URTEIL DES GERICHTSHOFES
17. Februar 1998
(1)
„Gleichbehandlung von Männern und Frauen Verweigerung einer
Fahrtvergünstigung für Lebensgefährten des gleichen Geschlechts“
In der Rechtssache C-249/96
betreffend ein dem Gerichtshof nach Artikel 177 EG-Vertrag vom Industrial
Tribunal Southampton (Vereinigtes Königreich) in dem bei diesem anhängigen
Rechtsstreit
Lisa Jacqueline Grant
gegen
South-West Trains Ltd
vorgelegtes Ersuchen um Vorabentscheidung über die Auslegung von Artikel 119
EG-Vertrag, der Richtlinie 75/117/EWG des Rates vom 10. Februar 1975 zur
Angleichung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Anwendung des
Grundsatzes des gleichen Entgelts für Männer und Frauen (ABl. L 45, S. 19) und
der Richtlinie 76/207/EWG des Rates vom 9. Februar 1976 zur Verwirklichung des
Grundsatzes der Gleichbehandlung von Männern und Frauen hinsichtlich des
Zugangs zur Beschäftigung, zur Berufsbildung und zum beruflichen Aufstieg sowie
in bezug auf die Arbeitsbedingungen (ABl. L 39, S. 40)
erläßt
DER GERICHTSHOF
unter Mitwirkung des Präsidenten G. C. Rodríguez Iglesias, der
Kammerpräsidenten C. Gulmann, H. Ragnemalm und M. Wathelet sowie der
Richter G. F. Mancini, J. C. Moitinho de Almeida, P. J. G. Kapteyn, J. L. Murray,
D. A. O. Edward, J.-P. Puissochet (Berichterstatter), G. Hirsch, P. Jann und
L. Sevón,
Generalanwalt: M. B. Elmer
Kanzler: L. Hewlett, Verwaltungsrätin
unter Berücksichtigung der schriftlichen Erklärungen
von Frau Grant, vertreten durch Cherie Booth, QC, sowie die Barrister
Peter Duffy und Marie Demetriou,
der South-West Trains Ltd, vertreten durch Nicholas Underhill, QC, und
Barrister Murray Shanks,
der Regierung des Vereinigten Königreichs, vertreten durch John E. Collins
vom Treasury Solicitor's Department als Bevollmächtigten im Beistand der
Barrister Stephen Richards und David Anderson,
der französichen Regierung, vertreten durch Catherine de Salins,
Abteilungsleiterin in der Direktion für Rechtsfragen des Ministeriums für
Auswärtige Angelegenheiten, und Anne de Bourgoing, Chargé de mission
in derselben Direktion, als Bevollmächtigte,
der Kommission der Europäischen Gemeinschaften, vertreten durch
Christopher Docksey, Marie Wolfcarius und Carmel O'Reilly, Juristischer
Dienst, als Bevollmächtigte,
aufgrund des Sitzungsberichts,
nach Anhörung der mündlichen Ausführungen von Frau Grant, vertreten durch
Cherie Booth, Peter Duffy und Marie Demetriou, der South-West Trains Ltd,
vertreten durch Nicholas Underhill und Murray Shanks, der Regierung des
Vereinigten Königreichs, vertreten durch John E. Collins, David Anderson und
Patrick Elias, QC, und der Kommission, vertreten durch Carmel O'Reilly und
Marie Wolfcarius, in der Sitzung vom 9. Juli 1997,
nach Anhörung der Schlußanträge des Generalanwalts in der Sitzung vom 30.
September 1997,
folgendes
Urteil
- 1.
- Das Industrial Tribunal Southampton hat mit Entscheidung vom 19. Juli 1996, beim
Gerichtshof eingegangen am 22. Juli 1996, gemäß Artikel 177 EG-Vertrag sechs
Fragen nach der Auslegung von Artikel 119 des Vertrages, der Richtlinie
75/117/EWG des Rates vom 10. Februar 1975 zur Angleichung der
Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Anwendung des Grundsatzes des
gleichen Entgelts für Männer und Frauen (ABl. L 45, S. 19) und der Richtlinie
76/207/EWG des Rates vom 9. Februar 1976 zur Verwirklichung des Grundsatzes
der Gleichbehandlung von Männern und Frauen hinsichtlich des Zugangs zur
Beschäftigung, zur Berufsbildung und zum beruflichen Aufstieg sowie in bezug auf
die Arbeitsbedingungen (ABl. L 39, S. 40) zur Vorabentscheidung vorgelegt.
- 2.
