Language of document : ECLI:EU:C:2018:439

SCHLUSSANTRÄGE DES GENERALANWALTS

YVES BOT

vom 14. Juni 2018(1)

Rechtssache C171/17

Europäische Kommission

gegen

Ungarn

„Vertragsverletzung eines Mitgliedstaats – Art. 49 AEUV – Niederlassungsfreiheit – Art. 56 AEUV – Freier Dienstleistungsverkehr – Richtlinie 2006/123/EG – Art. 15 und 16 – Beschränkungen – Rechtfertigung – Erforderlichkeit – Verhältnismäßigkeit – Nationales mobiles Zahlungssystem – Ausschließliches Recht – Monopol – Dienstleistung von allgemeinem wirtschaftlichem Interesse“






1.        Mit der vorliegenden Klage beantragt die Europäische Kommission, festzustellen, dass Ungarn durch die Einführung und Beibehaltung des im A nemzeti mobil fizetési rendszerről szóló 2011. évi CC. törvény (Gesetz Nr. CC von 2011 über das nationale mobile Zahlungssystem)(2) und im 356/2012. (XII. 13.) Korm. Rendelet a nemzeti mobil fizetési rendszerről szóló törvény végrehajtásáról (Regierungsverordnung Nr. 356/2012 vom 13. Dezember 2012 zur Durchführung des Gesetzes Nr. CC von 2011)(3) geregelten nationalen mobilen Zahlungssystems gegen seine Verpflichtungen aus Art. 15 Abs. 2 Buchst. d und Art. 16 Abs. 1 der Richtlinie 2006/123/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 12. Dezember 2006 über Dienstleistungen im Binnenmarkt(4), hilfsweise, aus den Art. 49 und 56 AEUV verstoßen hat.

2.        In den vorliegenden Schlussanträgen werde ich darlegen, weshalb dieser Vertragsverletzungsklage meines Erachtens stattzugeben ist.

I.      Rechtlicher Rahmen

A.      Unionsrecht

1.      Primärrecht

3.        Art. 49 Abs. 1 AEUV bestimmt:

„Die Beschränkungen der freien Niederlassung von Staatsangehörigen eines Mitgliedstaats im Hoheitsgebiet eines anderen Mitgliedstaats sind nach Maßgabe der folgenden Bestimmungen verboten. Das Gleiche gilt für Beschränkungen der Gründung von Agenturen, Zweigniederlassungen oder Tochtergesellschaften durch Angehörige eines Mitgliedstaats, die im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats ansässig sind.“

4.        Art. 56 Abs. 1 AEUV lautet:

„Die Beschränkungen des freien Dienstleistungsverkehrs innerhalb der [Europäischen] Union für Angehörige der Mitgliedstaaten, die in einem anderen Mitgliedstaat als demjenigen des Leistungsempfängers ansässig sind, sind nach Maßgabe der folgenden Bestimmungen verboten.“

2.      Dienstleistungsrichtlinie

5.        In den Erwägungsgründen 8, 17 und 70 der Dienstleistungsrichtlinie heißt es:

„(8)      Die Bestimmungen dieser Richtlinie über die Niederlassungsfreiheit und die Dienstleistungsfreiheit sollten nur insoweit Anwendung finden, als die betreffenden Tätigkeiten dem Wettbewerb offen stehen, so dass sie die Mitgliedstaaten weder verpflichten, Dienstleistungen von allgemeinem wirtschaftlichem Interesse [im Folgenden: DAWI] zu liberalisieren, noch öffentliche Einrichtungen, die solche Dienstleistungen anbieten, zu privatisieren, noch bestehende Monopole für andere Tätigkeiten oder bestimmte Vertriebsdienste abzuschaffen.

(17)      Diese Richtlinie gilt nur für Dienstleistungen, die für eine wirtschaftliche Gegenleistung erbracht werden. Dienstleistungen von allgemeinem Interesse fallen nicht unter die Begriffsbestimmung des Artikels 50 [EG, jetzt Art. 57 AEUV] und somit nicht in den Anwendungsbereich dieser Richtlinie. [DAWI] sind Dienstleistungen, die für eine wirtschaftliche Gegenleistung erbracht werden, und fallen deshalb in den Anwendungsbereich dieser Richtlinie. Gleichwohl sind bestimmte [DAWI], wie solche, die gegebenenfalls im Verkehrsbereich erbracht werden, vom Anwendungsbereich dieser Richtlinie ausgenommen und für einige andere [DAWI], wie solche, die gegebenenfalls im Bereich der Postdienste erbracht werden, gelten Ausnahmen von den Bestimmungen dieser Richtlinie über die Dienstleistungsfreiheit. Diese Richtlinie regelt nicht die Finanzierung von [DAWI] und gilt auch nicht für die von den Mitgliedstaaten insbesondere auf sozialem Gebiet im Einklang mit den gemeinschaftlichen Wettbewerbsvorschriften gewährten Beihilfen. Diese Richtlinie betrifft nicht die Folgemaßnahmen zum Weißbuch der Kommission zu Dienstleistungen von allgemeinem Interesse.

(70)      Für die Zwecke dieser Richtlinie und unbeschadet des Artikels 16 [EG, jetzt Art. 14 AEUV] können Dienstleistungen nur dann als [DAWI] angesehen werden, wenn sie der Erfüllung eines besonderen Auftrags von öffentlichem Interesse dienen, mit dem der Dienstleistungserbringer von dem betreffenden Mitgliedstaat betraut wurde. Diese Beauftragung sollte durch einen oder mehrere Akte erfolgen, deren Form von dem betreffenden Mitgliedstaat selbst bestimmt wird; darin sollte die genaue Art des besonderen Auftrags angegeben werden.“

6.        Art. 1 Abs. 2 und 3 dieser Richtlinie bestimmt:

„(2)      Diese Richtlinie betrifft weder die Liberalisierung von [DAWI], die öffentlichen oder privaten Einrichtungen vorbehalten sind, noch die Privatisierung öffentlicher Einrichtungen, die Dienstleistungen erbringen.

(3)      Diese Richtlinie betrifft weder die Abschaffung von Dienstleistungsmonopolen noch von den Mitgliedstaaten gewährten Beihilfen, die unter die gemeinschaftlichen Wettbewerbsvorschriften fallen.

Diese Richtlinie berührt nicht das Recht der Mitgliedstaaten, im Einklang mit dem Gemeinschaftsrecht festzulegen, welche Leistungen sie als von allgemeinem wirtschaftlichem Interesse erachten, wie diese Dienstleistungen unter Beachtung der Vorschriften über staatliche Beihilfen organisiert und finanziert werden sollten und welchen spezifischen Verpflichtungen sie unterliegen sollten.“

7.        Kapitel III („Niederlassungsfreiheit der Leistungserbringer“) Abschnitt 2 („Unzulässige oder zu prüfende Anforderungen“) der Dienstleistungsrichtlinie besteht aus den Art. 14 und 15. Art. 14 regelt unzulässige Anforderungen, und in Art. 15 („Zu prüfende Anforderungen“) heißt es:

„(1)      Die Mitgliedstaaten prüfen, ob ihre Rechtsordnungen die in Absatz 2 aufgeführten Anforderungen vorsehen, und stellen sicher, dass diese Anforderungen die Bedingungen des Absatzes 3 erfüllen. Die Mitgliedstaaten ändern ihre Rechts- und Verwaltungsvorschriften, um sie diesen Bedingungen anzupassen.

(2)      Die Mitgliedstaaten prüfen, ob ihre Rechtsordnung die Aufnahme oder Ausübung einer Dienstleistungstätigkeit von folgenden nicht diskriminierenden Anforderungen abhängig macht:

d)      Anforderungen, die die Aufnahme der betreffenden Dienstleistungstätigkeit aufgrund ihrer Besonderheiten bestimmten Dienstleistungserbringern vorbehalten, mit Ausnahme von Anforderungen, die Bereiche betreffen, die von der Richtlinie 2005/36/EG[(5)] erfasst werden, oder solchen, die in anderen Gemeinschaftsrechtsakten vorgesehen sind;

(3)      Die Mitgliedstaaten prüfen, ob die in Absatz 2 genannten Anforderungen folgende Bedingungen erfüllen:

a)      Nicht-Diskriminierung: die Anforderungen dürfen weder eine direkte noch eine indirekte Diskriminierung aufgrund der Staatsangehörigkeit oder – bei Gesellschaften – aufgrund des Orts des satzungsmäßigen Sitzes darstellen;

b)      Erforderlichkeit: die Anforderungen müssen durch einen zwingenden Grund des Allgemeininteresses gerechtfertigt sein;

c)      Verhältnismäßigkeit: die Anforderungen müssen zur Verwirklichung des mit ihnen verfolgten Ziels geeignet sein; sie dürfen nicht über das hinausgehen, was zur Erreichung dieses Ziels erforderlich ist; diese Anforderungen können nicht durch andere weniger einschneidende Maßnahmen ersetzt werden, die zum selben Ergebnis führen.

