Language of document : ECLI:EU:C:2020:413

BESCHLUSS DES GERICHTSHOFS (Achte Kammer)

28. Mai 2020(*)

„Vorlage zur Vorabentscheidung – Art. 99 der Verfahrensordnung des Gerichtshofs – Direktversicherung (Lebensversicherung) – Richtlinien 2002/83/EG und 2009/138/EG – Rücktrittsrecht – Rückforderung der an einen Versicherer als Steuer auf Versicherungsprämien gezahlten Beträge – Modalitäten“

In der Rechtssache C‑803/19

betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Obersten Gerichtshof (Österreich) mit Entscheidung vom 23. Oktober 2019, beim Gerichtshof eingegangen am 31. Oktober 2019, in dem Verfahren

TN

gegen

WWK Lebensversicherung auf Gegenseitigkeit,

VP,

Beteiligte:

UO,

erlässt

DER GERICHTSHOF (Achte Kammer)

unter Mitwirkung der Kammerpräsidentin L. S. Rossi (Berichterstatterin) sowie der Richter F. Biltgen und N. Wahl,

Generalanwältin: J. Kokott,

Kanzler: A. Calot Escobar,

aufgrund der nach Anhörung der Generalanwältin ergangenen Entscheidung, gemäß Art. 99 der Verfahrensordnung des Gerichtshofs durch mit Gründen versehenen Beschluss zu entscheiden,

folgenden

Beschluss

1        Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 15 Abs. 1 der Zweiten Richtlinie 90/619/EWG des Rates vom 8. November 1990 zur Koordinierung der Rechts- und Verwaltungsvorschriften für die Direktversicherung (Lebensversicherung) und zur Erleichterung der tatsächlichen Ausübung des freien Dienstleistungsverkehrs sowie zur Änderung der Richtlinie 79/267/EWG (ABl. 1990, L 330, 50), Art. 31 der Richtlinie 92/96/EWG des Rates vom 10. November 1992 zur Koordinierung der Rechts- und Verwaltungsvorschriften für die Direktversicherung (Lebensversicherung) sowie zur Änderung der Richtlinien 79/267/EWG und 90/619/EWG (Dritte Richtlinie Lebensversicherung) (ABl. 1992, L 360, S. 1), Art. 35 Abs. 1 und Art. 36 Abs. 1 der Richtlinie 2002/83/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 5. November 2002 über Lebensversicherungen (ABl. 2002, L 345, S. 1) sowie Art. 185 Abs. 1 und Art. 186 Abs. 1 der Richtlinie 2009/138/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 25. November 2009 betreffend die Aufnahme und Ausübung der Versicherungs- und der Rückversicherungstätigkeit (Solvabilität II) (ABl. 2009, L 335, S. 1).

2        Es ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen TN auf der einen Seite und WWK Lebensversicherung auf Gegenseitigkeit (im Folgenden: WWK) und VP auf der anderen Seite wegen der Rückforderung der von TN an WWK als Steuer auf Versicherungsprämien gezahlten Beträge aufgrund des Rücktritts von dem bei WWK geschlossenen Versicherungsvertrag.

 Rechtlicher Rahmen

 Unionsrecht

 Richtlinie 2002/83

3        Art. 35 („Rücktrittszeitraum“) Abs. 1 der Richtlinie 2002/83, aufgehoben durch die Richtlinie 2009/138, bestimmte:

„Jeder Mitgliedstaat schreibt vor, dass der Versicherungsnehmer eines individuellen Lebensversicherungsvertrags von dem Zeitpunkt an, zu dem er davon in Kenntnis gesetzt wird, dass der Vertrag geschlossen ist, über eine Frist verfügt, die zwischen 14 und 30 Tagen betragen kann, um von dem Vertrag zurückzutreten.

Die Mitteilung des Versicherungsnehmers, dass er vom Vertrag zurücktritt, befreit ihn für die Zukunft von allen aus diesem Vertrag resultierenden Verpflichtungen.

