SCHLUSSANTRÄGE DES GENERALANWALTS
GIOVANNI PITRUZZELLA
vom 19. November 2019(1)
Rechtssache C‑653/19 PPU
Strafverfahren gegen
DK,
Beteiligte:
Spetsializirana prokuratura
(Vorabentscheidungsersuchen des Spetsializiran nakazatelen sad [Spezialisiertes Strafgericht, Bulgarien])
„Vorlage zur Vorabentscheidung – Justizielle Zusammenarbeit in Strafsachen – Richtlinie (EU) 2016/343 – Unschuldsvermutung – Beweislast – Entscheidung über die Schuld – Gerichtliche Kontrolle der Fortdauer der Untersuchungshaft“
1. Die Strafrechtssysteme der Mitgliedstaaten sind in sehr großem Maß durch einen schwer zu überwindenden Widerspruch gekennzeichnet. Während nämlich der Grundsatz der Unschuldsvermutung als unantastbar und geradezu als Grundlage der europäischen Strafrechtsphilosophie gilt, wird zugleich massiv auf die Untersuchungshaft zurückgegriffen(2). Die den Gerichtshof im Rahmen des vorliegenden Vorabentscheidungsersuchens beschäftigende Frage geht dahin, ob und inwieweit es mit der Richtlinie (EU) 2016/343 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 9. März 2016 über die Stärkung bestimmter Aspekte der Unschuldsvermutung und des Rechts auf Anwesenheit in der Verhandlung in Strafverfahren(3) gelungen ist, in Bezug auf die Regelung der Untersuchungshaft die unvollständige und unausgewogene Entwicklung des Strafrechts innerhalb der Europäischen Union zu korrigieren(4).
I. Rechtlicher Rahmen
A. Richtlinie 2016/343
2. Im 16. Erwägungsgrund der Richtlinie 2016/343 heißt es: „Ein Verstoß gegen die Unschuldsvermutung läge vor, wenn der Verdächtige oder die beschuldigte Person in einer öffentlichen Erklärung einer Behörde oder in einer gerichtlichen Entscheidung, bei der es sich nicht um eine Entscheidung über die Schuld handelt, als schuldig dargestellt wird, solange die Schuld dieser Person nicht rechtsförmlich nachgewiesen wurde. … [U]nberührt bleiben sollten vorläufige Entscheidungen verfahrensrechtlicher Art, die von einer gerichtlichen oder sonstigen zuständigen Stelle getroffen werden und auf Verdachtsmomenten oder belastendem Beweismaterial beruhen, wie etwa Entscheidungen über Untersuchungshaft, soweit der Verdächtige oder die beschuldigte Person darin nicht als schuldig bezeichnet wird. Bevor eine vorläufige Entscheidung verfahrensrechtlicher Art getroffen wird, müsste die zuständige Stelle unter Umständen zunächst prüfen, ob das gegen den Verdächtigen oder die beschuldigte Person vorliegende belastende Beweismaterial ausreicht, um die betreffende Entscheidung zu rechtfertigen; in der Entscheidung könnte auf dieses Beweismaterial Bezug genommen werden.“
3. Der 22. Erwägungsgrund der Richtlinie 2016/343 lautet: „Die Beweislast für die Feststellung der Schuld von Verdächtigen und beschuldigten Personen liegt bei der Strafverfolgungsbehörde; Zweifel sollten dem Verdächtigen oder der beschuldigten Person zugutekommen. Unbeschadet einer möglichen Befugnis des Gerichts zur Tatsachenfeststellung von Amts wegen, der Unabhängigkeit der Justiz bei der Prüfung der Schuld des Verdächtigen oder der beschuldigten Person und der Anwendung von Tatsachen- oder Rechtsvermutungen bezüglich der strafrechtlichen Verantwortlichkeit eines Verdächtigen oder einer beschuldigten Person läge ein Verstoß gegen die Unschuldsvermutung vor, wenn die Beweislast von der Strafverfolgungsbehörde auf die Verteidigung verlagert würde. Derartige Vermutungen sollten unter Berücksichtigung der Bedeutung der betroffenen Belange und unter Wahrung der Verteidigungsrechte auf ein vertretbares Maß beschränkt werden, und die eingesetzten Mittel sollten in einem angemessenen Verhältnis zu dem angestrebten legitimen Ziel stehen. Diese Vermutungen sollten widerlegbar sein und sollten in jedem Fall nur angewendet werden, wenn die Verteidigungsrechte gewahrt sind.“
4. Art. 1 der Richtlinie lautet:
„Diese Richtlinie enthält gemeinsame Mindestvorschriften für
a) bestimmte Aspekte der Unschuldsvermutung in Strafverfahren,
b) das Recht auf Anwesenheit in der Verhandlung in Strafverfahren.“
5. Nach ihrem Art. 2 gilt die Richtlinie 2016/343 „für natürliche Personen, die Verdächtige oder beschuldigte Personen in Strafverfahren sind. Sie gilt für alle Abschnitte des Strafverfahrens ab dem Zeitpunkt, zu dem eine Person verdächtigt oder beschuldigt wird, eine Straftat oder eine mutmaßliche Straftat begangen zu haben, bis die Entscheidung über die endgültige Feststellung, ob diese Person die betreffende Straftat begangen hat, Rechtskraft erlangt hat.“
6. Art. 6 („Beweislast“) der Richtlinie 2016/343 bestimmt:
„(1) Die Mitgliedstaaten stellen sicher, dass die Beweislast für die Feststellung der Schuld von Verdächtigen und beschuldigten Personen bei der Strafverfolgungsbehörde liegt. Dies gilt unbeschadet einer Verpflichtung des Richters oder des zuständigen Gerichts, sowohl belastende als auch entlastende Beweise zu ermitteln, und unbeschadet des Rechts der Verteidigung, gemäß dem geltenden nationalen Recht Beweismittel vorzulegen.
