URTEIL DES GERICHTSHOFES
16. Juni 1998 (1)
„Übereinkommen zur Errichtung der Welthandelsorganisation TRIPS
Artikel 177 EG-Vertrag Zuständigkeit des Gerichtshofes Artikel 50 des
TRIPS Einstweilige Maßnahmen“
In der Rechtssache C-53/96
betreffend ein dem Gerichtshof nach Artikel 177 EG-Vertrag von der
Arrondissementsrechtbank Amsterdam in dem bei dieser anhängigen Rechtsstreit
Hermès International (Kommanditgesellschaft auf Aktien),
gegen
FHT Marketing Choice BV
vorgelegtes Ersuchen um Vorabentscheidung über die Auslegung des Artikels 50
Absatz 6 des Übereinkommens über handelsbezogene Aspekte der Rechte des
geistigen Eigentums im Anhang 1 C des Übereinkommens zur Errichtung der
Welthandelsorganisation, das im Namen der Gemeinschaft hinsichtlich der in ihre
Zuständigkeiten fallenden Bereiche durch den Beschluß 94/800/EG des Rates vom
22. Dezember 1994 (ABl. L 336, S. 1) genehmigt worden ist,
erläßt
DER GERICHTSHOF
unter Mitwirkung des Präsidenten G. C. Rodríguez Iglesias, der
Kammerpräsidenten C. Gulmann, H. Ragnemalm und M. Wathelet sowie der
Richter G. F. Mancini, J. C. Moitinho de Almeida, P. J. G. Kapteyn, J. L. Murray,
D. A. O. Edward (Berichterstatter), J.-P. Puissochet, G. Hirsch, P. Jann und
L. Sevón,
Generalanwalt: G. Tesauro
Kanzler: L. Hewlett, Verwaltungsrätin
unter Berücksichtigung der schriftlichen Erklärungen
der Hermès International (Kommanditgesellschaft auf Aktien), vertreten
durch Rechtsanwalt L. van Bunnen, Brüssel,
der niederländischen Regierung, vertreten durch A. Bos, Rechtsberater im
Ministerium für Auswärtige Angelegenheiten, als Bevollmächtigten,
der französischen Regierung, vertreten durch C. de Salins, Abteilungsleiterin
in der Direktion für Rechtsfragen des Ministeriums für Auswärtige
Angelegenheiten, und durch G. Mignot, Sekretär für Auswärtige
Angelegenheiten in derselben Direktion, als Bevollmächtigte,
der Regierung des Vereinigten Königreichs, vertreten durch S. Ridley,
Treasury Solicitor's Department, als Bevollmächtigte,
der Kommission der Europäischen Gemeinschaften, vertreten durch
Rechtsberater P. J. Kuyper sowie B. J. Drijber, Juristischer Dienst, als
Bevollmächtigte,
aufgrund des Sitzungsberichts,
nach Anhörung der mündlichen Ausführungen der Hermès International
(Kommanditgesellschaft auf Aktien), vertreten durch Rechtsanwalt L. van Bunnen,
der niederländischen Regierung, vertreten durch M. Fierstra, beigeordneter
Rechtsberater im Ministerium für Auswärtige Angelegenheiten, als
Bevollmächtigten, der französischen Regierung, vertreten durch G. Mignot, der
Regierung des Vereinigten Königreichs, vertreten durch J. Collins, Assistant
Treasury Solicitor, als Bevollmächtigten, Beistand: R. Plender, QC, des Rates der
Europäischen Union, vertreten durch G. Houttuin, Juristischer Dienst, als
Bevollmächtigten, und der Kommission, vertreten durch P. J. Kuyper und
B. J. Drijber, in der Sitzung vom 27. Mai 1997,
nach Anhörung der Schlußanträge des Generalanwalts in der Sitzung vom 13.
November 1997,
folgendes
Urteil
- 1.
