Language of document : ECLI:EU:C:2015:306

SCHLUSSANTRÄGE DER GENERALANWÄLTIN

JULIANE KOKOTT

vom 7. Mai 2015(1)

Rechtssache C‑218/14

Kuldip Singh,

Denzel Njume,

Khaled Aly

gegen

Minister for Justice and Equality

(Vorabentscheidungsersuchen des High Court of Ireland [Irland])

„Richtlinie 2004/38/EG – Art. 7 Abs. 1 Buchst. b, Art. 12 und Art. 13 Abs. 2 – Ehe zwischen einer Unionsbürgerin und einem Drittstaatsangehörigen – Wegzug der Unionsbürgerin und anschließende Scheidung – Aufrechterhaltung des Aufenthaltsrechts des Drittstaatsangehörigen im Aufnahmemitgliedstaat“





I –    Einleitung

1.        Im Mittelpunkt des vorliegenden Vorabentscheidungsersuchens steht die Frage, ob ein Drittstaatsangehöriger, der sich als Ehegatte einer Unionsbürgerin mit dieser in einem Mitgliedstaat der Union aufhielt, dessen Staatsangehörigkeit die Unionsbürgerin nicht besitzt, selbst dann in diesem Staat bleiben darf, wenn die Unionsbürgerin dauerhaft von dort weggezogen ist und sich nach ihrem Wegzug von ihrem Ehegatten scheiden ließ.

2.        Um diese Frage zu beantworten, ist die Richtlinie 2004/38/EG(2) auszulegen, die die Aufrechterhaltung des Aufenthaltsrechts im Wegzugs- bzw. Scheidungsfall in zwei gesonderten Bestimmungen regelt. Wie diese Bestimmungen unter Umständen wie denen der Ausgangsverfahren anzuwenden sind, ist in der Rechtsprechung des Gerichtshofs noch ungeklärt.

II – Rechtlicher Rahmen

A –    Unionsrecht

3.        Art. 7 der Richtlinie 2004/38 lautet auszugsweise:

„(1)       Jeder Unionsbürger hat das Recht auf Aufenthalt im Hoheitsgebiet eines anderen Mitgliedstaats für einen Zeitraum von über drei Monaten, wenn er

a)       Arbeitnehmer oder Selbstständiger im Aufnahmemitgliedstaat ist oder

b)       für sich und seine Familienangehörigen über ausreichende Existenzmittel verfügt, so dass sie während ihres Aufenthalts keine Sozialhilfeleistungen des Aufnahmemitgliedstaats in Anspruch nehmen müssen …

(2)       Das Aufenthaltsrecht nach Absatz 1 gilt auch für Familienangehörige, die nicht die Staatsangehörigkeit eines Mitgliedstaats besitzen und die den Unionsbürger in den Aufnahmemitgliedstaat begleiten oder ihm nachziehen, sofern der Unionsbürger die Voraussetzungen des Absatzes 1 Buchstabe a), b) oder c) erfüllt.

…“

4.        Art. 12 der Richtlinie 2004/38 regelt die Aufrechterhaltung des Aufenthaltsrechts der Familienangehörigen bei Tod oder Wegzug des Unionsbürgers und bestimmt:

„(1)       Unbeschadet von [weiteren Voraussetzungen nach] Unterabsatz 2 berührt der Tod des Unionsbürgers oder sein Wegzug aus dem Aufnahmemitgliedstaat nicht das Aufenthaltsrecht seiner Familienangehörigen, die die Staatsangehörigkeit eines Mitgliedstaats besitzen.

(2)       Unbeschadet von [weiteren Voraussetzungen nach] Unterabsatz 2 führt der Tod des Unionsbürgers für Familienangehörige, die nicht die Staatsangehörigkeit eines Mitgliedstaats besitzen und die sich im Aufnahmemitgliedstaat als Familienangehörige vor dem Tod des Unionsbürgers mindestens ein Jahr lang aufgehalten haben, nicht zum Verlust des Aufenthaltsrechts.

(3)       Der Wegzug des Unionsbürgers aus dem Aufnahmemitgliedstaat oder sein Tod führt weder für seine Kinder noch für den Elternteil, der die elterliche Sorge für die Kinder tatsächlich wahrnimmt, ungeachtet ihrer Staatsangehörigkeit, bis zum Abschluss der Ausbildung zum Verlust des Aufenthaltsrechts, wenn sich die Kinder im Aufnahmemitgliedstaat aufhalten und in einer Bildungseinrichtung zu Ausbildungszwecken eingeschrieben sind.“

5.        Scheitert die Ehe des Unionsbürgers, soll das Aufenthaltsrecht seiner Familienangehörigen nach dem 15. Erwägungsgrund der Richtlinie 2004/38 unter Achtung des Familienlebens und der menschlichen Würde erhalten bleiben.

