SCHLUSSANTRÄGE DES GENERALANWALTS
GERARD HOGAN
vom 14. Januar 2020(1)
Rechtssache C‑19/19
État belge
gegen
Pantochim SA, in Liquidation
(Vorabentscheidungsersuchen der Cour de cassation [Kassationshof, Belgien])
„Vorlage zur Vorabentscheidung – Richtlinie 76/308/EWG – Gegenseitige Unterstützung bei der Beitreibung von Forderungen – Richtlinie 2008/55/EG – Art. 6 und 10 – Richtlinie 2010/24/EU – Art. 13 Abs. 1 – Aufrechnung einer für den ersuchenden Mitgliedstaat beigetriebenen Steuerforderung gegen eine Steuerschuld des ersuchten Mitgliedstaats – Eigenschaft der beigetriebenen Forderung – Auslegung des Begriffs ‚Vorrecht‘“
I. Einleitung
1. Dieses Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 6 Abs. 2 und Art. 10 der Richtlinie 76/308/EWG des Rates vom 15. März 1976 über die gegenseitige Unterstützung bei der Beitreibung von Forderungen im Zusammenhang mit Maßnahmen, die Bestandteil des Finanzierungssystems des Europäischen Ausrichtungs- und Garantiefonds für die Landwirtschaft (EAGFL) sind, sowie von Abschöpfungen und Zöllen(2) in Verbindung mit Art. 6 Abs. 2 und Art. 10 der Richtlinie 2008/55/EG des Rates vom 26. Mai 2008 über die gegenseitige Unterstützung bei der Beitreibung von Forderungen in Bezug auf bestimmte Abgaben, Zölle, Steuern und sonstige Maßnahmen(3).
2. Dieses Ersuchen ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen dem État belge (im Folgenden: belgischer Staat) und der Pantochim SA, in Liquidation. Die Vorlage betrifft im Wesentlichen die Frage, ob es zulässig ist, einen Steuererstattungsanspruch von Pantochim gegenüber dem belgischen Staat mit einem Mehrwertsteueranspruch Deutschlands gegen dieses Unternehmen aufzurechnen. Deutschland hatte den belgischen Staat gemäß der in belgisches Recht umgesetzten Richtlinie 76/308 um Unterstützung bei der Beitreibung der betreffenden Forderung ersucht.
3. Vor Darstellung des Sachverhalts werde ich die einschlägigen Rechtsgrundlagen aufführen.
II. Rechtsrahmen
A. Unionsrecht
1. Richtlinie 76/308
4. Art. 6 der Richtlinie 76/308 in seiner ursprünglichen Fassung lautet:
„(1) Auf Antrag der ersuchenden Behörde nimmt die ersuchte Behörde nach Maßgabe der für die Beitreibung derartiger, in dem Mitgliedstaat, in dem sie ihren Sitz hat, entstandener Forderungen geltenden Rechts- und Verwaltungsvorschriften die Beitreibung von Forderungen vor, für die ein Vollstreckungstitel besteht.
(2) Zu diesem Zweck wird jede Forderung, für die ein Beitreibungsersuchen vorliegt, als Forderung des Mitgliedstaats, in dem sich die ersuchte Behörde befindet, behandelt …“
5. Art. 10 der Richtlinie 76/308 in seiner ursprünglichen Fassung lautet:
„Die beizutreibenden Forderungen genießen in dem Mitgliedstaat, in dem die ersuchte Behörde ihren Sitz hat, keinerlei Vorrechte.“
2. Richtlinie 2008/55
6. Der erste Erwägungsgrund der Richtlinie 2008/55 lautet:
„Die Richtlinie 76/308/EWG des Rates vom 15. März 1976 über die gegenseitige Unterstützung bei der Beitreibung von Forderungen in Bezug auf bestimmte Abgaben, Zölle, Steuern und sonstige Maßnahmen ist mehrfach und in wesentlichen Punkten geändert worden. Aus Gründen der Übersichtlichkeit und Klarheit empfiehlt es sich, die genannte Richtlinie zu kodifizieren.“
7. Art. 6 der Richtlinie 2008/55 bestimmt:
„Auf Antrag der ersuchenden Behörde nimmt die ersuchte Behörde nach Maßgabe der für die Beitreibung derartiger, in dem Mitgliedstaat, in dem sie ihren Sitz hat, entstandener Forderungen geltenden Rechts- und Verwaltungsvorschriften die Beitreibung von Forderungen vor, für die ein Vollstreckungstitel besteht.
Zu diesem Zweck wird jede Forderung, für die ein Beitreibungsersuchen vorliegt, als Forderung des Mitgliedstaats, in dem sich die ersuchte Behörde befindet, behandelt …“
8. Art. 10 der Richtlinie 2008/55 bestimmt:
„Ungeachtet des Artikels 6 Absatz 2 genießen die beizutreibenden Forderungen nicht unbedingt dieselben Vorrechte wie entsprechende Forderungen, die in dem Mitgliedstaat, in dem die ersuchte Behörde ihren Sitz hat, entstanden sind.“
3. Richtlinie 2010/24/EU
9. Die Richtlinie 2008/55 wurde mit Wirkung zum 1 . Januar 2012 durch Art. 29 der Richtlinie 2010/24/EU des Rates vom 16. März 2010 über die Amtshilfe bei der Beitreibung von Forderungen in Bezug auf bestimmte Steuern, Abgaben und sonstige Maßnahmen(4) aufgehoben.
10. Art. 10 Abs. 1 der Richtlinie 2010/24 bestimmt:
„Auf Ersuchen der ersuchenden Behörde nimmt die ersuchte Behörde die Beitreibung von Forderungen vor, für die im ersuchenden Mitgliedstaat ein Vollstreckungstitel besteht.“
11. Art. 13 Abs. 1 der Richtlinie 2010/24 bestimmt:
„Zum Zwecke der Beitreibung im ersuchten Mitgliedstaat wird jede Forderung, für die ein Beitreibungsersuchen vorliegt, wie eine Forderung des ersuchten Mitgliedstaats behandelt, sofern in dieser Richtlinie nichts anderes bestimmt ist. Die ersuchte Behörde übt die Befugnisse aus und wendet die Verfahren an, die in den in ihrem Mitgliedstaat geltenden Rechts- und Verwaltungsvorschriften für Forderungen aus gleichen oder – in Ermangelung gleicher – aus vergleichbaren Steuern oder Abgaben vorgesehen sind, sofern in dieser Richtlinie nichts anderes bestimmt ist.