…“

8.        Art. 16 („Dienstleistungsfreiheit“) Abs. 1 in Kapitel IV („Freier Dienstleistungsverkehr“) der Dienstleistungsrichtlinie bestimmt:

„Die Mitgliedstaaten achten das Recht der Dienstleistungserbringer, Dienstleistungen in einem anderen Mitgliedstaat als demjenigen ihrer Niederlassung zu erbringen.

Der Mitgliedstaat, in dem die Dienstleistung erbracht wird, gewährleistet die freie Aufnahme und freie Ausübung von Dienstleistungstätigkeiten innerhalb seines Hoheitsgebiets.

Die Mitgliedstaaten dürfen die Aufnahme oder Ausübung einer Dienstleistungstätigkeit in ihrem Hoheitsgebiet nicht von Anforderungen abhängig machen, die gegen folgende Grundsätze verstoßen:

a)      Nicht-Diskriminierung: die Anforderung darf weder eine direkte noch eine indirekte Diskriminierung aufgrund der Staatsangehörigkeit oder – bei juristischen Personen – aufgrund des Mitgliedstaats, in dem sie niedergelassen sind, darstellen;

b)      Erforderlichkeit: die Anforderung muss aus Gründen der öffentlichen Ordnung, der öffentlichen Sicherheit, der öffentlichen Gesundheit oder des Schutzes der Umwelt gerechtfertigt sein;

c)      Verhältnismäßigkeit: die Anforderung muss zur Verwirklichung des mit ihr verfolgten Ziels geeignet sein und darf nicht über das hinausgehen, was zur Erreichung dieses Ziels erforderlich ist.“

B.      Ungarisches Recht

1.      Gesetz Nr. CC von 2011

9.        Mit dem Gesetz Nr. CC von 2011 wurde der rechtliche Rahmen für mobile Zahlungsdienste mit Wirkung vom 1. April 2013 geändert, verbindlich jedoch erst ab dem 2. Juli 2014.

10.      In Art. 1 Buchst. d dieses Gesetzes heißt es:

„Für die Zwecke dieses Gesetzes bezeichnet der Ausdruck

d)      ,mobiler Zahlungsdienst‘ jedes System, bei dem der Kunde die Dienstleistung über ein elektronisches Marketingsystem erwirbt, das ohne Anknüpfung an einen festen Punkt mittels Telekommunikation, einer digitalen Vorrichtung oder eines anderen IT‑Tools zugänglich ist.“

11.      Art. 2 dieses Gesetzes sieht vor:

„Als zentral vermarkteter und mobiler Dienst gilt

a)      der öffentliche Parkdienst (Parken) gemäß dem A közúti közlekedésről szóló 1988. évi I. törvény (Gesetz I von 1988 über den Straßenverkehr, im Folgenden: Straßenverkehrsgesetz);

b)      die Bereitstellung des Straßennetzes für Verkehrszwecke gegen Entrichtung einer Nutzungsgebühr oder Maut;

c)      der Personenverkehrsdienst, der als öffentliche Dienstleistung von einem Dienstleister erbracht wird, welcher überwiegend vom Staat oder von einer lokalen Verwaltung kontrolliert wird.

d)      jeder nicht unter eine der in den Buchst. a bis c genannten Kategorien fallender Dienst, der als öffentliche Dienstleistung von einer überwiegend vom Staat oder einer lokalen Verwaltung kontrollierten Einrichtung erbracht wird.“

12.      Art. 3 des Gesetzes bestimmt:

„(1)      Der Dienstleister ist verpflichtet, die Vermarktung des zentral vermarkteten mobilen Dienstes – mit Ausnahme des in Art. 2 Buchst. d genannten Dienstes – über ein mobiles Bezahlsystem zu gewährleisten.

(2)      Der Dienstleister kommt seiner Verpflichtung nach Abs. 1 nach, sofern er

a)      vollständig im Besitz des Staates ist oder

b)      vollständig im Besitz einer Einrichtung ist, die ihrerseits zu 100 % vom Staat kontrolliert wird, wobei das einheitliche nationale System (im Folgenden: nationales mobiles Zahlungssystem) verwendet wird, das von der von der Regierung benannten Einrichtung (im Folgenden: nationale Behörde für mobile Zahlungen) betrieben wird.

(3)      Vermarktet der Diensteanbieter den in Art. 2 Buchst. d genannten Dienst über ein mobiles Zahlungssystem, so darf er dies nur über das nationale mobile Zahlungssystem tun.

(4)      Der Betrieb des nationalen mobilen Zahlungssystems ist ein öffentlicher Dienst, für den der für Informatik zuständige Minister und die nationale Behörde für mobile Zahlungen eine öffentliche Dienstleistungsvereinbarung schließen.

(5)      Der Betrieb des nationalen mobilen Zahlungssystems ist eine wirtschaftliche Tätigkeit ausschließlich des Staates, die die nationale Behörde für mobile Zahlungen ohne Abschluss eines Konzessionsvertrags ausübt.

…“

2.      Regierungsverordnung Nr. 356/2012

13.      Art. 8 der am 1. April 2013 in Kraft getretenen Regierungsverordnung Nr. 356/2012 bestimmt:

„(1)      Das vom Kunden als Gebühr für den mobilen Zahlungsdienst zu entrichtende Entgelt entspricht, sofern nichts anderes bestimmt ist, der Gebühr, die der Kunde zu zahlen hätte, wenn er den Dienst nicht über das nationale mobile Zahlungssystem erworben hätte. Der Leistungserbringer kann den Erwerb der Dienstleistung über das mobile Zahlungssystem durch Rabatte fördern.

(2)      Neben der Gebühr für das mobile Zahlungssystem gemäß Abs. 1 zahlt der Kunde der nationalen Behörde für mobile Zahlungsdienste für die nachstehend angegebenen Dienste eine entsprechende Komfortgebühr:

a)      50 [ungarische] Forint [(HUF) (etwa 0,16 Euro)] pro Transaktion im Rahmen der Vermarktung der öffentlichen Parkdienstleistungen,

b)      50 [HUF] [(etwa 0,16 Euro)] pro Transaktion im Rahmen der Vermarktung der Straßennutzungsberechtigung im Sinne von § 33/A Straßenverkehrsgesetz,

(3)      Wird die zentralisierte mobil vertriebene Dienstleistung in Anspruch genommen, stellt die nationale Behörde für mobile Zahlungen dem Kunden die Komfortgebühr zusammen mit der Gebühr für die zentralisierte mobil vertriebene Dienstleistung in Rechnung.

…“

14.      Art. 24/A Abs. 1 der Regierungsverordnung Nr. 356/2012 sieht vor:

„Neben der Gebühr für das mobile Zahlungssystem nach Art. 8 Abs. 1 zahlt der Wiederverkäufer der nationalen Behörde für mobile Zahlungen für die nachstehend angegebenen Dienste eine entsprechende Komfortgebühr:

a)      40 [HUF] [(etwa 0,13 Euro)] pro Transaktion im Rahmen der Vermarktung der öffentlichen Parkdienstleistungen,

b)      0 [HUF] pro Transaktion im Rahmen der Vermarktung der Straßennutzungsberechtigung im Sinne von § 33/A des Straßenverkehrsgesetzes,

c)      0 [HUF] pro Transaktion im Rahmen der Vermarktung der Straßennutzungsberechtigung im Sinne des Mautgesetzes,

d)      0 [HUF] pro Transaktion für den Verkauf einer Fahrkarte für öffentliche Verkehrsmittel,

e)      75 [HUF] [(etwa 0,24 Euro)] pro Transaktion für Dienste im Sinne von Art. 2 Buchst. d des [Gesetzes Nr. CC von 2011].“

15.      Art. 31 der Regierungsverordnung Nr. 356/2012 betrifft die Wiederverkaufsgebühr. Abs. 1 dieser Vorschrift lautet:

„Die Wiederverkaufsgebühr errechnet sich aus dem Betrag ohne Mehrwertsteuer der vom Kunden gemäß Art. 8 Abs. 1 zu entrichtenden Gebühr und beträgt:

a)      10 % im Rahmen der Vermarktung des öffentlichen Parkdienstes (Parken),

b)      5 % im Rahmen der Vermarktung der Straßennutzungsberechtigung im Sinne von § 33/A des Straßenverkehrsgesetzes,

c)      5 % im Rahmen des Verkaufs einer Fahrkarte,

d)      5 % im Rahmen der Vermarktung der Straßennutzungsberechtigung im Sinne des Mautgesetzes“.

II.    Vorverfahren

16.      Die Europäische Kommission eröffnete am 14. Dezember 2012 aufgrund einer Beschwerde ein EU-Pilotverfahren(6) über die Schaffung des nationalen mobilen Zahlungssystems in Ungarn. In diesem Rahmen übersandte sie dem Mitgliedstaat ein Auskunftsersuchen.