Die übrigen rechtlichen Wirkungen des Rücktritts und die dafür erforderlichen Voraussetzungen werden gemäß dem auf den Versicherungsvertrag nach Artikel 32 anwendbaren Recht geregelt, insbesondere was die Modalitäten betrifft, nach denen der Versicherungsnehmer davon in Kenntnis gesetzt wird, dass der Vertrag geschlossen ist.“

4        Art. 36 („Angaben für den Versicherungsnehmer“)  der  Richtlinie 2002/83 sah vor:

„(1)      Vor Abschluss des Versicherungsvertrags sind dem Versicherungsnehmer mindestens die in Anhang III Buchstabe A aufgeführten Angaben mitzuteilen.

(4)      Die Durchführungsvorschriften zu diesem Artikel und zu Anhang III werden von dem Mitgliedstaat der Verpflichtung erlassen.“

5        In Art. 50 („Besteuerung von Prämien“) dieser Richtlinie hieß es:

„(1)      Unbeschadet einer späteren Harmonisierung unterliegen alle Versicherungsverträge ausschließlich den indirekten Steuern und steuerähnlichen Abgaben, die in dem Mitgliedstaat der Verpflichtung auf Versicherungsprämien erhoben werden …

(3)      Jeder Mitgliedstaat wendet vorbehaltlich einer späteren Harmonisierung auf die Versicherungsunternehmen, die Verpflichtungen in seinem Hoheitsgebiet eingehen, seine einzelstaatlichen Bestimmungen an, mit denen die Erhebung der indirekten Steuern und steuerähnlichen Abgaben, die nach Absatz 1 fällig sind, sichergestellt werden soll.“

 Richtlinie 2009/138

6        Art. 157 („Besteuerung von Prämien“) der Richtlinie 2009/138 bestimmt:

„(1)      Unbeschadet einer späteren Harmonisierung unterliegen alle Versicherungsverträge ausschließlich den indirekten Steuern und steuerähnlichen Abgaben, die in dem Mitgliedstaat des Risikos bzw. dem Mitgliedstaat der Verpflichtung auf Versicherungsprämien erhoben werden.

(3)      Jeder Mitgliedstaat wendet auf Versicherungsunternehmen, die in seinem Hoheitsgebiet Risiken decken oder Verpflichtungen eingehen, seine einzelstaatlichen Bestimmungen an, mit denen die Erhebung der indirekten Steuern und steuerähnlichen Abgaben, die nach Absatz 1 fällig sind, sichergestellt werden soll.“

7        Art. 185 („Informationen für die Versicherungsnehmer“) dieser Richtlinie sieht vor:

„(1)      Dem Versicherungsnehmer sind vor Abschluss des Lebensversicherungsvertrags zumindest die in den Absätzen 2, 3 und 4 genannten Informationen mitzuteilen.

(8)      Die Durchführungsvorschriften zu den Absätzen 1 bis 7 werden von dem Mitgliedstaat der Verpflichtung erlassen.“

8        Art. 186 („Rücktrittszeitraum“) Abs. 1 dieser Richtlinie lautet:

„Die Mitgliedstaaten schreiben vor, dass Versicherungsnehmer eines individuellen Lebensversicherungsvertrags von dem Zeitpunkt an, zu dem sie davon in Kenntnis gesetzt werden, dass der Vertrag geschlossen ist, über eine Frist verfügen, die zwischen 14 und 30 Tagen betragen kann, um von dem Vertrag zurückzutreten.

Die Mitteilung des Versicherungsnehmers, dass er vom Vertrag zurücktritt, befreit ihn für die Zukunft von allen aus diesem Vertrag resultierenden Verpflichtungen.

Die übrigen rechtlichen Wirkungen des Rücktritts und die dafür erforderlichen Voraussetzungen werden gemäß dem auf den Versicherungsvertrag anwendbaren Recht geregelt, insbesondere was die Modalitäten betrifft, nach denen der Versicherungsnehmer davon in Kenntnis gesetzt wird, dass der Vertrag geschlossen ist.“

9        In Art. 311 („Inkrafttreten“) dieser Richtlinie heißt es:

„Diese Richtlinie tritt am zwanzigsten Tag nach ihrer Veröffentlichung im Amtsblatt der Europäischen Union in Kraft.