…
Der ersuchte Mitgliedstaat ist nicht verpflichtet, Forderungen anderer Mitgliedstaaten Vorrechte zu gewähren, die vergleichbare, in seinem Hoheitsgebiet entstandene Forderungen genießen, sofern zwischen den betreffenden Mitgliedstaaten nichts anderes vereinbart wurde oder das Recht des ersuchten Mitgliedstaats nichts anderes vorsieht. Ein Mitgliedstaat, der Forderungen eines anderen Mitgliedstaats Vorrechte gewährt, darf gleichen oder vergleichbaren Forderungen anderer Mitgliedstaaten die Gewährung derselben Vorrechte zu denselben Bedingungen nicht verweigern.
….“
12. Art. 13 Abs. 5 der Richtlinie 2010/24 lautet:
„Unbeschadet des Artikels 20 Absatz 1 überweist die ersuchte Behörde der ersuchenden Behörde die im Zusammenhang mit der Forderung beigetriebenen Beträge und die Zinsen nach den Absätzen 3 und 4 dieses Artikels.“
B. Belgisches Recht
13. Art. 12 der Loi du 20 juillet 1979 concernant l’assistance mutuelle en matière de recouvrement des créances relatives à certaines cotisations, droits, taxes et autres mesures (Gesetz vom 20. Juli 1979 über die gegenseitige Unterstützung bei der Beitreibung von Forderungen in Bezug auf bestimmte Abgaben, Zölle, Steuern und sonstige Maßnahmen, Belgisches Staatsblatt vom 30. August 1979, S. 9457, im Folgenden: Gesetz vom 20. Juli 1979) bestimmt:
„Die ersuchte belgische Behörde nimmt die Beitreibungen, um die von der ausländischen Behörde ersucht wird, vor, als handele es sich um im Königreich [Belgien] entstandene Forderungen.“
14. Art. 15 dieses Gesetzes lautet:
„Die beizutreibenden Forderungen genießen keinerlei Vorrechte.“
15. Art. 334 der Loi-programme du 27 décembre 2004 (Belgisches Staatsblatt vom 31. Dezember 2004, S. 87006, im Folgenden: Programmgesetz vom 27. Dezember 2004) in der bis zum 7. Januar 2009 geltenden Fassung bestimmt:
„Summen, die im Rahmen der Anwendung der gesetzlichen Bestimmungen über die Einkommensteuern und die damit gleichgesetzten Steuern oder die Mehrwertsteuer … einem Steuerschuldner erstattet oder gezahlt werden müssen, können ohne weitere Formalitäten vom zuständigen Beamten für die Zahlung von … Einkommensteuern, damit gleichgesetzten Steuern, Mehrwertsteuer … verwendet werden, Letztere nur, sofern sie nicht oder nicht mehr beanstandet werden.
Vorhergehender Absatz bleibt im Falle einer Pfändung, einer Abtretung, einer Konkurrenzsituation oder eines Insolvenzverfahrens anwendbar.“
16. Art. 334 Abs. 1 des Programmgesetzes vom 27. Dezember 2004 in der Fassung von Art. 194 der Loi-programme du 22 décembre 2008 ( Belgisches Staatsblatt vom 29. Dezember 2008, S. 68649, im Folgenden: Programmgesetz vom 22. Dezember 2008) und vor seiner Änderung durch die Loi du 25 décembre 2016 (Gesetz vom 25 . Dezember 2016), der auf den Sachverhalt vom 8. Januar 2009 an anwendbar ist, bestimmt:
„Summen, die einer Person erstattet oder gezahlt werden müssen, … im Rahmen der Anwendung der Steuergesetze, die in den Zuständigkeitsbereich des Föderalen Öffentlichen Dienstes Finanzen fallen oder für deren Einnahme und Beitreibung dieser Föderale Öffentliche Dienst zuständig ist, … können ohne weitere Formalitäten und nach Wahl des zuständigen Beamten verwendet werden für die Zahlung der von dieser Person in Anwendung der betreffenden Steuergesetze geschuldeten Summen oder für die Begleichung von Steuerforderungen oder anderen Forderungen, für deren Einnahme und Beitreibung … der Föderale Öffentliche Dienst Finanzen zuständig ist. Diese Verwendung ist auf den nicht beanstandeten Teil der Forderungen gegenüber dieser Person begrenzt.
Vorhergehender Absatz bleibt im Falle einer Pfändung, einer Abtretung, einer Konkurrenzsituation oder eines Insolvenzverfahrens anwendbar.“
III. Ausgangsverfahren und Vorlagefragen
17. Pantochim ist eine Aktiengesellschaft, die mit Urteil des Tribunal de commerce de Charleroi (Handelsgericht Charleroi, Belgien) vom 26. Juni 2001 liquidiert wurde. Im Rahmen dieses Liquidationsverfahrens bezahlte Pantochim die bevorrechtigte Mehrwertsteuerschuld gegenüber dem belgischen Staat vollständig.
18. Vom belgischen Staat wurde im Rahmen des Liquidationsverfahrens auch eine Mehrwertsteuerforderung Deutschlands in Höhe von 634 275,50 Euro nebst Zinsen angemeldet. Diese Mehrwertsteuerforderung (im Folgenden: deutsche Mehrwertsteuerforderung) wurde als nicht bevorrechtigte Forderung in die Schuldenmasse aufgenommen. Aus dem Vorabentscheidungsersuchen geht hervor, dass Deutschland auf Grundlage der in belgisches Recht umgesetzten Richtlinie 76/308 um Unterstützung bei der Beitreibung der betreffenden Mehrwertsteuerforderung ersucht hatte.
19. Vorliegend ergibt sich die zu prüfende Rechtsfrage daraus, dass Pantochim einen erheblichen Steuererstattungsanspruch gegen den belgischen Staat hat. Die Erklärung des belgischen Staa ts, diese Steuererstattungsschuld gegenüber Pantochim auf der Grundlage des Art. 334 des Programmgesetzes vom 27. Dezember 2004 mit der deutschen Mehrwertsteuerforderung aufrechnen zu wollen, ist von den Pantochim-Liquidatoren mit einer Klage gegen den belgischen Staat beantwortet worden. Das Tribunal de première instance du Hainaut, division Mons (Gericht erster Instanz Hennegau, Abteilung Mons, Belgien) hat entschieden, dass der belgische Staat nicht befugt gewesen sei, sich auf eine Aufrechnung zwischen diesen Forderungen und Schulden zu berufen. Im Berufungsverfahren hat die Cour d'appel de Mons (Berufungsgericht Mons, Belgien) mit Urteil vom 27. Juni 2016 diese Entscheidung bestätigt und den belgischen Staat zur Zahlung von 502 991,47 Euro nebst Zinsen an Pantochim verurteilt.