- Die Arrondissementsrechtbank Amsterdam hat mit Urteil vom 1. Februar 1996,
beim Gerichtshof eingegangen am 22. Februar 1996, gemäß Artikel 177
EG-Vertrag eine Frage nach der Auslegung des Artikels 50 Absatz 6 des
Übereinkommens über handelsbezogene Aspekte der Rechte des geistigen
Eigentums (im folgenden: TRIPS) im Anhang 1 C des Übereinkommens zur
Errichtung der Welthandelsorganisation (im folgenden: WTO), das im Namen der
Gemeinschaft hinsichtlich der in ihre Zuständigkeiten fallenden Bereiche durch den
Beschluß 94/800/EG des Rates vom 22. Dezember 1994 (ABl. L 336, S. 1)
genehmigt worden ist, zur Vorabentscheidung vorgelegt.
- 2.
- Diese Frage stellt sich in einem Rechtsstreit zwischen der Hermès International,
einer Kommanditgesellschaft auf Aktien französischen Rechts (im folgenden:
Antragstellerin), und der FHT Marketing Choice BV, einer Gesellschaft
niederländischen Rechts (im folgenden: Antragsgegnerin), wegen Markenrechten,
deren Inhaberin die Antragstellerin ist.
Rechtlicher Rahmen
- 3.
- Artikel 99 Absatz 1 der Verordnung (EG) Nr. 40/94 des Rates vom 20. Dezember
1993 über die Gemeinschaftsmarke (ABl. 1994, L 11, S. 1) Einstweilige
Maßnahmen einschließlich Sicherungsmaßnahmen bestimmt:
„Bei den Gerichten eines Mitgliedstaats einschließlich der
Gemeinschaftsmarkengerichte können in bezug auf eine Gemeinschaftsmarke
oder die Anmeldung einer Gemeinschaftsmarke alle einstweiligen Maßnahmen
einschließlich Sicherungsmaßnahmen beantragt werden, die in dem Recht dieses
Staates für eine nationale Marke vorgesehen sind, auch wenn für die Entscheidung
in der Hauptsache aufgrund dieser Verordnung ein Gemeinschaftsmarkengericht
eines anderen Mitgliedstaats zuständig ist.“
- 4.
- Diese Verordnung ist gemäß Artikel 143 Absatz 1 am 60. Tag nach ihrer
Veröffentlichung im Amtsblatt der Europäischen Gemeinschaften in Kraft getreten.
Da sie am 14. Januar 1994 veröffentlicht worden ist, ist sie am 15. März 1994 in
Kraft getreten.
- 5.
- In Artikel 1 des Beschlusses 94/800 heißt es:
„Im Namen der Europäischen Gemeinschaft werden hinsichtlich des in ihre
Zuständigkeit fallenden Teils die folgenden multilateralen Übereinkünfte sowie
Rechtsakte genehmigt:
das Übereinkommen zur Errichtung der Welthandelsorganisation sowie die
Übereinkünfte in den Anhängen 1, 2 und 3 dieses Übereinkommens;
...“
- 6.
- Artikel 50 des TRIPS bestimmt:
„(1) Die Gerichte sind befugt, schnelle und wirksame einstweilige Maßnahmen
anzuordnen,
a) um die Verletzung eines Rechts des geistigen Eigentums zu verhindern, und
insbesondere, um zu verhindern, daß Waren, einschließlich eingeführter
Waren unmittelbar nach der Zollfreigabe, in die innerhalb ihres
Zuständigkeitsbereichs liegenden Vertriebswege gelangen;
b) um einschlägige Beweise hinsichtlich der behaupteten Rechtsverletzung zu
sichern.
(2) Die Gerichte sind befugt, gegebenenfalls einstweilige Maßnahmen ohne
Anhörung der anderen Partei zu treffen, insbesondere dann, wenn durch eine
Verzögerung dem Rechtsinhaber wahrscheinlich ein nicht wiedergutzumachender
Schaden entstünde oder wenn nachweislich die Gefahr besteht, daß Beweise
vernichtet werden.