(2) Die Mitgliedstaaten stellen sicher, dass jeglicher Zweifel hinsichtlich der Frage der Schuld dem Verdächtigen oder der beschuldigten Person zugutekommt, einschließlich in Fällen, wenn das Gericht prüft, ob die betreffende Person freigesprochen werden sollte.“
B. Bulgarisches Recht
7. Art. 270 des Nakazatelen protsesualen kodeks (Strafprozessordnung) bestimmt:
„(1) Die Frage der Umwandlung der Zwangsmaßnahme kann jederzeit im gerichtlichen Verfahren aufgeworfen werden. Tritt eine Änderung der Umstände ein, kann beim zuständigen Gericht ein neuer Antrag in Bezug auf die Zwangsmaßnahme gestellt werden.
(2) Das Gericht entscheidet durch Beschluss in öffentlicher Sitzung.“
II. Ausgangsrechtsstreit und Vorlagefrage
8. DK wurde am Ort einer Schießerei angetroffen, bei der eine Person getötet und eine andere schwer verletzt wurde. Nach der Schießerei blieb DK am Tatort und stellte sich der Polizei. Aufgrund dieses Sachverhalts wurde er wegen Mitgliedschaft in einer kriminellen Vereinigung sowie wegen Totschlags angeklagt und am 11. Juni 2016 in Untersuchungshaft genommen. Die Staatsanwaltschaft legt ihm zur Last, für den Tod des Opfers verantwortlich zu sein. DK macht geltend, in Notwehr gehandelt zu haben.
9. Am 9. November 2017 begann die gerichtliche Phase des Strafverfahrens gegen DK. Am 5. Februar 2018 stellte er einen ersten Antrag auf Freilassung, der erfolglos blieb. Mindestens sechs weitere solche Anträge folgten. Sie alle wurden entweder vom Gericht des ersten Rechtszugs oder vom Gericht des zweiten Rechtszugs zurückgewiesen. Sie wurden stets im Licht der rechtlichen Voraussetzung geprüft, dass neue Umstände vorliegen müssen, die die Rechtmäßigkeit der Untersuchungshaft in Frage stellen.
10. Das vorlegende Gericht führt aus, die Staatsanwaltschaft habe keinen einzigen Antrag auf Verlängerung der Untersuchungshaft gestellt. Sie dauere an, bis es der Verteidigung gelinge, den Beweis für eine Änderung der Umstände im Sinne von Art. 270 der bulgarischen Strafprozessordnung zu erbringen. Das vorlegende Gericht könne nur dann die Freilassung anordnen, wenn die Verteidigung zu seiner Überzeugung bewiesen habe, dass eine Änderung der Umstände eingetreten sei. Art. 270 der Strafprozessordnung verlagere die Beweislast von der Anklagebehörde auf die Verteidigung und schaffe eine von der Verteidigung zu widerlegende Vermutung für die Rechtmäßigkeit der Fortdauer der Untersuchungshaft. Es sei fraglich, ob ein solcher Ansatz mit dem 22. Erwägungsgrund und mit Art. 6 der Richtlinie 2016/343 vereinbar sei. Das vorlegende Gericht verweist ferner auf das Urteil des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (im Folgenden: EGMR) vom 27. August 2019, Magnitskiy u. a. gegen Russland(5), worin der EGMR entschieden habe, dass die Vermutung zugunsten der Freilassung umgekehrt werde, wenn die Untersuchungshaft nach nationalem Recht mangels neuer Umstände fortdauern müsse, und dass damit die Beweislast auf die Verteidigung verlagert werde. Das nationale Recht könnte daher auch gegen Art. 5 Abs. 3 der am 4. November 1950 in Rom unterzeichneten Europäischen Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten (EMRK) verstoßen.
11. Das vorlegende Gericht fügt hinzu, das nationale Recht sehe keine Höchstdauer der Untersuchungshaft und keine regelmäßige gerichtliche Haftprüfung vor.
12. Unter diesen Umständen hat der Spetsializiran nakazatelen sad (Spezialisiertes Strafgericht, Bulgarien) beschlossen, das Verfahren auszusetzen, und hat dem Gerichtshof mit einer am 4. September 2019 bei dessen Kanzlei eingegangenen und am 27. September 2019 bestätigten Entscheidung folgende Frage zur Vorabentscheidung vorgelegt:
Ist mit Art. 6 und dem 22. Erwägungsgrund der Richtlinie 2016/343 sowie mit den Art. 6 und 47 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (im Folgenden: Charta) eine nationale Rechtsvorschrift vereinbar, die vorsieht, dass dem Antrag der Verteidigung auf Aufhebung der gegen die beschuldigte Person angeordneten Untersuchungshaft in der gerichtlichen Phase des Strafverfahrens nur dann stattgegeben werden kann, wenn eine Änderung der Umstände eingetreten ist?
III. Verfahren vor dem Gerichtshof
13. Das vorliegende Vorabentscheidungsersuchen ist am 4. September 2019 eingegangen. Aufgrund von Zweifeln in Bezug auf den Stand des Verfahrens vor dem vorlegenden Gericht hat der Gerichtshof ihm ein Auskunftsersuchen übermittelt, das am 13. September 2019 beantwortet worden ist. Am 25. September 2019 hat das vorlegende Gericht dem Gerichtshof mitgeteilt, dass die Entscheidung, DK auf freien Fuß zu setzen, vom Gericht des zweiten Rechtszugs aufgehoben worden sei. Am 27. September 2019 fand eine außerordentliche Sitzung des vorlegenden Gerichts statt, in der DK einen erneuten Antrag auf Freilassung gestellt hat. Unter diesen Umständen hat der Gerichtshof am 1. Oktober 2019 beschlossen, das Vorabentscheidungsersuchen auf der Grundlage von Art. 107 Abs. 1 seiner Verfahrensordnung dem Eilverfahren zu unterwerfen.
14. DK und die Europäische Kommission haben schriftliche Erklärungen eingereicht. Nur die Kommission hat an der mündlichen Verhandlung vor dem Gerichtshof am 7. November 2019 teilgenommen.
