URTEIL DES GERICHTS (Erste erweiterte Kammer)
21. Oktober 1997(1)
„Wettbewerb Eisenbahntransporte von Übersee-Containern Verordnung
(EWG) Nr. 1017/68 Kartell Beherrschende Stellung Mißbrauch
Geldbuße Beurteilungskriterien Verhältnismäßigkeitsgrundsatz
Verteidigungsrechte Akteneinsicht Grundsatz der Rechtssicherheit“
In der Rechtssache T-229/94
Deutsche Bahn AG, Gesellschaft deutschen Rechts mit Sitz in Frankfurt a. M.,
Prozeßbevollmächtigter: Rechtsanwalt Jochim Sedemund, Köln,
Zustellungsanschrift: Kanzlei des Rechtsanwalts Aloyse May, 31, Grand-Rue,
Luxemburg,
gegen
Kommission der Europäischen Gemeinschaften, zunächst vertreten durch Norbert
Lorenz, Juristischer Dienst, und Géraud de Bergues, zur Kommission abgeordneter
nationaler Beamter, sodann durch Klaus Wiedner, Juristischer Dienst, als
Bevollmächtigte, Beistand: Rechtsanwalt Heinz-Joachim Freund, Brüssel,
Zustellungsbevollmächtigter: Carlos Gómez de la Cruz, Juristischer Dienst, Centre
Wagner, Luxemburg-Kirchberg,
wegen Nichtigerklärung der Entscheidung 94/210/EG der Kommission vom
29. März 1994 in einem Verfahren zur Anwendung von Artikel 85 und 86 des EG-Vertrages (IV/33.941 HOV-SVZ/MCN, ABl. L 104, S. 34) oder, hilfsweise,
Nichtigerklärung oder Herabsetzung der mit dieser Entscheidung gegen die
Klägerin festgesetzten Geldbuße
erläßt
DAS GERICHT ERSTER INSTANZ
DER EUROPÄISCHEN GEMEINSCHAFTEN (Erste erweiterte Kammer)
unter Mitwirkung des Präsidenten A. Saggio sowie der Richter A. Kalogeropoulos,
V. Tiili, R. M. Moura Ramos und M. Jaeger,
Kanzler: A. Mair, Verwaltungsrat
aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom
28. Januar 1997,
folgendes
Urteil
Tatbestand
- 1.
- Am 1. April 1988 trafen die Unternehmen Deutsche Bundesbahn (im folgenden:
DB, an deren Stelle 1994 die Deutsche Bahn [im folgenden: Klägerin] trat), Société
nationale des chemins de fer belges (SNCB), Nederlandse Spoorwegen (NS),
Intercontainer und Transfracht eine Vereinbarung zur Gründung eines
Kooperationsnetzwerks mit der Bezeichnung „Maritime Container Network
(MCN)“ (im folgenden: MCN-Vereinbarung).
- 2.
- Unter „Übersee-Container“ werden Container verstanden, die, mit einem Vorlauf
und einem Nachlauf über Land, den größten Teil der Strecke über See laufen. Die
MCN-Vereinbarung betraf die Beförderung von Übersee-Containern auf dem
Schienenweg von und nach Deutschland über deutsche, belgische und
niederländische Häfen. Zu den deutschen Häfen, die in der MCN-Vereinbarung
als Nordhäfen bezeichnet wurden, gehörten Hamburg, Bremen und Bremerhaven.
Zu den belgischen und niederländischen Häfen, als Westhäfen bezeichnet, gehörten
Antwerpen und Rotterdam.
- 3.
- DB, jetzt die Klägerin, SNCB und NS sind die nationalen Eisenbahnunternehmen
Deutschlands, Belgiens und der Niederlande. Intercontainer und Transfracht sind
Unternehmen, die im Bereich des Transports von Übersee-Containern tätig sind
und zu diesem Zweck die notwendigen Schienenbeförderungsleistungen wie die
Stellung der Lokomotiven und den Zugang zum Schienennetz von den
Eisenbahnunternehmen beziehen. Intercontainer ist als gemeinsame
Tochtergesellschaft von 24 europäischen Bahnunternehmen eine Gesellschaft
belgischen Rechts. Transfracht ist eine Gesellschaft deutschen Rechts, deren
Kapital zu 80 % von der DB, jetzt der Klägerin, gehalten wird.
- 4.
- Schon vor Abschluß der MCN-Vereinbarung war die Organisation der in der
Vereinbarung geregelten Transporte faktisch zwischen den genannten fünf
Unternehmen aufgeteilt. Nach dieser Aufteilung, an der die MCN-Vereinbarung
nichts geändert hat, führte Transfracht die Transporte von Übersee-Containern
nach oder von Deutschland über deutsche Häfen durch. Intercontainer führte die
Transporte von Übersee-Containern nach oder von Deutschland über belgische und
niederländische Häfen durch. Transfracht und Intercontainer mußten, um für ihre
Kunden eine vollständige Beförderungsleistung zu erbringen, bestimmte
Eisenbahnleistungen von der DB (Transfracht) sowie der SNCB und den NS
(Intercontainer) beziehen, da diese jede auf ihrem eigenen Gebiet das
gesetzliche Monopol für die Erbringung dieser Dienstleistungen wie z. B. die
Stellung von Lokomotiven und Fahrern sowie den Zugang zum Schienennetz
innehatten.
- 5.