17.      Die ungarischen Behörden beantworteten dieses Ersuchen am 22. Februar 2013.

18.      Da die Kommission diese Antwort für unzureichend hielt und der Auffassung war, dass Ungarn mit der Annahme von Art. 3 Abs. 2 bis 5 des Gesetzes Nr. CC von 2011 gegen seine Verpflichtungen aus den Art. 15 und 16 der Dienstleistungsrichtlinie sowie aus den Art. 49 und 56 AEUV verstoßen habe, richtete sie am 21. November 2013 ein Aufforderungsschreiben an diesen Mitgliedstaat.

19.      Ungarn antwortete mit Schreiben vom 22. Januar 2014. Zur Einstufung als „DAWI“ trug es im Wesentlichen vor, dass die Mitgliedstaaten bei der Definition von DAWI ein weites Ermessen hätten, das die Kommission nur im Fall eines offensichtlichen Fehlers in Frage stellen könne. Das nationale mobile Zahlungssystem sei eine DAWI, weil es gegenüber gewöhnlichen Wirtschaftstätigkeiten Besonderheiten aufweise, jedermann zugänglich sei und weil diese Dienstleistung durch die Marktkräfte allein nicht in zufriedenstellender Weise erbracht werden könne. Darüber hinaus würden durch die Standardisierung, die eine Vereinheitlichung, Individualisierung und Interoperabilität ermögliche, die Anforderungen an mobile Zahlungssysteme erfüllt, die u. a. von der Kommission in ihrem Grünbuch „Ein integrierter europäischer Markt für Karten‑, Internet‑ und mobile Zahlungen“(7) aufgestellt worden seien. Außerdem machte Ungarn geltend, dass es die von der Plattform angebotenen Dienstleistungen im Interesse der Allgemeinheit und nicht aus wirtschaftlichen Gründen vom Wettbewerb ausgenommen habe. Auf Parkplätzen sei das mobile Bezahlen die einzige Zahlungsmethode, bei der die Gebühr nach der tatsächlichen Parkdauer berechnet werden könne. Die privaten Dienstleistungserbringer, die diesen Service bisher angeboten hätten, hätten keine von Ungarn auszugleichenden Verluste erlitten, da sie die eingerichtete Plattform und Infrastruktur als Wiederverkäufer nutzen könnten. Überdies sei es nur über eine zentrale, nationale und auf einem Ausschließlichkeitsrecht beruhende Plattform möglich, den Kunden einen einheitlichen und garantierten Service zu bieten. Das nationale mobile Zahlungssystem funktioniere wie ein Monopol, das Dienstleistungen anbiete, die gemäß Art. 1 Abs. 3 der Dienstleistungsrichtlinie nicht in deren Anwendungsbereich fielen.

20.      Am 11. Juli 2014 gab die Kommission eine mit Gründen versehene Stellungnahme ab, in der sie an dem in ihrem Aufforderungsschreiben dargelegten Standpunkt festhielt. Ungarn beantwortete diese Stellungnahme mit Schreiben vom 19. September 2014 und bekräftigte im Wesentlichen die in seinem Schreiben vom 22. Januar 2014 gemachten Ausführungen.

21.      Da die Kommission diese Antworten für unzureichend hielt, hat sie mit Klageschrift vom 5. April 2017 die vorliegende Klage erhoben.

III. Anträge der Parteien

22.      Die Kommission beantragt,

–        festzustellen, dass das von Ungarn eingeführte und beibehaltene, im Gesetz Nr. CC von 2011 und in der Regierungsverordnung Nr. 356/2012 geregelte nationale System für mobile Zahlungen, das mit der Einräumung ausschließlicher Rechte an die Nemzeti Mobilfizetési Zrt. ein Monopol schafft und Großhändler am Zugang zum früher für den Wettbewerb geöffneten Markt mobiler Zahlungsdienste hindert, gegen Art. 15 Abs. 2 Buchst. d und Art. 16 Abs. 1 der Dienstleistungsrichtlinie verstößt;

–        hilfsweise, festzustellen, dass das von Ungarn eingeführte und beibehaltene, im Gesetz Nr. CC von 2011 und in der Regierungsverordnung Nr. 356/2012 geregelte nationale System für mobile Zahlungen, das mit der Einräumung ausschließlicher Rechte an Nemzeti Mobilfizetési ein Monopol schafft und Großhändler am Zugang zum früher für den Wettbewerb geöffneten Markt mobiler Zahlungsdienste hindert, gegen die Art. 49 und 56 AEUV verstößt;

–        Ungarn die Kosten aufzuerlegen.

23.      Ungarn beantragt,

–        die Klage als unbegründet abzuweisen;

–        der Kommission die Kosten aufzuerlegen.

IV.    Klage

A.      Wesentliches Vorbringen der Parteien

1.      Kommission

24.      Einleitend legt die Kommission dar, welche Änderungen das Gesetz Nr. CC von 2011 für den mobilen Zahlungsdienst herbeigeführt habe.

25.      Erstens betreibe seit dem 1. Juli 2014 Nemzeti Mobilfizetési, die sich vollständig im Besitz der Magyar Fejlesztési Bank und damit des ungarischen Staates befinde, das nationale mobile Zahlungssystem, das für öffentliche Parkplätze, die Bereitstellung des Straßennetzes für Verkehrszwecke, die Beförderung von Personen durch ein staatliches Unternehmen und andere von einer staatlichen Einrichtung angebotenen Dienste genutzt werden müsse. Die Kommission stellt in diesem Zusammenhang klar, dass sich das Verfahren auf diese vier Bereiche beziehe, obwohl eine mobile Zahlung nur bei den ersten beiden Bereichen möglich sei.

26.      Zweitens habe vor dem 1. Juli 2014 ein Parkplatzbenutzer die Dienstleistung direkt vom Anbieter des mobilen Zahlungsdienstes oder von dessen Wiederverkäufer erwerben können, der die Zahlung dann an den mit ihm vertraglich verbundenen Parkplatzbetreiber weitergeleitet habe. Seit dem Inkrafttreten des Gesetzes Nr. CC von 2011 und der Regierungsverordnung Nr. 356/2012 seien die Parkplatzbetreiber verpflichtet, einen Vertrag mit Nemzeti Mobilfizetési abzuschließen, die die mobilen Parkdienstleistungen gegen die in dieser Regierungsverordnung festgelegten Gebühren entweder direkt an Endverbraucher oder über Wiederverkäufer verkaufe. Aktive Anbieter des mobilen Zahlungsdienstes hätten ihre Systeme ändern müssen, um Wiederverkäufer von Nemzeti Mobilfizetési zu werden. Was die Bereitstellung des Straßennetzes für Verkehrszwecke angehe, könnten bestimmte Strecken in Ungarn nur dann genutzt werden, wenn der Nutzer zuvor eine Benutzungsgebühr entweder über das HU‑GO-System oder in Form einer e‑Vignette namens „e‑matrica“ entrichtet habe. Seit dem 1. Juli 2014 könne das Nutzungsrecht nur noch unmittelbar von Nemzeti Mobilfizetési oder deren Vertriebspartnern erworben werden.

27.      Demzufolge habe das Gesetz Nr. CC von 2011 ein nationales Monopol für mobile Zahlungsdienste geschaffen, denn Nemzeti Mobilfizetési habe das ausschließliche Recht, Verträge mit Parkplatzbetreibern abzuschließen und das Straßennutzungsrecht zu verkaufen.

28.      Die Kommission stützt ihre Klage in erster Linie darauf, dass die Dienstleistungsrichtlinie anwendbar sei und die ungarische Regelung gegen Art. 15 Abs. 2 Buchst. d und Art. 16 Abs. 1 der Richtlinie verstoße. Hilfsweise macht sie für den Fall, dass die fraglichen Dienstleistungen vom Anwendungsbereich dieser Richtlinie ausgenommen sein sollten, geltend, dass die ungarischen Vorschriften gegen die Art. 49 und 56 AEUV verstießen.

29.      Im Einzelnen führt die Kommission zum Vorbringen Ungarns, das nationale mobile Zahlungssystem sei eine vom Anwendungsbereich der Dienstleistungsrichtlinie ausgenommene DAWI, zunächst aus, dass Art. 1 Abs. 2 und 3 in Verbindung mit dem achten Erwägungsgrund dieser Richtlinie deren Anwendung auf bereits bestehende DAWI und Monopole beschränke, während Nemzeti Mobilfizetési mit dem Gesetz Nr. CC von 2011 erst nach Inkrafttreten der Dienstleistungsrichtlinie ein ausschließliches Recht gewährt worden sei.

30.      Sodann könnten die betreffenden Dienstleistungen nicht als „DAWI“ eingestuft werden. Die Kommission erinnert unter Hinweis auf ihre Mitteilung über die Anwendung der Beihilfevorschriften der Europäischen Union auf Ausgleichsleistungen für die Erbringung von [DAWI](8) daran, dass es nicht zweckmäßig wäre, bestimmte gemeinwirtschaftliche Verpflichtungen an eine Dienstleistung zu knüpfen, die von im Einklang mit den Marktregeln handelnden Unternehmen zu normalen Marktbedingungen zufriedenstellend erbracht werde oder erbracht werden könne. Die fraglichen mobilen Zahlungsdienste seien von Unternehmen zu normalen Marktbedingungen zufriedenstellend erbracht worden. Ferner seien diese Dienstleistungen für die Bürger nicht unbedingt erforderlich. Die Dienstleistungsrichtlinie wäre allerdings selbst dann anwendbar, wenn die Dienstleistungen als „DAWI“ eingestuft würden. Dafür sprächen die zahlreichen in dieser Richtlinie für DAWI enthaltenen Garantien und Ausnahmen.

