diesem Fall anwendbaren Leitlinien sind meines Erachtens folgende.
80. Soweit der Patentverletzer „fähig“ ist und bleibt, einen Lizenzvertrag zu FRAND-Bedingungen zu schließen und einzuhalten und insbesondere eine angemessene Lizenzgebühr zu zahlen, muss der SEP-Inhaber in Anbetracht der in Frage stehenden erheblichen Interessen vor Geltendmachung eines Unterlassungsanspruchs bestimmte konkrete Schritte unternehmen, um seiner Verpflichtungszusage zu entsprechen und seiner besonderen Verantwortung nach Art. 102 AEUV gerecht zu werden.
81. Dies ist umso notwendiger, als nicht sicher ist, dass der Verletzer eines SEP zwangsläufig weiß, dass er die Lehre eines bestandskräftigen und standardessenziellen Patents benutzt. Es scheint, dass für den LTE‑Standard mehr als 4 700 Patente als essenziell angezeigt wurden und diese Patente in erheblichem Umfang weder rechtsbeständig noch standardessenziell sein könnten(53).
82. Es ist daher möglich, dass selbst ein großes Telekommunikationsunternehmen wie ZTE nicht vorher prüfen konnte, ob alle Patente für den LTE-Standard, die ETSI gegenüber angezeigt worden waren, rechtsbeständig und standardessenziell sind. Auch ist zu berücksichtigen, dass sich der Telekommunikationssektor ständig weiterentwickelt und die Unternehmen (und somit die potenziellen Verletzer) schnell reagieren müssen, um ihre Erzeugnisse und Dienstleistungen in den Verkehr zu bringen. Meines Erachtens ist es daher nicht unangemessen, Lizenzverträge für ein SEP zu FRAND-Bedingungen ex post zu verhandeln und zu schließen, d. h. nach Beginn der Nutzung der Lehre dieses Patents.
83. Welche konkreten Schritte muss hiervon ausgehend der SEP-Inhaber vor der gerichtlichen Geltendmachung eines Unterlassungsanspruchs(54) unternehmen, wenn kein Missbrauch einer beherrschenden Stellung vorliegen soll?
84. Zum einen muss der angebliche Patentverletzer, sofern nicht feststeht, dass er umfassend informiert ist, schriftlich und mit Gründen versehen von der in Frage stehenden Verletzung unterrichtet werden, wobei anzugeben ist, welches das relevante SEP ist und worin die Verletzung durch den Patentverletzer besteht. Dieses Vorgehen verlangt vom SEP-Inhaber keinen unverhältnismäßigen Aufwand, da es ohnedies zur Begründung der Unterlassungsklage erforderlich wäre.
85. Zum anderen muss der SEP-Inhaber dem angeblichen Patentverletzer unter allen Umständen ein schriftliches Lizenzvertragsangebot zu FRAND-Bedingungen unterbreiten, das alle üblicherweise in einem Lizenzvertrag der betreffenden Branche aufgeführten Bedingungen zu enthalten hat, insbesondere die genaue Höhe der Lizenzgebühr und die Art ihrer Berechnung.
86. Dieses Erfordernis ist auch nicht unverhältnismäßig, da sich der SEP-Inhaber aus freien Stücken verpflichtet hat, sein geistiges Eigentum auf diese Weise zu verwerten, und damit aus freien Stücken die Art der Ausübung seines Ausschließlichkeitsrechts beschränkt hat. Es kann sogar vernünftigerweise erwartet werden, dass er dieses Angebot vorbereitet und formuliert, sobald sein Patent erteilt ist und er die Verpflichtung zur Erteilung von Lizenzen zu FRAND-Bedingungen übernommen hat. In Anbetracht des Umstands, dass diese Verpflichtung des SEP-Inhabers auch die Pflicht zur Gleichbehandlung der Lizenznehmer umfasst, verfügt zudem allein der SEP-Inhaber über die Informationen, die zur Erfüllung dieser Pflicht erforderlich sind, vor allem wenn er bereits andere Lizenzverträge geschlossen hat.
87. Welches sind im Gegenzug die Pflichten des angeblichen Patentverletzers?
88. Er hat auf das Angebot des SEP-Inhabers sorgfältig und ernsthaft zu reagieren. Nimmt er es nicht an, hat er dem SEP-Inhaber kurzfristig ein angemessenes schriftliches Gegenangebot bezüglich der Klauseln zu unterbreiten, mit denen er nicht einverstanden ist. Wie das vorlegende Gericht ausgeführt hat, wäre die gerichtliche Geltendmachung eines Unterlassungsanspruchs kein Missbrauch einer beherrschenden Stellung, wenn das Verhalten des Verletzers ein rein taktisches und/oder zögerliches und/oder nicht ernst gemeintes Verhalten wäre.