IV. Würdigung
A. Vorüberlegungen
15. Das vorlegende Gericht möchte vom Gerichtshof wissen, ob nationale Strafrechtsvorschriften, wonach die Untersuchungshaft während der gerichtlichen Phase des Strafverfahrens nur aufgehoben werden kann, wenn „neue Umstände“ vorliegen, mit Art. 6 der Richtlinie 2016/343 und gegebenenfalls mit der Charta vereinbar ist. Die Vorlagefrage ist jedoch um die übrigen Gründe der Vorlageentscheidung zu ergänzen, aus denen sich etwas klarer ergibt, dass sie im Zusammenhang mit der Frage nach der Beweislast gestellt wird. Mit anderen Worten: Sind Rechtsvorschriften, die verlangen, dass die beschuldigte Person, um zu erwirken, dass ihre Untersuchungshaft beendet wird, das Vorliegen neuer Umstände nachweisen muss, mit Art. 6 der Richtlinie 2016/343 vereinbar?
16. Die Schlichtheit der dem Gerichtshof gestellten Frage wird ihrer grundlegenden Bedeutung für den europäischen Strafrechtsraum nicht gerecht.
17. Sie stellt sich nämlich in einem besonderen Kontext. Das vorlegende Gericht beschreibt mit recht beunruhigenden Worten den Stand des nationalen Rechts im Bereich der Untersuchungshaft. Insbesondere ist die Untersuchungshaft zeitlich unbegrenzt, sobald das Strafverfahren in die gerichtliche Phase eingetreten ist. Art. 270 der bulgarischen Strafprozessordnung sieht zwar vor, dass die beschuldigte Person jederzeit die Aufhebung ihrer Untersuchungshaft beantragen kann, doch ist die tatsächliche Freilassung oder die Umwandlung der Zwangsmaßnahme in der Praxis offenbar äußerst schwer zu erreichen(6).
18. Ich komme daher nicht umhin, meine Bedenken angesichts einer solchen Situation zum Ausdruck zu bringen. Diese Bedenken haben zwei Aspekte: Zunächst betreffen sie auf der Mikroebene die persönliche Situation von DK, sodann auf der Makroebene das Bild, das diese Rechtssache von der Realität im europäischen Strafrechtsraum zeichnet.
19. Erstens ist DK eine beschuldigte Person; eine beschuldigte Person sollte aber noch nicht als schuldig angesehen werden, sondern kann auch unschuldig sein. Können wir uns ohne Weiteres mit der Vorstellung abfinden, dass seine Inhaftierung zeitlich unbegrenzt ist? Ist es nicht eine sprachliche Verrenkung, weiterhin von einer vorübergehenden Haft zu reden? Auch wenn es mir sicher nicht zusteht, die Entscheidung der Mitgliedstaaten für Regelungen, die massiv auf Untersuchungshaft zurückgreifen, in Frage zu stellen(7), sollte daher meines Erachtens bei jeder Analyse dieser Thematik bedacht werden, dass es potenziell Unschuldige sind, die unter im Allgemeinen recht miserablen Bedingungen darauf warten, dass über ihr strafrechtliches Schicksal befunden wird.
20. Zweitens beruhen meine Bedenken darauf, dass es in diesem Bereich bislang so gut wie keine Harmonisierung auf europäischer Ebene gibt, wie ich nachfolgend darlegen werde. Diese Rechtssache zwingt uns, die Grenzen des Unionsrechts zu konstatieren. Bei einer so grundlegenden Frage wie der Dauer der Untersuchungshaft und den Voraussetzungen, unter denen ihre Anordnung gerichtlich angefochten werden kann, ist es eine betrübliche Feststellung, dass das Unionsrecht von geringer Wirksamkeit ist. Man kann nicht alles mit der fehlenden Zuständigkeit der Union für diesen Bereich entschuldigen.
21. Was im Bereich des Strafrechts nicht von der Union gewährleistet wird, kann natürlich vom EGMR gewährleistet werden. Man könnte in dieser Rechtssache daher eine Gelegenheit für den Gerichtshof sehen, seine Rolle als Weichensteller für Zuständigkeiten wahrzunehmen(8). Es liegt auf der Hand, dass sich das, was nicht unionsrechtlich geregelt ist, nicht zwangsläufig im rechtsfreien Raum befindet. Ich werde später darauf zurückkommen, dass der EGMR wichtige Grundsätze aufgestellt hat, die den Rahmen für das Ermessen der Vertragsstaaten der EMRK in Bezug auf die Untersuchungshaft abstecken. Aber wie lange müsste DK noch in Untersuchungshaft bleiben, bevor er ein Urteil des Straßburger Gerichtshofs erlangt? Ist ihm das überhaupt möglich, wo doch seine Prozessbevollmächtigten, vielleicht aus wirtschaftlichen Gründen, nicht an der mündlichen Verhandlung vor dem Gerichtshof teilgenommen haben?
22. Abgesehen von der Frage nach dem Verhältnis der Systeme ist eine Befassung des Unionsgesetzgebers mit dem Anliegen einer – sei es auch nur minimalen – Harmonisierung der Untersuchungshaft dringend geboten, denn letztlich ist der europäische Strafrechtsraum bedroht. Eine gerichtliche Zusammenarbeit im Bereich des Strafrechts kann es nämlich nur geben, wenn das gegenseitige Vertrauen der Mitgliedstaaten gestärkt wird, und dieses Vertrauen kann nicht bedenkenlos gewährt werden, solange insbesondere im Bereich der Untersuchungshaft – die wie gesagt eine Ausnahme vom Recht auf Freiheit, dem Eckpfeiler unserer Rechtskultur, darstellt, die so begrenzt wie möglich bleiben muss – in den Mitgliedstaaten derart unterschiedliche Standards angewandt werden.
23. Ungeachtet meiner Bedenken und meines Bedauerns hinsichtlich des aktuellen Stands des Unionsrechts werde ich gleichwohl am Ende einer streng juristischen Prüfung nicht um die Feststellung herumkommen, dass es für die Situation von DK in der Richtlinie 2016/343 keine Lösung gibt.
