Language of document : ECLI:EU:C:2002:151

SCHLUSSANTRÄGE DES GENERALANWALTS

FRANCIS G. JACOBS

vom 7. März 2002(1)

Rechtssache C-333/00

Maaheimo

gegen

Kansaneläkelaitos

1.
    Im vorliegenden Fall hat der Tarkastuslautakunta (Rechtsmittelgericht in Angelegenheiten der sozialen Sicherheit in Finnland) Fragen nach der Auslegung insbesondere der Artikel 4 Absatz 1 Buchstabe h und 73 der Verordnung Nr. 1408/71(2) (im Folgenden: Verordnung) vorgelegt.

2.
    Im Wesentlichen geht es um die Frage, ob eine Beihilfe für die häusliche Kinderbetreuung (lasten kotihoidon tuki), die Eltern nach den nationalen Rechtsvorschriften verlangen können, wenn sie keinen Platz in einer öffentlichen Kindertagesstätte in Anspruch nehmen, als eine Familienleistung im Sinne der Verordnung anzusehen ist.

Die einschlägigen Rechtsvorschriften

Gemeinschaftsrecht

3.
    Der sachliche Geltungsbereich der Verordnung Nr. 1408/71 ist in Artikel 4 festgelegt. Nach Artikel 4 Absatz 1 Buchstabe h gilt die Verordnung „für alle Rechtsvorschriften über Zweige der sozialen Sicherheit, die ... betreffen: ... Familienleistungen“. Nach Artikel 4 Absatz 4 gilt die Verordnung nicht für „Sozialhilfe“.

4.
    Nach der Definition des Artikels 1 Buchstabe u Ziffer i sind:

„.Familienleistungen‘: alle Sach- oder Geldleistungen, die zum Ausgleich von Familienlasten im Rahmen der in Artikel 4 Absatz 1 Buchstabe h) genannten Rechtsvorschriften bestimmt sind, jedoch mit Ausnahme der in Anhang II aufgeführten besonderen Geburts- oder Adoptionsbeihilfen“.

5.
    Artikel 14 Absatz 1 Buchstabe a bestimmt:

„Eine Person, die im Gebiet eines Mitgliedstaats von einem Unternehmen, dem sie gewöhnlich angehört, abhängig beschäftigt wird und die von diesem Unternehmen zur Ausführung einer Arbeit für dessen Rechnung in das Gebiet eines anderen Mitgliedstaats entsandt wird, unterliegt weiterhin den Rechtsvorschriften des ersten Mitgliedstaats, sofern die voraussichtliche Dauer dieser Arbeit zwölf Monate nicht überschreitet und sie nicht eine andere Person ablöst, für welche die Entsendungszeit abgelaufen ist.“

6.
    Artikel 73 sieht vor:

„Ein Arbeitnehmer oder ein Selbständiger, der den Rechtsvorschriften eines Mitgliedstaats unterliegt, hat, vorbehaltlich der Bestimmungen in Anhang VI, für seine Familienangehörigen, die im Gebiet eines anderen Mitgliedstaats wohnen, Anspruch auf Familienleistungen nach den Rechtsvorschriften des ersten Staates, als ob diese Familienangehörigen im Gebiet dieses Staates wohnten.“

7.
    Nach Artikel 75 Absatz 1 werden Familienleistungen in dem in Artikel 73 genannten Fall vom zuständigen Träger des Staates, dessen Rechtsvorschriften für den Arbeitnehmer oder den Selbständigen gelten, nach den für diesen Träger geltenden Bestimmungen unabhängig davon gewährt, ob die natürliche oder juristische Person, an die sie zu zahlen sind, im Gebiet des zuständigen Staates oder in dem eines anderen Mitgliedstaats wohnt oder sich dort aufhält.

8.
    Nach Artikel 4 Absatz 2a der Verordnung gilt diese „für beitragsunabhängige Sonderleistungen, die unter andere als die in Absatz 1 erfassten oder die nach Absatz 4 ausgeschlossenen Rechtsvorschriften oder Systeme fallen, sofern sie in Versicherungsfällen, die den in Absatz 1 Buchstaben a) bis h) aufgeführten Zweigen entsprechen, ersatzweise, ergänzend oder zusätzlich gewährt werden“.