(3) Die Gerichte sind befugt, dem Antragsteller aufzuerlegen, alle
vernünftigerweise verfügbaren Beweise vorzulegen, um sich mit ausreichender
Sicherheit davon überzeugen zu können, daß der Antragsteller der Rechtsinhaber
ist und daß das Recht des Antragstellers verletzt wird oder daß eine solche
Verletzung droht, und anzuordnen, daß der Antragsteller eine Kaution zu stellen
oder eine entsprechende Sicherheit zu leisten hat, die ausreicht, um den
Antragsgegner zu schützen und einem Mißbrauch vorzubeugen.
(4) Wenn einstweilige Maßnahmen ohne Anhörung der anderen Partei getroffen
wurden, sind die betroffenen Parteien spätestens unverzüglich nach der Vollziehung
der Maßnahmen davon in Kenntnis zu setzen. Auf Antrag des Antragsgegners
findet eine Prüfung, die das Recht zur Stellungnahme einschließt, mit dem Ziel
statt, innerhalb einer angemessenen Frist nach der Mitteilung der Maßnahmen zu
entscheiden, ob diese abgeändert, aufgehoben oder bestätigt werden sollen.
...
(6) Unbeschadet des Absatzes 4 werden aufgrund der Absätze 1 und 2
ergriffene einstweilige Maßnahmen auf Antrag des Antragsgegners aufgehoben
oder auf andere Weise außer Kraft gesetzt, wenn das Verfahren, das zu einer
Sachentscheidung führt, nicht innerhalb einer angemessenen Frist eingeleitet wird,
die entweder von dem die Maßnahmen anordnenden Gericht festgelegt wird, sofern
dies nach dem Recht des Mitglieds zulässig ist, oder, wenn es nicht zu einer solchen
Festlegung kommt, 20 Arbeitstage oder 31 Kalendertage, wobei der längere der
beiden Zeiträume gilt, nicht überschreitet.
...“
- 7.
- Die Schlußakte über die Ergebnisse der multilateralen Handelsverhandlungen der
Uruguay-Runde (im folgenden: Schlußakte) sowie vorbehaltlich seines
Abschlusses das WTO-Übereinkommen wurden am 15. April 1994 von den
Vertretern der Gemeinschaft und der Mitgliedstaaten in Marrakesch unterzeichnet.
- 8.
- Artikel 289 Absatz 1 der niederländischen Zivilprozeßordnung (im folgenden: ZPO)
bestimmt:
„In allen Rechtssachen, in denen aus Gründen der Dringlichkeit unter
Berücksichtigung der Interessen der Parteien eine sofortige einstweilige Maßnahme
erforderlich ist, kann ein entsprechender Antrag in einer Sitzung gestellt werden,
die der Präsident zu diesem Zweck an den dafür von ihm festgesetzten Werktagen
abhält.“
- 9.
- Für diesen Fall bestimmt Artikel 290 Absatz 2 ZPO, daß die Parteien freiwillig im
Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes vor dem Präsidenten erscheinen können,
wobei der Antragsteller durch einen Rechtsanwalt vertreten sein muß, während der
Antragsgegner persönlich erscheinen oder durch einen Rechtsanwalt vertreten sein
kann.
- 10.
- Nach Artikel 292 ZPO greift die vom Präsidenten erlassene einstweilige Maßnahme
der Prüfung der Hauptsache nicht vor.
- 11.
- Nach Artikel 295 ZPO kann gegen die vorläufige Entscheidung binnen zwei
Wochen seit ihrer Verkündung ein Rechtsmittel zum Gerechtshof eingelegt werden.
Das Ausgangsverfahren
- 12.
- Die Antragstellerin ist aufgrund der internationalen Eintragungen R 196 756 und
R 199 735, in denen die Benelux-Staaten angegeben sind, Inhaberin der Wortmarke
„HERMES“ und der Wort- und Bildmarke „Hermès“.
- 13.
- Sie bringt diese Marken u. a. auf Krawatten an, die sie durch ein selektives
Vertriebssystem vertreibt. In den Niederlanden werden „Hermès“-Krawatten von
der Galerie & Faïence BV in Scheveningen und von der Boutique le Duc in Zeist
verkauft.
- 14.
