Language of document : ECLI:EU:C:2018:465

Rechtssache C181/16

Sadikou Gnandi

gegen

État belge

(Vorabentscheidungsersuchen des Conseil d’État [Belgien])

„Vorlage zur Vorabentscheidung – Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts – Rückführung illegal aufhältiger Drittstaatsangehöriger – Richtlinie 2008/115/EG – Art. 3 Nr. 2 – Begriff ‚illegaler Aufenthalt‘– Art. 6 – Erlass einer Rückkehrentscheidung vor der Entscheidung über den Rechtsbehelf gegen die Ablehnung des Antrags auf internationalen Schutz durch die zuständige Behörde – Charta der Grundrechte der Europäischen Union – Art. 18, Art. 19 Abs. 2 und Art. 47 – Grundsatz der Nichtzurückweisung – Recht auf einen wirksamen Rechtsbehelf – Gestattung des Verbleibs in einem Mitgliedstaat“

Leitsätze – Urteil des Gerichtshofs (Große Kammer) vom 19. Juni 2018

1.        Zur Vorabentscheidung vorgelegte Fragen – Anrufung des Gerichtshofs – Erforderlichkeit der Anhängigkeit eines Rechtsstreits beim vorlegenden Gericht

(Art. 267 AEUV)

2.        Zur Vorabentscheidung vorgelegte Fragen – Zuständigkeit des Gerichtshofs – Auslegung des nationalen Rechts – Ausschluss

(Art. 267 AEUV)

3.        Grenzkontrollen, Asyl und Einwanderung – Einwanderungspolitik – Rückführung illegal aufhältiger Drittstaatsangehöriger – Richtlinie 2008/115 – Persönlicher Geltungsbereich – Person deren Antrag auf internationalen Schutz erstinstanzlich abgelehnt wurde – Einbeziehung – Erlaubnis, bis zur Entscheidung über den Rechtsbehelf gegen die Ablehnung in dem Mitgliedstaat zu verbleiben – Keine Auswirkung

(Richtlinie 2008/115 des Europäischen Parlaments und des Rates, neunter Erwägungsgrund und Art. 6 Abs. 4 und 6, Richtlinie 2005/85 des Rates, Art. 7 Abs. 1 und Art. 39 Abs. 3 Buchst. a)

4.        Grenzkontrollen, Asyl und Einwanderung – Einwanderungspolitik – Rückführung illegal aufhältiger Drittstaatsangehöriger – Richtlinie 2008/115 – Rechtsbehelf gegen eine Rückkehrentscheidung oder eine Abschiebungsentscheidung – Anspruch auf effektiven gerichtlichen Rechtsschutz – Grundsatz der Nichtzurückweisung – Kraft Gesetzes aufschiebende Wirkung dieses bei einem Gericht eingelegten Rechtsbehelfs

(Charta der Grundrechte der Europäischen Union, Art. 18, 19 Abs. 2 und Art. 47; Richtlinie 2008/115 des Europäischen Parlaments und des Rates, Art. 6)

5.        Grenzkontrollen, Asyl und Einwanderung – Einwanderungspolitik – Rückführung illegal aufhältiger Drittstaatsangehöriger – Richtlinie 2008/115 – Erlass einer Rückkehrentscheidung gegenüber einem Drittstaatsangehörigen, die bereits bei Ablehnung seines Antrags auf internationalen Schutz, noch vor der Entscheidung über den Rechtsbehelf gegen diese Ablehnung ergeht – Zulässigkeit – Voraussetzungen – Aussetzung des Rückkehrverfahrens bis zur Entscheidung über den Rechtsbehelf – Antragsteller, der in den Genuss der Rechte aus der Richtlinie 2003/9 kommen kann und sich auf nach Erlass der Rückkehrentscheidung eingetretene Änderungen der Umstände berufen kann

(Charta der Grundrechte der Europäischen Union, Art. 18, 19 Abs. 2 und Art. 47; Richtlinie 2008/115 des Europäischen Parlaments und des Rates, Art. 5, Art. 6 Abs. 1, Art. 7 und Art. 15; Richtlinie 2005/85 des Rates, Richtlinie 2003/9 des Rates, Art. 2 Buchst. c und Art. 3 Abs. 1)

1.      Siehe Text der Entscheidung.

(vgl. Rn. 31)

2.      Siehe Text der Entscheidung.

(vgl. Rn. 34)

3.      Nach Art. 7 Abs. 1 der Richtlinie 2005/85 darf eine Person, die internationalen Schutz beantragt, ausschließlich zum Zwecke des Verfahrens bis zum Erlass der erstinstanzlichen Entscheidung, mit der der Antrag auf internationalen Schutz abgelehnt wird, im Mitgliedstaat verbleiben. Zwar ergibt sich, wie es in dieser Bestimmung ausdrücklich heißt, aus der Bleibeberechtigung kein Anspruch auf einen Aufenthaltstitel, doch geht u. a. aus dem neunten Erwägungsgrund der Richtlinie 2008/115 hervor, dass die Bleibeberechtigung verhindert, dass der Aufenthalt einer Person, die internationalen Schutz beantragt hat, in der Zeit zwischen der Stellung ihres Antrags auf internationalen Schutz und dem Erlass der erstinstanzlichen Entscheidung über ihn als „illegal“ im Sinne der Richtlinie 2008/115 eingestuft wird.