9.
    Nach Artikel 10a Absatz 1 erhalten jedoch, soweit für den vorliegenden Fall von Bedeutung, „Personen, für die diese Verordnung gilt, die in Artikel 4 Absatz 2a aufgeführten beitragsunabhängigen Sonderleistungen in bar ausschließlich in dem Wohnmitgliedstaat gemäß dessen Rechtsvorschriften, sofern diese Leistungen in Anhang IIa aufgeführt sind“.

Nationales Recht

10.
    Nach dem Laki lasten päivähoidosta (Gesetz Nr. 36/1973 über Kindertagesstätten) haben Eltern oder sonstige Erziehungsberechtigte für jedes ihrer Kinder von dem Zeitpunkt an, zu dem der Anspruch auf Erziehungsgeld (Leistungen bei Mutterschaft und/oder Vaterschaft) endet, bis zur Erreichung der Schulpflichtigkeit des Kindes Anspruch auf einen Platz in einer Kindertagesstätte. Die Kommunalbehörden haben eine ausreichende Zahl von Tagesplätzen zur Deckung des Bedarfs einer jeden Gemeinde bereitzustellen(3). Nach § 11a Absatz 2 des Gesetzes in seiner geänderten Fassung haben Eltern, die einen Tagesplatz nach dem geänderten § 11a Absatz 1 nicht in Anspruch nehmen wollen, Anspruch auf eine Beihilfe nach dem Laki lasten kotihoidon ja yksityisen hoidon tuesta (Gesetz Nr. 1128/1996 über Beihilfen für die häusliche und die private Kinderbetreuung; im Folgenden: Gesetz Nr. 1128)(4).

11.
    § 1 des Gesetzes Nr. 1128 regelt die Gewährung der finanziellen Hilfe, durch die Eltern ermöglicht werden soll, als Alternative zu den von der Gemeinde eingerichteten Kindertagesplätzen die Betreuung ihrer Kinder selbst zu organisieren. Das Gesetz sieht zwei Arten von Beihilfen vor: die für die häusliche Betreuung (lasten kotihoidon tuki) und die für die private Betreuung (lasten yksityisen hoidon tuki). Der vorliegende Fall betrifft einen Anspruch auf eine Beihilfe für häusliche Betreuung.

12.
    Nach § 2 des Gesetzes Nr. 1128 ist die Beihilfe für Kinderbetreuung eine Hilfe, die Eltern oder anderen Erziehungsberechtigten für die tägliche Betreuung gewährt wird, und umfasst das Betreuungsgeld (hoitoraha) und eine einkommensabhängige Betreuungszulage (hoitolisä). Das Betreuungsgeld wird für jedes Kind gezahlt und ist nach dem Alter gestaffelt. Die Betreuungszulage wird nur für ein Kind der Familie gezahlt. Die Zulage wird in voller Höhe gezahlt, wenn das - entsprechend der Anzahl Kinder in der Familie insgesamt berichtigte - Familieneinkommen unter dem in § 5 des Gesetzes Nr. 1128 festgelegten Betrag liegt. Überschreitet das Familieneinkommen diesen Betrag, wird die Betreuungszulage entsprechend gekürzt.

13.
    Nach § 20 des Gesetzes Nr. 1128 gewährt die Gemeinde darüber hinaus eine Zulage (kunnallinen lisä) zum Betreuungsgeld und zur Betreuungszulage.

14.
    § 3 Absatz 1 des Gesetzes Nr. 1128 bestimmt: „Beihilfen im Sinne dieses Gesetzes werden nur gewährt, wenn die Eltern oder sonstigen Erziehungsberechtigten des Kindes keinen Platz in einer Kindertagesstätte gemäß § 11 Absatz 1 Lasten päivähoidosta annettu laki [Kindertagesstättengesetz] in Anspruch nehmen und wenn das Kind tatsächlich in Finnland wohnt.“

15.
    Voraussetzung für den Anspruch auf Beihilfe ist jedoch nicht, dass das Kind von den Eltern oder zu Hause betreut wird. Die Beihilfe kann somit z. B. gewährt werden, wenn das Kind in einer privaten Einrichtung oder zu Hause von einer anderen Person als den Eltern betreut wird. Die Beihilfe wird in der Regel an die Eltern oder den Erziehungsberechtigten, der das Kind betreut, gezahlt.

16.
    Die Beihilfe für die häusliche Kinderbetreuung wird gemäß § 8 des Gesetzes Nr. 1128 vom Kansaneläkelaitos (Volksrentenanstalt) ausgezahlt. Die dieser Anstalt entstehenden Kosten werden nach § 9 von der Gemeinde erstattet.