20. Der belgische Staat hat daraufhin Rechtsmittel bei der Cour de cassation (Kassationshof, Belgien) eingelegt. Er vertrat die Auffassung, dass das Urteil der Cour d'appel de Mons (Berufungsgericht Mons) u. a. gegen Art. 6 Abs. 2 der Richtlinie 76/308 verstoße, indem es ihn an der Beitreibung der deutschen Mehrwertsteuerforderung wie eine eigene Forderung hindere. Außerdem war der belgische Staat der Ansicht, dass die Forderungsaufrechnung zur Schuldentilgung gemäß Art. 334 des Programmgesetzes vom 27. Dezember 2004 kein „Vorrecht“ im Sinne von Art. 10 der Richtlinie 76/308 beinhalte.
21. Einige der vom belgischen Staat gerügten Urteilsfeststellungen des Cour d'appel de Mons (Berufungsgericht Mons) werden vom vorlegenden Gericht hervorgehoben.
22. Erstens vertrete die Cour d’appel de Mons (Berufungsgericht Mons) die Auffassung, dass „Art. 334 [des Programmgesetzes] die Bestimmungen des Zivilgesetzbuchs über die Aufrechnung nicht ausdrücklich [ausschließt]“, wobei nach diesen Bestimmungen „zwei gegenseitige Forderungen … zwischen denselben Personen, die in gleicher Eigenschaft handeln, gegeben sein [müssen]“, und dass „die deutsche Mehrwertsteuerforderung, selbst wenn sie wie eine eigene Forderung des belgischen Staats beigetrieben werden kann, dennoch eine Forderung Deutschlands bleibt“, so dass „rechtlich eine Aufrechnung nicht möglich ist, da die gegenseitigen Forderungen nicht zwischen denselben Personen bestehen, weil der belgische Staat seine Schuld gegenüber [Pantochim] mit einer Schuld von [Pantochim] gegenüber Deutschland aufrechnen will“. Darüber hinaus habe die Cour d’appel de Mons (Berufungsgericht Mons) festgestellt, dass, „auch wenn die steuerliche Aufrechnung als eine Aufrechnung sui generis anzusehen wäre“, Art. 334 des Programmgesetzes „die Aufrechenbarkeit nicht auf andere Forderungen als solche des belgischen Staates [erstreckt]“.
23. Zweitens sei die Cour d’appel de Mons (Berufungsgericht Mons) der Auffassung, dass sich aus den Bestimmungen der Richtlinien nichts Gegenteiliges ergebe. Auch wenn „sie zugegebenermaßen vorsehen, dass die Forderungen, für die um Unterstützung ersucht wird, in der gleichen Weise wie eine Forderung des ersuchten Staates beigetrieben werden“, bleibe es dabei, dass „die beizutreibenden Forderungen nur dann Vorrechte vergleichbarer Forderungen haben, die in dem Mitgliedstaat, in dem die ersuchte Behörde ihren Sitz hat, entstanden sind, wenn das Recht dieses Staates oder eine Übereinkunft zwischen dem ersuchenden und dem ersuchten Staat dies vorsieht“. Die Cour d’appel de Mons (Berufungsgericht Mons) sei zudem der Ansicht, dass „mangels einer Definition des Begriffs ‚Vorrecht‘ in der Richtlinie dieser in seinem üblichen Sinn als Vorteil oder Prärogative“ verstanden werden müsse.
24. Unter diesen Umständen hat die Cour de cassation (Kassationshof) das Verfahren ausgesetzt und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorgelegt:
1. Ist die Bestimmung, nach der die Forderung, für die ein Beitreibungsersuchen vorliegt, „als Forderung des Mitgliedstaats, in dem sich die ersuchte Behörde befindet, behandelt [wird]“, wie dies in Art. 6 Abs. 2 der Richtlinie 2008/55, der Art. 6 Abs. 2 der Richtlinie 76/308 ersetzt, vorgesehen ist, dahin zu verstehen, dass die Forderung des ersuchenden Staates derjenigen des ersuchten Staates gleichzustellen ist, so dass die Forderung des ersuchenden Staates die Eigenschaft einer Forderung des ersuchten Staates erhält?
2. Ist der Begriff „Vorrecht“ gemäß Art. 10 der Richtlinie 2008/55 und – vor der Kodifizierung – Art. 10 der Richtlinie 76/308 als das mit der Forderung verbundene präferenzielle Recht zu verstehen, das ihr beim Zusammentreffen mit anderen Forderungen Vorrang verleiht, oder als jeder Mechanismus, der beim Zusammentreffen mit anderen Forderungen zu einer präferenziellen Zahlung der Forderung führt?
3. Ist die Befugnis der Steuerverwaltung, unter den in Art. 334 des Programmgesetzes vom 27. Dezember 2004 vorgesehenen Bedingungen beim Zusammentreffen mit anderen Forderungen eine Aufrechnung vorzunehmen, als ein Vorrecht im Sinne von Art. 10 dieser Richtlinien anzusehen?
IV. Verfahren vor dem Gerichtshof
25. Pantochim, die belgische und die spanische Regierung sowie die Europäische Kommission haben schriftliche Erklärungen eingereicht. Der Gerichtshof hat beschlossen, ohne mündliche Verhandlung zu entscheiden.
V. Analyse
A. Vorbemerkungen
26. Die Cour de cassation (Kassationshof) bezieht sich in den Vorlagefragen an den Gerichtshof auf bestimmte Vorschriften der Richtlinie 76/308 und der Richtlinie 2008/55. Auf die Richtlinie 2010/24 wird nicht verwiesen. Vor Prüfung der Vorlagefragen ist zunächst festzustellen, welche Richtlinie zeitlich anwendbar ist. Dies ist wichtig, weil es zwischen Art. 6 Abs. 2 der Richtlinie 76/308, Art. 6 Abs. 2 der Richtlinie 2008/55 und Art. 10 Abs. 1 der Richtlinie 2010/24 sowie Art. 13 Abs. 1 Unterabsatz 1 der Richtlinie 2010/24 gewisse Unterschiede im Wortlaut gibt, auch wenn sie selbstverständlich den gleichen Anwendungsbereich haben. Dies gilt jedoch nicht für Art. 10 der Richtlinie 76/308(5), Art. 10 der Richtlinie 2008/55 und Art. 13 Abs. 1 Unterabs. 3 der Richtlinie 2010/24(6).