89. Die Frist für den Austausch von Angebot und Gegenangebot sowie die Dauer der Verhandlungen(55) sind nach dem „Zeitfenster“ zu beurteilen, das dem SEP-Inhaber für die Verwertung seines Patents im relevanten Sektor zur Verfügung steht.
90. Das vorlegende Gericht hat zu klären, ob und in welchem Umfang das Verhalten von Huawei und ZTE den vorstehend genannten Leitlinien entspricht. Ich möchte einige Bemerkungen hinzufügen und darauf hinweisen, dass der Ablauf und der genaue Inhalt der Kontakte zwischen Huawei und ZTE aus dem Vorlagebeschluss nicht klar hervorgehen. Zudem weichen die Ausführungen, die Huawei(56) und ZTE(57) hierzu in ihren Erklärungen vor dem Gerichtshof machen, stark voneinander ab und widersprechen sich sogar.
91. Aus dem Vorlagebeschluss geht jedenfalls hervor, dass Huawei bei ihren Gesprächen mit ZTE in der Zeit zwischen November 2010 und Ende März 2011(58) den Betrag nannte, den sie als Lizenzgebühr für angemessen hielt. Das vorlegende Gericht hat den Inhalt dieses „Angebots“(59) von Huawei sowie die Frage zu beurteilen, ob es den in den Nrn. 84 und 85 der vorliegenden Schlussanträge dargelegten Voraussetzungen und Annahmen entspricht.
92. Das vorlegende Gericht hat ferner zu prüfen, ob es auf der Grundlage der von Huawei vorgeschlagenen Lizenzgebühr und der Antwort von ZTE tatsächlich möglich war, die FRAND-Bedingungen auszuhandeln. Hierzu muss das vorlegende Gericht meines Erachtens beurteilen, ob die von ZTE vorgeschlagene Kreuzlizenzierung(60) und die Zahlung einer Lizenzgebühr von 50 Euro im vorliegenden Fall angemessen war und den in Nr. 88 der vorliegenden Schlussanträge dargelegten Voraussetzungen und Annahmen entsprach.
93. Sind keine Verhandlungen aufgenommen worden oder sind diese ergebnislos geblieben, kann das Verhalten des angeblichen Patentverletzers im Übrigen nicht als zögerlich oder als nicht ernst gemeint angesehen werden, wenn dieser die Festsetzung der genannten Bedingungen durch ein Gericht oder ein Schiedsgericht verlangt. In diesem Fall dürfte der SEP-Inhaber vom Patentverletzer die Stellung einer Bankbürgschaft für die Zahlung der Lizenzgebühren(61) oder die Hinterlegung eines vorläufigen Betrags(62) bei dem Gericht oder Schiedsgericht für die zurückliegende und zukünftige Nutzung des SEP verlangen.
94. Gleiches würde gelten, wenn sich der Patentverletzer bei den Verhandlungen das Recht vorbehält, nach Abschluss eines Lizenzvertrags vor einem Gericht oder Schiedsgericht zum einen die Rechtsbeständigkeit des Patents anzugreifen und zum anderen geltend zu machen, dass die bisherige oder zukünftige Nutzung der Lehre des Patents durch ihn rechtmäßig ist bzw. gar nicht stattgefunden hat.
95. Was die Rechtsbeständigkeit des SEP angeht, bin ich nämlich mit dem vorlegenden Gericht, Huawei, ZTE und der Kommission der Ansicht, dass es im öffentlichen Interesse liegt, dass ein angeblicher Patentverletzer nach Abschluss des Lizenzvertrags die Rechtsbeständigkeit eines SEP angreifen kann (was ZTE getan hat). Wie die Kommission angeführt hat, kann ein nicht rechtsbeständiges Patent ein Hindernis für die legitime Ausübung einer Geschäftstätigkeit sein. Wenn zudem die Unternehmen, die standardkonforme Erzeugnisse und Dienstleistungen hervorbringen, die Rechtsbeständigkeit eines als standardessenziell deklarierten Patents nicht angreifen können, könnte dies darauf hinauslaufen, dass die Rechtsbeständigkeit dieses Patents de facto nie überprüft werden könnte, denn die anderen Unternehmen hätten insoweit kein Interesse an einem Tätigwerden(63).