Sachverhalt und Vorlagefragen

17.
    Der im Vorlagebeschluss dargestellte Sachverhalt lässt sich wie folgt zusammenfassen:

18.
    Päivikki Maaheimo, die Klägerin des Ausgangsverfahrens, ist finnische Staatsbürgerin. Sie ist mit einem finnischen Staatsbürger verheiratet. Während ihres Erziehungsurlaubs betreute Frau Maaheimo ihr Kind zu Hause. Mit Wirkung vom 8. Januar 1998 erhielt sie eine Beihilfe für häusliche Kinderbetreuung gemäß dem Gesetz Nr. 1128. Ihr Ehemann Hannu Maaheimo war vom 1. Mai 1998 bis 30. April 1999 als entsandter Arbeitnehmer in Deutschland beschäftigt. Vom 10. Juli 1998 bis 31. März 1999 wohnte Päivikki Maaheimo mit ihrem Kind und Ehemann in Deutschland. Während dieses Zeitraums galten für die ganze Familie weiterhin die finnischen Sozialversicherungsvorschriften.

19.
    Mit Bescheid vom 27. August 1998 stellte die Volksrentenanstalt die Zahlung der Beihilfe für die häusliche Kinderbetreuung mit Wirkung vom 10. August 1998 mit der Begründung ein, dass das Kind der Beschwerdeführerin nicht mehr in Finnland wohne, wie § 3 Absatz 1 des Gesetzes Nr. 1128 vorschreibe.

20.
    Die Beschwerdeführerin legte hiergegen Beschwerde zum Etelä-Suomen Sosiaalivakuutuslautakunta ein, der die Beschwerde mit Entscheidung vom 1. März 1999 zurückwies. Gegen diese Entscheidung legte die Beschwerdeführerin am 31. März 1999 eine weitere Beschwerde zum Tarkastuslautakunta ein und beantragte, die Entscheidung des Sosiaalivakuutuslautakunta aufzuheben und die Volksrentenanstalt zu verpflichten, die Beihilfe weiterhin zu zahlen.

21.
    Sie trug vor dem Tarkastuslautakunta vor, dass die Entscheidung über die Einstellung der Zahlung der Beihilfe gegen die Verordnung Nr. 1408/71 verstoße. Die Einstellung dieser Zahlung wegen des vorübergehenden Aufenthalts einer in Finnland versicherten Person in Deutschland sei ein erhebliches wirtschaftliches Hemmnis für die Freizügigkeit und den freien Aufenthalt in der Europäischen Gemeinschaft und verstoße insoweit gegen den Geist der Verordnung Nr. 1408/71. Die Beihilfe für die häusliche Kinderbetreuung sei als eine Familienleistung im Sinne des Artikels 4 der Verordnung anzusehen.

22.
    Die Volksrentenanstalt hielt in ihrer Erwiderung daran fest, dass die Beihilfe für die häusliche Kinderbetreuung (und die private Kinderbetreuung) als Sozialhilfe anzusehen sei, die nicht in den Geltungsbereich der Verordnung Nr. 1408/71 falle. Die Beihilfe könne nach dem Gesetz Nr. 1128 daher nur für ein Kind gezahlt werden, das tatsächlich in Finnland lebe.

23.
    Da der Tarkastuslautakunta der Ansicht ist, dass der bei ihm anhängige Rechtsstreit gemeinschaftsrechtliche Fragen aufwerfe, hat er das Verfahren ausgesetzt und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorgelegt:

1.    Fällt die Beihilfe für die häusliche Kinderbetreuung gemäß dem Lasten kotihoidon ja yksityisen hoidon tuesta annettu laki (1128/1996) als Familienleistung im Sinne des Artikels 4 Absatz 1 Buchstabe h der durch die Verordnung (EWG) Nr. 2001/83 vom 2. Juni 1983 geänderten und aktualisierten Verordnung Nr. 1408/71 des Rates vom 14. Juni 1971 zur Anwendung der Systeme der sozialen Sicherheit auf Arbeitnehmer und Selbständige sowie deren Familienangehörige, die innerhalb der Gemeinschaft zu- und abwandern, in der Fassung der Verordnung (EWG) Nr. 3427/89 vom 30. Oktober 1989 in den sachlichen Anwendungsbereich des Gemeinschaftsrechts?