6.        Art. 13 Abs. 2 der Richtlinie 2004/38 sieht hierzu vor:

„Unbeschadet von [weiteren Voraussetzungen nach] Unterabsatz 2 führt die Scheidung … für Familienangehörige eines Unionsbürgers, die nicht die Staatsangehörigkeit eines Mitgliedstaats besitzen, nicht zum Verlust des Aufenthaltsrechts, wenn

a)      die Ehe … bis zur Einleitung des gerichtlichen Scheidungs[verfahrens] … mindestens drei Jahre bestanden hat, davon mindestens ein Jahr im Aufnahmemitgliedstaat, oder

d)      dem Ehegatten …, der nicht die Staatsangehörigkeit eines Mitgliedstaats besitzt, … das Recht zum persönlichen Umgang mit dem minderjährigen Kind zugesprochen wird, sofern das Gericht zu der Auffassung gelangt ist, dass der Umgang ‒ solange er für nötig erachtet wird ‒ ausschließlich im Aufnahmemitgliedstaat erfolgen darf.

Die betreffenden Familienangehörigen behalten ihr Aufenthaltsrecht ausschließlich auf persönlicher Grundlage.“

B –    Nationales Recht

7.        Das irische Recht enthält den vorgenannten Bestimmungen der Richtlinie entsprechende Umsetzungsvorschriften.

III – Sachverhalt der Ausgangsverfahren und Vorlagefragen

8.        Herr Singh, Herr Njume und Herr Aly sind Drittstaatsangehörige und heirateten im Jahr 2005 bzw. im Jahr 2007 in Irland Unionsbürgerinnen, die selbst nicht irische Staatsangehörige sind, sich aber in Ausübung ihres Freizügigkeits- und Aufenthaltsrechts in Irland befanden. Den Drittstaatsangehörigen wurde der Aufenthalt in Irland in ihrer Eigenschaft als begleitende Familienangehörige von Unionsbürgerinnen gestattet. Der Lebensunterhalt der Ehepaare wurde in den Folgejahren zumindest zeitweise auch durch das Einkommen der drittstaatsangehörigen Ehegatten bestritten.

9.        Die Ehen scheiterten, nachdem die Ehegatten jeweils mindestens vier Jahre in Irland gelebt hatten. In allen drei Fällen verließen die Unionsbürgerinnen Irland ohne ihre Ehegatten und reichten sodann in Lettland, im Vereinigten Königreich bzw. in Litauen die Scheidung ein. Mittlerweile sind die Ehen rechtskräftig geschieden.

10.      Herr Singh, Herr Njume und Herr Aly berufen sich auf Art. 13 der Richtlinie 2004/38, um weiterhin in Irland bleiben zu können, was die irischen Behörden ihnen jedoch verweigern. Ihr Aufenthaltsrecht sei an das ihrer jeweiligen Ehepartner gekoppelt gewesen und mit deren Wegzug aus Irland erloschen.

11.      Der im Rechtsweg mit den Fällen befasste High Court of Ireland hegt in diesem Zusammenhang Zweifel an der Auslegung der Richtlinie und wendet sich mit den folgenden Fragen an den Gerichtshof:

1.         Behält ein Drittstaatsangehöriger sein Recht auf Aufenthalt im Aufnahmemitgliedstaat, wenn seine Ehe mit einer Unionsbürgerin geschieden wird und die Scheidung stattfindet, nachdem die Unionsbürgerin aus dem Aufnahmemitgliedstaat, in dem sie Unionsrechte ausübte, weggezogen ist, und die Art. 7 und 13 Abs. 2 Buchst. a der Richtlinie einschlägig sind? Falls die Frage verneint wird: Hat der Drittstaatsangehörige nach dem Wegzug der Unionsbürgerin aus dem Aufnahmemitgliedstaat bis zur Scheidung ein Recht auf Aufenthalt im Aufnahmemitgliedstaat?

2.         Sind die Anforderungen von Art. 7 Abs. 1 Buchst. b der Richtlinie erfüllt, wenn eine Ehegattin, die Unionsbürgerin ist, angibt, über ausreichende Existenzmittel im Sinne von Art. 8 Abs. 4 der Richtlinie zu verfügen, und diese Mittel zum Teil aus den Mitteln des Ehegatten stammen, der nicht die Staatsangehörigkeit eines Mitgliedstaats besitzt?

3.         Falls die Frage verneint wird: Haben Personen wie die Kläger (abgesehen von Rechten nach der Richtlinie) nach (sonstigem) Unionsrecht das Recht, in einem Aufnahmemitgliedstaat eine Erwerbstätigkeit auszuüben, um im Sinne von Art. 7 der Richtlinie die Anforderung zu erfüllen, „ausreichende Existenzmittel“ bereitzustellen oder hierzu einen Beitrag zu leisten?