B. Zur Vorlagefrage
24. Schreibt Art. 6 der Richtlinie 2016/343 den Mitgliedstaaten vor, die Beweislast der Anklage aufzuerlegen, wenn die Verteidigung einen Antrag auf Beendigung der Untersuchungshaft stellt, nachdem das Strafverfahren in die gerichtliche Phase eingetreten ist? Zur Beantwortung dieser Frage werde ich erstens darlegen, dass die Richtlinie 2016/343 keine Vorschrift über die Voraussetzungen enthält, unter denen eine Entscheidung, die Untersuchungshaft zu verlängern, angefochten werden kann. Dieses Zwischenergebnis werde ich zweitens anhand der Rechtsprechung des Gerichtshofs zur Richtlinie 2016/343 und zur Untersuchungshaft überprüfen. Drittens werde ich die Analyse mit einer Wiedergabe der Vorgaben des EGMR abschließen.
1. Auslegung der Richtlinie 2016/343 anhand des Wortlauts, der Systematik, der Entstehungsgeschichte und des Ziels
25. Zunächst ist festzustellen, dass sich ein Zusammenhang zwischen der Situation im Ausgangsverfahren und Art. 6 der Richtlinie 2016/343 nicht aufdrängt.
26. Es ist richtig, dass die Richtlinie 2016/343 „für natürliche Personen [gilt], die Verdächtige oder beschuldigte Personen in Strafverfahren sind“(9). DK fällt unstreitig in ihren persönlichen Anwendungsbereich.
27. Überdies gilt die Richtlinie „für alle Abschnitte des Strafverfahrens“, d. h. ab dem Zeitpunkt, zu dem eine Person verdächtigt oder beschuldigt wird, eine Straftat begangen zu haben, bis die Entscheidung über die endgültige Feststellung, ob sie die betreffende Straftat begangen hat, Rechtskraft erlangt hat(10). Der Zeitraum, während dessen sich die beschuldigte Person in Untersuchungshaft befindet, gehört eindeutig zu diesem Verfahren, so dass der Sachverhalt des Ausgangsverfahrens grundsätzlich in den Anwendungsbereich der Richtlinie 2016/343 fällt(11). Klar ist allerdings, dass nicht jeder Artikel der Richtlinie zwangsläufig für alle Abschnitte des Strafverfahrens gilt(12).
28. Soll Art. 6 der Richtlinie 2016/343 aber die Frage der Beweislast in Verfahren regeln, in denen die Fortdauer der Untersuchungshaft angefochten wird? Ich bin davon nicht überzeugt.
29. Insoweit ist darauf hinzuweisen, dass dieser Artikel zu einem größeren Kapitel gehört, das der Unschuldsvermutung gewidmet ist. Dabei verpflichtet die Richtlinie 2016/343 die Mitgliedstaaten, sicherzustellen, dass Verdächtige und beschuldigte Personen als unschuldig gelten, bis ihre Schuld rechtsförmlich nachgewiesen wurde(13). Insbesondere darf, solange die Schuld eines Verdächtigen oder einer beschuldigten Person nicht rechtsförmlich nachgewiesen wurde, in öffentlichen Erklärungen von Behörden und in gerichtlichen Entscheidungen nicht so auf die betreffende Person Bezug genommen wird, als sei sie schuldig(14). Dies gilt jedoch „unbeschadet der Strafverfolgungsmaßnahmen, die dazu dienen, den Verdächtigen oder die beschuldigte Person zu überführen, sowie unbeschadet der vorläufigen Entscheidungen verfahrensrechtlicher Art, die von einer gerichtlichen oder sonstigen zuständigen Stelle getroffen werden und auf Verdachtsmomenten oder belastendem Beweismaterial beruhen“(15). In Bezug auf die Art und Weise der Wahrung der Unschuldsvermutung durch öffentliche Erklärungen und vorläufige Entscheidungen verfahrensrechtlicher Art ist es angebracht, zur Klarstellung des Wortlauts von Art. 4 der Richtlinie 2016/343 ihren 16. Erwägungsgrund heranzuziehen, aus dem hervorgeht, dass es nicht zu beanstanden ist, wenn in einer Anklageschrift die betreffende Person als potenziell schuldig bezeichnet wird. Von der Beachtung der Unschuldsvermutung unberührt bleiben sollten auch „vorläufige Entscheidungen verfahrensrechtlicher Art, … wie etwa Entscheidungen über Untersuchungshaft, soweit der Verdächtige oder die beschuldigte Person darin nicht als schuldig bezeichnet wird. Bevor eine vorläufige Entscheidung verfahrensrechtlicher Art getroffen wird, müsste die zuständige Stelle unter Umständen zunächst prüfen, ob das gegen den Verdächtigen oder die beschuldigte Person vorliegende belastende Beweismaterial ausreicht, um die betreffende Entscheidung zu rechtfertigen; in der Entscheidung könnte auf dieses Beweismaterial Bezug genommen werden“(16). Wenn hier auf Entscheidungen über die Untersuchungshaft Bezug genommen wird, dann also ausschließlich im Zusammenhang mit Erklärungen von Behörden und gerichtlichen Entscheidungen, in denen nach der Richtlinie nicht so auf Verdächtige und beschuldigte Personen Bezug genommen werden darf, als seien sie schuldig.
30. In Bezug auf die Beweislast als solche verpflichtet Art. 6 Abs. 1 der Richtlinie 2016/343 – auf den sich die Vorlagefrage speziell bezieht – die Mitgliedstaaten, sicherzustellen, dass die Beweislast für die Feststellung der Schuld von Verdächtigen und beschuldigten Personen bei der Strafverfolgungsbehörde liegt. Dies gilt „unbeschadet einer Verpflichtung des Richters oder des zuständigen Gerichts, sowohl belastende als auch entlastende Beweise zu ermitteln, und unbeschadet des Rechts der Verteidigung, gemäß dem geltenden nationalen Recht Beweismittel vorzulegen“(17). Zweifel müssen dem Verdächtigen oder der beschuldigten Person zugutekommen, „einschließlich in Fällen, wenn das Gericht prüft, ob die betreffende Person freigesprochen werden sollte“(18). Im 22. Erwägungsgrund der Richtlinie 2016/343 wird die Absicht des Gesetzgebers erläutert. Aus ihm ergibt sich, dass es sich um die Beweislast für die Feststellung der Schuld von Verdächtigen und beschuldigten Personen handelt und dass sie bei der Strafverfolgungsbehörde liegen muss. Der Unionsgesetzgeber scheint die Möglichkeit anerkannt zu haben, auf Tatsachen- oder Rechtsvermutungen bezüglich der strafrechtlichen Verantwortlichkeit eines Verdächtigen oder einer beschuldigten Person zurückzugreifen, ohne dass dies die Unschuldsvermutung beeinträchtigt, sofern die Vermutungen „unter Berücksichtigung der Bedeutung der betroffenen Belange und unter Wahrung der Verteidigungsrechte auf ein vertretbares Maß beschränkt werden … und die eingesetzten Mittel … in einem angemessenen Verhältnis zu dem angestrebten legitimen Ziel stehen. Diese Vermutungen sollten widerlegbar sein und sollten in jedem Fall nur angewendet werden, wenn die Verteidigungsrechte gewahrt sind“(19).