2.    Wenn dies bejaht wird: Verpflichtet Artikel 73 in Verbindung mit Artikel 75 der Verordnung Nr. 1408/71 unter Berücksichtigung des Artikels 10a dieser Verordnung und der Tatsache, dass das Lasten kotihoidon ja yksityisen hoidon tuesta annettu laki nicht im Anhang II a der Verordnung genannt sind, zur Zahlung der Beihilfe für die häusliche Kinderbetreuung für das Kind eines vorübergehend in einen anderen Mitgliedstaat entsandten Arbeitnehmers auch in dem Falle, in dem die nach den nationalen Rechtsvorschriften bestehende Voraussetzung des tatsächlichen Wohnsitzes für den Bezug der Leistung nicht erfüllt ist, so dass die im Gesetz vorgesehene Wahl zwischen einem von der Gemeinde eingerichteten Kindertagesstättenplatz und der Beihilfe für die häusliche Kinderbetreuung nicht getroffen werden konnte oder tatsächlich nicht getroffen wurde.

3.    Wenn die Beihilfe nicht unter das Gemeinschaftsrecht fällt: Verpflichtet das Gemeinschaftsrecht auf einer anderen Grundlage zur Überweisung der Beihilfe für die häusliche Kinderbetreuung in einen anderen Mitgliedstaat in dem in Frage 2 beschriebenen Fall?

24.
    Die finnische Regierung und die Kommission haben schriftliche und mündliche Erklärungen abgegeben.

Zur ersten Frage

25.
    Mit der ersten Frage nach dem sachlichen Geltungsbereich der Verordnung Nr. 1408/71 möchte das vorlegende Gericht im Wesentlichen wissen, ob eine Beihilfe für die häusliche Kinderbetreuung wie die nach dem Gesetz Nr. 1128 als Familienleistung im Sinne des Artikels 4 Absatz 1 Buchstabe h der Verordnung anzusehen ist.

26.
    Wie der Gerichtshof wiederholt entschieden hat, hängt die Unterscheidung zwischen Leistungen, die vom Geltungsbereich der Verordnung Nr. 1408/71 ausgeschlossen sind, und solchen, die von ihm erfasst werden, im Wesentlichen von den grundlegenden Merkmalen der jeweiligen Leistung ab, insbesondere von ihrem Zweck und den Voraussetzungen ihrer Gewährung, nicht dagegen davon, ob eine Leistung von den nationalen Rechtsvorschriften als eine Leistung der sozialen Sicherheit eingestuft wird(5). Nach ständiger Rechtsprechung ist eine Leistung nur dann eine Leistung der sozialen Sicherheit, wenn sie erstens nicht aufgrund einer auf die persönliche Bedürftigkeit abstellenden Ermessensentscheidung, sondern aufgrund eines gesetzlichen Tatbestandes gewährt wird und sich zweitens auf eines der in Artikel 4 Absatz 1 der Verordnung Nr. 1408/71 ausdrücklich aufgezählten Risiken bezieht(6).

27.
    Konkret hat der Gerichtshof in der Rechtssache Hoever und Zachow(7) festgestellt, dass das Erziehungsgeld nach dem deutschen Bundeserziehungsgeldgesetz als eine Familienleistung im Sinne der Verordnung Nr. 1408/71 anzusehen sei. Der Gerichtshof hat hervorgehoben, dass das deutsche Erziehungsgeld, das unabhängig von jeder auf Ermessensausübung beruhenden Einzelfallbeurteilung der persönlichen Bedürftigkeit ohne weiteres den Personen gewährt werde, die bestimmte objektive Voraussetzungen erfüllten, nur gezahlt werde, wenn zu der Familie des Betroffenen eines oder mehrere Kinder gehörten. Seine Höhe hänge teilweise vom Alter und der Zahl der Kinder sowie vom Einkommen der Eltern ab. Es diene dazu, die Erziehung des Kindes zu vergüten, die anderen Betreuungs- und Erziehungskosten auszugleichen und gegebenenfalls die finanziellen Nachteile, die der Verzicht auf ein Vollerwerbseinkommen bedeute, abzumildern(8).