IV – Rechtliche Würdigung

A –    Zur ersten Vorlagefrage

12.      Die erste Vorlagefrage besteht aus zwei Teilen, deren zweiter nur für den Fall des Verneinens des ersten Teils der Vorlagefrage gestellt wird.

13.      Mit dem ersten Teil seiner ersten Vorlagefrage möchte das vorlegende Gericht im Wesentlichen wissen, ob der Drittstaatsangehörige sein Aufenthaltsrecht im Aufnahmemitgliedstaat verliert, wenn die mit ihm verheiratete Unionsbürgerin aus diesem Mitgliedstaat, dessen Staatsangehörigkeit sie nicht besitzt, wegzieht, selbst wenn die Ehe im Wegzugszeitpunkt mindestens drei Jahre ‑ und davon mindestens ein Jahr im Aufnahmestaat ‑ bestanden hat und die Ehe nach dem Wegzug der Ehefrau in einem anderen Mitgliedstaat rechtskräftig geschieden wird.

14.      Für die Beantwortung der Frage kommt es darauf an, ob sich die Aufrechterhaltung des Aufenthaltsrechts der geschiedenen Eheleute in Fällen wie denen der Ausgangsverfahren auch nach Art. 12 der Richtlinie 2004/38 beurteilt oder ob nur ihr Art. 13 einschlägig ist.

1.      Aufrechterhaltung des Aufenthaltsrechts von Familienangehörigen nach Art. 12 der Richtlinie 2004/38

15.      Art. 12 der Richtlinie 2004/38 regelt u. a. den Fortbestand des Aufenthaltsrechts der Familienangehörigen im Fall des Wegzugs des Unionsbürgers, von dem sie ihr Aufenthaltsrecht im Aufnahmemitgliedstaat abgeleitet haben. Die Vorschrift unterscheidet dabei danach, ob es sich bei dem fraglichen Familienangehörigen, der im Aufnahmestaat zurückbleibt, um einen Unionsbürger handelt oder nicht.

16.      Familienangehörige, die selbst Unionsbürger sind, behalten gemäß Art. 12 Abs. 1 der Richtlinie 2004/38 ihr Aufenthaltsrecht nach dem Wegzug des Unionsbürgers und können das Recht auf Daueraufenthalt erwerben, sofern sie dem Aufnahmestaat im Sinne von Art. 7 der Richtlinie nicht finanziell zur Last fallen.

17.      Anders sieht es bei Familienangehörigen aus, die Drittstaatsangehörige sind und deren Aufenthaltsrecht im Fall des Wegzugs des Unionsbürgers nur unter den engen Voraussetzungen des Art. 12 Abs. 3 der Richtlinie 2004/38 aufrechterhalten bleibt. Nach dieser Vorschrift behält der andere Elternteil, wenn er mit Kindern des weggezogenen Unionsbürgers im Aufnahmemitgliedstaat zurückbleibt, sein Aufenthaltsrecht dort so lange, bis die gemeinsamen Kinder ihre Ausbildung in einer Bildungseinrichtung in diesem Staat abgeschlossen haben, sofern er für die Kinder tatsächlich die elterliche Sorge wahrnimmt.

18.      Aus Art. 12 der Richtlinie 2004/38 ist somit zu folgern, dass bei drittstaatsangehörigen Familienangehörigen der Wegzug des Unionsbürgers abgesehen von der Sonderkonstellation des Art. 12 Abs. 3 dazu führt, dass sie ihr Aufenthaltsrecht im Aufnahmemitgliedstaat verlieren(3).

19.      Auch nach Rückfrage in der mündlichen Verhandlung liegen keine Anhaltspunkte dafür vor, dass Art. 12 Abs. 3 der Richtlinie 2004/38 für die Ausgangsverfahren einschlägig sein könnte. Die drittstaatsangehörigen Eheleute der Ausgangsverfahren hätten mithin mit dem Wegzug ihrer Ehepartnerinnen, die Unionsbürgerinnen sind, ihr Aufenthaltsrecht im Aufnahmemitgliedstaat schon verloren, bevor die Unionsbürgerinnen außerhalb Irlands überhaupt die Scheidung beantragt hätten.

20.      Zu einem anderen Ergebnis gelangt man indessen dann, wenn man den Fall der geschiedenen Drittstaatsangehörigen ausschließlich nach Art. 13 der Richtlinie 2004/38 beurteilt.

2.      Aufrechterhaltung des Aufenthaltsrechts bei Scheidung gemäß Art. 13 der Richtlinie 2004/38

21.      Auch Art. 13 der Richtlinie 2004/38 unterscheidet danach, ob es sich bei den fraglichen Familienangehörigen um Unionsbürger handelt oder nicht.