31.      Schließlich führt die Kommission zur Anwendbarkeit des AEU-Vertrags aus, dass die betreffenden Dienstleistungen gegen Entgelt erbracht würden und dass die Tätigkeit, auf die sie sich bezögen, vorher in Ungarn von Handelsgesellschaften ausgeübt worden sei. Daher handele es sich bei dieser Tätigkeit um eine den Vorschriften dieses Vertrags unterliegende wirtschaftliche Tätigkeit.

32.      Was den restriktiven Charakter der ungarischen Regelung über das nationale mobile Zahlungssystem angehe, wirkten das Gesetz Nr. CC von 2011 und die Regierungsverordnung Nr. 356/2012 als Beschränkung, da der Betrieb des nationalen mobilen Zahlungssystems zu einem staatlichen Monopol geworden sei und Anbieter von mobilen Zahlungsdiensten und von Mobilfunk nur noch als Wiederverkäufer tätig sein könnten. Diese Vorschriften behinderten den Zugang zum Großkundenmarkt für mobile Zahlungen, und zwar unabhängig davon, wie die Dienstleistungen erbracht würden.

33.      Daher sei das nationale mobile Zahlungssystem zum einen, was die Niederlassungsfreiheit angehe, eine Anforderung im Sinne von Art. 15 Abs. 2 Buchst. d der Dienstleistungsrichtlinie und eine Beschränkung von Art. 49 AEUV, denn die Nemzeti Mobilfizetési gewährten ausschließlichen Rechte behinderten den Zutritt ungarischer und ausländischer Unternehmen zum bisher für den Wettbewerb offenen Großkundenmarkt für mobile Zahlungen.

34.      Zum anderen verstoße das nationale mobile Zahlungssystem in Bezug auf den freien Dienstleistungsverkehr gegen Art. 16 der Dienstleistungsrichtlinie und Art. 56 AEUV, da die Nemzeti Mobilfizetési gewährten ausschließlichen Rechte die grenzüberschreitende Erbringung von Dienstleistungen einschränkten.

35.      Was die von Ungarn geltend gemachten Rechtfertigungsgründe angeht, insbesondere den Schutz der Verbraucher und Dienstleistungsempfänger, die Lauterkeit des Handelsverkehrs und die Betrugsbekämpfung, bestreitet die Kommission nicht, dass sie als zwingende Gründe des Allgemeininteresses im Sinne der Rechtsprechung des Gerichtshofs und von Art. 4 Nr. 8 der Dienstleistungsrichtlinie angesehen werden könnten. Diese zwingenden Gründe des Allgemeininteresses seien jedoch nicht geeignet, die durch das Gesetz Nr. CC von 2011 und die Regierungsverordnung Nr. 356/2012 eingeführten Beschränkungen zu rechtfertigen, da sie weder erforderlich noch verhältnismäßig seien.

36.      So sei zum einen nicht erwiesen, dass der Markt für den öffentlichen Parkdienst und für die Bereitstellung des Straßennetzes für Verkehrszwecke vorher unzureichend funktioniert habe. Deshalb sei der Eingriff des ungarischen Staates nicht erforderlich gewesen. Auch wenn die Standardisierung gewisse Vorteile für die Ausweitung der mobilen Zahlungsdienste haben könne, sei die Schaffung eines staatlichen Monopols nicht der einzige und auch nicht der beste Weg, um dieses Ziel zu erreichen.

37.      Zum anderen hätten die Schwierigkeiten, die Ungarn in Bezug auf das Funktionieren des Marktes geltend gemacht habe, durch andere, weniger einschränkende Maßnahmen behoben werden können, so dass der Eingriff in den Markt unverhältnismäßig gewesen sei. Vor allem hätten die Standardisierung und die Interoperabilität unter Beibehaltung der bestehenden Marktstruktur durch Rechtsvorschriften erreicht werden können, und es sei nicht erforderlich gewesen, der neuen staatlichen Einrichtung Ausschließlichkeitsrechte einzuräumen. Es wäre auch möglich gewesen, ein zeitlich begrenztes Monopol zu schaffen oder ein Konzessionssystem für den Betrieb der Plattform für das nationale mobile Zahlungssystem einzuführen.

38.      Außerdem habe Ungarn mit seiner Auffassung, dass es sich bei der in Rede stehenden Dienstleistung um eine DAWI handele, einen offensichtlichen Beurteilungsfehler begangen. Die Definition der DAWI und die damit zusammenhängenden besonderen Rechte könnten nämlich nicht über das hinausgehen, was erforderlich sei, um dem Bedürfnis der Gesellschaft nach einer Behebung der sich aus dem normalen Funktionieren des Marktes ergebenden konkreten Mängel nachzukommen. Die Nemzeti Mobilfizetési übertragene Aufgabe könne nicht als ein „besonderer Auftrag“ bezeichnet werden, den die auf dem Markt tätigen Unternehmen nicht übernommen hätten, denn bereits vor der Einführung des nationalen mobilen Zahlungssystems habe es ein den größten Teil des Landes umfassendes System gegeben, das sich mit Sicherheit weiterentwickelt hätte.

39.      Schließlich zeigten sich die beschränkende Wirkung und die Unverhältnismäßigkeit der Einführung des neuen mobilen Zahlungssystems daran, dass für die ehemaligen Betreiber keine Entschädigung vorgesehen sei, und insbesondere daran, dass erhebliche Investitionen in die Plattform verloren und die bisherigen vertraglichen Beziehungen, insbesondere mit den Parkplatzbetreibern, weggefallen seien.

2.      Ungarn

40.      Ungarn weist vorab darauf hin, dass die Wettbewerbspolitik dazu diene, das Wohl der Verbraucher zu maximieren, und dass die Einführung und Beibehaltung des nationalen mobilen Zahlungssystems das Wohl der Verbraucher erhöht habe, da der öffentliche Parkdienst billiger und im gesamten Staatsgebiet zugänglich sei. Außerdem habe sich der Wettbewerb vom Großhandelsmarkt auf den Einzelhandelsmarkt verlagert und dort erheblich zugenommen. Die vor dem 1. Juli 2014 bestehende Marktstruktur habe keine Entwicklung des Wettbewerbs ermöglicht, weil die EME Zrt., der seinerzeit größte Marktteilnehmer, eine Monopolstellung innegehabt habe. Das Interesse dieses Marktteilnehmers auf dem vorgelagerten Markt habe darin bestanden, sich nur an die lokalen Gebietskörperschaften zu wenden, die für ihn rentabel seien. Hinsichtlich des nachgelagerten Marktes habe EME aufgrund ihrer vertikalen Integration kein Interesse daran gehabt, das Netz der Wiederverkäufer auszubauen, denn diese hätten ihr Konkurrenz machen können.

41.      Im vorliegenden Fall seien weder die Dienstleistungsrichtlinie noch die Art. 49 und 56 AEUV anwendbar.

42.      Erstens falle die Definition von Tätigkeiten, die als „DAWI“ eingestuft werden könnten, gemäß Art. 106 Abs. 2 AEUV, Art. 1 des den Verträgen beigefügten Protokolls (Nr. 26) über Dienste von allgemeinem Interesse(9) und Art. 1 Abs. 3 der Dienstleistungsrichtlinie in die Zuständigkeit der Mitgliedstaaten. Der Betrieb des nationalen mobilen Zahlungssystems sei eine DAWI. Für eine Einstufung als „DAWI“ müssten gemäß der Mitteilung der Kommission über den „Rahmen der Europäischen Union für staatliche Beihilfen in Form von Ausgleichsleistungen für die Erbringung öffentlicher Dienstleistungen“(10) mehrere Voraussetzungen erfüllt sein: Die Dienstleistung müsse gegenüber anderen wirtschaftlichen Tätigkeiten Besonderheiten aufweisen und für jedermann zugänglich sein und es müsse an einem zufriedenstellenden Angebot dieser Dienstleistung allein durch die Marktkräfte fehlen.

43.      Die Kommission habe nicht bestritten, dass die zweite Voraussetzung erfüllt sei. Was die erste Voraussetzung angehe, knüpften die mobilen Zahlungsdienste an die Nutzung öffentlicher Dienste an, für die der Staat sorgen müsse, damit die Nutzer sie unabhängig vom Ort der Nutzung auf einheitliche und komfortable Art und Weise, unmittelbar und zu erschwinglichen Kosten in Anspruch nehmen könnten. Das nationale mobile Zahlungssystem sei somit aus Gründen des Allgemeininteresses und nicht aus wirtschaftlichen Erwägungen geschaffen worden und sei keine „Komfort“-Dienstleistung, sondern die einzige Möglichkeit, den Interessen der Nutzer Rechnung zu tragen, da diese Zahlungsart die Möglichkeit biete, die Höhe der Gebühr entsprechend der tatsächlichen Parkdauer zu berechnen.