- Nach Auffassung der Antragstellerin brachte die Antragsgegnerin nachgeahmte
Hèrmes-Krawatten in den Handel. Sie ließ daher am 21. Dezember 1995 mit
Genehmigung des Präsidenten der Arrondissementsrechtbank Amsterdam 10 im
Besitz der Antragsgegnerin befindliche Krawatten sowie im Wege des
Sicherungsarrests 453 im Besitz der PTT Post BV befindliche Krawatten zu
Lasten der Antragsgegnerin beschlagnahmen.
- 15.
- Die Antragstellerin ersuchte sodann den Präsidenten der Arrondissementsrechtbank
Amsterdam mit Schriftsatz vom 2. Januar 1996 im Rahmen eines Verfahrens des
vorläufigen Rechtsschutzes, der Antragsgegnerin aufzugeben, die Verletzung ihrer
Urheber- und Markenrechte abzustellen. Sie beantragte außerdem, alle zur
endgültigen Beendigung der Verletzung erforderlichen Maßnahmen zu ergreifen.
- 16.
- Der Präsident der Arrondissementsrechtbank Amsterdam hat im Vorlageurteil
ausgeführt, es sei anzunehmen, daß die auf Antrag der Antragstellerin
beschlagnahmten Krawatten nachgeahmt seien; auch habe die Antragsgegnerin
nicht glaubhaft gemacht, daß sie gutgläubig gehandelt habe. Deshalb hat er dem
Antrag stattgegeben und der Antragsgegnerin aufgegeben, jede Verletzung der
ausschließlichen Urheber- und Markenrechte der Antragstellerin sofort abzustellen
und künftig zu unterlassen.
- 17.
- Im Rahmen ihres Antrags ersuchte die Antragstellerin den Präsidenten der
Arrondissementsrechtbank Amsterdam weiter, der Antragsgegnerin gemäß Artikel
50 Absatz 6 eine Frist von drei Monaten ab Zustellung der Entscheidung im
Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes zu setzen, binnen deren sie die
Aufhebung dieser Entscheidung beantragen könne, und ihr selbst für die Einleitung
eines Hauptverfahrens eine Frist von vierzehn Tagen ab dem Tag einzuräumen, an
dem die Antragsgegnerin einen solchen Antrag stellen würde.
- 18.
- Der Präsident der Arrondissementsrechtbank Amsterdam sieht sich nicht in der
Lage, diesem Antrag stattzugegeben, da das Recht des Antragsgegners, die
Aufhebung der einstweiligen Maßnahmen zu beantragen, nach Artikel 50 Absatz
6 des TRIPS keiner zeitlichen Einschränkung unterliege. Nach dieser Vorschrift
könne der Antragsgegner vielmehr jederzeit bis zum Erlaß des Urteils in der
Hauptsache die Aufhebung einer einstweiligen Maßnahme beantragen. Folglich
könne die dort für die Einleitung des Verfahrens in der Hauptsache vorgesehene
Frist nicht nach Maßgabe einer Frist festgesetzt werden, die dem Antragsgegner
für die Stellung eines Aufhebungsantrags gesetzt worden sei.
- 19.
- Der Präsident der Arrondissementsrechtbank Amsterdam erwägt jedoch, der
Antragstellerin eine Frist für die Einleitung eines Verfahrens in der Hauptsache
zu setzen. Hierzu sähe er sich verpflichtet, wenn die aufgrund des fraglichen
Verfahrens angeordnete Maßnahme eine „einstweilige Maßnahme“ im Sinne desArtikels 50 des TRIPS wäre.
- 20.
- Das vorlegende Gericht führt dazu aus, daß im Rahmen des Verfahrens des
vorläufigen Rechtsschutzes nach niederländischem Recht der Gegner geladen
werde, die Parteien das Recht hätten, gehört zu werden, der Richter eine
Sachprüfung vornehme und eine schriftliche, mit Gründen versehene Entscheidung
erlasse, die mit der Berufung anfechtbar sei. Obwohl die Parteien die Möglichkeit
hätten, anschließend ein Verfahren zur Hauptsache einzuleiten, würden sie zudem
in Rechtsstreitigkeiten aufgrund des TRIPS im allgemeinen die Entscheidung im
Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes als endgültig behandeln.