Wie aus dem Wortlaut von Art. 7 Abs. 1 der Richtlinie 2005/85 klar hervorgeht, endet die darin vorgesehene Bleibeberechtigung, wenn die zuständige Behörde die erstinstanzliche Entscheidung erlässt, mit der sie den Antrag auf internationalen Schutz ablehnt. Mangels einer Aufenthaltsberechtigung oder eines Aufenthaltstitels auf einer anderen Rechtsgrundlage – insbesondere nach Art. 6 Abs. 4 der Richtlinie 2008/115 –, die es dem erfolglosen Antragsteller ermöglicht, die Voraussetzungen für die Einreise in den betreffenden Mitgliedstaat oder den dortigen Aufenthalt zu erfüllen, hat die Ablehnung des Antrags zur Folge, dass der Antragsteller danach diese Voraussetzungen nicht mehr erfüllt, so dass sein Aufenthalt illegal wird. Daher kann gegen ihn grundsätzlich ab der Ablehnung seines Antrags oder zusammen mit ihr in einer einzigen behördlichen Entscheidung eine Rückkehrentscheidung erlassen werden.

Nach Art. 39 Abs. 3 Buchst. a der Richtlinie 2005/85 können die Mitgliedstaaten zwar Vorschriften festlegen, wonach sich Personen, die internationalen Schutz beantragen, bis zur Entscheidung über ihren Rechtsbehelf gegen die Ablehnung des Antrags auf internationalen Schutz in ihrem Hoheitsgebiet aufhalten dürfen. Ferner trifft es zu, dass der Gerichtshof in den Rn. 47 und 49 des Urteils vom 30. Mai 2013, Arslan (C‑534/11, EU:C:2013:343), entschieden hat, dass eine zur wirksamen Ausübung eines Rechtsbehelfs gegen die Ablehnung des Antrags auf internationalen Schutz erteilte Bleibeberechtigung verhindert, dass auf den Drittstaatsangehörigen, der den Antrag gestellt hat, bis zur Entscheidung über den Rechtsbehelf gegen seine Ablehnung die Richtlinie 2008/115 Anwendung findet. Aus diesem Urteil lässt sich jedoch nicht ableiten, dass eine solche Bleibeberechtigung die Annahme ausschlösse, dass ab der Ablehnung des Antrags auf internationalen Schutz und vorbehaltlich des Vorliegens einer Aufenthaltsberechtigung oder eines Aufenthaltstitels der in Rn. 41 des vorliegenden Urteils genannten Art der Aufenthalt des Betroffenen illegal im Sinne der Richtlinie 2008/115 wird.

(vgl. Rn. 40-44, 59)

4.      Wenn ein Staat entscheidet, eine Person, die internationalen Schutz beantragt, in ein Land abzuschieben, bei dem ernsthafte Gründe befürchten lassen, dass tatsächlich die Gefahr einer Art. 18 der Charta in Verbindung mit Art. 33 der Genfer Konvention oder Art. 19 Abs. 2 der Charta widersprechenden Behandlung dieser Person besteht, erfordert nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs das in Art. 47 der Charta vorgesehene Recht auf einen wirksamen Rechtsbehelf, dass der Antragsteller über einen Rechtsbehelf mit kraft Gesetzes aufschiebender Wirkung gegen den Vollzug der Maßnahme verfügt, die seine Abschiebung ermöglicht (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 18. Dezember 2014, Abdida, C‑562/13, EU:C:2014:2453, Rn. 52, und vom 17. Dezember 2015, Tall, C‑239/14, EU:C:2015:824, Rn. 54).

Der Gerichtshof hat zwar bereits entschieden, dass es mit dem Grundsatz der Nichtzurückweisung und mit Art. 47 der Charta grundsätzlich zu vereinbaren ist, wenn ein Rechtsbehelf, der nur gegen die abschlägige Entscheidung über einen Antrag auf internationalen Schutz eingelegt wird, keine aufschiebende Wirkung hat, da der Vollzug einer solchen Entscheidung für sich genommen nicht zur Abschiebung des betreffenden Drittstaatsangehörigen führen kann (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 17. Dezember 2015, Tall, C‑239/14, EU:C:2015:824, Rn. 56). Dagegen muss der Rechtsbehelf gegen eine Rückkehrentscheidung im Sinne von Art. 6 der Richtlinie 2008/115 kraft Gesetzes aufschiebende Wirkung haben, damit gegenüber dem betreffenden Drittstaatsangehörigen die Einhaltung der sich aus dem Grundsatz der Nichtzurückweisung und aus Art. 47 der Charta ergebenden Anforderungen gewährleistet ist, da der Drittstaatsangehörige durch diese Entscheidung tatsächlich der Gefahr einer Art. 18 der Charta in Verbindung mit Art. 33 der Genfer Konvention oder Art. 19 Abs. 2 der Charta widersprechenden Behandlung ausgesetzt sein könnte (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 18. Dezember 2014, Abdida, C‑562/13, EU:C:2014:2453, Rn. 52 und 53, sowie vom 17. Dezember 2015, Tall, C‑239/14, EU:C:2015:824, Rn. 57 und 58). Dies gilt erst recht bei einer etwaigen Abschiebungsentscheidung im Sinne von Art. 8 Abs. 3 der Richtlinie.