- Diese Fragen stellen sich in einem Rechtsstreit zwischen Frau Grant und ihrem
Arbeitgeber, der South-West Trains Ltd (im folgenden: SWT), über deren
Weigerung, der Lebenspartnerin von Frau Grant Fahrtvergünstigungen zu
gewähren.
- 3.
- Frau Grant ist Angestellte der SWT, einer Eisenbahngesellschaft in der Region
Southampton.
- 4.
- Klausel 18 ihres Arbeitsvertrags mit der Überschrift „Fahrtvergünstigungen“
bestimmt:
„Ihnen werden Fahrtvergünstigungen in Form von Freifahrten und Fahrten zum
ermäßigten Tarif in dem für Angehörige Ihrer Vergütungsgruppe geltenden
Umfang gewährt. Ihr Ehepartner und Ihre Angehörigen erhalten ebenfalls
Fahrtvergünstigungen. Die Gewährung der Fahrtvergünstigungen steht im Ermessen
des [Arbeitgebers]; sie werden bei Mißbrauch entzogen.“
- 5.
- Zur maßgebenden Zeit bestimmte die vom Arbeitgeber zur Durchführung dieser
Vorschriften erlassene Regelung (Staff Travel Facilities Privilege Ticket
Regulations) in Klausel 8 („Ehepartner“):
„Verheirateten Beschäftigten werden Fahrscheine zum Vorzugstarif gewährt für ...
den Ehepartner, sofern er nicht von dem Beschäftigten gesetzlich getrennt lebt.
...
Dem .common law opposite sex spouse' [gewöhnlich zur Bezeichnung eines
Lebensgefährten des anderen Geschlechts verwendeter Begriff] des Beschäftigten
werden Fahrscheine zum Vorzugstarif gewährt ... gegen Abgabe einer
eidesstattlichen Erklärung, daß seit zwei Jahren oder länger eine ernsthafte
Beziehung besteht ...“
- 6.
- Diese Regelung stellte ferner die Voraussetzungen auf, unter denen die
Fahrtvergünstigungen dem Arbeitnehmer (Klauseln 1 bis 4), dem Arbeitnehmer,
der seine Tätigkeit vorläufig oder endgültig beendet hatte (Klauseln 5 bis 7), dem
hinterbliebenen Ehepartner des Arbeitnehmers (Klausel 9), den Kindern des
Arbeitnehmers (Klauseln 10 und 11) und seinen ihm gegenüber
unterhaltsberechtigten Familienangehörigen (Klausel 12) gewährt werden konnten.
- 7.
- Auf der Grundlage dieser Bestimmungen beantragte Frau Grant am 9. Januar 1995
Fahrtvergünstigungen für ihre Lebenspartnerin, mit der sie, wie sie erklärte, seit
über zwei Jahren „eine ernsthafte Beziehung“ unterhielt.
- 8.
- Die SWT verweigerte die beantragten Vergünstigungen, weil sie bei
Unverheirateten nur für einen Partner des anderen Geschlechts gewährt werden
könnten.
- 9.
- Frau Grant erhob daraufhin beim Industrial Tribunal Southampton Klage gegen
die SWT und trug vor, die Verweigerung der Vergünstigungen stelle eine
Diskriminierung aufgrund des Geschlechts dar, die gegen den Equal Pay Act 1970,
Artikel 119 des Vertrages und/oder die Richtlinie 76/207 verstoße. Sie machte
insbesondere geltend, daß dem früheren Inhaber ihrer Stelle, einem Mann, der
erklärt habe, seit über zwei Jahren eine ernsthafte Beziehung mit einer Frau zu
haben, die Vergünstigungen gewährt worden seien, die man ihr verweigert habe.
- 10.
- Das Industrial Tribunal sah die Schwierigkeit, mit der es konfrontiert war, darin,
ob es sich bei der mit der sexuellen Orientierung der Angestellten begründeten
Verweigerung der streitigen Vergünstigungen um eine „Diskriminierung aufgrund
des Geschlechts“ im Sinne von Artikel 119 des Vertrages und der Richtlinien über
die Gleichbehandlung von Männern und Frauen handelte. Es führte aus, daß zwar
einige Gerichte des Vereinigten Königreichs Entscheidungen erlassen hätten, die
diese Frage verneinten, daß aber das Urteil des Gerichtshofes vom 30. April 1996
in der Rechtssache C-13/94 (P./S., Slg. 1996, I-2143) „ein überzeugender Beleg für
die These ist, daß Diskriminierungen aufgrund der sexuellen Orientierung
rechtswidrig sind“.
- 11.