- 21.
- Das vorlegende Gericht hat das Verfahren ausgesetzt und dem Gerichtshof
folgende Frage zur Vorabentscheidung vorgelegt:
Fällt eine einstweilige Maßnahme, wie sie z. B. in den Artikeln 289 ff. der
niederländischen Zivilprozeßordnung vorgesehen ist, wonach beim Präsidenten des
Gerichts eine sofortige einstweilige Maßnahme beantragt werden kann, unter den
Begriff der einstweiligen Maßnahme im Sinne des Artikels 50 des Übereinkommens
über handelsbezogene Aspekte der Rechte des geistigen Eigentums?
Zur Zuständigkeit des Gerichtshofes
- 22.
- Die niederländische und die französische Regierung sowie die Regierung des
Vereinigten Königreichs haben vorgetragen, daß der Gerichtshof für die
Beantwortung dieser Frage nicht zuständig sei.
- 23.
- Sie nehmen auf Randnummer 104 des Gutachtens 1/94 vom 15. November 1994
(Slg. 1994, I-5267) Bezug, wo der Gerichtshof ausgeführt habe, daß die
Bestimmungen des TRIPS über die „Durchsetzung der Rechte an geistigem
Eigentum“ wie Artikel 50 im wesentlichen in die Zuständigkeit der Mitgliedstaaten
und nicht in die der Gemeinschaft fielen, da die Gemeinschaft zum Zeitpunkt der
Abgabe dieses Gutachtens ihre interne Zuständigkeit auf diesem Gebiet außer
durch den Erlaß der Verordnung (EWG) Nr. 3842/86 des Rates vom 1. Dezember
1986 über Maßnahmen zum Verbot der Überführung nachgeahmter Waren in den
zollrechtlich freien Verkehr (ABl. L 357, S. 1) noch nicht ausgeübt habe. Da die
Gemeinschaft in dem betreffenden Bereich nach wie vor keine weiteren
Harmonisierungsvorschriften erlassen habe, falle Artikel 50 des TRIPS nicht in den
Anwendungsbereich des Gemeinschaftsrechts, so daß der Gerichtshof für seine
Auslegung nicht zuständig sei.
- 24.
- Jedoch wurde das WTO-Übereinkommen von der Gemeinschaft geschlossen und
von deren Mitgliedstaaten ratifiziert; dabei wurden die jeweiligen Verpflichtungen
gegenüber den anderen Vertragsparteien nicht zwischen ihnen aufgeteilt.
- 25.
- Welche Verpflichtungen die Gemeinschaft durch den Abschluß des
Übereinkommens eingegangen ist, braucht nicht bestimmt zu werden; jedenfalls
war die Verordnung Nr. 40/94 bei der Unterzeichnung der Schlußakte und des
WTO-Übereinkommens durch die Gemeinschaft und ihre Mitgliedstaaten am 15.
April 1994 seit einem Monat in Kraft.
- 26.
- Zudem sind nach Artikel 50 Absatz 1 des TRIPS die Gerichte der Vertragsparteien
befugt, „einstweilige Maßnahmen“ anzuordnen, um die Interessen von Inhabern der
durch das Recht dieser Parteien verliehenen Markenrechte zu schützen. Diese
Bestimmung enthält verschiedene Verfahrensvorschriften für entsprechende
Anträge.
- 27.
- Nach Artikel 99 der Verordnung Nr. 40/94 können die Rechte aus der
Gemeinschaftsmarke durch den Erlaß „einstweiliger Maßnahmen einschließlich
Sicherungsmaßnahmen“ geschützt werden.
- 28.