44.      Schließlich habe der Markt mit dem bisherigen System nicht zufriedenstellend funktionieren können, so dass die dritte Voraussetzung erfüllt sei. Da die auf dem Markt vertretenen Betreiber keine Plattform für ein mobiles Zahlungssystem einführen könnten und daran auch kein Interesse hätten, solle das nationale mobile Zahlungssystem die Unzulänglichkeiten, die der Markt bisher aufgewiesen habe, dadurch beheben, dass das gesamte Staatsgebiet abgedeckt und die technische Plattform vom ungarischen Staat möglichst kostengünstig und einheitlich verwaltet werde.

45.      Zweitens sei die Dienstleistungsrichtlinie im vorliegenden Fall nicht anwendbar, weil sie lediglich vorsehe, dass die Mitgliedstaaten nicht verpflichtet seien, die DAWI zu liberalisieren. Sie verpflichte die Mitgliedstaaten auch nicht, die „bestehenden“ DAWI zu liberalisieren, und ihr Art. 1 Abs. 3 sehe keine Abschaffung der Dienstleistungsmonopole vor.

46.      Ungarn hält somit an seinem Standpunkt fest, dass die fraglichen Dienstleistungen gemäß Art. 1 Abs. 2 der Dienstleistungsrichtlinie nicht in deren Anwendungsbereich fielen.

47.      Für den Fall, dass die Dienstleistungsrichtlinie doch anwendbar sein sollte, trägt Ungarn vor, dass deren Art. 15 Abs. 2 Buchst. d gemäß Art. 15 Abs. 4 der Richtlinie nicht anwendbar sei, da seine Anwendung die Erfüllung der diesem nationalen System zugewiesenen Aufgabe verhindern würde.

48.      Drittens macht Ungarn in Bezug auf den Verstoß gegen die Art. 49 und 56 AEUV geltend, dass diese Vorschriften auf die fraglichen Dienstleistungen nicht anwendbar seien. Denn zum einen stehe Art. 106 Abs. 2 AEUV einer Anwendung der Vorschriften des Vertrags – seien es die Wettbewerbsregeln oder die Vorschriften über den Binnenmarkt – auf DAWI entgegen, wenn diese Vorschriften die Erfüllung der den betreffenden Unternehmen übertragenen besonderen Aufgabe rechtlich oder tatsächlich verhinderten, und zum anderen sei das mobile Zahlungssystem, da es ein staatliches Monopol darstelle, nach Art. 37 AEUV und nicht nach den anderen Vorschriften des AEU-Vertrags zu beurteilen.

49.      Für den Fall, dass die Art. 49 und 56 AEUV doch auf die fraglichen Dienstleistungen anwendbar seien, trägt Ungarn vor, dass kein Verstoß vorliege.

50.      Zunächst seien die Vorschriften über das nationale mobile Zahlungssystem nicht diskriminierend, da das Gesetz Nr. CC von 2011 und die Regierungsverordnung Nr. 356/2012 für alle Leistungserbringer gälten, die sich in einer vergleichbaren Situation befänden.

51.      Sodann seien die zur Rechtfertigung des nationalen mobilen Zahlungssystems angeführten Gründe, insbesondere der Schutz der Verbraucher, die Lauterkeit des Handelsverkehrs und die Betrugsbekämpfung, vom Gerichtshof als zwingende Gründe des Allgemeininteresses angesehen worden.

52.      Schließlich sei die Einführung und Beibehaltung des nationalen mobilen Zahlungssystems erforderlich und verhältnismäßig. Vor diesen Reformen habe der Markt nicht zufriedenstellend funktioniert, weil nicht das gesamte Staatsgebiet abgedeckt worden sei, keine Interoperabilität bestanden habe und es keine Plattform gegeben habe. Im Rahmen des früheren Systems habe EME wegen ihrer vertikalen Integrationsstruktur kein Interesse daran gehabt, den Wiederverkaufsmarkt zu entwickeln oder die Zahl der mit den örtlichen Behörden geschlossenen Verträge zu erhöhen. Das nationale mobile Zahlungssystem hingegen gewährleiste eine vollständige Abdeckung und Interoperabilität, rege den Wettbewerb an und ermögliche eine zufriedenstellende Leistungserbringung, da es als offene Plattform betrieben werde, die den Anbietern von mobilen Zahlungssystemen über eine einheitliche und standardisierte Schnittstelle zugänglich sei. Der Nutzer könne nunmehr unter allen Anbietern von mobilen Zahlungssystemen für Parkdienste denjenigen frei wählen, der ihm das günstigste Angebot mache, und das mobile Zahlungssystem über seinen gewohnten Anbieter im gesamten Staatsgebiet nutzen. Darüber hinaus garantiere das nationale mobile Zahlungssystem sowohl den Anbietern von mobilen Zahlungsdiensten als auch den lokalen Gebietskörperschaften den vollen Leistungsumfang. Schließlich hätten durch dieses System die Zugangshindernisse für alle Betreiber gesenkt und deren Back-office- und Entwicklungskosten verringert werden können.

53.      Das Vorbringen der Kommission, wonach die fragmentierten Systeme, die vor der Einführung des nationalen mobilen Zahlungssystems bestanden hätten, durch die mit der Regelung eingeführten Verpflichtungen, durch Zusammenarbeit oder Wettbewerb auf dem Markt hätten integriert werden können, sei durch keinerlei konkretes Beispiel untermauert worden. Ferner hätten, da die lokalen Gebietskörperschaften für die betreffende Dienstleistung zuständig seien, öffentliche Ausschreibungen durchgeführt werden müssen. Deshalb sei das mobile Zahlungssystem für Parkdienste nur dort eingeführt worden, wo der Dienstleister mit erheblichen Einnahmen habe rechnen können. Es habe also keine flächendeckende Abdeckung für das gesamte Staatsgebiet gegeben, und die einzelnen Anbieter hätten den Auftrag von den einzelnen lokalen Gebietskörperschaften erhalten, so dass keinerlei Interoperabilität bestanden habe.

54.      Das Argument der Kommission, dass die Integration durch eine Zusammenarbeit zwischen den Betreibern und einen obligatorischen Zugang zum bestehenden EME-System hätte erreicht werden können, sei unrealistisch, da ein obligatorischer Zugang nur dann möglich gewesen wäre, wenn dieses System als Plattform betrieben worden wäre.

B.      Würdigung

1.      Zur Einstufung als „DAWI“

55.      Um die Prüfung der von der Kommission geltend gemachten Rügen zu erleichtern, ist meines Erachtens vorab zu prüfen, ob die in Rede stehenden mobilen Zahlungsdienste eine DAWI sind oder nicht.

56.      Denn die Einstufung einer Dienstleistung als „DAWI“ steht zwar der Anwendbarkeit der Dienstleistungsrichtlinie nicht entgegen, da der Gerichtshof festgestellt hat, dass selbst eine als „DAWI“ eingestufte Dienstleistung in den Anwendungsbereich dieser Richtlinie fällt(11). Diese Einstufung ist jedoch von grundlegender Bedeutung, da bei einer Qualifizierung der in Rede stehenden Dienstleistungen als „DAWI“ bestimmte in der Dienstleistungsrichtlinie vorgesehene spezifische Ausnahmen zu berücksichtigen wären. In Bezug auf die Niederlassungsfreiheit sieht Art. 15 Abs. 4 der Dienstleistungsrichtlinie vor, dass die Abs. 1, 2 und 3 dieser Vorschrift nur insoweit gelten, als die Anwendung dieser Absätze die Erfüllung der anvertrauten besonderen Aufgabe, für die die DAWI vorgesehen ist, nicht rechtlich oder tatsächlich verhindert. Bezüglich des freien Dienstleistungsverkehrs bestimmt Art. 17 Abs. 1 der Dienstleistungsrichtlinie, dass deren Art. 16 nicht für DAWI gilt, die in einem anderen Mitgliedstaat erbracht werden.

57.      Zu diesem Zweck sind hier, was die Kriterien betrifft, nach denen zu bestimmen ist, ob die in Rede stehenden mobilen Zahlungsdienste eine DAWI sind, meines Erachtens die in der Rechtsprechung zu staatlichen Beihilfen aufgestellten Kriterien heranzuziehen, wenngleich sich die Frage nach der Einstufung als „DAWI“ unter dem Gesichtspunkt der Verkehrsfreiheiten und insbesondere der Dienstleistungsrichtlinie stellt(12).

58.      Zwar gibt es noch keine umfangreiche Rechtsprechung zu dieser Richtlinie, doch unterscheiden sich die angewandten Kriterien nicht von denen, auf die der Gerichtshof im Bereich der staatlichen Beihilfen zurückgreift(13).