27. In Rn. 20 des Urteils vom 1. Juli 2004, Tsapalos und Diamantakis (C‑361/02 und C‑362/02, EU:C:2004:401), hat der Gerichtshof festgestellt, dass die Richtlinie 76/308 allein die Anerkennung und Vollstreckung bestimmter Kategorien von in einem anderen Mitgliedstaat entstandenen Forderungen regelt, ohne Regeln über ihre Entstehung oder ihren Inhalt aufzustellen, so dass die Bestimmungen dieser Richtlinie als bloß verfahrensrechtliche Vorschriften einzuordnen sind. Diese Aussage des Gerichtshofs gilt meines Erachtens auch für die Richtlinie 2008/55 und die Richtlinie 2010/24.
28. Nach ständiger Rechtsprechung ist bei Verfahrensvorschriften im Allgemeinen davon auszugehen, dass sie auf alle im Zeitpunkt ihres Inkrafttretens anhängige Rechtsstreitigkeiten anwendbar sind, während materielle Vorschriften gewöhnlich dahin ausgelegt werden, dass sie für Sachverhalte, die vor ihrem Inkrafttreten entstanden sind, keine Geltung besitzen(7).
29. Art. 29 der Richtlinie 2010/24 bestimmt, dass die Richtlinie 2008/55 mit Wirkung vom 1. Januar 2012 aufgehoben wird und dass Verweisungen auf die Richtlinie 2008/55 als Verweisungen auf die Richtlinie 2010/24 gelten(8). Die Richtlinie 2010/24 enthält keine Übergangsregelungen.
30. Ich bin daher der Auffassung, dass es die Richtlinie 2010/24, und nicht die Richtlinie 76/308 oder die Richtlinie 2008/55, ist, die auf die beim vorlegenden Gericht anhängige Rechtssache Anwendung findet.
B. Zur ersten Frage
31. Mit seiner ersten Frage möchte das vorlegende Gericht geklärt wissen, ob Art. 13 Abs. 1 Unterabs. 1 der Richtlinie 2010/24 – wonach „jede Forderung, für die ein Beitreibungsersuchen vorliegt, wie eine Forderung des ersuchten Mitgliedstaats behandelt [wird]“ – dahin auszulegen ist, dass die Forderung des ersuchenden Mitgliedstaats (vorliegend: Deutschland) die Eigenschaft einer Forderung des ersuchten Mitgliedstaats (vorliegend: Belgien) erlangt.
32. Nach ständiger Rechtsprechung legt die Richtlinie 76/308 gemeinsame Vorschriften über die gegenseitige Unterstützung fest, um die Beitreibung von Forderungen in Bezug auf bestimmte Zölle und bestimmte Abgaben und Steuern zu gewährleisten(9). Diese Aussage gilt auch für die Richtlinie 2010/24(10). Mit der Richtlinie 2010/24 soll nämlich der Anwendungsbereich der Richtlinie 76/308, die durch die Richtlinie 2008/55 kodifiziert worden ist, auf Forderungen ausgeweitet werden, die nicht unter sie gefallen sind, um die finanziellen Interessen der Mitgliedstaaten und die Neutralität des Binnenmarkts besser zu schützen sowie um die gegenseitige Amtshilfe bei der Beitreibung effizienter und effektiver zu machen. Mit der Richtlinie 2010/24 soll also angesichts des Anstiegs der Amtshilfeersuchen die gegenseitige Amtshilfe in der Praxis leicht er anwendbar gemacht werden(11).
33. Gemäß Art. 1 der Richtlinie 2010/24 legt diese Richtlinie die Regeln fest, nach denen die Mitgliedstaaten einander Amtshilfe zu leisten haben, um in einem Mitgliedstaat die Beitreibung der in Art. 2 bezeichneten Forderungen sicherzustellen, die in einem anderen Mitgliedstaat entstanden sind. Art. 2 Abs. 1 Buchst. a der Richtlinie 2010/24 bestimmt, dass ein Amtshilfeersuchen u. a. in Bezug auf die Beitreibung von Steuern und Abgaben aller Art, die von einem Mitgliedstaat oder für die Union erhoben werden, gestellt werden kann(12). Gemäß Art. 10 Abs. 1 der Richtlinie 2010/24 nimmt die ersuchte Behörde auf Ersuchen der ersuchenden Behörde die Beitreibung von Forderungen vor, für die im ersuchenden Mitgliedstaat ein Vollstreckungstitel besteht.
34. In Rn. 48 des Urteils vom 26. April 2018, Donnellan (C‑34/17, EU:C:2018:282), hat der Gerichtshof festgestellt, dass „nach Art. 13 Abs. 1 der Richtlinie 2010/24 die Forderung, für die ein Beitreibungsersuchen vorliegt, wie eine Forderung des ersuchten Mitgliedstaats behandelt wird, so dass dieser die Befugnisse ausübt und die Verfahren anwendet, die nach den in seiner Rechtsordnung geltenden Rechts- und Verwaltungsvorschriften für Forderungen aufgrund von gleichen oder vergleichbaren Steuern oder Abgaben vorgesehen sind“(13).
35. Es sind allerdings die Grenzen aufzuzeigen, die für diese Feststellungen im Urteil vom 26. April 2018, Donnellan (C‑34/17, EU:C:2018:282), gelten. Aus dem Wortlaut dieses Urteils geht klar hervor, dass der Gerichtshof sich darin auf die verfahrensrechtlichen Pflichten des ersuchten Mitgliedstaats bezieht. Daraus ergibt sich meines Erachtens, dass nach Art. 13 Abs. 1 Unterabs. 1 der Richtlinie 2010/24 die Forderungen eines ersuchenden Mitgliedstaats in verfahrensrechtlicher Hinsicht als den Forderungen des ersuchten Mitgliedstaats gleichgestellt(14)gelten, dass diese spezielle Fiktion aber Grenzen hat. Insbesondere erlangt diese Forderung in materieller Hinsicht nicht die Eigenschaft einer Forderung, die von dem ersuchten Mitgliedstaat geltend gemacht werden könnte.