- Zwar betrifft diese Vorschrift diejenigen Maßnahmen und die einschlägigen
Verfahrensvorschriften, die im innerstaatlichen Recht eines Mitgliedstaats für die
nationale Marke vorgesehen sind. Da jedoch die Gemeinschaft Partei des TRIPS
ist und dieses Übereinkommen die Gemeinschaftsmarke betrifft, sind die in Artikel
99 der Verordnung Nr. 40/94 angesprochenen Gerichte verpflichtet, im Rahmen
des Möglichen den Wortlaut und den Zweck des Artikels 50 des TRIPS zu
berücksichtigen, wenn sie bei der Anordnung einstweiliger Maßnahmen zum Schutz
von Rechten aus der Gemeinschaftsmarke nationale Vorschriften anzuwenden
haben (vgl. entsprechend die Urteile vom 24. November 1992 in der Rechtssache
C-286/90, Poulsen und Diva Navigation, Slg. 1992, I-6019, Randnr. 9, und vom 10.
September 1996 in der Rechtssache C-61/94, Kommission/Deutschland, Slg. 1996,
I-3989, Randnr. 52).
- 29.
- Somit ist der Gerichtshof für die Auslegung des Artikels 50 des TRIPS zuständig.
- 30.
- Dem kann nicht entgegengehalten werden, daß der Ausgangsrechtsstreit
internationale Eintragungen von Marken betrifft, in denen die Benelux-Staaten
angegeben sind.
- 31.
- Zum einen ist es allein Sache des nationalen Gerichts, das mit dem Rechtsstreit
befaßt ist und die Verantwortung für die zu erlassende gerichtliche Entscheidung
trägt, die Erforderlichkeit einer Vorabentscheidung für den Erlaß seines Urteils zu
beurteilen. Folglich ist der Gerichtshof, wenn die vorgelegte Frage eine Vorschrift
betrifft, zu deren Auslegung er befugt ist, grundsätzlich zu einer Entscheidung
verpflichtet (siehe in diesem Sinne Urteile vom 18. Oktober 1990 in den
Rechtssachen C-297/88 und C-197/89, Dzodzi, Slg. 1990, I-3763, Randnrn. 34 und
35, und vom 8. November 1990 in der Rechtssache C-231/89, Gmurzynska-Bscher,
Slg. 1990, I-4003, Randnrn. 19 und 20).
- 32.
- Zum anderen besteht, wenn eine Vorschrift sowohl auf dem innerstaatlichen Recht
unterliegende als auch auf dem Gemeinschaftsrecht unterliegende Sachverhalte
anwendbar ist, ein klares Interesse der Gemeinschaft daran, daß diese Vorschrift
unabhängig davon, unter welchen Voraussetzungen sie angewandt werden soll,
einheitlich ausgelegt wird, um in der Zukunft voneinander abweichende
Auslegungen zu verhindern (siehe in diesem Sinn Urteile vom 17. Juli 1997 in der
Rechtssache C-130/95, Giloy, Slg. 1997, I-4291, Randnr. 28, und in der Rechtssache
C-28/95, Leur-Bloem, Slg. 1997, I-4161, Randnr. 34). Im vorliegenden Fall ist, wie
in Randnummer 28 ausgeführt, Artikel 50 des TRIPS sowohl auf
Gemeinschaftsmarken als auch auf nationale Marken anwendbar.
- 33.
- Der Gerichtshof ist somit für die Entscheidung über die gestellte Frage zuständig.
Zur Vorabentscheidungsfrage
- 34.
- Die Frage des vorlegenden Gerichts geht dahin, ob eine Maßnahme, die bezweckt,
angebliche Verletzungen eines Markenrechts abzustellen und die im Rahmen eines
Verfahrens erlassen wird, das folgende Merkmale aufweist:
die Maßnahme wird im innerstaatlichen Recht als „sofortige einstweilige
Maßnahme“ bezeichnet; ihr Erlaß muß „aus Gründen der Dringlichkeit“
erforderlich sein;
die gegnerische Partei wird geladen, und, wenn sie erscheint, gehört,
der Richter des vorläufigen Rechtsschutzes erläßt nach Sachprüfung eine
schriftliche, mit Gründen versehene Entscheidung;
diese Entscheidung kann mit der Berufung angefochten werden; und
obwohl die Parteien die Möglichkeit haben, anschließend ein Verfahren zur
Hauptsache einzuleiten, behandeln sie diese Entscheidung im allgemeinen
als endgültig,
eine einstweilige Maßnahme im Sinne des Artikels 50 des TRIPS ist.