- Aus diesen Gründen hat das nationale Gericht dem Gerichtshof folgende Fragen
zur Vorabentscheidung vorgelegt:
1. Verstößt es (vorbehaltlich der nachstehenden Frage 6) gegen den in Artikel
119 des Vertrages zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft und in
Artikel 1 der Richtlinie 75/117 des Rates niedergelegten Grundsatz des
gleichen Entgelts für Männer und Frauen, daß einem Beschäftigten
Fahrtvergünstigungen für einen mit ihm in nichtehelicher Gemeinschaft
zusammenlebenden Partner des gleichen Geschlechts verweigert werden,
während diese Vergünstigungen für den Ehepartner eines solchen
Beschäftigten oder für einen mit ihm in nichtehelicher Gemeinschaft
zusammenlebenden Partner des anderen Geschlechts gewährt werden?
2. Schließt eine „Diskriminierung aufgrund des Geschlechts“ im Sinne von
Artikel 119 eine Diskriminierung aufgrund der sexuellen Orientierung des
Beschäftigten ein?
3. Schließt eine „Diskriminierung aufgrund des Geschlechts“ im Sinne von
Artikel 119 eine Diskriminierung aufgrund des Geschlechts des Partners
dieses Beschäftigten ein?
4. Wenn Frage 1 bejaht wird, besitzt dann ein Beschäftigter, dem solche
Vergünstigungen verweigert werden, einen unmittelbar durchsetzbaren
gemeinschaftsrechtlichen Anspruch gegen seinen Arbeitgeber?
5. Verstößt eine solche Weigerung gegen die Bestimmungen der Richtlinie
76/207 des Rates?
6. Kann ein Arbeitgeber eine solche Weigerung eher rechtfertigen, wenn er
nachweist, a) daß der Zweck dieser Vergünstigungen darin besteht,
Ehepartnern oder Partnern in einer mit der von Ehepartnern gleichwertigen
Situation Vorteile zu verschaffen, und b) daß die Beziehungen zwischen
zusammenlebenden Partnern des gleichen Geschlechts von der Gesellschaft
herkömmlicherweise nicht als mit der Ehe gleichwertig angesehen worden
sind und im allgemeinen nicht angesehen werden, als wenn er sich auf einen
wirtschaftlichen oder organisatorischen Grund im Zusammenhang mit dem
betreffenden Beschäftigungsverhältnis beruft?
- 12.
- Wegen ihres engen Zusammenhangs sind diese sechs Fragen gemeinsam zu prüfen.
- 13.
- Der Gerichtshof hat bereits entschieden, daß Fahrtvergünstigungen, die ein
Arbeitgeber seinen ehemaligen Arbeitnehmern, ihren Ehepartnern oder den ihnen
gegenüber unterhaltsberechtigten Personen aufgrund des Dienstverhältnisses
gewährt, Bestandteile des „Entgelts“ im Sinne von Artikel 119 des Vertrages sind
(vgl. Urteil vom 9. Februar 1982 in der Rechtssache 12/81, Garland, Slg. 1982, 359,
Randnr. 9).
- 14.
- Im vorliegenden Fall steht fest, daß eine vom Arbeitgeber aufgrund des
Arbeitsvertrags gewährte Fahrtvergünstigung für den Ehepartner oder die Person
des anderen Geschlechts, mit der der Arbeitnehmer eine feste nichteheliche
Beziehung unterhält, unter Artikel 119 des Vertrages fällt. Eine solche
Vergünstigung fällt daher nicht unter die in der fünften Frage des vorlegenden
Gerichts erwähnte Richtlinie 76/207 (vgl. Urteil vom 13. Februar 1996 in der
Rechtssache C-342/93, Gillespie u. a., Slg. 1996, I-475, Randnr. 24).
- 15.
- Aus dem Wortlaut der anderen Fragen und den Gründen der Vorlageentscheidung
ergibt sich, daß das vorlegende Gericht wissen möchte, ob die Weigerung eines
Arbeitgebers, eine Fahrtvergünstigung für eine Person des gleichen Geschlechts,
mit der ein Arbeitnehmer eine feste Beziehung unterhält, eine durch Artikel 119
des Vertrages und die Richtlinie 75/117 verbotene Diskriminierung darstellt, wenn
eine solche Vergünstigung für den Ehepartner des Arbeitnehmers oder die Person
des anderen Geschlechts, mit der der Arbeitnehmer eine feste nichteheliche
Beziehung unterhält, gewährt wird.
- 16.
- Frau Grant trägt zunächst vor, eine solche Weigerung stelle eine unmittelbare
Diskriminierung aufgrund des Geschlechts dar. Ihr Arbeitgeber hätte nämlich eine
andere Entscheidung getroffen, wenn die fraglichen Vergünstigungen von einem
Mann, der mit einer Frau zusammenlebe, und nicht von einer Frau, die mit einer
Frau zusammenlebe, beantragt worden wären.