59.      Außerdem wäre es nicht gerechtfertigt, andere Kriterien heranzuziehen.

60.      Die Einstufung als „DAWI“ kann nämlich nicht unterschiedlich beurteilt werden, je nachdem, ob die Vorschriften über staatliche Beihilfen, die Vorschriften über den freien Verkehr oder die Dienstleistungsrichtlinie Anwendung finden, da der Begriff „DAWI“ letztlich einheitlich ist.

61.      Für diese Auffassung spricht auch, dass der Wortlaut von Art. 15 Abs. 4 der Dienstleistungsrichtlinie, wonach die Abs. 1, 2 und 3 dieser Vorschrift für Rechtsvorschriften im Bereich der DAWI nur insoweit gelten, als die Anwendung dieser Absätze die Erfüllung der anvertrauten besonderen Aufgabe nicht rechtlich oder tatsächlich verhindert, weitgehend dem von Art. 106 Abs. 2 AEUV entspricht.

62.      Um zu bestimmen, ob die fraglichen Dienstleistungen, wie Ungarn vorträgt, als „DAWI“ eingestuft werden können, ist daran zu erinnern, dass die Mitgliedstaaten bei der Definition dessen, was sie als DAWI ansehen, über ein weites Ermessen verfügen und dass die diesbezügliche Kontrolle auf die Prüfung der Frage beschränkt ist, ob den Mitgliedstaaten bei der Einstufung einer Dienstleistung als „DAWI“ nicht ein offenkundiger Fehler unterlaufen ist(14). Die Mitgliedstaaten haben allerdings dafür Sorge zu tragen, dass die gemeinwirtschaftliche Aufgabe bestimmten Mindestkriterien genügt, die für alle solche Aufgaben gelten, und zu beweisen, dass diese Kriterien im jeweiligen Fall auch erfüllt sind(15).

63.      Zu diesen Kriterien gehören das Vorliegen eines Hoheitsakts, der den betreffenden Wirtschaftsteilnehmern eine Aufgabe von allgemeinem wirtschaftlichem Interesse überträgt und in dem die genaue Art der zugewiesenen gemeinwirtschaftlichen Verpflichtung sowie der universale und obligatorische Charakter dieser Aufgabe klar und transparent definiert sind(16), insbesondere das Erfordernis, dass die DAWI im Interesse der gesamten Gesellschaft und zum Vorteil aller Kunden zu erbringen sind(17).

64.      Die Mitgliedstaaten müssen auch angeben, weshalb sie der Ansicht sind, dass die betreffende Dienstleistung aufgrund ihres spezifischen Charakters als „DAWI“ einzustufen und von anderen Tätigkeiten des Wirtschaftslebens zu unterscheiden ist(18).

65.      Schließlich ergibt sich aus der Rechtsprechung, dass die Mitgliedstaaten bei einem Versagen des Marktes einen Wirtschaftsteilnehmer mit einer gemeinwirtschaftlichen Aufgabe betrauen können. Insoweit bestehen jedoch Grenzen, da, wie die Kommission wiederholt festgestellt hat, „es nicht zweckmäßig wäre, bestimmte gemeinwirtschaftliche Verpflichtungen an eine Dienstleistung zu knüpfen, die von im Einklang mit den Marktregeln handelnden Unternehmen zu normalen Marktbedingungen, die sich z. B. im Hinblick auf den Preis, objektive Qualitätsmerkmale, Kontinuität und den Zugang zu der Dienstleistung mit dem vom Staat definierten öffentlichen Interesse decken, zufriedenstellend erbracht wird oder erbracht werden kann“(19).

66.      Im vorliegenden Fall trägt Ungarn vor, dass die betreffenden Dienstleistungen im Vergleich zu anderen Wirtschaftszweigen Besonderheiten aufwiesen. Insbesondere knüpften die hier in Rede stehenden mobilen Zahlungsdienste an die Nutzung öffentlicher Dienste an, zu denen der Staat unabhängig vom Ort der Nutzung einen einheitlichen, komfortablen und unmittelbaren Zugang zu erschwinglichen Kosten bieten müsse. Die Marktkräfte allein stellten diese Dienste nicht in zufriedenstellender Weise bereit, und das nationale mobile Zahlungssystem solle diesem Marktversagen abhelfen.

67.      Dieses Vorbringen kann mich nicht überzeugen.

68.      Was das Allgemeininteresse an den fraglichen Dienstleistungen angeht, bin ich der Ansicht, dass der Begriff „DAWI“ nicht festgeschrieben werden kann und im Wesentlichen von vielen Parametern abhängt, z. B. von den – in jedem Mitgliedstaat spezifischen – Bedürfnissen der Bürger oder von der Entwicklung in Technik und Handel. So hat der Gerichtshof eine Einstufung als „DAWI“ bei so unterschiedlichen Dienstleistungen wie bei der Versorgung mit Wasser(20), Gas(21) und Strom(22), bei Krankentransporten(23), bei der Sammlung und Verteilung der Post im gesamten Hoheitsgebiet(24) oder beim Betreiben unrentabler Fluglinien(25) anerkannt.

69.      Angesichts des weiten Ermessens der Mitgliedstaaten bei der Definition von DAWI steht deshalb die bloße Tatsache, dass es sich bei den fraglichen Dienstleistungen um Dienstleistungen im Zusammenhang mit den neuen Technologien handelt, meines Erachtens ihrer Einstufung als „DAWI“ nicht entgegen. Zwar lässt sich nicht leugnen, dass bestimmte Bereiche, wie z. B. Dienstleistungen, die bisher von einem Unternehmen mit Ausschließlichkeitsrecht erbracht wurden, leichter als „DAWI“ eingestuft werden können. Das bedeutet umgekehrt jedoch nicht, dass bestimmte Dienstleistungen aufgrund ihres Wesens nicht als „DAWI“ eingestuft werden könnten. Ferner spricht, auch wenn der Markt der mobilen Zahlungsdienste eng mit den neuen Technologien zusammenhängt, nichts für die Annahme, dass er nicht darauf abzielt, einen Bedarf der Gesellschaft zu befriedigen, und kein öffentliches Interesse darstellt, das der Staat wahrnehmen sollte, da diese Bedürfnisse nicht nur vielfältig sind, sondern sich vor allem auch ändern.

70.      Abgesehen vom Wesen der mobilen Zahlungsdienste bin ich jedoch der Ansicht, dass sie im vorliegenden Fall nicht als „DAWI“ eingestuft werden können.

71.      Das Argument Ungarns, die fraglichen mobilen Zahlungsdienste seien untrennbar mit dem öffentlichen Parkdienst verbunden, beweist meiner Ansicht nach, dass sich bei den mobilen Zahlungsdiensten nicht klar feststellen lässt, ob ihnen selbst Allgemeininteresse beizumessen ist oder ob sie nur mittelbar, über den öffentlichen Parkdienst, unter den Begriff „DAWI“ fallen. Mit anderen Worten, es reicht meines Erachtens nicht aus, eine Dienstleistungstätigkeit mit einem öffentlichen Dienst zu verknüpfen, um sie als „DAWI“ einstufen zu können.

72.      Diese Auffassung wird durch das Vorbringen, mit dem Ungarn dartun will, dass mobile Zahlungsdienste entgegen dem Vorbringen der Kommission keine Komfortdienste sind, nicht in Frage gestellt. Zwar stimme ich mit Ungarn darin überein, dass die Tatsache, dass die betreffende Leistung in den ungarischen Rechtsvorschriften selbst als „Komfortleistung“ bezeichnet wird, keine Rückschlüsse darauf zulässt, ob diese Leistung eine DAWI ist oder nicht, doch teile ich die Auffassung der Kommission, dass diese Leistung für die Bürger nicht unerlässlich, sondern nur eine Alternative zur Barzahlung ist. Die mobile Bezahlung von Parkgebühren ist entgegen dem Vorbringen Ungarns nicht zwangsläufig die einzige Möglichkeit, die Höhe der Gebühr entsprechend der tatsächlichen Parkdauer zu berechnen. Denn es trifft zwar zu, dass sich die Höhe der Gebühr nicht anhand der tatsächlichen Parkdauer berechnen lässt, wenn an einem Parkscheinautomaten im Voraus bezahlt wird. Anders ist es jedoch bei einem System, bei dem das Parkticket nachträglich bezahlt wird.

73.      Außerdem macht Ungarn geltend, dass es die fraglichen Dienstleistungen aus Gründen des Allgemeininteresses und nicht aus wirtschaftlichen Erwägungen vom Anwendungsbereich der für sie bisher geltenden Rechtsvorschriften ausgenommen habe. Insoweit bin ich der Ansicht, dass, was diese Dienstleistungen betrifft, das neue mobile Zahlungssystem und die Vorrechte von Nemzeti Mobilfizetési Zweifel an den Motiven der ungarischen Behörden aufkommen lassen.

