Language of document : ECLI:EU:C:2020:495

Rechtssache C36/20 PPU

Ministerio Fiscal (Behörde, bei der ein Antrag auf internationalen Schutz wahrscheinlich gestellt wird)

(Vorabentscheidungsersuchen
des Juzgado de Instrucción nº 3 de San Bartolomé de Tirajana)

 Urteil des Gerichtshofs (Vierte Kammer) vom 25. Juni 2020

„Vorlage zur Vorabentscheidung – Eilvorabentscheidungsverfahren – Asyl- und Einwanderungspolitik – Gemeinsame Verfahren für die Zuerkennung und Aberkennung des internationalen Schutzes – Richtlinie 2013/32/EU – Art. 6 – Zugang zum Verfahren – Stellung eines Antrags auf internationalen Schutz bei einer Behörde, die nach nationalem Recht für die Registrierung solcher Anträge zuständig ist – Stellung eines Antrags bei anderen Behörden, bei denen derartige Anträge wahrscheinlich gestellt werden, die aber nach nationalem Recht nicht für die Registrierung zuständig sind – Begriff „andere Behörden“ – Art. 26 – Gewahrsam – Normen für die Aufnahme von Personen, die internationalen Schutz beantragen – Richtlinie 2013/33/EU – Art. 8 – Inhaftnahme des Antragstellers – Haftgründe – Entscheidung über die Inhaftnahme eines Antragstellers aufgrund des Fehlens eines Unterbringungsplatzes in einem humanitären Aufnahmezentrum“

1.        Grenzkontrollen, Asyl und Einwanderung – Asylpolitik – Verfahren für die Zuerkennung und Aberkennung des internationalen Schutzes – Richtlinie 2013/32 – Verfahren zur Prüfung eines Antrags auf internationalen Schutz – Andere Behörden, bei denen Anträge auf internationalen Schutz wahrscheinlich gestellt werden, die aber nicht für die Registrierung zuständig sind – Begriff – Untersuchungsrichter, der angerufen wird, um über die Inhaftnahme eines illegal aufhältigen Drittstaatsangehörigen zu entscheiden – Einbeziehung

(Richtlinie 2013/32 des Europäischen Parlaments und des Rates, Erwägungsgründe 8, 20, 25 und 26, Art. 6 Abs. 1 und 2)

(vgl. Rn. 55-65, 67, 68, Tenor 1)

2.        Grenzkontrollen, Asyl und Einwanderung – Asylpolitik – Verfahren für die Zuerkennung und Aberkennung des internationalen Schutzes – Richtlinie 2013/32 – Verfahren zur Prüfung eines Antrags auf internationalen Schutz – Andere Behörden, bei denen Anträge auf internationalen Schutz wahrscheinlich gestellt werden, die aber nicht für die Registrierung zuständig sind – Verpflichtungen – Unterrichtung der illegal aufhältigen Drittstaatsangehörigen über die Modalitäten der förmlichen Stellung eines solchen Antrags – Übermittlung des Vorgangs an die für die Registrierung des Antrags zuständige Behörde

(Richtlinie 2013/32 des Europäischen Parlaments und des Rates, Erwägungsgründe 18, 27 und 28, Art. 6 Abs. 1 und 2, Art. 8 Abs. 1 und Richtlinie 2013/33 des Europäischen Parlaments und des Rates, Art. 17)

(vgl. Rn. 70-83, Tenor 2)

3.        Grenzkontrollen, Asyl und Einwanderung – Asylpolitik – Verfahren für die Zuerkennung und Aberkennung des internationalen Schutzes – Richtlinie 2013/32 – Zeitpunkt des Erwerbs der Eigenschaft als Person, die internationalen Schutz beantragt – Zeitpunkt der Stellung eines Antrags auf internationalen Schutz – Keine Verwaltungsformalität