22.      Das vorlegende Gericht thematisiert für den hier interessierenden Fall der Drittstaatsangehörigen lediglich Art. 13 Abs. 2 Buchst. a der Richtlinie 2004/38, der ein Aufenthaltsrecht nach dreijähriger Ehe begründet, und fragt nicht dessen Abs. 2 Buchst. d, der unter bestimmten Bedingungen ein Aufenthaltsrecht zur Gewährleistung des Umgangs mit Kindern einräumt.

23.      Es erübrigt sich auch, auf die letztgenannte Bestimmung im Einzelnen einzugehen. Denn die Ausführungen der Prozessvertreter von Herrn Singh deuten zwar darauf hin, dass sich die Eltern darüber geeinigt haben, dass der Vater sein Recht zum persönlichen Umgang mit dem gemeinsamen Kind in Irland wahrnimmt, doch lässt sich dem insoweit maßgeblichen Vorabentscheidungsersuchen nicht entnehmen, dass darüber hinaus ein „Gericht zu der Auffassung gelangt [wäre], dass der Umgang … ausschließlich im Aufnahmemitgliedstaat [also in Irland] erfolgen darf“. Nach dem mitgeteilten Sachverhalt besteht demnach kein Anlass zur näheren Prüfung von Art. 13 Abs. 2 Buchst. d der Richtlinie 2004/38, wohl aber zu der Frage, ob sich ein Fortbestand des Aufenthaltsrechts anhand Art. 13 Abs. 2 Buchst. a der Richtlinie 2004/38 begründen ließe.

24.      Nach dieser Vorschrift führt die Scheidung nicht zum Verlust des Aufenthaltsrechts des Drittstaatsangehörigen, wenn die Ehe bis zur Einleitung des gerichtlichen Scheidungsverfahrens mindestens drei Jahre – und davon mindestens eines im Aufnahmemitgliedstaat – bestanden hat.

25.      Da diese Voraussetzungen bei den drei Klägern der Ausgangsverfahren erfüllt sind, könnten sie sich bei isolierter Anwendung von Art. 13 der Richtlinie 2004/38 auf den Fortbestand ihres Aufenthaltsrechts berufen. Denn Art. 13 der Richtlinie 2004/38 verlangt seinem Wortlaut nach weder, dass sich der Unionsbürger und sein Ehegatte bis zum Abschluss des Scheidungsverfahrens im Aufnahmemitgliedstaat aufhalten müssen, noch, dass das Scheidungsverfahren in diesem Staat betrieben und abgeschlossen wird.

3.      Kombinierte Betrachtung der Art. 12 und 13 der Richtlinie 2004/38

26.      Betrachtet man die Art. 12 und 13 der Richtlinie 2004/38 aber nicht jeweils isoliert, sondern kombiniert, ließe sich über Art. 13 der Richtlinie bei einer strikt am Wortlaut orientierten Auslegung nicht der Fortbestand des Aufenthaltsrechts der geschiedenen Drittstaatsangehörigen begründen.

27.      Denn mit dem Wegzug des Unionsbürgers wäre das Aufenthaltsrecht der im Aufnahmemitgliedstaat zurückbleibenden Ehegatten bereits erloschen, und auch der spätere Scheidungsantrag würde nicht zu seinem Wiederaufleben führen können, weil Art. 13 der Richtlinie 2004/38 von der „Aufrechterhaltung“ eines bestehenden, nicht aber vom Wiederaufleben eines bereits erloschenen Aufenthaltsrechts spricht.

28.      Den Klägern der Ausgangsverfahren kann ihr Aufenthaltsrecht im Aufnahmemitgliedstaat daher nur erhalten bleiben, wenn sich aus systematischen oder teleologischen Erwägungen herleiten lässt, dass sich der Fortbestand ihres Aufenthaltsrechts letztlich ausschließlich nach Art. 13 der Richtlinie 2004/38 beurteilt.

29.      Mit Art. 13 Abs. 2 Buchst. a der Richtlinie 2004/38 wollte der Unionsgesetzgeber offenkundig die Belange der drittstaatsangehörigen Ehepartner im Aufnahmemitgliedstaat schützen. Droht ihnen im Fall einer Scheidung der Verlust des Aufenthaltsrechts, kann dieser Umstand ein wichtiger Beweggrund sein, auch bei zerrütteter Ehe keinen Antrag auf Ehescheidung zu stellen. Nach dreijährigem Bestand der Ehe – davon einem Jahr im Aufnahmestaat – sollte der Drittstaatsangehörige nach der Konzeption des Unionsgesetzgebers im Fall einer Ehescheidung keine aufenthaltsrechtlichen Nachteile befürchten müssen.