- 35.
- Über die Frage der unmittelbaren Wirkung des Artikels 50 des TRIPS wurde
verhandelt; gleichwohl hat der Gerichtshof hierüber nicht zu entscheiden. Er hat
lediglich die Auslegungsfrage zu beantworten, die ihm das nationale Gericht
vorgelegt hat, um die niederländischen Verfahrensvorschriften unter
Berücksichtigung dieses Artikels auslegen zu können.
- 36.
- Artikel 50 Absatz 1 des TRIPS bezieht sich auf „schnelle und wirksame“
Maßnahmen, die bezwecken, „die Verletzung eines Rechts des geistigen Eigentums
zu verhindern“.
- 37.
- Eine Maßnahme, wie sie das vorlegende Gericht im Ausgangsrechtsstreit erlassen
hat, entspricht dieser Definition. Sie bezweckt nämlich, eine Verletzung der Rechte
aus einer Marke abzustellen, ist im nationalen Recht ausdrücklich als „sofortige
einstweilige Maßnahme“ bezeichnet und wird „aus Gründen der Dringlichkeit“
erlassen.
- 38.
- Außerdem haben die Parteien das Recht auch wenn sie davon keinen Gebrauch
machen , nach Erlaß der fraglichen Maßnahme ein Hauptsacheverfahren
einzuleiten. Diese Maßnahme ist also keine rechtlich endgültige Maßnahme.
- 39.
- Eine Maßnahme, wie sie das vorlegende Gericht erlassen hat, ist also eine
„einstweilige Maßnahme“ im Sinne des Artikels 50 des TRIPS. Ihre übrigen
Merkmale stehen dem nicht entgegen.
- 40.
- Zum einen wird die gegnerische Partei geladen; sie kann gehört werden. Artikel 50
Absatz 2 des TRIPS sieht die Möglichkeit vor, „gegebenenfalls“ einstweilige
Maßnahmen „ohne Anhörung der anderen Partei“ zu erlassen; Artikel 50 Absatz
4 stellt für diesen Fall besondere Verfahrensregeln auf. Diese Bestimmungen
gestatten also gegebenenfalls den Erlaß einstweiliger Maßnahmen ohne Anhörung
der gegnerischen Partei. Das bedeutet jedoch nicht, daß nur derart erlassene
Maßnahmen als „einstweilig“ im Sinne des Artikels 50 des TRIPS angesehen
werden könnten. Vielmehr ergibt sich aus diesen Bestimmungen, daß in allen
anderen Fällen vor dem Erlaß einstweiliger Maßnahmen rechtliches Gehör zu
gewähren ist.
- 41.
- Zum anderen erläßt der Richter des vorläufigen Rechtsschutzes eine schriftliche,
mit Gründen versehene Entscheidung. Das hindert nicht, sie als „einstweilige
Maßnahme“ im Sinne des Artikels 50 des TRIPS anzusehen, da diese Bestimmung
nichts über die Form der Entscheidung besagt.
- 42.
- Zum dritten ist Artikel 50 des TRIPS nicht zu entnehmen, daß die dort
angeführten Maßnahmen ohne Sachprüfung durch den Richter des vorläufigen
Rechtsschutzes erlassen werden müßten. Vielmehr sind die Gerichte nach Artikel
50 Absatz 3 befugt, dem Antragsteller aufzuerlegen, Beweise vorzulegen, aus denen
sich mit ausreichender Sicherheit ergibt, daß das Recht des Antragstellers verletzt
wird oder daß eine solche Verletzung droht. Das zeigt, daß die „einstweiligen
Maßnahmen“ zumindest bis zu einem gewissen Grad Ergebnis einer Sachprüfung
sind.
- 43.
- Zum vierten kann eine Maßnahme, wie sie im Ausgangsrechtsstreit erlassen wurde,
mit der Berufung angefochten werden. Artikel 50 Absatz 4 des TRIPS sieht zwar
ausdrücklich einen Antrag auf Prüfung vor, wenn die einstweilige Maßnahme ohne
Anhörung der gegnerischen Partei erlassen wurde; dieser Artikel schließt jedoch
nicht aus, daß „einstweilige Maßnahmen“ auch solche sein können, gegen die
allgemein die Berufung gegeben ist.