36. Dies ergibt sich eindeutig aus dem Wortlaut des Art. 13 Abs. 1 und dem Zusammenhang. So heißt es beispielsweise in Art. 13 Abs. 1 Unterabs. 3 der Richtlinie 2010/24, dass „[d]er ersuchte Mitgliedstaat … nicht verpflichtet [ist], Forderungen anderer Mitgliedstaaten Vorrechte zu gewähren, die vergleichbare, in seinem Hoheitsgebiet entstandene Forderungen genießen, sofern zwischen den betreffenden Mitgliedstaaten nichts anderes vereinbart wurde oder das Recht des ersuchten Mitgliedstaats nichts anderes vorsieht“(15). Bereits hieraus lässt sich ableiten, dass die Forderungen des ersuchten Mitgliedstaats als völlig eigenständig und verschieden von denjenigen des ersuchenden Mitgliedstaats behandelt werden. Dies zeigt auch die Grenzen der Fiktion in Art. 13 Abs. 1 Unterabs. 1 der Richtlinie 2010/24, denn wenn die Forderung des ersuchenden Staates zu diesem Zweck tatsächlich als materiell identisch mit dem einer Forderung des ersuchten Staates zu behandeln wäre, wäre der dritte Unterabsatz dieser Richtlinie ziemlich sinnlos und unnötig.
37. Ich bin daher der Auffassung, dass die Wirkung der Richtlinie 2010/24 darin besteht, dass der ersuchte Mitgliedstaat bei der Beitreibung der Forderung des ersuchenden Mitgliedstaats für diesen als eine Art Stellvertreter handelt(16). Ohne eine konkrete Übertragung der Forderung auf den ersuchten Mitgliedstaat – und es gibt vorliegend keine Anhaltspunkte dafür – bleibt die Forderung jedoch eine solche des ersuchenden Mitgliedstaats(17).
38. Tatsächlich besteht die Rolle des ersuchten Mitgliedstaats gemäß Art. 1 der Richtlinie 2010/24 darin, dem ersuchenden Mitgliedstaat bei der Beitreibung von dessen Forderung Amtshilfe zu leisten. Ich bin daher mit der spanischen Regierung(18) der Auffassung, dass die Forderung des ersuchenden Mitgliedstaats nicht mit einer Forderung des ersuchten Mitgliedstaats gleichgestellt werden kann und dass die Forderung des ersuchenden Mitgliedstaats nicht die Eigenschaft einer Forderung des ersuchten Mitgliedstaats erlangt(19).
39. Diesbezüglich hat der Gerichtshof in Rn. 40 des Urteils vom 14. März 2019, Metirato (C‑695/17, EU:C:2019:209), darauf hingewiesen, dass „die Bestimmung der Modalitäten für die Sicherung der vom ersuchten Mitgliedstaat beigetriebenen Beträge vor ihrer Überweisung an den ersuchenden Mitgliedstaat mangels Regelung in der Richtlinie 2010/24 in die Zuständigkeit der Mitgliedstaaten fällt, vorausgesetzt, dass die Verpflichtung zur Überweisung der beigetriebenen Beträge und der jeweiligen Zinsen eingehalten wird“(20).
40. Nach alledem bin ich der Auffassung, dass Art. 13 Abs. 1 Unterabs. 1 der Richtlinie 2010/24, wonach „jede Forderung, für die ein Beitreibungsersuchen vorliegt, wie eine Forderung des ersuchten Mitgliedstaats behandelt [wird]“, lediglich dahin auszulegen ist, dass der letztgenannte Mitgliedstaat verpflichtet ist, die Befugnisse und Verfahren zu nutzen, die für Forderungen in Bezug auf gleiche oder vergleichbare Steuern oder Abgaben in den Rechts- und Verwaltungsvorschriften in seiner Rechtsordnung vorgesehen sind. Es ergibt sich aber sowohl aus Art. 13 Abs. 1 Unterabs. 1 als auch aus Unterabs. 3 dieser Vorschrift der Richtlinie 2010/24, dass die Forderung des ersuchenden Mitgliedstaats zu diesem Zweck nicht die Eigenschaft einer materiellen Forderung des ersuchten Mitgliedstaats erlangt.
C. Zur zweiten Frage
41. Mit seiner zweiten Frage möchte das vorlegende Gericht geklärt wissen, ob der Begriff „Vorrecht“ in Art. 10 der Richtlinie 76/308 und Art. 10 der Richtlinie 2008/55 als das mit einer Forderung verbundene Vorzugsrecht zu verstehen ist, das ihr beim Zusammentreffen mit anderen Forderungen den Vorrang verleiht, oder als ein Mechanismus, der beim Zusammentreffen mit anderen Forderungen zur vorrangigen Bezahlung der Forderung führt.
42. Wie bereits in Nr. 30 dieser Schlussanträge ausgeführt, bin ich der Ansicht, dass es die Richtlinie 2010/24 ist, die auf die vor dem vorlegenden Gericht anhängige Rechtssache Anwendung findet, und nicht die Richtlinie 76/308 oder die Richtlinie 2008/55. Somit geht es für das vorlegende Gericht um die Auslegung des Art. 13 Abs. 1 Unterabs. 3 der Richtlinie 2010/24. Diesbezüglich fragt das vorlegende Gericht, ob der Begriff „Vorrecht“ als das mit der Forderung verbundene Vorzugsrecht zu verstehen ist, das ihr beim Zusammentreffen mit anderen Forderungen den Vorrang verleiht, oder als ein Mechanismus, der beim Zusammentreffen mit anderen Forderungen zur vorrangigen Bezahlung der Forderung führt. Die Formulierung dieser Frage lässt allerdings nicht erkennen, wieso nach Ansicht des vorlegenden Gerichts nach seiner Rechtsordnung ein praktischer Unterschied zwischen diesen beiden Alternativen besteht.
43. Ich werde diese Frage daher abstrakt prüfen und mich hauptsächlich auf den Wortlaut der Richtlinie beziehen.
44. Es ist darauf hinzuweisen, dass in der englischen Sprachfassung des Art. 13 Abs. 1 Unterabs. 3 der Richtlinie 2010/24 der Begriff „privilege“ nicht verwendet wird(21). Dort heißt es vielmehr, dass der ersuchte Mitgliedstaat nicht verpflichtet ist, Forderungen anderer Mitgliedstaaten „preferences“(22) (in der deutschen Sprachfassung: „Vorrechte“) zu gewähren, die vergleichbare, in seinem Hoheitsgebiet entstandene Forderungen genießen, sofern zwischen den betreffenden Mitgliedstaaten nichts anderes vereinbart wurde oder das Recht des ersuchten Mitgliedstaats nichts anderes vorsieht(23).