30.      Nach dem Wegzug des Ehepartners aus dem Aufnahmestaat besteht eine entsprechende Schutzbedürftigkeit des Drittstaatsangehörigen nach der Intention des Gesetzgebers aber nicht mehr, da schon der Wegzug des Unionsbürgers dazu führt, dass der Drittstaatsangehörige sein Aufenthaltsrecht im Aufnahmemitgliedstaat verliert.

31.      Hierfür sprechen folgende Erwägungen.

32.      Erstens lässt sich der Struktur der Vorschriften entnehmen, dass Art. 13 der Richtlinie 2004/38 grundsätzlich nur für Fälle gelten soll, in denen sich beide Ehegatten bis zur Scheidung noch im Aufnahmemitgliedstaat aufhalten.

33.      Denn Art. 12 der Richtlinie 2004/38 regelt erschöpfend, unter welchen Voraussetzungen das Aufenthaltsrecht von Familienangehörigen nach dem Tod oder dem Wegzug des Unionsbürgers aufrechterhalten bleiben kann. Die Scheidungsproblematik würdigt der Gesetzgeber in Art. 12 aber keines Wortes, sondern widmet ihr mit Art. 13 eine gesonderte Vorschrift. Hätten scheidungsrechtliche Erwägungen darüber hinaus eine modifizierte Betrachtung der Wegzugsfälle geboten, hätte es nahegelegen, dass der Unionsgesetzgeber dies auch ausdrücklich klarstellt.

34.      In Ermangelung dessen ist davon auszugehen, dass das Aufenthaltsrecht des Drittstaatsangehörigen nach Art. 12 der Richtlinie 2004/38 in der Regel bereits erloschen ist, wenn der Unionsbürger erst nach seinem Wegzug die Scheidung beantragt. Für die Aufrechterhaltung eines Aufenthaltsrechts nach Art. 13 bleibt bei einem späteren Scheidungsantrag dann schon begrifflich kein Raum.

35.      Lediglich für den Fall des Art. 12 Abs. 3 der Richtlinie 2004/38 wäre eine kumulierte Anwendung der Art. 12 und 13 überhaupt und dergestalt denkbar, dass sich das von der elterlichen Sorge abhängige Aufenthaltsrecht des zurückgebliebenen Elternteils nachträglich – bei erfolgter Scheidung – in ein unbedingtes umwandelt. Dieser Sonderfall kann indessen unerörtert bleiben, weil der vom vorlegenden Gericht unterbreitete Sachverhalt keine dahin gehenden Hinweise enthält.

36.      Zweitens sprechen Erwägungen der Rechtssicherheit dafür, dass der Wegzug des Unionsbürgers bei Sachverhalten wie denen der Ausgangsverfahren das Aufenthaltsrecht des zurückbleibenden Drittstaatsangehörigen erlöschen lässt.

37.      Denn oftmals wird sich im Wegzugszeitpunkt noch gar nicht absehen lassen, ob in der Folge die Ehe geschieden werden wird oder nicht. Würde man davon ausgehen, dass Art. 13 der Richtlinie 2004/38 auch nach dem Wegzug des Unionsbürgers für Scheidungsfälle anwendbar bleibt, müsste das Aufenthaltsrecht des zurückbleibenden Familienangehörigen aber zunächst wegzugsbedingt erlöschen und dann – nach Scheidungsantragstellung – wieder rückwirkend aufleben. Für einen solchen aufenthaltsrechtlichen Schwebezustand gibt es in der Richtlinie jedoch keinen Anhaltspunkt. Im Gegenteil: Ob ein Aufenthaltsrecht besteht oder nicht, muss im Interesse aller Beteiligten jederzeit klar erkennbar sein.

38.      Drittens lassen sich auch Erwägungen zur praktischen Wirksamkeit der Richtlinie keine zwingenden Argumente entnehmen, dass Art. 13 Abs. 2 Buchst. a der Richtlinie 2004/38 nach dem Wegzug des Unionsbürgers und anschließender Einleitung des Scheidungsverfahrens für das Aufenthaltsrecht des Drittstaatsangehörigen im Aufnahmemitgliedstaat maßgebend sein müsste.

39.      Art. 13 der Richtlinie 2004/38 verbleibt nämlich auch dann ein nennenswerter Anwendungsbereich, wenn ihm Fälle entzogen werden, in denen der Unionsbürger vor der Scheidung den Aufnahmemitgliedstaat verlassen hat.

40.      Zwar lässt sich nicht leugnen, dass sich Unbilligkeiten ergeben können, wenn in einem Fall ein Scheidungsantrag im Inland, im anderen Fall aber erst nach erfolgtem Wegzug im Ausland gestellt wird und bei gleich langer Ehe im ersten Fall das Aufenthaltsrecht des Drittstaatsangehörigen, wenn der Unionsbürger nicht wegzieht, aufrechterhalten bleibt, im zweiten aber nicht.