- 17.
- Frau Grant führt dazu aus, die bloße Tatsache, daß der männliche Arbeitnehmer,
der vorher ihre Stelle besetzt habe, die Fahrtvergünstigungen für seine Partnerin
erhalten habe, ohne mit ihr verheiratet gewesen zu sein, genüge, um eine
unmittelbare Diskriminierung aufgrund des Geschlechts festzustellen. Eine
Arbeitnehmerin sei Opfer einer Diskriminierung aufgrund des Geschlechts, wenn
sie bei im übrigen gleicher Sachlage nicht die gleichen Vergünstigungen erhalte wie
ein männlicher Arbeitnehmer (sogenannte Betrachtungsweise des „but for test“,
d. h. des „Kriteriums des einzigen Unterscheidungsmerkmals“).
- 18.
- Frau Grant trägt sodann vor, eine solche Weigerung stelle eine Diskriminierung
aufgrund der sexuellen Orientierung dar, die im Begriff „Diskriminierung aufgrund
des Geschlechts“ im Sinne von Artikel 119 des Vertrages enthalten sei. Eine
unterschiedliche Behandlung aufgrund der sexuellen Orientierung gehe auf
Vorurteile in bezug auf das sexuelle oder affektive Verhalten von Personen eines
bestimmten Geschlechts zurück und beruhe in Wirklichkeit auf dem Geschlecht
dieser Personen. Eine solche Auslegung ergebe sich auch aus dem erwähnten Urteil
P./S. und entspreche sowohl den Entschließungen und Empfehlungen der
Gemeinschaftsorgane als auch der Entwicklung der internationalen Normen über
die Menschenrechte und der nationalen Normen über die Gleichbehandlung.
- 19.
- Schließlich macht Frau Grant geltend, die Weigerung ihr gegenüber sei nicht
objektiv gerechtfertigt.
- 20.
- Die SWT sowie die französische Regierung und die Regierung des Vereinigten
Königreichs vertreten die Auffassung, die Verweigerung einer Vergünstigung wie
der im Ausgangsverfahren in Rede stehenden verstoße nicht gegen Artikel 119 des
Vertrages. Zunächst beschränke sich das erwähnte Urteil P./S., das sich nur auf den
Fall einer Geschlechtsumwandlung beziehe, darauf, die Diskriminierungen aufgrund
eines Wechsels des Geschlechts den Diskriminierungen aufgrund der Zugehörigkeit
zu einem bestimmten Geschlecht gleichzustellen.
- 21.
- Sodann beruhe die von Frau Grant beanstandete unterschiedliche Behandlung nicht
auf deren sexueller Orientierung oder Neigung, sondern darauf, daß sie nicht die
in der Regelung des Unternehmens aufgestellten Voraussetzungen erfülle.
- 22.
- Schließlich machen sie geltend, es handele sich bei Diskriminierungen aufgrund der
sexuellen Orientierung nicht um „Diskriminierungen aufgrund des Geschlechts“ im
Sinne von Artikel 119 des Vertrages oder der Richtlinie 75/117. Sie verweisen dazu
insbesondere auf den Wortlaut und die Ziele dieses Artikels, auf den mangelnden
Konsens zwischen den Mitgliedstaaten über die Gleichstellung fester Beziehungen
zwischen Personen des gleichen Geschlechts mit festen Beziehungen zwischen
Personen verschiedenen Geschlechts, auf den fehlenden Schutz dieser Beziehungen
nach Artikel 8 oder Artikel 12 der Konvention zum Schutze der Menschenrechte
und Grundfreiheiten vom 4. November 1950 (im folgenden: Konvention) sowie auf
das Fehlen einer sich daraus ergebenden Diskriminierung im Sinne von Artikel 14
der Konvention.
- 23.
- Die Kommission ist ebenfalls der Ansicht, daß die Weigerung gegenüber Frau
Grant weder gegen Artikel 119 des Vertrages noch gegen die Richtlinie 75/117
verstoße. Diskriminierungen aufgrund der sexuellen Orientierung von
Arbeitnehmern könnten zwar als „Diskriminierungen aufgrund des Geschlechts“
im Sinne dieses Artikels betrachtet werden. Die von Frau Grant beanstandete
Diskriminierung beruhe jedoch nicht auf ihrer sexuellen Orientierung, sondern
darauf, daß sie nicht als „Ehepaar“ oder mit einem „Ehepartner“ in dem Sinne
lebe, den das Recht der meisten Mitgliedstaaten, das Gemeinschaftsrecht und das
Recht der Konvention diesen Begriffen beimäßen. Unter diesen Umständen
verstoße die unterschiedliche Behandlung, die in der Regelung vorgenommen
werde, die in dem Unternehmen gelte, in dem Frau Grant beschäftigt sei, nicht
gegen Artikel 119 des Vertrages.