74.      Zum einen ist nämlich hervorzuheben, dass die Begriffe „Ausschließlichkeitsrechte“ und „DAWI“ nicht deckungsgleich sind, und zwar insbesondere deshalb, weil die Übertragung eines besonderen oder ausschließlichen Rechts auf einen Wirtschaftsteilnehmer nur das Mittel ist, das es ihm erlaubt, eine gemeinwirtschaftliche Aufgabe zu erfüllen; die Übertragung einer solchen Aufgabe kann auch in einer Verpflichtung bestehen, die einer Vielzahl, ja sogar der Gesamtheit der auf demselben Markt tätigen Wirtschaftsteilnehmern auferlegt ist(26). Wird also einem Wirtschaftsteilnehmer ein Ausschließlichkeitsrecht eingeräumt, bedeutet das nicht zwangsläufig, dass er mit einer gemeinwirtschaftlichen Aufgabe betraut ist. Zum anderen führt das neue mobile Zahlungssystem zu einer Monopolisierung des Großhandelsmarkts – d. h. des Marktes für Dienstleistungen, die anderen Wiederverkäufern von mobilen Zahlungsdiensten über Verträge mit den Erbringern von Parkdienstleistungen oder anderen öffentlichen Dienstleistungen erbracht werden – zugunsten einer staatlich kontrollierten Stelle, der es erlaubt wird, die mobilen Parkdienstleistungen Endnutzern entweder unmittelbar oder über Wiederverkäufer gegen die in der Regierungsverordnung Nr. 356/2012 festgelegten Gebühren zu erbringen.

75.      Diese Zweifel werden dadurch verstärkt, dass der mobile Zahlungsdienst früher, wie Ungarn einräumt, unter normalen Marktbedingungen erbracht wurde.

76.      Ich möchte daran erinnern, dass das Eingreifen des Staates bei DAWI normalerweise auf einem Versagen des Marktes beruht und dass eine Dienstleistung daher nicht als „DAWI“ eingestuft werden kann, wenn sie von im Einklang mit den Marktregeln handelnden Unternehmen zu normalen Marktbedingungen zufriedenstellend erbracht wird oder erbracht werden kann.

77.      Im vorliegenden Fall steht fest, dass der Markt in dem Sinne nicht versagt hatte, als der mobile Zahlungsdienst angeboten wurde. Ungarn meint allerdings, der Markt habe nicht zufriedenstellend funktioniert und das nationale mobile Zahlungssystem sei eingerichtet worden, um eine landesweite Abdeckung und das reibungslose Funktionieren eines einheitlichen und interoperablen Systems zu erreichen.

78.      Die Kommission macht demgegenüber geltend, dass der Markt früher zufriedenstellend funktioniert habe, räumt allerdings ein, dass er insofern Unzulänglichkeiten aufgewiesen habe, als es keine einheitliche standardisierte Interoperabilitätsplattform gegeben habe.

79.      In einem solchen Zusammenhang reicht es meines Erachtens nicht aus, dass sich der Mitgliedstaat zum Nachweis dafür, dass ein tatsächlicher Bedarf an öffentlichen Dienstleistungen und die Notwendigkeit gemeinwirtschaftlicher Verpflichtungen besteht, darauf beruft, dass der Markt nicht zufriedenstellend funktioniert. Vielmehr muss er nachweisen, dass die Dienstleistung vom Markt nicht in zufriedenstellender Weise erbracht werden kann.

80.      Ohne dass geprüft zu werden braucht, ob die früher auf dem Markt tätigen Wirtschaftsteilnehmer, insbesondere der ehemalige Marktführer EME, in Anbetracht ihrer eigenen wirtschaftlichen Interessen die fraglichen Dienstleistungen unter den gleichen wie den von Ungarn festgelegten Bedingungen erbracht hätten, bin ich der Auffassung, dass dieser Mitgliedstaat nicht nachgewiesen hat, dass diese Dienstleistung vom Markt nicht zufriedenstellend erbracht werden kann.

81.      So bin ich zum einen der Ansicht, dass es, wie die Kommission hervorgehoben hat, nicht ausgeschlossen ist, dass die Entwicklung des Wettbewerbs zwischen Plattformen ähnlich wie auf anderen Märkten zur Entstehung einheitlicher, standardisierter Dienste führt. Zum anderen glaube ich, dass die ungarischen Behörden eine Standardisierung und Interoperabilität auch durch gesetzliche oder untergesetzliche Eingriffe hätten fördern und herbeiführen können, und zwar unter Wahrung der Wettbewerbsstruktur des Marktes und damit ohne einem staatlich kontrollierten Wirtschaftsteilnehmer Ausschließlichkeitsrechte einzuräumen. Daher bin ich, auch wenn ich anerkenne, dass die Gewährung des Ausschließlichkeitsrechts an Nemzeti Mobilfizetési die Interoperabilität und Standardisierung des Marktes ermöglicht hat, da zuvor jeder Anbieter eines mobilen Zahlungsdienstes sein eigenes, mit den anderen Systemen nicht verbundenes System verwendete, der Auffassung, dass Ungarn das gleiche Ergebnis hätte erzielen können, wenn es z. B. den Zugang der Anbieter zu den Systemen ihrer Wettbewerber gefördert hätte.

82.      Aus allen diesen Gründen schlage ich dem Gerichtshof vor, festzustellen, dass die fraglichen Dienste keine DAWI darstellen.

2.      Zu den Rügen, mit denen ein Verstoß gegen die Art. 15 und 16 der Dienstleistungsrichtlinie geltend gemacht wird

83.      Um über die Rügen der Kommission entscheiden zu können, ist zunächst zu prüfen, ob das nationale mobile Zahlungssystem eine „Anforderung“ im Sinne von Art. 15 Abs. 2 Buchst. d und Art. 16 Abs. 1 der Dienstleistungsrichtlinie darstellt.

84.      Zur Erinnerung: Mit dem Gesetz Nr. CC von 2011 und der Regierungsverordnung Nr. 356/2012 wurde ein nationales Monopol für mobile Zahlungsdienste geschaffen, denn Nemzeti Mobilfizetési hat für die Vermarktung mobiler Zahlungsdienste ein Ausschließlichkeitsrecht.

85.      Daraus folgt meines Erachtens zum einen, dass das nationale mobile Zahlungssystem eine „Anforderung“ im Sinne von Art. 15 Abs. 2 Buchst. d der Dienstleistungsrichtlinie darstellt, da die Nemzeti Mobilfizetési eingeräumten ausschließlichen Rechte bewirken, dass der Zugang zu der betreffenden Dienstleistungstätigkeit auf bestimmte Dienstleistungserbringer beschränkt wird.

86.      Zum anderen stellt das nationale mobile Zahlungssystem eine Anforderung im Sinne von Art. 16 Abs. 1 dieser Richtlinie dar, da die Ausschließlichkeitsrechte und der Betrieb des nationalen mobilen Zahlungssystems in Form eines staatlichen Monopols zwangsläufig den Zugang zum Großkundenmarkt für mobile Zahlungen und die Erbringung grenzüberschreitender Dienstleistungen beeinträchtigen.

87.      Derartige Anforderungen verstoßen jedoch nicht unbedingt gegen die Art. 15 und 16 der Dienstleistungsrichtlinie.

88.      Ist der Zugang zu der fraglichen Dienstleistungstätigkeit aufgrund ihrer Besonderheiten nach den nationalen Rechtsvorschriften bestimmten Dienstleistungserbringern vorbehalten, muss diese Beschränkung gemäß Art. 15 Abs. 2 Buchst. d und Abs. 3 der Dienstleistungsrichtlinie nichtdiskriminierend, erforderlich und verhältnismäßig sein. Es ist daher zu prüfen, ob die ungarische Regelung durch zwingende Gründe des Allgemeininteresses gerechtfertigt ist, die geeignet sind, die Verwirklichung des angestrebten, im Allgemeininteresse liegenden Ziels zu gewährleisten, und ob sie nicht über das zur Erreichung dieses Ziels erforderliche Maß hinausgeht.

89.      Auch nach Art. 16 Abs. 1 dieser Richtlinie ist es den Mitgliedstaaten untersagt, die Aufnahme oder die Ausübung einer Dienstleistungstätigkeit in ihrem Hoheitsgebiet von diskriminierenden Anforderungen abhängig zu machen, die nicht erforderlich, d. h. nicht aus Gründen der öffentlichen Ordnung, der öffentlichen Sicherheit, der öffentlichen Gesundheit oder des Schutzes der Umwelt gerechtfertigt, und nicht verhältnismäßig sind.

90.      Zur Rechtfertigung der sich aus dem Gesetz Nr. CC von 2011 und der Regierungsverordnung Nr. 356/2012 ergebenden Anforderungen beruft sich Ungarn auf den Verbraucherschutz, die Lauterkeit des Handelsverkehrs und die Bekämpfung von Betrug und Schattenwirtschaft.

91.      Diese Gründe können zwar als zwingende Gründe des Allgemeininteresses im Sinne von Art. 15 Abs. 3 der Dienstleistungsrichtlinie angesehen werden, gehören jedoch nicht zu den in Art. 16 Abs. 1 der Richtlinie aufgeführten Gründen.