28.
    Im vorliegenden Fall steht außer Frage, dass die Vorschriften über die Gewährung der Beihilfe für die häusliche Kinderbetreuung einen gesetzlich festgelegten Anspruch verleihen und die Beihilfe unabhängig von jeder auf Ermessensausübung beruhenden Einzelfallbeurteilung der persönlichen Bedürftigkeit ohne weiteres gewährt wird, wenn der Betroffene bestimmte objektive Voraussetzungen erfüllt. Dies gilt insbesondere für da Betreuungsgeld (hoitoraha) und die Betreuungszulage (hoitolisä), die gemäß § 2 des Gesetzes Nr. 1128 gewährt werden. In diesem Zusammenhang mag der Hinweis angebracht sein, dass die Betreuungszulage zwar einkommensabhängig ist, aber allen Eltern gewährt wird, die sie beantragen und die die in dem Gesetz für das Familieneinkommen festgelegten objektiven Kriterien erfüllen.

29.
    Uneinigkeit besteht jedoch hinsichtlich der Frage, ob die betreffende Beihilfe sich auf eine der in Artikel 4 Absatz 1 der Verordnung Nr. 1408/71 aufgezählten Risiken bezieht. Nach Ansicht der Kommission entspricht die Beihilfe im Wesentlichen der in der Rechtssache Hoever und Zachow streitigen Beihilfe und ist daher als eine Leistung anzusehen, die zum Ausgleich der Familienlasten im Sinne des Artikels 1 Buchstabe u Ziffer i bestimmt sei. Dem widerspricht die finnische Regierung. Für sie ist die Beihilfe als Sozialhilfe im Sinne des Artikels 4 Absatz 4 der Verordnung Nr. 1408/71 anzusehen.

30.
    Die finnische Regierung trägt dazu vor, dass die Beihilfe Teil eines durch die finnischen Rechtsvorschriften errichteten allgemeinen Systems sei, das Eltern die Möglichkeit biete, zwischen einem Platz in einer öffentlichen Kindertagesstätte - bei dem es sich um eine soziale Dienstleistung handele - und der Beihilfe für häusliche Kinderbetreuung zu wählen. Dieses System diene der Organisation der Kinderbetreuung in Finnland und biete den Eltern tatsächlich eine Wahlmöglichkeit hinsichtlich der Art der Betreuung ihrer Kinder. Das System diene nicht wie das deutsche Erziehungsgeld in der Rechtssache Hoever und Zachow dem Ausgleich von Familienlasten, indem Eltern für die Betreuung ihrer Kinder eine Vergütung oder einen Ausgleich für entgangenes Einkommen erhielten. Daher sei die Gewährung der Beihilfe nicht davon abhängig, dass die Eltern ihre Kinder selbst betreuten, zu arbeiten aufhörten oder in anderer Weise auf ihr Einkommen verzichteten.

31.
    Die finnische Regierung weist auch darauf hin, dass es die Gemeinde sei, in der die Familie wohne, die die öffentlichen Tagesplätze zur Verfügung stellen und die Kosten der Beihilfe für die häusliche Kinderbetreuung, die an die Eltern gezahlt werde, tragen müsse. Wegen der engen Verknüpfung in den finnischen Rechtsvorschriften zwischen dem Angebot einer öffentlichen Tagesbetreuung und der Gewährung der Beihilfe für die häusliche Kinderbetreuung müssten die beiden Leistungen im Hinblick auf ihre Einordnung gemäß der Verordnung Nr. 1408/71 als ein Ganzes angesehen werden, und die Bedingungen für ihre Gewährung müssten gleich sein. Da der Anspruch auf einen Platz in einer öffentlichen Tagesstätte davon abhängig sei, dass das Wohnsitzerfordernis erfüllt sei, müsse die Gewährung der Beihilfe ebenfalls dieser Bedingung unterliegen.

32.
    Mich überzeugen diese Argumente nicht.

33.
    Ich möchte noch einmal auf das Urteil in der Rechtssache Offermans(9) zurückkommen, in dem der Gerichtshof feststellte, dass der „Ausdruck .Ausgleich von Familienlasten‘ in Artikel 1 Buchstabe u) Ziffer i) der Verordnung Nr. 1408/71 ... einen staatlichen Beitrag zum Familienbudget [erfasst], der die Kosten des Unterhalts von Kindern verringern soll“(10). Der Ausgleich solcher Familienlasten ist, wie der Gerichtshof festgestellt hat, auch „mit den in der ersten Begründungserwägung der Verordnung Nr. 1408/71 genannten Zielen - Verbesserung des Lebensstandards und der Arbeitsbedingungen von Personen, die ihr Freizügigkeitsrecht ausgeübt haben - vereinbar“(11).