41.      Diese Problematik ist allerdings in der Systematik der Richtlinie angelegt und vom Gesetzgeber offenbar in Kauf genommen worden. Der Richtlinie 2004/38 lässt sich nicht entnehmen, dass der Drittstaatsangehörige nach dreijähriger Ehe auch im Fall des Wegzugs des Unionsbürgers und anschließender Scheidungsantragstellung ein Aufenthaltsrecht im Aufnahmemitgliedstaat haben sollte. Dem Gesetzgeber wäre es ohne Weiteres möglich gewesen, eine solche einfache und transparente Regel in die Richtlinie aufzunehmen. Dies hat er aber nicht getan, sondern stattdessen das komplizierte und verschachtelte System der Art. 12 und 13 geschaffen, über das sich der Rechtsanwender nicht aus Billigkeitsgesichtspunkten hinwegsetzen darf.

42.      Einzuräumen ist ferner, dass der Unionsbürger durch böswilligen Wegzug aus dem Aufnahmestaat die in Art. 13 angelegte aufenthaltsrechtliche Anwartschaft seines Ehegatten erschüttern kann, doch deutet zum einen nichts in den Ausgangsverfahren auf eine derartige Absicht hin, und zum anderen wäre der Drittstaatsangehörige einem solchen Schachzug nicht gänzlich schutzlos ausgeliefert ‑ er könnte den Unionsbürger begleiten oder bei gescheiterter Ehe selbst rechtzeitig im Aufnahmemitgliedstaat das Scheidungsverfahren betreiben.

43.      Tut er dies nicht, befindet er sich letztlich in der gleichen Lage, in der sich Herr Iida(4) befand, für den der Gerichtshof – trotz fortbestehender Ehe – weder ein primärrechtlich noch ein sekundärrechtlich begründetes Aufenthaltsrecht nach dem Wegzug seiner Ehegattin bejahte. Zwar fand die Richtlinie 2004/38 auf den Fall des Herrn Iida keine Anwendung, weil sich dieser im Heimatstaat seiner Ehefrau, nicht aber in einem anderen Mitgliedstaat aufhielt. Dennoch lässt sich dem Urteil Iida entnehmen, dass sich das unionsrechtliche Aufenthaltsrecht, das Drittstaatsangehörige von Familienangehörigen ableiten, die Unionsbürger sind, in der Regel nicht auf Mitgliedstaaten erstreckt, in denen sich die Unionsbürger nicht aufhalten.

44.      So ist es auch im vorliegenden Fall, in dem die Richtlinie 2004/38 das Aufenthaltsrecht des Drittstaatsangehörigen durch Wegzug des Unionsbürgers entfallen ließ, bevor sich der Anwendungsbereich des Art. 13 der Richtlinie durch die Einleitung des Scheidungsverfahrens überhaupt eröffnete.

45.      Auch primärrechtliche Erwägungen – insbesondere zu Art. 7 der Charta der Grundrechte und dem Recht auf Achtung des Familienlebens ‑ führen zu keinem anderen Ergebnis.

46.      Zum einen ist Art. 7 der Charta in Fällen wie denen der Ausgangsverfahren schon deshalb nicht geeignet, ein eigenständiges Aufenthaltsrecht des Drittstaatsangehörigen im Aufnahmemitgliedstaat zu begründen, weil dieses Recht nicht dem weiteren Fortbestand seines Familienlebens mit dem Unionsbürger dienlich wäre, sondern vielmehr mit dem an die Beendigung des genannten Familienlebens folgenden Lebensabschnitt zusammenhinge.

47.      Zum anderen geht der grundrechtliche Schutz von Ehe und Familie zwar nicht so weit, es den Ehegatten gänzlich freizustellen, in welchem Staat sie sich aufhalten wollen(5). Soweit eine Familie allerdings rechtmäßig ihren Aufenthalt in einem bestimmten Staat begründet hat, kann der Entzug des Aufenthaltsrechts Eingriffscharakter haben(6). Davon ist indessen der Fall zu unterscheiden, in dem der gemeinsame Familienaufenthalt nicht durch staatlichen Eingriff, sondern – wie in den Ausgangsverfahren ‒ durch freien Entschluss eines wegziehenden Familienangehörigen endet. Es steht für solche Wegzugsfälle im Ermessen des Unionsgesetzgebers, in einem Rechtsakt, der in erster Linie die Freizügigkeit des Unionsbürgers fördern will und für dessen Familienleben flankierende Maßnahmen vorsieht, das Aufenthaltsrecht des drittstaatsangehörigen Ehegatten so zu regeln, dass er den Unionsbürger in denjenigen Staat begleiten muss, in dem dieser sein weiteres Leben zu führen beabsichtigt.