- 24.
- Angesichts des Akteninhalts ist zunächst die Frage zu beantworten, ob eine in einer
Unternehmensregelung aufgestellte Voraussetzung wie die im Ausgangsverfahren
in Rede stehende eine unmittelbare Diskriminierung aufgrund des Geschlechts des
Arbeitnehmers darstellt. Falls dies verneint wird, ist zu prüfen, ob das
Gemeinschaftsrecht verlangt, daß feste Beziehungen zwischen zwei Personen des
gleichen Geschlechts von jedem Arbeitgeber den Beziehungen zwischen
Verheirateten oder festen nichtehelichen Beziehungen zwischen zwei Personen
verschiedenen Geschlechts gleichgestellt werden. Schließlich ist die Frage zu
beantworten, ob eine Diskriminierung aufgrund der sexuellen Orientierung eine
Diskriminierung aufgrund des Geschlechts des Arbeitnehmers darstellt.
- 25.
- Erstens ist festzustellen, daß die in dem Unternehmen, in dem Frau Grant
beschäftigt ist, geltende Regelung die Gewährung von Fahrtvergünstigungen an den
Arbeitnehmer, an seinen „Ehepartner“, d. h. die Person, mit der er verheiratet ist
und von der er nicht gesetzlich getrennt lebt, oder die Person des anderen
Geschlechts, mit der er seit zwei Jahren oder länger eine „ernsthafte“ Beziehung
unterhält, sowie an seine Kinder, seine ihm gegenüber unterhaltsberechtigten
Familienangehörigen und seinen hinterbliebenen Ehepartner vorsieht.
- 26.
- Die Weigerung gegenüber Frau Grant ist darauf gestützt, daß sie nicht die in dieser
Regelung vorgesehenen Voraussetzungen erfüllt und insbesondere nicht mit einem
„Ehepartner“ oder einer Person des anderen Geschlechts, mit der sie seit zwei
Jahren oder länger eine „ernsthafte“ Beziehung unterhält, zusammenlebt.
- 27.
- Diese letztgenannte Voraussetzung, wonach der Arbeitnehmer mit einer Person des
anderen Geschlechts in einer festen Beziehung zusammenleben muß, um die
Fahrtvergünstigungen erhalten zu können, gilt, wie übrigens auch die anderen
Voraussetzungen der Regelung des Unternehmens, unabhängig vom Geschlecht des
betreffenden Arbeitnehmers. So werden die Fahrtvergünstigungen einem
männlichen Arbeitnehmer, wenn er mit einer Person des gleichen Geschlechts
zusammenlebt, ebenso verweigert wie einer Arbeitnehmerin, die mit einer Person
des gleichen Geschlechts zusammenlebt.
- 28.
- Da die in der Regelung des Unternehmens aufgestellte Voraussetzung für die
weiblichen wie für die männlichen Arbeitnehmer in gleicher Weise gilt, kann sie
nicht als eine unmittelbare Diskriminierung aufgrund des Geschlechts betrachtet
werden.
- 29.
- Zweitens ist zu prüfen, ob bei der Anwendung einer Voraussetzung wie der im
Ausgangsverfahren in Rede stehenden die Personen, die eine feste Beziehung mit
einem Partner des gleichen Geschlechts unterhalten, sich in der gleichen Situation
befinden wie Verheiratete oder Personen, die eine feste nichteheliche Beziehung
mit einem Partner des anderen Geschlechts unterhalten.
- 30.
- Frau Grant macht insbesondere geltend, das Recht der Mitgliedstaaten sowie das
der Gemeinschaft und anderer internationaler Organisationen stellten die beiden
Fälle immer häufiger einander gleich.
- 31.
- Das Europäische Parlament hat zwar, wie Frau Grant ausführt, erklärt, daß es jede
Art von Diskriminierung aufgrund der sexuellen Neigung eines Menschen
bedauere; die Gemeinschaft hat jedoch bisher keine Vorschriften erlassen, die eine
solche Gleichstellung vornehmen.
- 32.