34.
    Nach § 1 des Gesetzes Nr. 1128 regelt dieses die Gewährung einer finanziellen Hilfe, durch die Eltern ermöglicht werden soll, die Betreuung ihrer Kinder selbst zu organisieren. Dies zeigt, dass das Gesetz die Kosten der Kindesbetreuung durch Dritte (in einem privaten Kindergarten oder durch eine Tagesmutter) ausgleichen soll - und dies sicherlich auch tut - und gegebenenfalls die finanziellen Nachteile eines Elternteils durch dessen Verzicht auf ein Einkommen aus einer Vollzeitbeschäftigung mildern soll, um auf diese Weise den Eltern die wirtschaftliche Freiheit zu geben, die Art der Tagesbetreuung zu wählen, die sie für ihr Kind am geeignetsten halten.

35.
    Der Zusammenhang zwischen den Familienlasten und der fraglichen Beihilfe wird durch die Bestimmungen des Gesetzes Nr. 1128 über die Voraussetzungen für die Gewährung der Beihilfe bestätigt. So wird die Beihilfe nur gezahlt, wenn zu der Familie des Betroffenen eines oder mehrere Kinder gehören, und ihre Höhe hängt vom Alter und der Zahl der Kinder sowie vom Einkommen der Eltern ab.

36.
    Zudem können Familienleistungen im Sinne des Artikels 4 Absatz 1 Buchstabe h der Verordnung mehrere Ziele haben. Um unter Artikel 4 Absatz 1 Buchstabe h zu fallen, genügt es, wenn eines der Ziele einer in nationalen Rechtsvorschriften vorgesehenen Leistung der Ausgleich von Familienlasten ist. So hat der Gerichtshof im Urteil Hughes(12) festgestellt, dass der „family credit“ in Nordirland eine Doppelfunktion erfülle:

„Zum einen sollen durch ihn ... gering bezahlte Arbeitnehmer angeregt werden, weiterhin einer Erwerbstätigkeit nachzugehen. Zum anderen dient er dem Ausgleich von Familienlasten, wie sich insbesondere aus der Tatsache ergibt, dass er nur gezahlt wird, wenn zur Familie des Betroffenen ein oder mehrere Kinder gehören, und dass seine Höhe sich nach dem Alter der Kinder richtet. Mit dieser zweiten Funktion fällt eine Leistung wie der .family credit‘ unter die Gruppe der [Familienleistungen].“(13)

37.
    Dass die im vorliegenden Fall streitige Beihilfe, wie die finnische Regierung hervorgehoben hat, der Organisation der Kindertagesbetreuung in Finnland dient, reicht daher nicht aus, um sie dem sachlichen Geltungsbereich der Verordnung zu entziehen.

38.
    Was das zweite Argument der finnischen Regierung betrifft, so besteht zwar in der Tat eine Verbindung zwischen dem Angebot einer öffentlichen Tagesbetreuung, die - offensichtlich unstreitig - eine Sozialleistung darstellt, und den Bedingungen, unter denen nach finnischem Recht eine Beihilfe für die häusliche Kinderbetreuung gewährt wird. Aus den Rechtsvorschriften ergibt sich jedoch klar, dass die Eltern zwischen einem Platz in einer öffentlichen Tagesbetreuungsstätte und der streitigen Beihilfe frei wählen können. Nach den Erläuterungen in der mündlichen Verhandlung können die Eltern, solange der Betreuungsanspruch besteht, die öffentliche Tagesbetreuung und die Beihilfe für die häusliche Kinderbetreuung auch abwechselnd in Anspruch nehmen. Der Anspruch auf die Beihilfe für die häusliche Kinderbetreuung ist somit - wie die Kommission festgestellt hat - keineswegs subsidiär oder von einem vorherigen Antrag auf Aufnahme in eine öffentliche Tagesbetreuungsstätte abhängig. Es handelt sich um einen Anspruch, der nach finnischem Recht für alle Eltern unabhängig von ihrem Anspruch auf einen Platz in einer öffentlichen Tagesbetreuungsstätte besteht. Ich kann daher dem Vorbringen der finnischen Regierung nicht folgen, dass die streitige Beihilfe ein völlig untrennbarer Bestandteil eines Sozialhilfesystems sei. Nach meiner Meinung muss die Beihilfe als eine getrennte Leistung angesehen werden und damit nach ihrem Sinn und Zweck als eine Leistung, die dem Ausgleich von Familienlasten im Sinne des Artikels 1 Buchstabe u Ziffer i der Verordnung Nr. 1408/71 dient.