48.      Es verbleibt jedoch eine Inkohärenz im System der Richtlinie 2004/38. Nach dem Wegzug des Unionsbürgers kann dessen drittstaatsangehöriger Ehegatte nämlich, wenn er den Unionsbürger etwa aus beruflichen Gründen nicht begleitet und auch nicht für ein gemeinsames Kind sorgt, sogar trotz intakter Ehe sein Aufenthaltsrecht im bisherigen Aufnahmemitgliedstaat verlieren(7), wohingegen das Aufenthaltsrecht des Drittstaatsangehörigen bei gescheiterter Ehe, sollte er sich rechtzeitig scheiden lassen können, nach Art. 13 der Richtlinie 2004/38 im Aufnahmemitgliedstaat aufrechterhalten bliebe(8).

49.      Darin kann ein Eingriff in den Schutz der Familie in Verbindung mit der Freizügigkeit des beteiligten Unionsbürgers liegen. Denn es ist – gerade in grenznahen Gebieten ‑ nicht ausgeschlossen, dass eine Familie sich so organisiert, dass die Ehepartner in unterschiedlichen Mitgliedstaaten leben und arbeiten. Doch ist es nicht nötig, diesen Zweifel an der Kohärenz des Regelungssystems der Art. 12 und 13 der Richtlinie im vorliegenden Verfahren weiterzuverfolgen. Aus der Perspektive des Art. 7 der Charta könnte er nämlich höchstens dazu führen, das Aufenthaltsrecht eines weiterhin verheirateten Drittstaatsangehörigen aufrechtzuerhalten. Im vorliegenden Fall sind die Ehen aber geschieden worden.

50.      Nachdem das Regelwerk der Richtlinie 2004/38 also in Bezug auf den vorliegenden Fall auch grundrechtlich keinen durchgreifenden Bedenken begegnet, ist der erste Teil der ersten Vorlagefrage dahin zu beantworten, dass ein Drittstaatsangehöriger sein Aufenthaltsrecht im Aufnahmemitgliedstaat verliert, wenn die mit ihm verheiratete Unionsbürgerin aus diesem Mitgliedstaat, dessen Staatsangehörigkeit sie nicht besitzt, wegzieht, selbst wenn die Ehe im Wegzugszeitpunkt mindestens drei Jahre ‑ und davon mindestens ein Jahr im Aufnahmemitgliedstaat ‒ bestanden hatte und sie nach dem Wegzug der Ehefrau in einem anderen Mitgliedstaat rechtskräftig geschieden wird.

51.      Die Antwort auf den zweiten Teil der ersten Vorlagefrage, mit dem das vorlegende Gericht wissen möchte, ob der Drittstaatsangehörige zumindest bis zum Ende des Scheidungsverfahrens im Aufnahmemitgliedstaat bleiben darf, folgt ebenfalls aus Art. 12 der Richtlinie 2004/38, der dem Drittstaatsangehörigen nur unter den in seinem Abs. 3 geregelten (und im vorliegenden Fall nicht erfüllten) Voraussetzungen ein den Wegzug des Unionsbürgers überdauerndes Aufenthaltsrecht im Aufnahmemitgliedstaat gewährt: Wenn nach dem Wegzug des Unionsbürgers das Aufenthaltsrecht des Drittstaatsangehörigen entfallen ist, kann es in Ermangelung entsprechender Bestimmungen der Richtlinie auch bis zum Ende des Scheidungsverfahrens, sollte ein solches in einem anderen Staat eingeleitet werden, nicht wieder aufleben.

B –    Zur zweiten Vorlagefrage

52.      Mit seiner zweiten Vorlagefrage möchte das vorlegende Gericht im Wesentlichen wissen, ob auch Mittel des Ehegatten, der nicht die Staatsangehörigkeit eines Mitgliedstaats besitzt, für die Frage heranzuziehen sind, ob der Unionsbürgerin ausreichende Existenzmittel im Sinne von Art. 7 Abs. 1 Buchst. b und Art. 8 Abs. 4 der Richtlinie zu Gebote stehen.

53.      Diese Frage kann unter Hinweis auf die ständige Rechtsprechung mit der Maßgabe bejaht werden, dass es auf die Herkunft der Mittel nicht ankommt, jedenfalls solange sie rechtmäßig erworben wurden(9) .