31. Während Art. 4 der Richtlinie 2016/343 ausdrücklich auf vorläufige Entscheidungen verfahrensrechtlicher Art wie etwa Entscheidungen über die Untersuchungshaft(20) Bezug nimmt, fehlt in ihrem Art. 6 eine solche Bezugnahme. Das Gleiche gilt für den 22. Erwägungsgrund der Richtlinie. Dies liegt meines Erachtens daran, dass sich der Unionsgesetzgeber hier mit einem anderen Stadium des Strafverfahrens befasst, und zwar dem der Feststellung der Schuld(21). In Bezug auf die Entscheidungen über die Untersuchungshaft besteht aber das einzige Ziel von Art. 4 der Richtlinie 2016/343 darin, dafür zu sorgen, dass die beschuldigten Personen in diesen Entscheidungen nicht als schuldig bezeichnet werden. Da in der Entscheidung über die Untersuchungshaft nicht über die Schuld dieser Personen entschieden wird – wie die Richtlinie im Übrigen ausdrücklich vorschreibt(22) –, fällt sie meines Erachtens nicht in den Anwendungsbereich von Art. 6 der Richtlinie 2016/343.
32. Der Wortlaut von Art. 6 Abs. 2 der Richtlinie 2016/343, wonach jeglicher Zweifel der beschuldigten Person zugutekommen muss, scheint mir dieser Auslegung nicht entgegenzustehen. Da über die Untersuchungshaft früher entschieden wird als über die Schuld – d. h. zu einem Zeitpunkt des Strafverfahrens, zu dem noch keine Überzeugung hinsichtlich der Schuld erlangt worden sein kann und somit zwangsläufig noch Zweifel an ihr bestehen –, würden nämlich, wenn man Art. 6 Abs. 2 der Richtlinie 2016/343 auch auf Entscheidungen über die Untersuchungshaft für anwendbar hielte, die Fälle von Untersuchungshaft erheblich zusammenschrumpfen, wie die Kommission zu Recht ausgeführt hat(23).
33. Eine einschränkende Auslegung von Art. 6 der Richtlinie 2016/343 in dem Sinne, dass er nicht die Verteilung der Beweislast beim Erlass von Entscheidungen über die Untersuchungshaft regeln soll, scheint mir zudem durch eine Analyse der Entstehungsgeschichte dieser Richtlinie bestätigt zu werden. In Nr. 16 der Begründung des Vorschlags der Kommission für eine Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates zur Stärkung bestimmter Aspekte der Unschuldsvermutung und des Rechts auf Anwesenheit in der Verhandlung in Strafverfahren(24) heißt es, da die Untersuchungshaft bereits Gegenstand gesonderter Initiativen in der Union sei, werde sie „in der vorgeschlagenen Richtlinie nicht behandelt“. Dass die Tragweite dieser anderen Rechtsetzungsinitiativen(25) nach wie vor begrenzt ist, kann keine Auslegung der Richtlinie 2016/343 rechtfertigen, die über den von ihr vorgegebenen Rahmen hinausgeht. Insoweit ist noch darauf hinzuweisen, dass dem Vorschlag des Parlaments, allein in Art. 4 eine ausdrückliche Bezugnahme auf die Untersuchungshaft aufzunehmen, nicht gefolgt wurde(26).
34. Wie oben ausgeführt, besteht das Ziel der Richtlinie 2016/343 darin, bestimmte Aspekte der Unschuldsvermutung zu stärken, um das gegenseitige Vertrauen der Mitgliedstaaten in ihre jeweiligen Strafjustizsysteme zu erhöhen sowie die gegenseitige Anerkennung von Urteilen und anderen gerichtlichen Entscheidungen zu verbessern(27). Dabei hat die Richtlinie 2016/343, im Einklang mit ihrer Rechtsgrundlage(28), Mindestvorschriften geschaffen, die nur bestimmte Aspekte der Unschuldsvermutung im Rahmen von Strafverfahren betreffen(29).
35. In der Rechtsprechung des Gerichtshofs ist bislang besonderer Nachdruck auf diese Mindestharmonisierung gelegt worden, um die Tragweite der Richtlinie 2016/343 in Bezug auf die nationalen Regelungen über die Untersuchungshaft zu begrenzen.