(vgl. Rn. 54-56)

5.      Die Richtlinie 2008/115/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 16. Dezember 2008 über gemeinsame Normen und Verfahren in den Mitgliedstaaten zur Rückführung illegal aufhältiger Drittstaatsangehöriger ist in Verbindung mit der Richtlinie 2005/85/EG des Rates vom 1. Dezember 2005 über Mindestnormen für Verfahren in den Mitgliedstaaten zur Zuerkennung und Aberkennung der Flüchtlingseigenschaft und im Licht des Grundsatzes der Nichtzurückweisung und des Rechts auf einen wirksamen Rechtsbehelf, die in den Art. 18, Art. 19 Abs. 2 und Art. 47 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union verankert sind, dahin auszulegen, dass sie dem Erlass einer Rückkehrentscheidung gemäß Art. 6 Abs. 1 der Richtlinie 2008/115, die sich gegen einen Drittstaatsangehörigen richtet, der internationalen Schutz beantragt hat, und die gleich nach der Ablehnung dieses Antrags durch die zuständige Behörde oder zusammen mit ihr in einer einzigen behördlichen Entscheidung und somit vor der Entscheidung über den Rechtsbehelf gegen die Ablehnung ergeht, nicht entgegensteht, sofern der betreffende Mitgliedstaat u. a. gewährleistet, dass alle Rechtswirkungen der Rückkehrentscheidung bis zur Entscheidung über den Rechtsbehelf gegen die Ablehnung ausgesetzt werden, dass der Antragsteller während dieses Zeitraums in den Genuss der Rechte aus der Richtlinie 2003/9/EG des Rates vom 27. Januar 2003 zur Festlegung von Mindestnormen für die Aufnahme von Asylbewerbern in den Mitgliedstaaten kommen kann und dass er sich auf jede nach Erlass der Rückkehrentscheidung eingetretene Änderung der Umstände berufen kann, die im Hinblick auf die Richtlinie 2008/115 und insbesondere ihren Art. 5 erheblichen Einfluss auf die Beurteilung seiner Situation haben kann; dies zu prüfen ist Sache des nationalen Gerichts.

In diesem Zusammenhang haben die Mitgliedstaaten zu gewährleisten, dass der Rechtsbehelf gegen die Ablehnung des Antrags auf internationalen Schutz seine volle Wirksamkeit entfaltet, wobei der Grundsatz der Waffengleichheit zu wahren ist, so dass während der Frist für die Einlegung des Rechtsbehelfs und, falls er eingelegt wird, bis zur Entscheidung über ihn u. a. alle Wirkungen der Rückkehrentscheidung auszusetzen sind. Insoweit genügt es nicht, dass der betreffende Mitgliedstaat davon absieht, die Rückkehrentscheidung zwangsweise umzusetzen. Vielmehr müssen alle Rechtswirkungen dieser Entscheidung ausgesetzt werden, und daher darf insbesondere die in Art. 7 der Richtlinie 2008/115 vorgesehene Frist für die freiwillige Ausreise nicht zu laufen beginnen, solange der Betroffene ein Bleiberecht hat. Zudem kann er während dieses Zeitraums nicht gemäß Art. 15 der Richtlinie für die Zwecke der Abschiebung inhaftiert werden.

Im Übrigen muss der Betroffene bis zur Entscheidung über den Rechtsbehelf gegen die erstinstanzliche Ablehnung seines Antrags auf internationalen Schutz durch die zuständige Behörde grundsätzlich in den Genuss der Rechte aus der Richtlinie 2003/9 kommen können. Ihr Art. 3 Abs. 1 macht ihre Anwendung nämlich nur davon abhängig, dass der Antragsteller im Hoheitsgebiet verbleiben darf, und schließt folglich ihre Anwendung nicht aus, wenn sich der Betroffene, der ein solches Bleiberecht hat, im Sinne der Richtlinie 2008/115 illegal aufhält. Insoweit geht aus Art. 2 Buchst. c der Richtlinie 2003/9 hervor, dass der Betroffene seine Eigenschaft als Person, die internationalen Schutz beantragt hat, im Sinne dieser Richtlinie behält, solange noch nicht endgültig über seinen Antrag entschieden wurde (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 27. September 2012, Cimade und GISTI, C‑179/11, EU:C:2012:594, Rn. 53).

(vgl. Rn. 61-63, 67 und Tenor)