54.      Die Antwort auf die dritte Vorlagefrage erübrigt sich damit.

V –    Ergebnis

55.      Nach alledem schlage ich dem Gerichtshof vor, die Vorlagefragen wie folgt zu beantworten.

Ein Drittstaatsangehöriger verliert nach der Richtlinie 2004/38/EG über das Recht der Unionsbürger und ihrer Familienangehörigen, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten frei zu bewegen und aufzuhalten, sein Aufenthaltsrecht im Aufnahmemitgliedstaat, wenn die mit ihm verheiratete Unionsbürgerin aus diesem Mitgliedstaat, dessen Staatsangehörigkeit sie nicht besitzt, wegzieht, selbst wenn die Ehe im Wegzugszeitpunkt mindestens drei Jahre ‑ und davon mindestens ein Jahr im Aufnahmestaat ‑ bestanden hat und sie nach dem Wegzug der Ehefrau in einem anderen Mitgliedstaat rechtskräftig geschieden wird. Auch bis zum rechtskräftigen Abschluss des Scheidungsverfahrens gewährt die Richtlinie 2004/38 dem Drittstaatsangehörigen im Aufnahmemitgliedstaat nach dem Wegzug der Unionsbürgerin kein Aufenthaltsrecht.

Auch Mittel des Ehegatten, der nicht die Staatsangehörigkeit eines Mitgliedstaats besitzt, sind, wenn sie rechtmäßig erworben wurden, in Betracht zu ziehen, um zu ermitteln, ob der Unionsbürgerin ausreichende Existenzmittel im Sinne von Art. 7 Abs. 1 Buchst. b und Art. 8 Abs. 4 der Richtlinie 2004/38 zu Gebote stehen.


1 – Originalsprache: Deutsch.


2 –      Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates vom 29. April 2004 über das Recht der Unionsbürger und ihrer Familienangehörigen, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten frei zu bewegen und aufzuhalten, zur Änderung der Verordnung (EWG) Nr. 1612/68 und zur Aufhebung der Richtlinien 64/221/EWG, 68/360/EWG, 72/194/EWG, 73/148/EWG, 75/34/EWG, 75/35/EWG, 90/364/EWG, 90/365/EWG und 93/96/EWG (ABl. L 158, S. 77, berichtigt im ABl. L 229, S. 35).


3 –      Zur zuvor geltenden Rechtslage nach Art. 11 der Verordnung (EWG) Nr. 1612/68 des Rates vom 15. Oktober 1968 über die Freizügigkeit der Arbeitnehmer innerhalb der Gemeinschaft (ABl. L 257, S. 2) in der durch die Verordnung (EWG) Nr. 2434/92 des Rates vom 27. Juli 1992 (ABl. L 245, S. 1) geänderten Fassung vgl. das Urteil Mattern und Cikotic (C-10/05, EU:C:2006:220, Rn. 27).


4 –      Urteil Iida (C-40/11, EU:C:2012:691).


5 –      Vgl. dazu die Nrn. 63 bis 67 meiner Schlussanträge vom 8. September 2005 in der Rechtssache Parlament/Rat (C-540/03, EU:C:2005:517) und die Urteile des EGMR vom 2. August 2001 in der Rechtssache Boultif/Schweiz (Nr. 54273/00), Recueil des arrêts et décisions 2001-IX, § 39, und vom 25. März 2014, Biao/Dänemark (Nr. 38590/10), § 53.


6 – Siehe z. B. Urteil des EGMR vom 26. September 1997 in der Rechtssache Mehemi/Frankreich (Nr. 25017/94), Recueil des arrêts et décisions 1997-VI, § 27.


7 –      Vgl. hierzu Urteil Iida (C-40/11, EU:C:2012:691, Rn. 60 bis 64).


8 –      Theoretisch denkbar wäre gar der Fall einer „Scheinscheidung“ als Pendant zur Scheinehe, nämlich dass sich ein Drittstaatsangehöriger lediglich zu dem Zweck scheiden lässt, um vor dem in Aussicht stehenden Wegzug seines Ehegatten über Art. 13 der Richtlinie 2004/38 ein eigenes Aufenthaltsrecht im Aufnahmestaat zu begründen. Praktisch ist es jedoch nicht zuletzt auch aus Kostengründen eher fernliegend, dass sich Eheleute zu solch einer extremen Maßnahme veranlasst sehen könnten, da der Drittstaatsangehörige nach fünf Jahren ohnehin gemäß Art. 16 Abs. 2 der Richtlinie 2004/38 ein Daueraufenthaltsrecht erwerben kann. Ob einer solchen „Scheinscheidung“ gegebenenfalls die Wirksamkeit zu versagen wäre und welche aufenthaltsrechtlichen Folgen sich daraus ergäben, kann dahingestellt bleiben, weil der Sachverhalt keine darauf hindeutenden Anhaltspunkte enthält.


9 –      Vgl. etwa Urteile Zhu und Chen (C-200/02, EU:C:2004:639, Rn. 30), Kommission/Belgien (C‑408/03, EU:C:2006:192, Rn. 42) und Alokpa u. a. (C‑86/12, EU:C:2013:645, Rn. 27).