(Richtlinie 2013/32 des Europäischen Parlaments und des Rates, 27. Erwägungsgrund, Art. 2 Buchst. b und c, Art. 3 Abs. 1, Art. 6 Abs. 1 bis 4 und Richtlinie 2013/33 des Europäischen Parlaments und des Rates, Art. 2 Buchst. a und b, Art. 3 Abs. 1)

(vgl. Rn. 86-93)

4.        Grenzkontrollen, Asyl und Einwanderung – Einwanderungspolitik – Rückführung illegal aufhältiger Drittstaatsangehöriger – Richtlinie 2008/115 – Persönlicher Anwendungsbereich – Person, die internationalen Schutz beantragt, im Sinne der Richtlinie 2013/32 – Ausschluss

(Richtlinie 2008/115 des Europäischen Parlaments und des Rates, 9. Erwägungsgrund, Art. 2 Abs. 1; Richtlinie 2013/32 des Europäischen Parlaments und des Rates, Art. 6 Abs. 1, Art. 26 Abs. 1 und Richtlinie 2013/33 des Europäischen Parlaments und des Rates, Art. 8 Abs. 1)

(vgl. Rn. 95, 97, 98)

5.        Grenzkontrollen, Asyl und Einwanderung – Asylpolitik – Verfahren für die Zuerkennung und Aberkennung des internationalen Schutzes – Richtlinie 2013/32 – Normen für die Aufnahme von Personen, die internationalen Schutz beantragen – Richtlinie 2013/33 – Inhaftnahme – Gründe – Unmöglichkeit, für eine Person, die internationalen Schutz beantragt, eine Unterbringung in einem humanitären Aufnahmezentrum zu finden – Anderer Grund als die in Art. 8 Abs. 3 der Richtlinie 2013/33 vorgesehenen – Unzulässigkeit

(Charta der Grundrechte der Europäischen Union, Art. 6; Richtlinie 2013/32 des Europäischen Parlaments und des Rates, Art. 6 Abs. 1, Art. 26 und Richtlinie 2013/33 des Europäischen Parlaments und des Rates, Erwägungsgründe 15 und 20, Art. 8, Art. 9, Art. 18 Abs. 9 Buchst. b)

(vgl. Rn. 99-107, 112, Tenor 3)

Zusammenfassung

Gerichtliche Behörden, die über die Inhaftnahme eines illegal aufhältigen Drittstaatsangehörigen zu entscheiden haben, können einen Antrag auf internationalen Schutz entgegennehmen und müssen den Betroffenen über die konkreten Modalitäten der förmlichen Stellung eines solchen Antrags unterrichten. Wer bei einer für die Entgegennahme eines entsprechenden Antrags zuständigen Behörde seine Absicht bekundet hat, internationalen Schutz zu beantragen, kann nicht mit der Begründung in Haft genommen werden, dass es keine ausreichenden Kapazitäten in einem humanitären Aufnahmezentrum gebe.

In dem am 25. Juni 2020 im Rahmen des Eilvorabentscheidungsverfahrens (PPU) ergangenen Urteil Ministerio Fiscal (Behörde, bei der ein Antrag auf internationalen Schutz wahrscheinlich gestellt wird) (C‑36/20 PPU) hat der Gerichtshof entschieden, dass ein Untersuchungsrichter, der angerufen wird, um über die Inhaftnahme eines illegal aufhältigen Drittstaatsangehörigen zu entscheiden, unter den Begriff „andere Behörden“ im Sinne von Art. 6 Abs. 1 Unterabs. 2 der Richtlinie 2013/32(1) (im Folgenden: Verfahrenrichtlinie) fällt, bei denen Anträge auf internationalen Schutz wahrscheinlich gestellt werden, die aber nach nationalem Recht nicht für die Registrierung zuständig sind. In dieser Eigenschaft ist ein solcher Untersuchungsrichter verpflichtet, den Antragsteller über die konkreten Modalitäten der förmlichen Stellung eines derartigen Antrags zu unterrichten. Der Gerichtshof hat auch für Recht erkannt, dass die Unmöglichkeit, eine Unterbringung in einem humanitären Aufnahmezentrum zu finden, nicht die Inhaftnahme einer Person, die internationalen Schutz beantragt, rechtfertigen kann.