45. Nach ständiger Rechtsprechung erfordern die Notwendigkeit einer einheitlichen Anwendung des Unionsrechts und der Gleichheitsgrundsatz, dass die Begriffe einer Vorschrift des Unionsrechts, die nicht ausdrücklich auf das Recht der Mitgliedstaaten verweist, in der Regel eine autonome und einheitliche Auslegung erhalten, die unter Berücksichtigung des Kontexts der Vorschrift und des mit der fraglichen Regelung verfolgten Ziels gefunden werden muss(24). Zudem sind mangels einer Definition des Begriffs „Vorrecht“ (und/oder „privilèges“ in der französischen Sprachfassung(25)) in der Richtlinie 2010/24 die Bedeutung und die Tragweite dieses Begriffs unter Berücksichtigung des allgemeinen Zusammenhangs(26), in dem er verwendet wird, und entsprechend dem Sinn, den er nach dem gewöhnlichen Sprachgebrauch hat(27), zu bestimmen.
46. Der Begriff „preferences“ („Vorrechte“), der nur im 14. Erwägungsgrund und in Art. 13 Abs. 1 Unterabs. 3 der Richtlinie 2010/24 enthalten ist, wird nicht durch diese Richtlinie definiert, und es wird zur Definition dieses Begriffs nicht auf das Recht der Mitgliedstaaten Bezug genommen. Im 14. Erwägungsgrund der Richtlinie heißt es, dass die Anwendung der Befugnisse, die dem ersuchten Mitgliedstaat nach seinen innerstaatlichen Rechtsvorschriften für Forderungen in Bezug auf die gleichen oder auf ähnliche Steuern oder Abgaben zustehen, „in der Regel nicht in Bezug auf die Vorrechte für Forderungen gelten [sollte], die in dem ersuchten Mitgliedstaat bestehen. Allerdings sollte es möglich sein, Vorrechte (in der engl. Sprachfassung: „preferences“) auf Forderungen anderer Mitgliedstaaten auszudehnen, wenn die betroffenen Mitgliedstaaten dies vereinbaren“(28).
47. Art. 13 („Erledigung eines Beitreibungsersuchens“) Abs. 1 Unterabs. 1 der Richtlinie 2010/24 sieht vor, dass die ersuchte Behörde die Befugnisse ausübt und die Verfahren anwendet, die in den in ihrem Mitgliedstaat geltenden Rechts- und Verwaltungsvorschriften für die Beitreibung von Forderungen, die Gegenstand eines Beitreibungsersuchens sind, vorgesehen sind. Insoweit wird jede derartige Forderung wie eine Forderung des ersuchten Mitgliedstaats behandelt, sofern in dieser Richtlinie nichts anderes bestimmt ist.
48. Meiner Ansicht nach ist Art. 13 Abs. 1 Unterabs. 3 der Richtlinie 2010/24 nicht in Form einer Ausnahme oder Abweichung von dessen Unterabs. 1 abgefasst; er bezieht sich vielmehr auf etwas anderes als auf die Befugnisse und Verfahren bei der Erledigung eines Beitreibungsersuchens. Berücksichtigt man den allgemeinen Zusammenhang und den Wortlaut dieser Bestimmung, dehnt er unter bestimmten Umständen zusätzliche Rechte oder Vorteile, die im Zusammenhang mit der Beitreibung von Forderungen des ersuchten Mitgliedstaats gewährt werden, über die Befugnisse und Verfahren nach Art. 13 Abs. 1 Unterabs. 1 der Richtlinie 2010/24 hinaus auf Forderungen des ersuchenden Mitgliedstaats aus. Wie ich bereits erwähnt habe, untermauert all dies die Schlussfolgerung in Bezug auf die erste Frage, dass die Forderung des ersuchenden Staats in materieller Hinsicht nicht so zu behandeln ist, als wäre sie eine Forderung des ersuchten Staates, denn all dies wäre, um es nochmals zu sagen, unnötig, wenn die Forderung diese materielle Eigenschaft hätte.
49. Angesichts des weiten und umfassenden Sinnes, in dem der Begriff „Vorrechte“ in Art. 13 Abs. 1 Unterabs. 3 der Richtlinie 2010/24 verwendet wird, bin ich der Ansicht, dass sich dieser Begriff auf jeden Mechanismus bezieht, der beim Zusammentreffen mit anderen Forderungen zu einer vorzugsweisen Befriedigung der Forderungen des ersuchten Mitgliedstaats führt. Dies würde – ohne darauf beschränkt zu sein – Vorrechte einschließen, die gemäß dem Insolvenzsystem dieses Mitgliedstaats den Forderungen des ersuchten Mitgliedstaats hinsichtlich der Reihenfolge oder Rangfolge ihrer Befriedigung gewährt werden(29). Dementsprechend kann der ersuchte Mitgliedstaat – ohne dass er dazu verpflichtet wäre – diese Vorrechte für die Forderungen der ersuchenden Mitgliedstaaten gemäß der in Art. 13 Abs. 1 Unterabs. 3 der Richtlinie 2010/24 vorgesehenen Weise gewähren(30).
D. Dritte Frage
50. Mit dieser Frage möchte das vorlegende Gericht geklärt wissen, ob die Möglichkeit der Aufrechnung beim Zusammentreffen mit anderen Forderungen gemäß einer nationalen Rechtsvorschrift wie der des Art. 334 des Programmgesetzes vom 27. Dezember 2004 oder Art. 194 des Programmgesetzes vom 22. Dezember 2008 als ein Vorrecht im Sinne von Art. 13 Abs. 1 Unterabs. 3 der Richtlinie 2010/24 anzusehen ist.
51. Wie die Kommission in ihren Erklärungen ausführt, gehört die allgemeine Befugnis zur Aufrechnung gegenseitiger Forderungen zu den Befugnissen und Verfahren, die nach nationalem Recht für die Beitreibung von Forderungen zur Verfügung stehen. Diese Aufrechnungsbefugnis gilt somit nicht nur für Forderungen des ersuchten Mitgliedstaats (vorliegend: belgischer Staat), sondern auch für Ansprüche anderer Gläubiger, wenn gegenseitige Forderungen bestehen(31). Ich bin daher der Ansicht, dass die Befugnis zur Aufrechnung gegenseitiger Forderungen grundsätzlich unter Art. 13 Abs. 1 Unterabs. 1 der Richtlinie 2010/24 fällt(32). Wenn also beispielsweise Pantochim und Deutschland gegenseitige Forderungen haben, könnten diese – sofern diese und alle anderen nach belgischem Recht erforderlichen Voraussetzungen erfüllt sind – grundsätzlich gegeneinander aufgerechnet werden.