- 44.
- Zum letzten kann der eventuelle Wille der Parteien, das Urteil im Verfahren des
vorläufigen Rechtsschutzes als endgültige Entscheidung ihres Rechtsstreits zu
behandeln, nichts an der Rechtsnatur einer einstweiligen Maßnahme im Sinne des
Artikels 50 des TRIPS ändern.
- 45.
- Auf die vorgelegte Frage ist deshalb zu antworten, daß eine Maßnahme, die
bezweckt, angebliche Verletzungen eines Markenrechts abzustellen und die im
Rahmen eines Verfahrens erlassen wird, das folgende Merkmale aufweist:
die Maßnahme wird im innerstaatlichen Recht als „sofortige einstweilige
Maßnahme“ bezeichnet; ihr Erlaß muß „aus Gründen der Dringlichkeit“
erforderlich sein;
die gegnerische Partei wird geladen, und, wenn sie erscheint, gehört,
der Richter des vorläufigen Rechtsschutzes erläßt nach Sachprüfung eine
schriftliche, mit Gründen versehene Entscheidung;
diese Entscheidung kann mit der Berufung angefochten werden; und
obwohl die Parteien die Möglichkeit haben, anschließend ein Verfahren zur
Hauptsache einzuleiten, behandeln sie diese Entscheidung im allgemeinen
als endgültig,
eine einstweilige Maßnahme im Sinne des Artikels 50 des TRIPS ist.
Kosten
- 46.
- Die Auslagen der niederländischen und der französischen Regierung, der
Regierung des Vereinigten Königreichs sowie der Kommission, die vor dem
Gerichtshof Erklärungen abgegeben haben, sind nicht erstattungsfähig. Für die
Parteien des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren ein Zwischenstreit in dem bei
dem vorlegenden Gericht anhängigen Rechtsstreit; die Kostenentscheidung ist
daher Sache dieses Gerichts.
Aus diesen Gründen
hat
DER GERICHTSHOF
auf die ihm von der Arrondissementsrechtbank Amsterdam mit Urteil vom 1.
Februar 1996 vorgelegte Frage für Recht erkannt:
Eine Maßnahme, die bezweckt, angebliche Verletzungen eines Markenrechts
abzustellen, und die im Rahmen eines Verfahrens erlassen wird, das folgende
Merkmale aufweist:
die Maßnahme wird im innerstaatlichen Recht als „sofortige einstweiligeMaßnahme“ bezeichnet; ihr Erlaß muß „aus Gründen der Dringlichkeit“
erforderlich sein;
die gegnerische Partei wird geladen, und, wenn sie erscheint, gehört,
der Richter des vorläufigen Rechtsschutzes erläßt nach Sachprüfung eine
schriftliche, mit Gründen versehene Entscheidung;
diese Entscheidung kann mit der Berufung angefochten werden; und
obwohl die Parteien die Möglichkeit haben, anschließend ein Verfahren zur
Hauptsache einzuleiten, behandeln sie diese Entscheidung im allgemeinen
als endgültig,
ist eine einstweilige Maßnahme im Sinne des Artikels 50 des Übereinkommens
über handelsbezogene Aspekte der Rechte des geistigen Eigentums im Anhang I C
des Übereinkommens zur Errichtung der Welthandelsorganisation, das im Namen
der Gemeinschaft hinsichtlich der in ihre Zuständigkeiten fallenden Bereiche
durch den Beschluß 94/800/EG des Rates vom 22. Dezember 1994 genehmigt
worden ist.
Rodríguez Iglesias Gulmann Ragnemalm Wathelet
Mancini Moitinho de Almeida Kapteyn
Murray Edward
Puissochet
Hirsch Jann
Sevón
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Verkündet in öffentlicher Sitzung in Luxemburg am 16. Juni 1998.
Der Kanzler
Der Präsident
R. Grass
G. C. Rodríguez Iglesias