39.
    Ich komme daher zu dem Ergebnis, dass die finnische Beihilfe für die häusliche Kinderbetreuung eine Familienleistung im Sinne des Artikels 4 Absatz 1 Buchstabe h der Verordnung Nr. 1408/71 ist.

Zur zweiten Frage

40.
    Mit seiner zweiten Frage möchte das vorlegende Gericht im Wesentlichen wissen, ob die Vorschriften der Verordnung Nr. 1408/71 ein Wohnsitzerfordernis als Voraussetzung für die Zahlung der Beihilfe für die häusliche Kinderbetreuung zugunsten der Kinder eines vorübergehend in einen anderen Mitgliedstaat entsandten Arbeitnehmers nicht zulassen.

41.
    Die Antwort hierauf ergibt sich aus Artikel 73 der Verordnung, wie ihn der Gerichtshof in seiner Rechtsprechung ausgelegt hat.

42.
    Wie der Gerichtshof wiederholt entschieden hat(14), begründet Artikel 73 zugunsten des Arbeitnehmers, der den Rechtsvorschriften eines anderen Mitgliedstaats als desjenigen unterliegt, in dessen Gebiet seine Familienangehörigen wohnen, einen echten Anspruch auf Gewährung von Familienleistungen nach den anwendbaren Rechtsvorschriften, der nicht durch die Anwendung einer in diesen Rechtsvorschriften enthaltenen Klausel entzogen werden darf, nach der Familienleistungen nur an Personen gezahlt werden, die im Gebiet des betreffenden Mitgliedstaats wohnen(15). Zudem ist gefestigte Rechtsprechung, dass Artikel 73 auf einen Arbeitnehmer anwendbar ist, der mit seiner Familie in einem anderen Mitgliedstaat als demjenigen wohnt, dessen Rechtsvorschriften er unterliegt(16).

43.
    Nach meiner Meinung besteht kein Zweifel, dass diese Rechtsprechung auf den Fall eines entsandten Arbeitnehmers übertragbar ist, der mit seiner Familie für eine begrenzte Zeit in einem anderen Mitgliedstaat wohnt als demjenigen, in dem er und seine Familie normalerweise wohnen und dessen Rechtsvorschriften über die soziale Sicherheit er - gemäß Artikel 14 Absatz 1 Buchstabe a der Verordnung - weiterhin unterliegt.

44.
    Diese Auslegung steht auch, wie die Kommission festgestellt hat, in Einklang mit dem Wortlaut des Artikels 73 und dessen Zielsetzung, nämlich, wie der Gerichtshof ausgeführt hat, zu „verhindern, dass ein Mitgliedstaat die Gewährung oder die Höhe von Familienleistungen davon abhängig macht, dass die Familienangehörigen des Erwerbstätigen im Mitgliedstaat der Leistung wohnen, und damit Erwerbstätige davon abhält, von ihrem Recht auf Freizügigkeit Gebrauch zu machen“(17).

45.
    Darüber hinaus steht diese Auslegung in Einklang mit Artikel 75 Absatz 1, wonach Familienleistungen in dem in Artikel 73 genannten Fall vom zuständigen Träger des Staates, dessen Rechtsvorschriften für den Arbeitnehmer oder den Selbständigen gelten, nach den für diesen Träger geltenden Bestimmungen unabhängig davon gewährt werden, ob die natürliche oder juristische Person, an die sie zu zahlen sind, im Gebiet des zuständigen Staates oder in dem eines anderen Mitgliedstaats wohnt oder sich dort aufhält.

46.
    Ergänzend ist zu bemerken, dass das Gesetz Nr. 1128 nicht im Anhang IIa der Verordnung aufgeführt ist. Die Regelung in den Artikeln 4 Absatz 2a und 10a Absatz 1(18) der Verordnung sind daher für den vorliegenden Fall ohne Bedeutung.