Die Artikel [149 bis 161 und 186 bis 189] gelten ab dem 1. November 2012.“

 Österreichisches Recht

10      In § 3 Abs. 1 des Versicherungssteuergesetzes vom 8. Juli 1953 (BGBl. 133/1953) in der auf das Ausgangsverfahren anwendbaren Fassung (im Folgenden: VStG) heißt es:

„Versicherungsentgelt im Sinne dieses Gesetzes ist jede Leistung, die für die Begründung und zur Durchführung des Versicherungsverhältnisses an den Versicherer zu bewirken ist …“

11      § 7 VStG bestimmt:

„(1)      Steuerschuldner ist der Versicherungsnehmer. Für die Steuer haftet der Versicherer. Er hat die Steuer für Rechnung des Versicherungsnehmers zu entrichten. …

(3)      Hat der Versicherer in einem Mitgliedstaat der Europäischen Union oder einem Vertragsstaat des Abkommens über den Europäischen Wirtschaftsraum weder seinen Wohnsitz (Sitz) noch einen Bevollmächtigten zur Entgegennahme des Versicherungsentgeltes, so hat der Versicherungsnehmer die Steuer zu entrichten.

(4)      Im Verhältnis zwischen dem Versicherer und dem Versicherungsnehmer gilt die Steuer als Teil des Versicherungsentgeltes, insbesondere soweit es sich um dessen Einziehung und Geltendmachung im Rechtsweg handelt. …“

 Ausgangsrechtsstreit und Vorlagefrage

12      TN schloss mit dem Versicherungsunternehmen WWK im Januar 2012 einen fondsgebundenen Rentenversicherungsvertrag. TN erklärte in der Folge den Rücktritt von diesem Vertrag, nachdem die Versicherungspolice am 26. März 2013 wirksam von WWK übersandt worden war.

13      Mit Urteil des Landesgerichts Korneuburg (Österreich) vom 22. Dezember 2017 wurde WWK wegen des Rücktritts von dem Vertrag und dessen Rückabwicklung dazu verpflichtet, die gezahlte Netto-Versicherungsprämie an TN zurückzuzahlen.

14      Mit diesem Urteil wies das Landesgericht Korneuburg dagegen die Klage von TN, soweit sie die Erstattung der Steuer auf diese Prämien durch WWK betraf, mit der Begründung ab, dass die Versicherungssteuer nur eine „Durchlaufpost“ sei, die vom Versicherer für Rechnung des Versicherungsnehmers, dem Steuerschuldner, entrichtet werde, und nicht zu den Leistungen im Zusammenhang mit dem Versicherungsvertrag gehöre. Folglich sei diese Steuer wegen der Ausübung des Rechts auf Rücktritt von diesem Vertrag und seiner Auflösung bereicherungsrechtlich nicht zu erstatten.

15      Mit Urteil vom 28. Juni 2018 wies das Oberlandesgericht Wien (Österreich) die von TN dagegen eingelegte Berufung ab.

16      TN erhob gegen dieses Urteil Revision an den Obersten Gerichtshof (Österreich), soweit es den Ausschluss der Versicherungssteuer von den Beträgen, die der Versicherer dem Versicherungsnehmer aufgrund des Rücktritts vom Versicherungsvertrag zu erstatten hatte, bestätigte.

17      Das vorlegende Gericht führt zunächst aus, dass nach österreichischem Recht ein Rücktritt von einem Vertrag die Auflösung des Vertrags ex tunc zur Folge habe, was die Verpflichtung zur Wiederherstellung des früheren Zustands mit sich bringe. Dem Leistenden stünden also Leistungskondiktionen zur Rückabwicklung gegen den Empfänger zu, sofern eine bewusste Zuwendung des Leistenden zur Erreichung eines bestimmten Zwecks stattgefunden habe.

18      Im vorliegenden Fall entspreche die vom Versicherer zur Begründung und Durchführung des Versicherungsverhältnisses bewirkte Leistung im Sinne von § 3 Abs. 1 VStG aber nur den Netto-Versicherungsprämien, während die Versicherungssteuer zum einen vom Versicherungsnehmer, dem Steuerschuldner, in Erfüllung einer Steuerpflicht gezahlt und zum anderen vom Versicherer im Rahmen der ihm vom Bund nach § 7 Abs. 1 VStG übertragenen abgabentechnischen Aufgabe berechnet, erhoben und abgeführt werde. Mangels einer solchen Übertragung müsste der Versicherungsnehmer für die Entrichtung der Steuer selbst sorgen, wie dies im Übrigen nach § 7 Abs. 3 VStG bei Verträgen mit Versicherern ohne (Wohn‑)Sitz oder Bevollmächtigten zur Entgegennahme des Versicherungsentgelts in einem der Mitgliedstaaten oder dem europäischen Wirtschaftsraum (EWR) der Fall sei.