Am 12. Dezember 2019 wurde ein Boot mit 45 Drittstaatsangehörigen an Bord, unter denen sich VL, ein malischer Staatsangehöriger, befand, von der spanischen Seenotrettung nahe der Insel Gran Canaria (Spanien) abgefangen, wohin die Aufgegriffenen verbracht wurden. Am darauf folgenden Tag ordnete eine Verwaltungsbehörde ihre Abschiebung an und stellte beim Juzgado de Instrucción n° 3 de San Bartolomé de Tirajana (Untersuchungsrichter Nr. 3 San Bartolomé de Tirajana, Spanien) einen Antrag auf Unterbringung in einer Hafteinrichtung. Nachdem der angerufene Untersuchungsrichter VL über seine Rechte belehrt hatte, teilte ihm dieser seine Absicht mit, internationalen Schutz zu beantragen. Mangels ausreichender Kapazitäten in einem humanitären Aufnahmezentrum ordnete derselbe Richter die Unterbringung von VL in einer Hafteinrichtung für Ausländer an, wo sein Antrag auf internationalen Schutz bearbeitet werden sollte. Daraufhin legte VL bei diesem Richter Einspruch gegen die Entscheidung über seine Inhaftnahme ein, den er damit begründete, dass sie nicht mit der Verfahrenrichtlinie und der Richtlinie 2013/33(2) (im Folgenden: Aufnahmerichtlinie) vereinbar sei. Im Rahmen dieses Einspruchs hat der betreffende Richter den Gerichtshof um Vorabentscheidung u. a. darüber ersucht, ob er unter den Begriff „andere Behörden“ im Sinne von Art. 6 Abs. 1 Unterabs. 2 der Verfahrenrichtlinie fällt und ob er daher Anträge auf internationalen Schutz entgegennehmen kann. Ferner hat er den Gerichtshof zur Rechtmäßigkeit der Inhaftnahme von VL befragt.

Als Erstes hat der Gerichtshof klargestellt, dass die wörtliche Auslegung des Begriffs „andere Behörden, bei denen [Anträge auf internationalen Schutz] wahrscheinlich gestellt werden“ im Sinne von Art. 6 Abs. 1 Unterabs. 2 der Verfahrenrichtlinie und insbesondere die Wahl des Pronomens „andere“ zeigen, dass der Unionsgesetzgeber von einem weiten Begriff der Behörden ausgehen wollte, bei denen solche Anträge, ohne dass sie für ihre Registrierung zuständig sind, gleichwohl gestellt werden können. Dieser Begriff kann daher sowohl Verwaltungsbehörden als auch gerichtliche Behörden umfassen. Diese Feststellung findet Bestätigung in einer systematischen Auslegung der fraglichen Bestimmung. Eines der mit der Verfahrenrichtlinie verfolgten Ziele besteht nämlich darin, einen effektiven, d. h. einen möglichst einfachen Zugang zum Verfahren für die Zuerkennung des internationalen Schutzes zu gewährleisten. Wenn aber einer gerichtlichen Behörde untersagt würde, Anträge auf internationalen Schutz entgegenzunehmen, würde die Verwirklichung dieses Ziels behindert, insbesondere bei sehr zügigen Verfahren, in denen die Anhörung des Antragstellers durch ein Gericht die erste Gelegenheit darstellen kann, das Recht auf Stellung eines solchen Antrags geltend zu machen. Der Gerichtshof ist demzufolge zu dem Ergebnis gelangt, dass ein Untersuchungsrichter, der angerufen wird, um über die Inhaftnahme eines illegal aufhältigen Drittstaatsangehörigen im Hinblick auf dessen Rückführung zu entscheiden, zu den „anderen Behörden“ gehört, bei denen Anträge auf internationalen Schutz wahrscheinlich gestellt werden.