Zur dritten Frage

47.
    Die Antwort auf die erste Frage macht eine Antwort des Gerichtshofes auf die dritte Frage entbehrlich.

Ergebnis

48.
    Ich bin deshalb der Ansicht, dass die vom Tarkastuslautakunta vorgelegten Fragen wie folgt beantwortet werden sollten:

1.    Eine Beihilfe wie die für die häusliche Kinderbetreung gemäß dem finnischen Laki lasten kotihoidon ja yksityisen hoidon tuesta (Gesetz über Beihilfen für die häusliche und die private Kinderbetreuung), die unabhängig von jeder auf Ermessensausübung beruhenden Einzelfallbeurteilung der persönlichen Bedürftigkeit ohne weiteres den Personen gewährt wird, die bestimmte objektive Voraussetzungen erfüllen, und die zum Ausgleich der Kosten der Kinderbetreuung bestimmt ist, ist als eine Familienleistung im Sinne des Artikels 4 Absatz 1 Buchstabe h der Verordnung (EWG) Nr. 1408/71 des Rates vom 14. Juni 1971 zur Anwendung der Systeme der sozialen Sicherheit auf Arbeitnehmer und Selbständige sowie deren Familienangehörige, die innerhalb der Gemeinschaft zu- und abwandern, anzusehen.

2.    Wenn eine abhängig beschäftigte Person aufgrund von Artikel 14 Absatz 1 Buchstabe a der Verordnung Nr. 1408/71 als entsandter Arbeitnehmer den Rechtsvorschriften eines Mitgliedstaates unterliegt und aufgrund seiner Entsendung mit seiner Familie in einem anderen Mitgliedstaat wohnt, hat sein Ehegatte nach Artikel 73 der Verordnung Anspruch auf eine Familienleistung wie die Beihilfe für die häusliche Kinderbetreuung, die in den Rechtsvorschriften des erstgenannten Mitgliedstaats vorgesehen ist.


1: -     Originalsprache: Englisch.


2: -    Verordnung (EWG) Nr. 1408/71 des Rates vom 14. Juni 1971 zur Anwendung der Systeme der sozialen Sicherheit auf Arbeitnehmer und deren Familien, die innerhalb der Gemeinschaft zu- und abwandern (ABl. L 149, S. 2), mit zahlreichen späteren Änderungen. Die neueste kodifizierte Fassung der Verordnung findet sich in der Verordnung (EG) Nr. 118/97 des Rates vom 2. Dezember 1996 zur Änderung und Aktualisierung der Verordnung (EWG) Nr. 1408/71 zur Anwendung der Systeme der sozialen Sicherheit auf Arbeitnehmer und Selbständige sowie deren Familienangehörige, die innerhalb der Gemeinschaft zu- und abwandern, und der Verordnung (EWG) Nr. 574/72 über die Durchführung der Verordnung (EWG) Nr. 1408/71 (ABl. L 28, S. 1).


3: -     § 11a Absatz 1.


4: -     Dieses Gesetz trat mit Wirkung vom August 1997 an die Stelle des Laki lasten kotihoidon tuesta (Gesetz über die Beihilfe für Kinderbetreuung) von 1993.


5: -     Urteil in der Rechtssache C-85/99 (Offermans, Slg. 2001, I-2261, Randn. 27) und die dort zitierte Rechtsprechung.


6: -     Ebenda, Randnr. 28.


7: -     Urteil in den verbundenen Rechtssachen C-245/94 und C-312/94 (Slg. 1996, I-4895).


8: -     Vgl. auch Urteile in der Rechtssache C-85/96 (Martínez Sala, Slg. 1998, I-2691, Randnrn. 22 bis 24) und in der Rechtssache C-275/96 (Kuusijärvi, Slg. 1998, I-3419, Randnr. 60).


9: -     Zitiert in Fußnote 5.


10: -     Randnr. 41. Vergleiche auch Urteil vom 5. Februar 2002 in der Rechtssache C-255/99 (Humer, Randnr. 31).


11: -     Randnr. 40.


12: -     Urteil in der Rechtssache C-78/91 (Hughes, Slg. 1992, I-4839).


13: -     Randnrn. 19 und 20. Vgl. auch Schlussanträge des Generalanwalts Van Gerven, Nr. 6.


14: -     Urteile in der Rechtssache 101/83 (Brusse, Slg. 1984, 2223, Randnr. 30) und in der Rechtssache Kuusijärvi (zitiert in Fußnote 8, Randnr. 68).


15: -     Ebenda. Vgl. auch Urteil in der Rechtssache 321/93 (Imbernon-Martínez, Slg. 1995, I-2821, Randnr. 22).


16: -     Urteil in der Rechtssache Kuusijärvi, zitiert in Fußnote 8, Randnr. 69, und die dort zitierte Rechtsprechung.


17: -     Urteil in der Rechtssache C-266/95 (Merino García, Slg. 1997, I-3279, Randnr. 28).


18: -     Siehe vorstehend Nr. 9.