92.      Insoweit bin ich, wie ich bereits an anderer Stelle ausgeführt habe(27), der Ansicht, dass mit Art. 16 der Dienstleistungsrichtlinie, der die Dienstleistungsfreiheit betrifft, für die in den Anwendungsbereich dieser Richtlinie fallenden Dienstleistungen eine umfassende Harmonisierung vorgenommen wurde. Daraus folgt, dass die Vereinbarkeit der ungarischen Regelung mit Art. 16 Abs. 1 der Dienstleistungsrichtlinie anhand dieser Richtlinie und nicht des Primärrechts zu prüfen ist und dass ein Rückgriff auf in Art. 16 dieser Richtlinie nicht genannte Gründe, wie etwa bestimmte, von der Rechtsprechung entwickelte zwingende Gründe des Allgemeininteresses, nicht möglich ist.

93.      Im vorliegenden Fall braucht jedoch nicht geprüft zu werden, ob Ungarn sich auf in Art. 16 Abs. 1 der Dienstleistungsrichtlinie nicht genannte Gründe berufen kann.

94.      Meiner Ansicht nach genügt nämlich die Feststellung, dass die betreffenden Anforderungen selbst im Hinblick auf die genannten Ziele die in Art. 15 Abs. 3 und Art. 16 Abs. 1 Buchst. c dieser Richtlinie festgelegte Voraussetzung der Verhältnismäßigkeit nicht erfüllen.

95.      Die von Ungarn geltend gemachten Ziele könnten nämlich durch Maßnahmen, die weniger einschneidend sind und die Niederlassungsfreiheit und den freien Dienstleistungsverkehr weniger einschränken als die sich aus diesen Anforderungen ergebenden, erreicht werden, soweit sie mit dem Unionsrecht vereinbar sind.

96.      Der dem Gerichtshof vorliegenden Akte und insbesondere den Ausführungen Ungarns ist zu entnehmen, dass Ungarn der Kommission im Vorverfahren mitgeteilt hat, dass es bereit sei, das System durch die Einführung eines Konzessionssystems zu ändern, obwohl es der Ansicht sei, dass der Betrieb des nationalen mobilen Zahlungssystems weder gegen die Dienstleistungsrichtlinie noch gegen den AEU-Vertrag verstoße. Es liegt jedoch auf der Hand, dass sich mit einem solchen Konzessionssystem für den Betrieb der Plattform des nationalen mobilen Zahlungssystems dessen reibungsloses Funktionieren unter Wahrung des Wettbewerbs und mit einer geringeren Beeinträchtigung des freien Dienstleistungsverkehrs und der Niederlassungsfreiheit erreichen ließe. Deshalb meine ich, dass es andere, weniger einschneidende Maßnahmen gab, um das gleiche Ergebnis zu erzielen, und dass die mit der ungarischen Regelung einhergehenden Anforderungen über das hinausgehen, was erforderlich ist, um die von diesem Mitgliedstaat geltend gemachten Ziele zu erreichen.

97.      Demzufolge ist meines Erachtens festzustellen, dass Ungarn durch die Einführung und Beibehaltung des im Gesetz Nr. CC von 2011 und in der Regierungsverordnung Nr. 356/2012 geregelten nationalen mobilen Zahlungssystems, mit dem ein Monopol geschaffen wurde, indem Nemzeti Mobilfizetési ausschließliche Rechte gewährt wurden und der Zugang zum Großhandelsmarkt für mobile Zahlungen behindert wurde, gegen seine Verpflichtungen aus den Art. 15 und 16 der Dienstleistungsrichtlinie verstoßen hat.

98.      Da ich vorschlage, die Rügen der Kommission, mit denen sie einen Verstoß gegen die Art. 15 und 16 der Dienstleistungsrichtlinie geltend macht, durchgreifen zu lassen, gibt es aus meiner Sicht keinen Grund, die von der Kommission hilfsweise vorgetragenen Rügen zu prüfen, mit denen ein Verstoß gegen die Art. 49 und 56 AEUV geltend gemacht wird.

V.      Kosten

99.      Gemäß Art. 138 Abs. 1 der Verfahrensordnung des Gerichtshofs ist die unterliegende Partei auf Antrag zur Tragung der Kosten zu verurteilen. Da Ungarn mit seinem Vorbringen unterlegen ist, sind ihm dem Antrag der Kommission entsprechend die Kosten des Verfahrens aufzuerlegen.

VI.    Ergebnis

100. Nach alledem schlage ich dem Gerichtshof vor, wie folgt zu entscheiden:

1.      Ungarn hat durch die Einführung und Beibehaltung des im A nemzeti mobil fizetési rendszerről szóló 2011. évi CC. törvény (Gesetz Nr. CC von 2011 über das nationale mobile Zahlungssystem) und in der 356/2012. (XII. 13.) Korm. Rendelet a nemzeti mobil fizetési rendszerről szóló törvény végrehajtásáról (Regierungsverordnung Nr. 356/2012 vom 13. Dezember 2012 zur Durchführung des Gesetzes Nr. CC von 2011) geregelten nationalen mobilen Zahlungssystems gegen seine Verpflichtungen aus Art. 15 Abs. 2 Buchst. d und Art. 16 Abs. 1 der Richtlinie 2006/123/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 12. Dezember 2006 über Dienstleistungen im Binnenmarkt verstoßen.

2.      Ungarn trägt die Kosten.


1      Originalsprache: Französisch.


2      Magyar Közlöny 2011/164, im Folgenden: Gesetz Nr. CC von 2011.


3      Im Folgenden: Regierungsverordnung Nr. 356/2012.


4      ABl. 2006, L 376, S. 36 (im Folgenden: Dienstleistungsrichtlinie).


5      Richtlinie 2005/36/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 7. September 2005 über die Anerkennung von Berufsqualifikationen (ABl. 2005, L 255, S. 22).


6      Dossier EU Pilot Nr. 4372/12/MARK.


7      KOM(2011) 941 endgültig.


8      ABl. 2012, C 8, S. 4.


9      ABl. 2016, C 202, S. 307.


10      ABl. 2012, C 8, S. 15.


11      Vgl. Urteil vom 23. Dezember 2015, Hiebler (C‑293/14, EU:C:2015:843, Rn. 43).


12      Insoweit weise ich darauf hin, dass sowohl die Kommission als auch Ungarn in diesem Zusammenhang auf die Rechtsprechung zu staatlichen Beihilfen sowie auf Mitteilungen der Kommission in diesem Bereich verwiesen haben.


13      Die vom Gerichtshof insbesondere in den Rn. 41 und 42 des Urteils Hiebler (siehe oben, Fn. 11) angewandten Kriterien sind klassisch und entsprechen der bisherigen Rechtsprechung zu staatlichen Beihilfen.


14      Vgl. Urteil vom 12. Februar 2008, BUPA u. a./Kommission (T‑289/03, EU:T:2008:29, Rn. 166 bis 169).


15      Vgl. Urteil BUPA u. a./Kommission (T‑289/03, EU:T:2008:29, Rn. 172) und Schlussanträge des Generalanwalts Szpunar in der Rechtssache Hiebler (C‑293/14, EU:C:2015:472, Nr. 61).


16      Vgl. Urteil Hiebler (oben in Fn. 11 angeführt, Rn. 41 und 42).


17      Vgl. in diesem Sinne Schlussanträge von Generalanwalt Szpunar in der Rechtssache Hiebler (oben in Fn. 15 angeführt, Nr. 62).


18      Vgl. Urteile vom 10. Dezember 1991, Merci convenzionali porto di Genova (C‑179/90, EU:C:1991:464, Rn. 27), und vom 18. Juni 1998, Corsica Ferries France (C‑266/96, EU:C:1998:306, Rn. 45).


19      Mitteilung der Kommission (oben in Nr. 30 dieser Schlussanträge angeführt, Rn. 48). Siehe auch Mitteilung der Kommission „Leitlinien der EU für die Anwendung der Vorschriften über staatliche Beihilfen im Zusammenhang mit dem schnellen Breitbandausbau“ (ABl. 2013, C 25, S. 1, Rn. 19).


20      Urteil vom 8. November 1983, IAZ International Belgium u. a./Kommission (96/82 bis 102/82, 104/82, 105/82, 108/82 und 110/82, EU:C:1983:310).


21      Urteil vom 23. Oktober 1997, Kommission/Frankreich (C‑159/94, EU:C:1997:501).


22      Urteil vom 27. April 1994, Almelo (C‑393/92, EU:C:1994:171).


23      Urteil vom 25. Oktober 2001, Ambulanz Glöckner (C‑475/99, EU:C:2001:577).


24      Urteil vom 19. Mai 1993, Corbeau (C‑320/91, EU:C:1993:198).


25      Urteil vom 11. April 1989, Saeed Flugreisen und Silver Line Reisebüro (66/86, EU:C:1989:140).


26      Vgl. Urteil BUPA u. a./Kommission (T‑289/03, EU:T:2008:29, Rn. 179).


27      Vgl. meine Schlussanträge in der Rechtssache Kommission/Ungarn (C‑179/14, EU:C:2015:619, Nrn. 69 bis 74).