- Was das Recht der Mitgliedstaaten angeht, so wird zwar in einigen dieser Staaten
die Lebensgemeinschaft zwischen zwei Personen des gleichen Geschlechts der Ehe
wenn auch nur unvollständig gleichgestellt; aber in den meisten Mitgliedstaaten
wird sie den festen nichtehelichen heterosexuellen Beziehungen nur für eine
begrenzte Zahl von Ansprüchen gleichgestellt oder ist überhaupt nicht Gegenstand
einer ausdrücklichen Anerkennung.
- 33.
- Die Europäische Kommission für Menschenrechte hält daran fest, daß dauerhafte
homosexuelle Beziehungen trotz der heutigen Entwicklung der Mentalitäten
gegenüber der Homosexualität nicht unter das durch Artikel 8 der Konvention
geschützte Recht auf Achtung des Familienlebens fallen (vgl. u. a. Entscheidungen
Nr. 9369/81 vom 3. Mai 1983, X. und Y./Vereinigtes Königreich, Decisions and
Reports [D. R.] 32, S. 220, Nr. 11716/85 vom 14. Mai 1986, S./Vereinigtes
Königreich, D. R. 47, S. 274, Paragraph 2, und Nr. 15666/89 vom 19. Mai 1992,
Kerkhoven und Hinke/Niederlande, nicht veröffentlicht, Paragraph 1) und daß
nationale Bestimmungen, die zum Schutz der Familie Verheirateten und solchen
Personen verschiedenen Geschlechts, die wie Mann und Frau zusammenleben, eine
günstigere Behandlung zuteil werden lassen als solchen Personen des gleichen
Geschlechts, die dauerhafte Beziehungen unterhalten, nicht gegen Artikel 14 der
Konvention verstoßen, der insbesondere die Diskriminierungen aufgrund des
Geschlechts verbietet (vgl. Entscheidungen S./Vereinigtes Königreich, a. a. O.,
Paragraph 7, Nr. 14753/89 vom 9. Oktober 1989, C. und L. M./Vereinigtes
Königreich, nicht veröffentlicht, Paragraph 2, und Nr. 16106/90 vom 10. Februar
1990, B./Vereinigtes Königreich, D. R. 64, S. 278, Paragraph 2).
- 34.
- Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte hat im übrigen in einem anderen
Zusammenhang Artikel 12 der Konvention so ausgelegt, daß er sich nur auf die
herkömmliche Ehe zwischen zwei Personen verschiedenen biologischen Geschlechts
beziehe (Urteile des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte vom 17.
Oktober 1986, Rees, Serie A, Nr. 106, S. 19, § 49, und vom 27. September 1990,
Cossey, Serie A, Nr. 184, S. 17, § 43).
- 35.
- Demnach sind beim gegenwärtigen Stand des Rechts innnerhalb der Gemeinschaft
die festen Beziehungen zwischen zwei Personen des gleichen Geschlechts den
Beziehungen zwischen Verheirateten oder den festen nichtehelichen Beziehungen
zwischen Personen verschiedenen Geschlechts nicht gleichgestellt. Folglich ist ein
Arbeitgeber nach dem Gemeinschaftsrecht nicht verpflichtet, die Situation einer
Person, die eine feste Beziehung mit einem Partner des gleichen Geschlechts
unterhält, der Situation einer Person, die verheiratet ist oder die eine feste
nichteheliche Beziehung mit einem Partner des anderen Geschlechts unterhält,
gleichzustellen.
- 36.
- Unter diesen Umständen kann nur der Gesetzgeber gegebenenfalls Maßnahmen
treffen, die einen Einfluß auf diese Lage haben können.
- 37.
- Frau Grant trägt schließlich vor, nach dem erwähnten Urteil P./S. gehöre eine
unterschiedliche Behandlung aufgrund der sexuellen Orientierung zu den nach
Artikel 119 des Vertrages verbotenen „Diskriminierungen aufgrund des
Geschlechts“.
- 38.
- In dieser letztgenannten Rechtssache war dem Gerichtshof die Frage vorgelegt
worden, ob die mit einem Wechsel des Geschlechts begründete Entlassung des
betreffenden Arbeitnehmers als „Diskriminierung aufgrund des Geschlechts“ im
Sinne der Richtlinie 76/207 zu betrachten war.
- 39.
- Das vorlegende Gericht hatte sich nämlich gefragt, ob diese Richtlinie nicht einen
weiteren Anwendungsbereich habe als der Sex Discrimination Act 1975, den es
anzuwenden hatte und der nach seiner Auffassung nur die Diskriminierungen
aufgrund der Zugehörigkeit des betreffenden Arbeitnehmers zu dem einen oder
dem anderen Geschlecht erfaßte.
- 40.