19      Nach § 7 Abs. 4 VStG gelte die Versicherungssteuer nur für ihre Einziehung und Geltendmachung im Rechtsweg als Teil des Versicherungsentgelts, so dass über diese Fälle hinaus keine Gründe bestünden, warum die Steuer versicherungssteuerrechtlich zum Versicherungsentgelt gehören sollte.

20      Damit könnte der Versicherungsnehmer nach österreichischem Bereicherungsrecht, wenn er das ihm zustehende Recht auf Rücktritt vom Vertrag ausübe, nur die Erstattung der Netto-Versicherungsprämie erlangen. Hinsichtlich der Versicherungssteuer wäre er auf die Rückforderung im Abgabenverfahren von der Steuerverwaltung oder auf Schadensersatz gegenüber dem Versicherer zu verweisen.

21      Das vorlegende Gericht hat jedoch Zweifel, ob diese Rechtslage mit dem Äquivalenz- und dem Effektivitätsgrundsatz vereinbar ist.

22      Es weist darauf hin, dass der tatsächliche und rechtliche Hintergrund des Ausgangsverfahrens mit dem der Rechtssachen vergleichbar sei, in denen das Urteil vom 19. Dezember 2019, Rust-Hackner u. a. (C‑355/18 bis C‑357/18 und C‑479/18, EU:C:2019:1123), ergangen sei. Das Ausgangsverfahren werfe aber ergänzende Fragen auf.

23      Unter diesen Umständen hat der Oberste Gerichtshof beschlossen, das Verfahren auszusetzen, und dem Gerichtshof folgende Frage zur Vorabentscheidung vorzulegen:

Sind Art. 15 Abs. 1 der Richtlinie 90/619 in Verbindung mit Art. 31 der Richtlinie 92/96 (bzw. Art. 35 Abs. l in Verbindung mit Art. 36 Abs. 1 der Richtlinie 2002/83 bzw. Art. 185 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 186 Abs. 1 der Richtlinie 2009/138) dahin auszulegen, dass sie nationalen Regelungen entgegenstehen, wonach im Falle eines berechtigten (Spät‑)Rücktritts des Versicherungsnehmers vom Versicherungsvertrag die von ihm als Steuerschuldner geschuldete und vom Versicherer bloß als Haftender eingehobene und an den Bund (Republik Österreich) abgeführte Versicherungssteuer (in Höhe von 4 % der Netto-Versicherungsprämie) nicht jedenfalls gemeinsam mit der Netto-Versicherungsprämie vom Versicherer aus vertraglicher Rückabwicklung zurückerlangt werden kann, sondern der Versicherungsnehmer darauf verwiesen ist, die Versicherungssteuer vom Bund (Republik Österreich) nach abgabenrechtlichen Vorschriften zurückzuverlangen, oder falls dies erfolglos bleibt – allenfalls Schadensersatzansprüche gegen den Versicherer geltend zu machen?

 Zur Vorlagefrage

24      Nach Art. 99 seiner Verfahrensordnung kann der Gerichtshof, wenn die Antwort auf eine zur Vorabentscheidung vorgelegte Frage klar aus der Rechtsprechung abgeleitet werden kann, auf Vorschlag des Berichterstatters und nach Anhörung des Generalanwalts jederzeit die Entscheidung treffen, durch mit Gründen versehenen Beschluss zu entscheiden.

25      Diese Bestimmung ist in der vorliegenden Rechtssache anzuwenden.

26      Da die Richtlinien 90/619 und 92/96 zeitlich auf das Ausgangsverfahren nicht anwendbar sind, möchte das vorlegende Gericht mit seiner Frage wissen, ob Art. 35 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 36 Abs. 1 der Richtlinie 2002/83 und Art. 185 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 186 Abs. 1 der Richtlinie 2009/138 dahin auszulegen sind, dass sie einer nationalen Regelung entgegenstehen, wonach im Fall des Rücktritts des Versicherungsnehmers vom Versicherungsvertrag die Steuer auf Versicherungsprämien, die vom Versicherungsnehmer geschuldet und vom Versicherer erhoben und an den Staat abgeführt wird, von den Beträgen ausgenommen ist, die der Versicherer an den Versicherungsnehmer zurückzahlen muss, so dass dieser die Erstattung der Steuer von der Steuerverwaltung oder gegebenenfalls Schadensersatz vom Versicherer verlangen muss.