52. Das Vorabentscheidungsersuchen macht nicht hinreichend deutlich, ob Art. 334 des Programmgesetzes vom 27. Dezember 2004 oder Art. 194 des Programmgesetzes vom 22. Dezember 2008 Vorschriften enthalten, die von den allgemeinen Regeln für die Aufrechnung im belgischen Zivilgesetzbuch abweichen. Vorbehaltlich der Überprüfung durch das vorlegende Gericht dürften diese allgemeinen Regeln das Bestehen gegenseitiger Ansprüche derselben Personen, die in gleich er Eigenschaft handeln, voraussetzen. Es ist daher unklar, ob die unter Art. 2 der Richtlinie 2010/24 fallenden Forderungen des ersuchten Mitgliedstaats (vorliegend des belgischen Staates) hinsichtlich der Anwendung der Aufrechnungsregeln anders behandelt werden als die Forderungen anderer Gläubiger.
53. Tatsächlich hat das vorlegende Gericht in seinem Vo rabentscheidungsersuchen Ausführungen aus dem Urteil der Cour d'appel Mons (Berufungsgericht Mons) vom 27. Juni 2016 mitgeteilt, in denen festgestellt wird, dass weder das Programmgesetz vom 27. Dezember 2004 noch das Programmgesetz vom 22. Dezember 2008 Regelungen enthalten, die von den allgemeinen Regeln für die Aufrechnung des belgischen Zivilgesetzbuchs – die, wie ich bereits ausgeführt habe, das Bestehen gegenseitiger Forderungen zwischen denselben Personen zur Voraussetzung haben – abweichen. Zudem bleibt die Forderung Deutschlands nach Ansicht des Cour d'appel de Mons (Berufungsgericht Mons), auch wenn sie als Forderung des belgischen Staates beigetrieben werden könnte, eine Forderung Deutschlands, so dass mangels Gegenseitigkeit der Forderungen keine Aufrechnung erfolgen kann.
54. In seinem Vorabentscheidungsersuchen hat das vorlegende Gericht auch einige Argumente des belgischen Staates aus dem bei ihm anhängigen Rechtsmittelverfahren mitgeteilt. Das vorlegende Gericht hat in diesem Zusammenhang ausgeführt, der belgische Staat habe geltend gemacht, dass das Programmgesetz vom 27. Dezember 2004 und das Programmgesetz vom 22. Dezember 2008 ein Aufrechnungssystem sui generis normierten, wonach in Steuersachen die Gegenseitigkeit der Forderungen nicht notwendig sei. Der belgische Staat sei der Ansicht, dass eine Aufrechnung mit solchen Forderungen, sofern ein Beitreibungsersuchen gemäß der Richtlinie 2010/24 vorliege, daher zulässig sei.
55. In ihren schriftlichen Erklärungen gegenüber dem Gerichtshof macht die belgische Regierung geltend, dass die dritte Frage unzulässig sei, da das vorlegende Gericht die Aufrechnungsvorschriften nach dem belgischen Zivilgesetzbuch sowie den Aufrechnungsmechanismus nach dem Programmgesetz vom 27. Dezember 2004 und dem Programmgesetz vom 22. Dezember 2008 nicht dargelegt habe.
56. Ich muss, wenn auch ungern, diesem Einwand zustimmen. Da weder in dem Vorabentscheidungsersuchen noch in den dem Gerichtshof vorliegenden Unterlagen eine wirkliche Erläuterung darüber zu finden ist, wie dieser angebliche Mechanismus sui generis funktioniert und ob und, wenn ja, inwieweit er sich von den allgemeinen Regeln für die Aufrechnung nach dem belgischen Zivilgesetzbuch unterscheidet, kann die Frage, ob dieser Mechanismus unter den Begriff „Befugnisse und Verfahren“ im Sinne von Art. 13 Abs. 1 Unterabs. 1 der Richtlinie 2010/24 fällt oder ob er vielmehr ein „Vorrecht“ im Sinne von Art. 13 Abs. 1 Unterabs. 3 der genannten Richtlinie darstellt, von mir kaum sinnvoll untersucht werden.
57. Hilfsweise zum Einwand der Unzulässigkeit macht die belgische Regierung geltend, dass der Sui-generis-Mechanismus das Beitreibungsverfahren lediglich vereinfache und daher nicht als ein Vorrecht anzusehen sei.
58. Sollte der Gerichtshof der Ansicht sein, dass die dritte Frage zulässig ist, und sollte der in Rede stehende Mechanismus, wie die belgische Regierung vorträgt, lediglich das Beitreibungsverfahren vereinfachen und keine Vorrechte in Bezug auf die Reihenfolge oder Rangfolge der Zahlung ihrer Forderungen gewähren oder den belgischen Staat als Gläubiger anderweitig bevorzugen(33), so fällt dieser Mechanismus meiner Ansicht nach unter die Befugnisse und Verfahren nach Art. 13 Abs. 1 Unterabs. 1 der Richtlinie 2010/24.
59. Damit soll gesagt sein, dass es einem Mitgliedstaat freigestellt ist, in seinen nationalen Rechtsvorschriften über die Forderungsbeitreibung unabhängig von der Person des Gläubigers eine generelle Aufrechnungsbefugnis gegenüber bestehenden Schulden zu normieren und dabei auf das Erfordernis der Gegenseitigkeit zu verzichten. Wenn das Programmgesetz vom 27. Dezember 2004 und das Programmgesetz vom 22. Dezember 2008 dies tatsächlich in dieser Weise regeln – eine Frage, die allein von den nationalen Gerichten zu beurteilen und zu entscheiden ist –, dann müsste diese erweiterte Aufrechnungsbefugnis als Teil der nach nationalem Insolvenzrecht geltenden gewöhnlichen „Befugnisse und Verfahren“ angesehen werden, wie sie in Art. 13 Abs. 1 Unterabs. 1 der Richtlinie 2010/24 vorgesehen sind.
60. Die Kommission ist dagegen der Ansicht, dass der in Rede stehende Mechanismus dem belgischen Staat offenbar ein Recht auf vorzugsweise Befriedigung gewähre, das von den üblichen Aufrechnungsregeln abweiche, und dass er daher als ein Vorrecht im Sinne von Art. 13 Abs. 1 Unterabs. 3 der Richtlinie 2010/24 anzusehen sei(34). Es ist zwar bedauerlich, dass diese Frage auf rein hypothetischer Grundlage behandelt werden muss, sollte aber die Wirkung des Programmgesetzes vom 27. Dezember 2004 und des Programmgesetzes vom 22. Dezember 2008 darin bestehen, dass dem belgischen Staat, indem auf das Erfordernis der Gegenseitigkeit der Forderung verzichtet wird, ein vorrangiges oder verstärktes Aufrechnungsrecht eingeräumt wird, das anderen Gläubigern nicht zugestanden wird, dann wäre dies meiner Ansicht nach ein „Vorrecht“ im Sinne des Art. 13 Abs. 1 Unterabs. 3 der Richtlinie 2010/24.