Als Zweites hat sich der Gerichtshof mit den Verpflichtungen befasst, die einem solchen Untersuchungsrichter in seiner Eigenschaft als „andere Behörde“ obliegen. Er hat festgestellt, dass dieser nach Art. 6 Abs. 1 Unterabs. 2 und 3 der Verfahrenrichtlinie zum einen verpflichtet ist, Personen, die internationalen Schutz beantragen, über die konkreten Modalitäten der förmlichen Stellung eines Antrags auf internationalen Schutz zu informieren. Daher kommt ein solcher Untersuchungsrichter den Vorgaben dieser Richtlinie nach, wenn er einen Drittstaatsangehörigen von sich aus über dessen Recht auf Beantragung internationalen Schutzes informiert. Zum anderen muss ein Untersuchungsrichter, wenn ein solcher Staatsangehöriger vor ihm seine Absicht bekundet hat, einen derartigen Antrag zu stellen, den Vorgang an die für die Registrierung des Antrags zuständige Behörde weiterleiten, damit diesem Staatsangehörigen die im Rahmen der Aufnahme gewährten materiellen Leistungen und die medizinische Versorgung gemäß Art. 17 der Aufnahmerichtlinie zugutekommen können.

Als Drittes hat der Gerichtshof die Vereinbarkeit der Inhaftnahme von VL mit der Verfahren- und der Aufnahmerichtlinie geprüft. Er hat zunächst festgestellt, dass sich aus diesen Richtlinien ein weites Verständnis des Begriffs des Antragstellers auf internationalen Schutz ergibt, so dass ein Drittstaatsangehöriger diese Eigenschaft ab dem Zeitpunkt erwirbt, zu dem er einen Antrag auf internationalen Schutz stellt. Der Gerichtshof hat im Übrigen hervorgehoben, dass die Handlung, einen solchen Antrag zu „stellen“, keine Verwaltungsformalität erfordert. Daher reicht der Umstand, dass ein Drittstaatsangehöriger bei einer „anderen Behörde“, wie einem Untersuchungsrichter, seine Absicht bekundet, internationalen Schutz zu beantragen, aus, um ihm die Eigenschaft als Antragsteller auf internationalen Schutz zu verleihen.

Der Gerichtshof hat deshalb festgestellt, dass ab dem Zeitpunkt, zu dem VL seinen Antrag auf internationalen Schutz stellte, seine Haftbedingungen durch Art. 26 Abs. 1 der Verfahrenrichtlinie und Art. 8 Abs. 1 der Aufnahmerichtlinie geregelt wurden. Aus einer Zusammenschau dieser Bestimmungen ergibt sich, dass die Mitgliedstaaten eine Person nicht allein deshalb in Gewahrsam bzw. Haft nehmen dürfen, weil sie einen Antrag auf internationalen Schutz gestellt hat, und dass sich die Gründe für den Gewahrsam bzw. die Haft und die Gewahrsams- bzw. Haftbedingungen sowie die Garantien für in Gewahrsam bzw. Haft befindliche Antragsteller nach der Aufnahmerichtlinie bestimmen. Da aber in Art. 8 Abs. 3 Unterabs. 1 der letztgenannten Richtlinie die verschiedenen Gründe, aus denen eine Inhaftnahme gerechtfertigt sein kann, erschöpfend aufgezählt werden und die Unmöglichkeit, für eine Person, die internationalen Schutz beantragt, eine Unterbringung in einem humanitären Aufnahmezentrum zu finden, keinem der sechs in dieser Bestimmung genannten Haftgründe entspricht, lief im vorliegenden Fall die Inhaftnahme von VL der Aufnahmerichtlinie zuwider.


1      Richtlinie 2013/32/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Juni 2013 zu gemeinsamen Verfahren für die Zuerkennung und Aberkennung des internationalen Schutzes (ABl. 2013, L 180, S. 60).


2      Richtlinie 2013/33/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Juni 2013 zur Festlegung von Normen für die Aufnahme von Personen, die internationalen Schutz beantragen (ABl. 2013, L 180, S. 96).