27      Zunächst ist darauf hinzuweisen, dass nach ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofs die Mitgliedstaaten die Modalitäten der Ausübung des Rücktrittsrechts im Einzelnen regeln können, womit naturgemäß Einschränkungen des Rücktrittsrechts einhergehen können. Beim Erlass der entsprechenden Rechtsvorschriften müssen die Mitgliedstaaten jedoch dafür sorgen, dass bei den Richtlinien 2002/83 und 2009/138 im Hinblick auf den mit ihnen verfolgten Zweck die praktische Wirksamkeit gewährleistet ist (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 19. Dezember 2013, Endress, C‑209/12, EU:C:2013:864, Rn. 23, und vom 19. Dezember 2019, Rust-Hackner u. a., C‑355/18 bis C‑357/18 und C‑479/18, EU:C:2019:1123, Rn. 62 und 66).

28      Der Gerichtshof hat insbesondere erläutert, dass die nach dem auf den Versicherungsvertrag anwendbaren Recht an die Ausübung des Rücktrittsrechts geknüpften rechtlichen Wirkungen – also nicht die unionsrechtlich geregelten Wirkungen wie die Pflicht zur Erstattung der aufgrund des Versicherungsvertrags gezahlten Beträge zuzüglich Vergütungszinsen oder die Ingangsetzung der Verjährungsfrist für den Zinsanspruch – so beschaffen sein müssen, dass sie den Versicherungsnehmer nicht davon abhalten, sein Rücktrittsrecht auszuüben. Das vorlegende Gericht hat zu prüfen, ob die Anwendung der nationalen Vorschriften über die Modalitäten zur Ausübung des Rücktrittsrechts geeignet ist, die Wirksamkeit des Rücktrittsrechts zu beeinträchtigen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 19. Dezember 2019, Rust-Hackner u. a., C‑355/18 bis C‑357/18 und C‑479/18, EU:C:2019:1123, Rn. 104 und 117).

29      Da aber die Richtlinien 2002/83 und 2009/138 die Modalitäten der Rückforderung der an einen Versicherer als Steuer auf Versicherungsprämien gezahlten Beträge im Fall der Ausübung des Rücktrittsrechts nicht regeln sollen, ist festzustellen, dass es den Mitgliedstaaten grundsätzlich weiterhin freisteht, die entsprechenden nationalen Vorschriften zu erlassen.

30      Dies wird durch Art. 50 Abs. 3 der Richtlinie 2002/83 und Art. 157 Abs. 3 der Richtlinie 2009/138 bestätigt, wonach jeder Mitgliedstaat auf Versicherungsunternehmen, die in seinem Hoheitsgebiet Risiken decken oder Verpflichtungen eingehen, seine einzelstaatlichen Bestimmungen anwendet, mit denen die Erhebung der indirekten Steuern und steuerähnlichen Abgaben auf Versicherungsprämien sichergestellt werden soll.

31      Beim Erlass dieser nationalen Rechtsvorschriften müssen die Mitgliedstaaten jedoch dafür sorgen, dass die praktische Wirksamkeit der Richtlinien 2002/83 und 2009/138 im Hinblick auf den mit ihnen verfolgten Zweck gewährleistet ist.

32      Zu diesem Zweck müssen die Modalitäten der Rückforderung der an einen Versicherer als Steuer auf Versicherungsprämien gezahlten Beträge im Fall der Ausübung des Rücktrittsrechts so geregelt werden, dass sie den Versicherungsnehmer nicht davon abhalten, sein Rücktrittsrecht auszuüben.