96. Was die Nutzung der Lehre eines Patents angeht, brauchen die Unternehmen, die einen Standard umsetzen, naturgemäß nicht für das geistige Eigentum zu zahlen, dass sie nicht nutzen(64). Hieraus folgt, dass der angebliche Patentverletzer später geltend machen kann, dass er die Lehre eines Patents nicht genutzt habe und dass das Patent für den betreffenden Standard nicht essenziell sei.
97. Angesichts meiner Antworten auf die erste Frage halte ich eine Antwort auf die zweite und die dritte Frage für nicht erforderlich.
2. Zur vierten Frage
98. Die vierte Frage beruht auf der sich aus dem Urteil Orange-Book-Standard des Bundesgerichtshofs ergebenden Prämisse, dass der Patentverletzer schon vor dem Abschluss eines Lizenzvertrags die ihn aus dem zukünftigen Vertrag treffenden Pflichten erfüllen muss. Dieses Erfordernis braucht meines Erachtens bei der Nutzung eines SEP nicht aufgestellt zu werden, wenn sich der Patentinhaber zur Erteilung von Lizenzen zu FRAND-Bedingungen verpflichtet hat. Wie sich aus meiner Antwort auf die erste Frage ergibt, muss der Patentverletzer jedoch objektiv bereit, willens und fähig sein, einen solchen Lizenzvertrag zu schließen. Unter diesen Umständen kann die Stellung einer Bankbürgschaft für die Zahlung der Lizenzgebühren oder die Hinterlegung eines vorläufigen Betrags vom SEP-Inhaber für die bisherige oder zukünftige Nutzung seines Patents verlangt werden.
3. Zur fünften Frage
99. Mit dieser Frage möchte das vorlegende Gericht vom Gerichtshof wissen, ob der SEP-Inhaber eine beherrschende Stellung missbraucht, wenn er sonstige aus einer Patentverletzung herzuleitende Ansprüche, nämlich auf Rechnungslegung, Rückruf und Schadensersatz, klageweise geltend macht.
100. Da die Abhilfemaßnahmen nach Art. 10 der Richtlinie 2004/48(65) darin bestehen können, dass die Erzeugnisse und Dienstleistungen des Verletzers eines SEP von den Märkten, für die der Standard gilt, ausgeschlossen werden können, gelten die Erwägungen in den Nrn. 77 bis 89 und 93 bis 96 über die gerichtliche Geltendmachung des Unterlassungsanspruchs für die Abhilfemaßnahmen nach Art. 10 der Richtlinie entsprechend.
101. Dagegen sehe ich aufgrund des Art. 102 AEUV kein Hindernis für die Erhebung einer Klage auf Rechnungslegung, mit der die Nutzung der Lehre eines SEP durch den Patentverletzer geklärt werden soll, um aufgrund dieses Patents eine FRAND-Lizenzgebühr zu erwirken. Das betreffende vorlegende Gericht hat darüber zu wachen, dass die Maßnahme angemessen und verhältnismäßig ist.
102. Eine Klage auf Schadensersatz für vergangene Benutzungshandlungen, die das SEP verletzen, stellt im Hinblick auf die Anwendung des Art. 102 AEUV kein Problem dar. Da diese Klage nur darauf gerichtet ist, den SEP-Inhaber für die vergangenen Verletzungen seines Patents zu entschädigen, führt sie, wie die Kommission ausführt, „weder zum Ausschluss standardkonformer Produkte vom Markt … noch dazu, dass ein potentieller Lizenznehmer ungünstigen Lizenzierungsbedingungen für zukünftige Benutzungen eines SEP zustimmt“.
VI – Ergebnis
103. Vor dem Hintergrund der vorstehenden Ausführungen schlage ich dem Gerichtshof vor, auf die Vorlagefragen des Landgerichts Düsseldorf wie folgt zu antworten:
1. Stellt der Inhaber eines standardessenziellen Patents (SEP), der sich einer Standardisierungsorganisation gegenüber zur Erteilung einer Lizenz an Dritte zu FRAND-Bedingungen (Fair, Reasonable and Non-Discriminatory), d. h. zu Bedingungen, die fair, zumutbar und diskriminierungsfrei sind, verpflichtet hat, aufgrund der Art. 9 und 10 der Richtlinie 2004/48/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 29. April 2004 zur Durchsetzung der Rechte des geistigen Eigentums einen Antrag auf Anordnung von Abhilfemaßnahmen gegenüber einem Patentverletzer oder macht er ihm gegenüber einen Unterlassungsanspruch gerichtlich geltend, wodurch Erzeugnisse und Dienstleistungen des Verletzers eines standardessenziellen Patents von den Märkten, für die der betreffende Standard gilt, ausgeschlossen werden können, dann stellt dies einen Missbrauch einer beherrschenden Stellung nach Art. 102 AEUV dar, wenn feststeht, dass der Inhaber eines standardessenziellen Patents seine Verpflichtungszusage nicht eingehalten hat, obwohl der Patentverletzer objektiv bereit, willens und fähig ist, einen Vertrag über eine solche Lizenz zu schließen.