- Das Vereinigte Königreich und die Kommission hatten in ihren Erklärungen vor
dem Gerichtshof vorgetragen, die Richtlinie verbiete nur die Diskriminierungen, die
ihre Ursache in der Zugehörigkeit des betreffenden Arbeitnehmers zu dem einen
oder dem anderen Geschlecht hätten, nicht aber die Diskriminierungen aufgrund
einer Geschlechtsumwandlung des Betroffenen.
- 41.
- Zu diesem Vorbringen hat der Gerichtshof ausgeführt, daß die Bestimmungen der
Richtlinie, die Diskriminierungen zwischen Männern und Frauen verbieten, nur
eine für ihren begrenzten Bereich geltende Ausprägung des Gleichheitsgrundsatzes
sind, der eines der Grundprinzipien des Gemeinschaftsrechts darstellt. Nach
Auffassung des Gerichtshofes spricht dieser Umstand gegen eine enge Auslegung
dieser Bestimmungen und führt zu ihrer Anwendung auf Diskriminierungen, die
ihre Ursache in einer Geschlechtsumwandlung des Arbeitnehmers haben.
- 42.
- Der Gerichtshof hat die Ansicht vertreten, daß solche Diskriminierungen in
Wirklichkeit hauptsächlich, wenn nicht ausschließlich auf dem Geschlecht der
betroffenen Person beruhen. Eine solche Begründung, die zu der Annahme führt,
daß diese Diskriminierungen ebenso zu verbieten sind wie die Diskriminierungen
aufgrund der Zugehörigkeit einer Person zu einem bestimmten Geschlecht, mit
denen sie sehr eng zusammenhängen, ist auf den Fall der Geschlechtsumwandlung
eines Arbeitnehmers beschränkt und gilt daher nicht für die unterschiedliche
Behandlung aufgrund der sexuellen Orientierung einer Person.
- 43.
- Frau Grant ist allerdings der Meinung, daß die Gemeinschaftsbestimmungen über
die Gleichbehandlung von Männern und Frauen ebenso wie einige Bestimmungen
des nationalen Rechts oder internationaler Übereinkünfte so auszulegen seien, daß
sie die Diskriminierungen aufgrund der sexuellen Orientierung erfaßten. Sie
verweist insoweit insbesondere auf den Internationalen Pakt über bürgerliche und
politische Rechte vom 19. Dezember 1966 (UN Treaty Series, Band 999, S. 171),
in dem der Begriff „Geschlecht“ nach Ansicht des gemäß Artikel 28 des Paktes
errichteten Ausschusses für Menschenrechte auch die sexuelle Orientierung erfasse
(Mitteilung Nr. 488/1992, Toonen/Australien, Feststellungen vom 31. März 1994,
50. Sitzung, Nr. 8.7).
- 44.
- Dieser Pakt gehört zu den völkerrechtlichen Übereinkünften zum Schutz der
Menschenrechte, denen der Gerichtshof bei der Anwendung der allgemeinen
Grundsätze des Gemeinschaftsrechts Rechnung trägt (vgl. z. B. Urteile vom 18.
Oktober 1989 in der Rechtssache 374/87, Orkem/Kommission, Slg. 1989, 3283,
Randnr. 31, und vom 18. Oktober 1990 in den Rechtssachen C-297/88 und C-197/89, Dzodzi, Slg. 1990, I-3763, Randnr. 68).
- 45.
- Zwar ist die Wahrung der Grundrechte, die Bestandteil dieser allgemeinen
Grundsätze sind, eine Voraussetzung für die Rechtmäßigkeit der
Gemeinschaftshandlungen; diese Rechte können jedoch als solche nicht dazu
führen, daß der Anwendungsbereich der Bestimmungen des Vertrages über die
Zuständigkeiten der Gemeinschaft hinaus erweitert wird (vgl. insbesondere zur
Tragweite von Artikel 235 EG-Vertrag in bezug auf die Wahrung der
Menschenrechte Gutachten 2/94 vom 28. März 1996, Slg. 1996, I-1759, Randnrn.
34 und 35).
- 46.
- Außerdem hat sich der Ausschuß für Menschenrechte, der übrigens keine
gerichtliche Instanz ist und dessen Feststellungen keinen rechtsverbindlichenCharakter haben, in seiner Mitteilung, auf die Frau Grant verweist, darauf
beschränkt, wörtlich und ohne besondere Begründung „zu bemerken, daß nach
seiner Auffassung die Bezugnahme auf das .Geschlecht' in Artikel 2 Absatz 1 und
Artikel 26 so zu verstehen ist, daß auch die sexuelle Orientierung erfaßt wird“.
- 47.