33      Wie das vorlegende Gericht ausführt, gilt die im Ausgangsverfahren in Rede stehende Versicherungssteuer im vorliegenden Fall ebenso wie die Versicherungsprämien zwar als Teil des Versicherungsentgelts, insbesondere für die Einziehung und Geltendmachung im Rechtsweg, ist jedoch im Gegensatz zu den Versicherungsprämien keine Gegenleistung für eine dem Versicherungsnehmer vom Versicherer erbrachte Leistung.

34      Diese Steuer stellt nämlich eine Abgabe dar, deren Schuldner der Versicherungsnehmer ist, während der Versicherer nur für die Einziehung der Steuer für den Staat und die Entrichtung im Namen des Versicherungsnehmers zu sorgen hat.

35      Unter diesen Umständen zeigt sich, dass es die Ausübung des Rechts des Versicherungsnehmers, vom Versicherungsvertrag zurückzutreten, als solches nicht unmittelbar berührt, wenn der Versicherungsnehmer die Beträge, die er an den Versicherer als im Ausgangsverfahren in Rede stehende Versicherungssteuer gezahlt hat, nicht unmittelbar vom Versicherer zurückfordern kann.

36      Es ist jedoch Sache des vorlegenden Gerichts, zu prüfen, ob die nach dem auf den Versicherungsvertrag anwendbaren Recht geltenden Verfahrensvorschriften über die Rückforderung dieser Beträge vom Staat geeignet sind, die Wirksamkeit des Rücktrittsrechts des Versicherungsnehmers in Frage zu stellen.

37      Nach alledem ist auf die Frage zu antworten, dass Art. 35 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 36 Abs. 1 der Richtlinie 2002/83 und Art. 185 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 186 Abs. 1 der Richtlinie 2009/138 dahin auszulegen sind, dass sie einer nationalen Regelung, wonach im Fall des Rücktritts des Versicherungsnehmers vom Versicherungsvertrag die Steuer auf Versicherungsprämien, die vom Versicherungsnehmer geschuldet und vom Versicherer erhoben und an den Staat abgeführt wird, von den Beträgen ausgenommen ist, die der Versicherer an den Versicherungsnehmer zurückzahlen muss, so dass dieser die Erstattung der Steuer von der Steuerverwaltung oder gegebenenfalls Schadensersatz vom Versicherer verlangen muss, dann nicht entgegenstehen, wenn die nach dem auf den Versicherungsvertrag anwendbaren Recht geltenden Verfahrensvorschriften über die Rückforderung dieser als Steuer auf Versicherungsprämien gezahlten Beträge nicht geeignet sind, die Wirksamkeit des Rücktrittsrechts, das dem Versicherungsnehmer nach dem Unionsrecht zusteht, in Frage zu stellen, was das vorlegende Gericht zu überprüfen hat.

 Kosten

38      Für die Parteien des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren ein Zwischenstreit in dem beim vorlegenden Gericht anhängigen Rechtsstreit; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts.

Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Achte Kammer) für Recht erkannt:

Art. 35 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 36 Abs. 1 der Richtlinie 2002/83/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 5. November 2002 über Lebensversicherungen und Art. 185 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 186 Abs. 1 der Richtlinie 2009/138/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 25. November 2009 betreffend die Aufnahme und Ausübung der Versicherungs- und der Rückversicherungstätigkeit (Solvabilität II) sind dahin auszulegen, dass sie einer nationalen Regelung, wonach im Fall des Rücktritts des Versicherungsnehmers vom Versicherungsvertrag die Steuer auf Versicherungsprämien, die vom Versicherungsnehmer geschuldet und vom Versicherer erhoben und an den Staat abgeführt wird, von den Beträgen ausgenommen ist, die der Versicherer an den Versicherungsnehmer zurückzahlen muss, so dass dieser die Erstattung der Steuer von der Steuerverwaltung oder gegebenenfalls Schadensersatz vom Versicherer verlangen muss, dann nicht entgegenstehen, wenn die nach dem auf den Versicherungsvertrag anwendbaren Recht geltenden Verfahrensvorschriften über die Rückforderung dieser als Steuer auf Versicherungsprämien gezahlten Beträge nicht geeignet sind, die Wirksamkeit des Rücktrittsrechts, das dem Versicherungsnehmer nach dem Unionsrecht zusteht, in Frage zu stellen, was das vorlegende Gericht zu überprüfen hat.

Unterschriften


*      Verfahrenssprache: Deutsch.