2. Die Einhaltung der Verpflichtungszusage setzt voraus, dass der Inhaber eines standardessenziellen Patents, wenn ein Missbrauch einer beherrschenden Stellung nicht vorliegen soll, vor der Einreichung eines Antrags auf Anordnung von Abhilfemaßnahmen bzw. vor der gerichtlichen Geltendmachung eines Unterlassungsanspruchs den angeblichen Patentverletzer, sofern nicht feststeht, dass dieser umfassend informiert ist, schriftlich und mit Gründen versehen von der in Frage stehenden Verletzung unterrichtet, wobei anzugeben ist, welches das relevante standardessenzielle Patent ist und worin die Verletzung durch den Patentverletzer besteht. Der Inhaber eines standardessenziellen Patents muss dem angeblichen Patentverletzer unter allen Umständen ein schriftliches Lizenzvertragsangebot zu FRAND-Bedingungen unterbreiten, das alle üblicherweise in einem Lizenzvertrag der betreffenden Branche aufgeführten Bedingungen zu enthalten hat, insbesondere die genaue Höhe der Lizenzgebühr und die Art ihrer Berechnung.
3. Der Patentverletzer hat auf dieses Angebot sorgfältig und ernsthaft zu reagieren. Nimmt er das Angebot des Inhabers eines standardessenziellen Patents nicht an, hat er diesem kurzfristig ein angemessenes schriftliches Gegenangebot bezüglich der Klauseln zu unterbreiten, mit denen er nicht einverstanden ist. Bei der Einreichung eines Antrags auf Anordnung von Abhilfemaßnahmen oder der gerichtlichen Geltendmachung eines Unterlassungsanspruchs handelt es sich nicht um den Missbrauch einer beherrschenden Stellung, wenn das Verhalten des Patentverletzers ein rein taktisches und/oder zögerliches und/oder nicht ernst gemeintes Verhalten ist.
4. Sind keine Verhandlungen aufgenommen worden oder sind diese ergebnislos geblieben, kann das Verhalten des angeblichen Patentverletzers nicht als zögerlich oder als nicht ernst gemeint angesehen werden, wenn dieser die Festsetzung von FRAND- Bedingungen durch ein Gericht oder ein Schiedsgericht verlangt. In diesem Fall darf der Inhaber eines standardessenziellen Patents vom Patentverletzer die Stellung einer Bankbürgschaft für die Zahlung der Lizenzgebühren oder die Hinterlegung eines vorläufigen Betrags bei dem Gericht oder Schiedsgericht für die bisherige oder zukünftige Nutzung seines Patents verlangen.
5. Das Verhalten des angeblichen Patentverletzers kann auch dann nicht als zögerlich oder als nicht ernst gemeint angesehen werden, wenn er sich bei den Verhandlungen über eine Lizenz zu FRAND-Bedingungen das Recht vorbehält, nach Abschluss des Lizenzvertrags vor einem Gericht oder Schiedsgericht die Rechtsbeständigkeit dieses Patents anzugreifen sowie geltend zu machen, dass er die Lehre des Patents nicht genutzt hat oder das Patent für den betreffenden Standard nicht essenziell ist.
6. Die Klage des Inhabers eines standardessenziellen Patents auf Rechnungslegung stellt keinen Missbrauch einer beherrschenden Stellung dar. Das betreffende Gericht hat darüber zu wachen, dass die Maßnahme angemessen und verhältnismäßig ist.
7. Die Klage des Inhabers eines standardessenziellen Patents auf Schadensersatz für vergangene Benutzungshandlungen, die nur darauf gerichtet ist, ihn für die vergangenen Verletzungen seines Patents zu entschädigen, stellt keinen Missbrauch einer beherrschenden Stellung dar.