2. Die Richtlinie 2016/343 und die Entscheidungen über die Untersuchungshaft in der Rechtsprechung des Gerichtshofs
36. In seinem ersten Urteil Milev(30) hatte der Gerichtshof über die Vereinbarkeit von Hinweisen des obersten bulgarischen Gerichtshofs, wonach die für die Prüfung eines Rechtsbehelfs gegen eine Anordnung der Untersuchungshaft zuständigen nationalen Gerichte die Befugnis hätten, darüber zu entscheiden, ob in der gerichtlichen Phase des Strafverfahrens die Aufrechterhaltung der Untersuchungshaft eines Angeklagten einer gerichtlichen Überprüfung zu unterwerfen sei, die sich auch auf die Frage beziehe, ob ein hinreichender Verdacht bestehe, dass er die ihm zur Last gelegte Straftat begangen habe, mit den Art. 3 und 6 der Richtlinie 2016/343 zu befinden. Da die Frage gestellt wurde, als die Richtlinie 2016/343 in Kraft getreten, aber die Frist für ihre Umsetzung noch nicht abgelaufen war, beschränkte sich der Gerichtshof auf die Darlegung der Pflichten der Mitgliedstaaten während dieses speziellen Zeitraums(31) und stellte sodann fest, dass die fraglichen Hinweise nicht geeignet waren, die Erreichung der Ziele der Richtlinie 2016/343 nach Ablauf der Frist für ihre Umsetzung ernstlich in Frage zu stellen, da die Hinweise den Gerichten die Freiheit beließen, die Bestimmungen der EMRK in ihrer Auslegung durch den EGMR oder das nationale Strafverfahrensrecht anzuwenden. In dieser Rechtssache konzentrierte sich die Antwort des Gerichtshofs somit auf die Frage nach der Pflicht, das Ziel der Richtlinie 2016/343 während des Zeitraums ihrer Umsetzung nicht ernstlich in Frage zu stellen; die – zugrunde liegende, aber davon zu unterscheidende(32) – Frage nach der Vereinbarkeit der Hinweise des obersten Gerichtshofs und allgemeiner der bulgarischen Rechtsvorschriften mit der Richtlinie 2016/343 wurde dagegen nicht geprüft.
37. In seinem zweiten Urteil Milev(33) hatte der Gerichtshof zu klären, ob die Art. 3, 4 und 10 der Richtlinie 2016/343 im Licht ihrer Erwägungsgründe 16 und 48 sowie der Art. 47 und 48 der Charta dahin auszulegen sind, dass sich ein nationales Gericht bei der Prüfung, ob im Sinne des nationalen Rechts der hinreichende Verdacht besteht, dass eine Person eine Straftat begangen hat – wobei davon die Fortdauer ihrer Inhaftierung abhing –, mit der Feststellung begnügen darf, dass diese Person auf den ersten Blick die Straftat begangen haben könnte, oder ob es untersuchen muss, ob eine hohe Wahrscheinlichkeit dafür besteht, dass sie die Straftat begangen hat. Ferner wollte das vorlegende Gericht wissen, ob die angeführten Bestimmungen des Unionsrechts dahin auszulegen sind, dass ein nationales Gericht, das über einen Antrag auf Abänderung der Untersuchungshaft befindet, seine Entscheidung begründen darf, ohne die belastenden und entlastenden Beweise gegeneinander abzuwägen, oder ob es eine tiefer gehende Würdigung dieser Beweise vornehmen und eine eindeutige Antwort auf das Vorbringen der inhaftierten Person geben muss(34).
38. Der Gerichtshof wies zunächst auf den Wortlaut der Art. 2, 3, 4 und 10 der Richtlinie 2016/343 hin und führte sodann aus, dass diese Richtlinie, „wie aus ihrem Art. 1 und ihrem neunten Erwägungsgrund hervorgeht, zum Gegenstand hat, gemeinsame Mindestvorschriften für Strafverfahren in Bezug auf bestimme Aspekte der Unschuldsvermutung … festzulegen“(35). Mit diesen Mindestvorschriften soll das gegenseitige Vertrauen der Mitgliedstaaten in ihre jeweilige Strafrechtspflege gestärkt und damit die gegenseitige Anerkennung gerichtlicher Entscheidungen erleichtert werden(36). Aufgrund dieses im Urteil besonders hervorgehobenen Charakters als Mindestvorschriften kam der Gerichtshof zu dem Ergebnis, dass die Richtlinie 2016/343 „nicht so verstanden werden [kann], dass sie ein vollständiges und abschließendes Instrument darstellt, das darauf abzielt, sämtliche Voraussetzungen für die Anordnung von Untersuchungshaft zu regeln“(37). Er entschied daher, dass Art. 3 und Art. 4 Abs. 1 der Richtlinie 2016/343 „dem Erlass vorläufiger Entscheidungen verfahrensrechtlicher Art, die auf Verdachtsmomenten oder belastendem Beweismaterial beruhen, wie etwa einer Entscheidung einer gerichtlichen Stelle über die Fortdauer der Untersuchungshaft, nicht entgegenstehen, soweit der Verdächtige oder die beschuldigte Person darin nicht als schuldig bezeichnet wird“(38). Er fügte hinzu: „Soweit das vorlegende Gericht … wissen möchte, unter welchen Voraussetzungen die Untersuchungshaft angeordnet werden kann, und sich insbesondere fragt, welches Maß an Überzeugung es in Bezug auf den Täter besitzen muss, auf welche Weise es die verschiedenen Beweise zu würdigen hat und wie ausführlich es auf das vor ihm geltend gemachte Vorbringen eingehen muss, so sind solche Fragen nicht in dieser Richtlinie geregelt, sondern richten sich allein nach nationalem Recht.“(39) Noch klarer ausgedrückt: Die Richtlinie 2016/343 „regelt … nicht die Voraussetzungen, unter denen die Untersuchungshaft angeordnet werden kann“(40).