61. Selbst wenn dies der Fall wäre, würde dies allein selbstverständlich noch nichts ändern, da Art. 13 Abs. 1 Unterabs. 3 der Richtlinie 2010/24 auch bestimmt, dass der ersuchte Mitgliedstaat nicht verpflichtet ist, Forderungen anderer Mitgliedstaaten Vorrechte zu gewähren, die vergleichbare, in seinem Hoheitsgebiet entstandene Forderungen genießen, es sei denn, die betreffenden Mitgliedstaaten haben ausdrücklich etwas anderes vereinbart oder solche Vorrechte für die Ansprüche des ersuchenden Mitgliedstaats sind im Recht des ersuchten Mitgliedstaats vorgesehen.
62. Vorbehaltlich der Überprüfung durch das vorlegende Gericht ergibt sich aus den Unterlagen beim Gerichtshof und insbesondere aus Art. 15 des Gesetzes vom 20. Juli 1979(35), dass nach der belgischen Rechtsordnung die Forderungen eines ersuchenden Mitgliedstaats tatsächlich kein derartiges Vorrecht genießen(36).
63. Da es zudem an einer entsprechenden Formulierung fehlt, beinhaltet Art. 13 Abs. 1 Unterabs. 3 der Richtlinie 2010/24, in der gleichen Weise wie dessen Unterabs. 1, keine Änderung der Eigenschaft der Forderung des ersuchenden Mitgliedstaats und führt auch nicht zu einem Übergang der Forderung des ersuchenden Mitgliedstaats auf den ersuchten Mitgliedstaat. Daraus folgt, dass ein derartiges Vorrecht nicht dazu führt, dass die Forderung des ersuchenden Mitgliedstaats die Eigenschaft einer Forderung des ersuchten Mitgliedstaats erlangt. Im Interesse der Klarheit möchte ich darauf hinweisen, dass es im Hinblick auf den Zweck der Richtlinie 2010/24, nämlich u. a. zu gewährleisten, dass der ersuchte Mitgliedstaat dem ersuchenden Mitgliedstaat bei der Beitreibung seiner Forderungen Amtshilfe leistet, notwendig ist, dass die Gewährung von Vorrechten gemäß Art. 13 Abs. 1 Unterabs. 3 der Richtlinie 2010/24 zum Vorteil, und nicht zum Nachteil, des ersuchenden Mitgliedstaats gereicht.
VI. Ergebnis
64. Ich schlage daher vor, die Fragen der Cour de cassation (Kassationshof, Belgien) wie folgt zu beantworten:
Art. 13 Abs. 1 Unterabs. 1 der Richtlinie 2010/24/EU des Rates vom 16. März 2010 über die Amtshilfe bei der Beitreibung von Forderungen in Bezug auf bestimmte Steuern, Abgaben und sonstige Maßnahmen, wonach „jede Forderung, für die ein Beitreibungsersuchen vorliegt, wie eine Forderung des ersuchten Mitgliedstaats behandelt [wird]“, ist dahin auszulegen, dassder ersuchte Mitgliedstaat verpflichtet ist, die Befugnisse auszuüben und die Verfahren anzuwenden, die nach den in seiner Rechtsordnung geltenden Rechts- und Verwaltungsvorschriften für Forderungen aufgrund von gleichen oder vergleichbaren Steuern oder Abgaben vorgesehen sind. Art. 13 Abs. 1 Unterabs. 1 und 3 der Richtlinie 2010/24 sind so auszulegen, dass die Forderung des ersuchenden Mitgliedstaats jedoch nicht die Eigenschaft einer materiellen Forderung des ersuchten Mitgliedstaats erlangt.
Der Begriff „Vorrechte“ in Art. 13 Abs. 1 Unterabs. 3 der Richtlinie 2010/24 bezieht sich auf jeden Mechanismus, der beim Zusammentreffen mit anderen Forderungen zu einer vorzugsweisen Befriedigung der Forderung des ersuchten Mitgliedstaats führt. Dazu gehören u. a. Vorrechte für Forderungen des ersuchten Mitgliedstaats in Bezug auf die Reihenfolge oder Rangfolge ihrer Befriedigung gemäß dem Insolvenzrecht dieses Mitgliedstaats. Der ersuchte Mitgliedstaat kann solche Vorrechte in Bezug auf Forderungen der ersuchenden Mitgliedstaaten gewähren, ist hierzu jedoch nicht verpflichtet.
Die allgemeine Befugnis zur Aufrechnung gegenseitiger Forderungen nach nationalem Recht ist Teil der Befugnisse und Verfahren des nationalen Rechts nicht nur für die Beitreibung von Forderungen des ersuchten Mitgliedstaats, sondern auch für Forderungen anderer Gläubiger, wenn gegenseitige Forderungen bestehen, und fällt grundsätzlich unter Art. 13 Abs. 1 Unterabs. 1 der Richtlinie 2010/24.
Ein Mechanismus, der lediglich das Beitreibungsverfahren vereinfacht und keine Vorrechte in Bezug auf die Reihenfolge oder Rangfolge der Befriedigung der Forderungen des ersuchten Mitgliedstaats gewährt, fällt unter die in Art. 13 Abs. 1 Unterabs. 1 der Richtlinie 2010/24 genannten Befugnisse und Verfahren.
Art. 13 Abs. 1 Unterabs. 3 der Richtlinie 2010/24 ändert weder die Eigenschaft der Forderung des ersuchenden Mitgliedstaats noch führt er dazu, dass diese Forderung auf den ersuchten Mitgliedstaat übergeht. Im Hinblick auf den Zweck der Richtlinie 2010/24, nämlich u. a. zu gewährleisten, dass der ersuchte Mitgliedstaat dem ersuchenden Mitgliedstaat bei der Beitreibung seiner Forderungen Amtshilfe leistet, ist es notwendig, dass die Gewährung von Vorrechten gemäß Art. 13 Abs. 1 Unterabs. 3 der Richtlinie 2010/24 zum Vorteil des ersuchenden Mitgliedstaats, und nicht zu seinem Nachteil, gereicht.