- Eine solche Bemerkung, die im übrigen nicht die bis heute allgemein anerkannte
Auslegung des in verschiedenen völkerrechtlichen Übereinkünften zum Schutz der
Grundrechte enthaltenen Begriffes der Diskriminierung aufgrund des Geschlechts
wiederzugeben scheint, kann daher den Gerichtshof jedenfalls nicht veranlassen, die
Bedeutung des Artikels 119 des Vertrages zu erweitern. Somit kann die Bedeutung
dieses Artikels ebenso wie die jeder anderen Vorschrift des Gemeinschaftsrechts
nur unter Berücksichtigung seines Wortlauts und seines Zweckes sowie seiner
Stellung im System des Vertrages und des rechtlichen Zusammenhangs, in den er
sich einfügt, bestimmt werden. Aus den vorstehenden Erwägungen ergibt sich aber,
daß das Gemeinschaftsrecht bei seinem gegenwärtigen Stand eine Diskriminierung
aufgrund der sexuellen Orientierung wie die im Ausgangsverfahren in Rede
stehende nicht erfaßt.
- 48.
- Es ist jedoch darauf hinzuweisen, daß der am 2. Oktober 1997 unterzeichnete
Vertrag von Amsterdam zur Änderung des Vertrages über die Europäische Union,
der Verträge zur Gründung der Europäischen Gemeinschaften sowie einiger damit
zusammenhängender Rechtsakte die Einfügung eines Artikels 6a in den EG-Vertrag vorsieht, der es nach dem Inkrafttreten dieses Vertrages dem Rat
ermöglichen wird, unter bestimmten Voraussetzungen (einstimmiges Votum auf
Vorschlag der Kommission nach Anhörung des Europäischen Parlaments) die zur
Beseitigung verschiedener Formen von Diskriminierungen, insbesondere derjenigen
aufgrund der sexuellen Ausrichtung, geeigneten Vorkehrungen zu treffen.
- 49.
- In Anbetracht der vorstehenden Ausführungen braucht schließlich das Argument
von Frau Grant, eine Weigerung wie die ihr gegenüber ausgesprochene sei objektiv
nicht gerechtfertigt, nicht geprüft zu werden.
- 50.
- Sonach ist dem vorlegenden Gericht zu antworten, daß die Weigerung eines
Arbeitgebers, eine Fahrtvergünstigung für eine Person des gleichen Geschlechts,
mit der der Arbeitnehmer eine feste Beziehung unterhält, zu gewähren, während
eine solche Vergünstigung für den Ehepartner des Arbeitnehmers oder die Person
des anderen Geschlechts, mit der der Arbeitnehmer eine feste nichteheliche
Beziehung unterhält, gewährt wird, keine durch Artikel 119 des Vertrages oder die
Richtlinie 75/117 verbotene Diskriminierung darstellt.
Kosten
- 51.
- Die Auslagen der Regierung des Vereinigten Königreichs und der französischen
Regierung sowie der Kommission der Europäischen Gemeinschaften, die vor dem
Gerichtshof Erklärungen abgegeben haben, sind nicht erstattungsfähig. Für die
Parteien des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren ein Zwischenstreit in dem bei
dem vorlegenden Gericht anhängigen Rechtsstreit; die Kostenentscheidung ist
daher Sache dieses Gerichts.
Aus diesen Gründen
hat
DER GERICHTSHOF
auf die ihm vom Industrial Tribunal Southampton mit Entscheidung vom 19. Juli
1996 vorgelegten Fragen für Recht erkannt:
Die Weigerung eines Arbeitgebers, eine Fahrtvergünstigung für eine Person des
gleichen Geschlechts, mit der der Arbeitnehmer eine feste Beziehung unterhält, zu
gewähren, während eine solche Vergünstigung für den Ehepartner des
Arbeitnehmers oder die Person des anderen Geschlechts, mit der der Arbeitnehmer
eine feste nichteheliche Beziehung unterhält, gewährt wird, stellt keine durch
Artikel 119 EG-Vertrag oder die Richtlinie 75/117/EWG des Rates vom 10. Februar
1975 zur Angleichung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über die
Anwendung des Grundsatzes des gleichen Entgelts für Männer und Frauen
verbotene Diskriminierung dar.
Rodríguez IglesiasGulmann
Ragnemalm
Wathelet Mancini Moitinho de Almeida
Kapteyn Murray
Edward
Puissochet Hirsch Jann Sevón
|
Verkündet in öffentlicher Sitzung in Luxemburg am 17. Februar 1998.
Der Kanzler
Der Präsident
R. Grass
G. C. Rodríguez Iglesias