39. Kürzlich hat der Gerichtshof auf der Grundlage von Art. 99 seiner Verfahrensordnung einen Beschluss erlassen(41). Er wurde gefragt, ob Art. 4 der Richtlinie 2016/343 in Verbindung mit deren 16. Erwägungsgrund dahin auszulegen ist, dass die Anforderungen, die sich aus der Unschuldsvermutung ergeben, es verlangen, dass das zuständige Gericht, wenn es im Rahmen einer Entscheidung über die Rechtmäßigkeit der Untersuchungshaft bei der Prüfung des hinreichenden Verdachts dafür, dass die beschuldigte Person die ihr zur Last gelegte Straftat begangen hat, eine Abwägung der ihm vorgelegten belastenden und entlastenden Beweise vornimmt und seine Entscheidung nicht nur damit begründet, dass es die berücksichtigten Beweise darlegt, sondern auch über die Einwände des Verteidigers der betreffenden Person entscheidet(42). Im Anschluss an die Feststellung, dass die Rechtssache offenbar „in dem umfassenderen[(43)] Rahmen des ‚hinreichenden Verdachts‘ im Sinne von Art. 5 Abs. 1 Buchst. c EMRK“ stand(44), und nach Heranziehung des Wortlauts der für die Beantwortung des Vorabentscheidungsersuchens relevanten Bestimmungen der Richtlinie 2016/343 nahm der Gerichtshof zur Untermauerung seiner Ausführungen auch auf Art. 6 der Richtlinie Bezug und kam zu folgendem Ergebnis: „Gelangt ein vorlegendes Gericht nach Prüfung der belastenden und entlastenden Beweise zu dem Schluss, dass ein hinreichender Verdacht dafür besteht, dass ein Betroffener die ihm zur Last gelegten Handlungen begangen hat, und trifft es eine vorläufige Entscheidung in diesem Sinne, so kommt dies keiner Darstellung gleich, in der im Sinne von Art. 4 der Richtlinie 2016/343 auf den Verdächtigen oder die beschuldigte Person Bezug genommen würde, als sei er bzw. sie schuldig.“(45) Zugleich wies der Gerichtshof auf seine Ausführungen im Urteil Milev zum Mindestmaß an Harmonisierung durch die Richtlinie 2016/343 hin, die nicht so verstanden werden kann, dass sie „ein vollständiges und abschließendes Instrument“ darstellt, das darauf abzielt, „sämtliche Voraussetzungen für die Anordnung von Untersuchungshaft zu regeln, sei es in Bezug auf die Frage, auf welche Weise es die verschiedenen Beweise zu würdigen hat oder wie ausführlich es auf das vor ihm geltend gemachte Vorbringen eingehen muss“(46). Er entschied daher, dass „die Art. 4 und 6 der Richtlinie 2016/343 … dem nicht entgegenstehen, dass das zuständige Gericht, wenn es bei seiner Entscheidung über die Rechtmäßigkeit einer Anordnung der Untersuchungshaft prüft, ob ein hinreichender Verdacht besteht, dass der Verdächtige oder die beschuldigte Person die ihm oder ihr zur Last gelegte Straftat begangen hat, eine Abwägung der ihm vorgelegten belastenden und entlastenden Beweise vornimmt und zur Begründung seiner Entscheidung nicht nur die herangezogenen Gesichtspunkte darlegt, sondern auch über die Einwände des Verteidigers der betreffenden Person entscheidet, sofern die inhaftierte Person in dieser Entscheidung nicht als schuldig dargestellt wird“(47). Die Feststellung, dass Art. 6 der Richtlinie 2016/343 „dem nicht entgegensteht“, lässt sich in Anbetracht der früheren Entscheidungen des Gerichtshofs so verstehen, dass er schlicht keine Anwendung findet(48). Nur dann erschließt sich der Sinn des Tenors des Beschlusses(49).
3. Die Entscheidungen über die Untersuchungshaft in der Rechtsprechung des EGMR
40. Mit der Richtlinie 2016/343 werden die Unschuldsvermutung und das Recht auf ein faires Verfahren umgesetzt, die in den Art. 47 und 48 der Charta verankert sind, auf die die Richtlinie ausdrücklich Bezug nimmt(50). Die Unschuldsvermutung soll jedermann gewährleisten, nicht als Straftäter bezeichnet oder behandelt zu werden, bevor nicht seine Schuld rechtsförmlich nachgewiesen ist(51). Die Richtlinie 2016/343 enthält überdies ein Regressionsverbot, das lautet: „Diese Richtlinie ist nicht so auszulegen, dass dadurch die Rechte oder Verfahrensgarantien nach Maßgabe der Charta, der EMRK … oder des Rechts der Mitgliedstaaten, die ein höheres Schutzniveau vorsehen, beschränkt oder beeinträchtigt würden.“(52)
41. In den Art. 47 und 48 der Charta sind das Recht auf einen wirksamen Rechtsbehelf und ein unparteiisches Gericht sowie, wie ich dargelegt habe, die Unschuldsvermutung und die Verteidigungsrechte verankert. Insbesondere geht aus der Erläuterung zu Art. 48 hervor, dass er Art. 6 Abs. 2 und 3 der EMRK entspricht und nach Art. 52 Abs. 3 der Charta dieselbe Bedeutung und dieselbe Tragweite wie das durch die EMRK garantierte Recht hat.
42. Die vom vorlegenden Gericht erwähnte Rechtsprechung des EGMR ist aber nicht zur Vereinbarkeit der in Rede stehenden Situation mit Art. 6 der EMRK ergangen, sondern zu ihrer Vereinbarkeit mit Art. 5 Abs. 3 der EMRK(53).
43. In seinem Urteil Magnitskiy u. a. gegen Russland(54) hat der EGMR die von ihm zuvor herausgearbeiteten und nunmehr ständig angewandten Grundsätze für die Beurteilung der Vereinbarkeit einer Verlängerung der Untersuchungshaft mit der Konvention wiedergegeben.
44. Während die Untersuchungshaft aus den in Art. 5 Abs. 1 Buchst. c der EMRK genannten Gründen zulässig sein kann, werden in Art. 5 Abs. 3 „eine Reihe von Verfahrensgarantien“ aufgestellt; er sieht insbesondere vor, „dass die Dauer der Untersuchungshaft angemessen sein muss: Sie ist also nicht unbegrenzt“(55). Der Fortbestand eines hinreichenden Verdachts, dass die inhaftierte Person eine Straftat begangen hat, ist eine unabdingbare Voraussetzung für die Rechtmäßigkeit des Fortbestands der Untersuchungshaft(56), aber nach „einiger Zeit“ genügt das nicht mehr. Der EGMR muss dann erstens prüfen, ob die übrigen von den Justizbehörden herangezogenen Gründe den Freiheitsentzug weiterhin legitimieren, und zweitens, falls sich diese Gründe als stichhaltig und ausreichend erweisen, ob die nationalen Behörden das Verfahren mit besonderem Nachdruck betrieben haben(57). Die Behörden müssen überzeugend darlegen, dass jeder Zeitraum der Inhaftierung, sei er auch noch so kurz, gerechtfertigt war(58). Wenn sie darüber entscheiden, ob eine Person freigelassen oder in Haft behalten wird, müssen sie prüfen, ob es keine anderen Mittel gibt, um ihr Erscheinen sicherzustellen(59). Der EGMR hat entschieden, dass eine solche Rechtfertigung bei Fluchtgefahr, Zeugenbeeinflussung, Manipulation von Beweisen, Kollusion oder wiederholter Störung der öffentlichen Ordnung besteht oder wenn die Person, der die Freiheit entzogen wird, geschützt werden muss(60). Er hat ferner entschieden, dass „die Vermutung stets für die Freilassung spricht … Bis zu ihrer Verurteilung gilt die beschuldigte Person als unschuldig, und [Art. 5 Abs. 3 der EMRK] soll im Wesentlichen bewirken, dass die vorläufige Freilassung geboten ist, sobald die weitere Inhaftierung nicht mehr angemessen ist. … Die Rechtmäßigkeit der weiteren Inhaftierung eines Angeklagten ist in jedem Einzelfall anhand der Besonderheiten des Falles zu beurteilen. Die Fortdauer der Inhaftierung ist im jeweiligen Fall nur gerechtfertigt, wenn es konkrete Indizien für ein tatsächliches Erfordernis des Allgemeininteresses gibt, das trotz der Unschuldsvermutung gegenüber dem Grundsatz der Wahrung der individuellen Freiheit überwiegt“(61). Dabei müssen die Justizbehörden „unter gebührender Berücksichtigung des Grundsatzes der Unschuldsvermutung alle Umstände prüfen, die für oder gegen das Vorliegen des Erfordernisses des Allgemeininteresses sprechen, das eine Abweichung von dem in Art. 5 [der EMRK] aufgestellten Grundsatz rechtfertigt. Der Gerichtshof muss im Wesentlichen anhand der Gründe der genannten Entscheidungen und auf der Grundlage gesicherter, vom Betroffenen in seinem Vorbringen angegebener Tatsachen klären, ob Art. 5 Abs. 3 [der EMRK] verletzt wurde“(62).
45. Im Urteil Magnitskiy u. a. gegen Russland(63) hat der EGMR zudem besonders darauf abgestellt, dass die nationalen Behörden die für die Freilassung sprechende Vermutung umgekehrt und ausgeführt hatten, mangels neuer Umstände sei die Untersuchungshaft fortzusetzen. Er hat darauf hingewiesen, dass nach Art. 5 der EMRK Beeinträchtigungen des Rechts auf Freiheit Ausnahmecharakter hätten und nur in abschließend aufgezählten und genau definierten Fällen zulässig seien(64). Aus der Rechtsprechung des EGMR geht allerdings hervor, dass die Verlagerung der Beweislast von der Anklagebehörde auf die Verteidigung von dieser zwar gerügt werden könne, aber als solche kein eigenständiger, ausreichender und automatischer Grund für die Bejahung einer Verletzung von Art. 5 Abs. 3 der EMRK sei; diese müsse stets nach einer konkreten Analyse aller Umstände jedes Einzelfalls festgestellt werden(65).
46. Sehr viel präziser sind die Äußerungen zur Beweisfrage in der Rechtsprechung des EGMR, wenn es darum geht, einen Sachverhalt im Licht von Art. 6 Abs. 2 der EMRK zu prüfen(66). Der EGMR hat im Übrigen entschieden, dass im Bereich des Strafrechts das Problem der Beweisführung im Licht dieser Bestimmung zu betrachten sei(67).
47. Aus der Rechtsprechung des EGMR zu Art. 5 Abs. 3 der EMRK geht vielmehr hervor, dass er über die Vorabdefinition der Beweislast im Bereich von Verfahren zur Überprüfung von Entscheidungen über die Untersuchungshaft hinaus darauf abstellt, ob alle Argumente für und gegen das Vorliegen eines Allgemeininteresses, das eine Beeinträchtigung des in Art. 5 der EMRK aufgestellten Grundsatzes – d. h. der Freiheit – rechtfertigen kann, von der Stelle, die mit der Kontrolle solcher Entscheidungen betraut ist, herangezogen wurden, was sich in der Entscheidung dieser Stelle widerspiegeln muss(68). Der EGMR hat auch den Rückgriff auf eine Vermutung in Bezug auf die Erfüllung der gesetzlichen Voraussetzungen für die Fortdauer der Untersuchungshaft nicht ausgeschlossen, allerdings unter der Voraussetzung, dass die Behörden überzeugend darlegten, dass konkrete Tatsachen vorlägen, die schwerer wögen als der in Art. 5 der EMRK aufgestellte Grundsatz und hinreichende Gründe darstellen könnten, um die Fortsetzung des Freiheitsentzugs zu legitimieren(69).
4. Ergebnis der Würdigung
48. Aus dem Vorstehenden folgt somit, dass mit der Richtlinie 2016/343 nicht das in Art. 6 der Charta und in Art. 5 der EMRK verankerte Recht auf Freiheit umgesetzt werden sollte, sondern nur bestimmte Aspekte der Unschuldsvermutung harmonisiert werden sollten(70). Art. 6 der Richtlinie 2016/343 betrifft mithin die Frage der Beweislast bei der Feststellung der Schuld der beschuldigten Person. Die davon gesonderte Frage der Verteilung der Beweislast im Rahmen der Anfechtung einer Entscheidung über die Fortdauer der Untersuchungshaft ist in Art. 6 der Richtlinie 2016/343 nicht geregelt.
V. Ergebnis
49. In Anbetracht aller vorstehenden Erwägungen schlage ich dem Gerichtshof vor, auf die Vorlagefrage des Spetsializiran nakazatelen sad (Spezialisiertes Strafgericht, Bulgarien) wie folgt zu antworten:
Art. 6 der Richtlinie (EU) 2016/343 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 9. März 2016 über die Stärkung bestimmter Aspekte der Unschuldsvermutung und des Rechts auf Anwesenheit in der Verhandlung in Strafverfahren regelt nicht die Frage der Beweislast in Bezug auf Entscheidungen über die Fortdauer der Untersuchungshaft.