- Die MCN-Vereinbarung hatte zwei Koordinierungsstellen ohne eigene
Rechtspersönlichkeit geschaffen, und zwar einen Lenkungsausschuß und ein
Gemeinsames Büro. Die Mitglieder und Mitarbeiter dieser beiden Organe wurden
von Transfracht und Intercontainer ernannt. Unter den sechs Mitgliedern des
Lenkungsausschusses mußten sich drei Vertreter der DB und/oder Transfracht, ein
Vertreter der SNCB und ein Vertreter der NS befinden. Der Ausschuß war als
Entscheidungs- und Kontrollorgan der Vereinbarung ausgestaltet, während das
Gemeinsame Büro als geschäftsführendes Organ tätig war. Konkret hatte der
Lenkungsausschuß die Befugnis, die Beschlüsse über die Dienste und Preise zu
fassen, die für die Beförderung von Übersee-Containern anzubieten waren, und das
Gemeinsame Büro hatte die Aufgabe, das Leistungsbild in Einkauf, Verkauf und
Preisbildung der Transfracht und der Intercontainer zu erstellen und zu
vermarkten. Einige andere Aufgaben wie die Fakturierung gegenüber den Kunden
erfüllten Transfracht und Intercontainer getrennt.
- 6.
- Nach § 9 der MCN-Vereinbarung mußten die Beschlüsse des Lenkungsausschusses
einstimmig gefaßt werden.
- 7.
- Die Havenondernemersvereniging SVZ (im folgenden: HOV-SVZ), ein
Zusammenschluß von Unternehmen, die im Hafen von Rotterdam tätig sind, teilte
der Kommission in einer Beschwerde vom 16. Mai 1991 mit, daß die DB bei
Transporten von Übersee-Containern nach oder von Deutschland über belgische
und niederländische Häfen viel höhere Tarife anwende als bei Transporten von
Übersee-Containern über deutsche Häfen. Damit wolle sich die DB eine
bevorzugte Stellung bei den Transporten sichern, für die sie die gesamten
Bahnleistungen erbringe. Dies stelle einen gegen Artikel 86 EG-Vertrag
verstoßenden Mißbrauch einer beherrschenden Stellung dar. Außerdem vertrat die
HVO-SVZ die Auffassung, daß die MCN-Vereinbarung Artikel 85 des Vertrages
verletze.
- 8.
- Am 31. Juli 1992 übersandte die Kommission den durch die MCN-Vereinbarung
verbundenen Unternehmen eine Mitteilung der Beschwerdepunkte, woraufhin diese
die Vereinbarung kündigten. Nach Erhalt der Mitteilung der Beschwerdepunkte
gab die DB außerdem zu, daß sie bei den Transporten über die Nordhäfen andere
Tarife anwandte als bei den Transporten über die Westhäfen, bestritt jedoch die
diskriminierende Natur dieser Unterschiede. Sie wies darauf hin, daß die Tarife
objektiv unter Berücksichtigung der Länge der Strecke, der Produktionskosten und
der Wettbewerbslage auf dem Markt festgesetzt würden.
- 9.
- Am 25. August 1992 nahm der Rechtsbeistand der DB Einsicht in deren Akte bei
der Kommission und fertigte Kopien der meisten Schriftstücke an.
- 10.
- Am 15. Dezember 1992 fand bei der Kommission eine Anhörung statt. An dieser
Anhörung nahmen Vertreter der Kommission, der DB, der Transfracht, der SNCB,
der NS, der Intercontainer sowie von sieben Mitgliedstaaten teil.
- 11.
- Am 29. März 1994 erließ die Kommission die Entscheidung 94/210/EG in einem
Verfahren zur Anwendung von Artikel 85 und 86 des EG-Vertrages ((IV/33.941
HOV-SVZ/MCN) (ABl. L 104, S. 34; im folgenden: Entscheidung). Die
Entscheidung ist auf den EG-Vertrag und auf die Verordnung (EWG) Nr. 1017/68
des Rates vom 19. Juli 1968 über die Anwendung von Wettbewerbsregeln auf dem
Gebiet des Eisenbahn-, Straßen- und Binnenschiffsverkehrs (ABl. L 175, S. 1)
gestützt.
- 12.
- Zur Frage der Vereinbarkeit der MCN-Vereinbarung mit den gemeinschaftlichen
Wettbewerbsregeln führt die Entscheidung aus, daß die MCN-Vereinbarung unter
Verstoß gegen Artikel 85 Absatz 1 des Vertrages den Wettbewerb auf dem Markt
der Beförderung von Übersee-Containern auf dem Landweg zwischen Orten in
Deutschland und den Häfen zwischen Hamburg und Antwerpen bezwecke und
bewirke, da sie den Wettbewerb zwischen Intercontainer und Transfracht
ausschalte, soweit diese den Verladern und Reedereien einen kombinierten
Güterverkehr anböten, da sie den Wettbewerb der Bahnunternehmen
untereinander ausschalte, soweit diese Verladern und Reedereien ihre
Transportleistungen anböten, da sie den Wettbewerb zwischen Bahnunternehmen
einerseits und Intercontainer und Transfracht andererseits ausschalte, soweit diese
ihre Transportleistungen Verladern und Reedereien anböten, und indem sie den
Zugang neuer Konkurrenten von Transfracht und Intercontainer zum Markt
erschwere (Randnrn. 76 bis 89 der Entscheidung). Dazu heißt es in der
Entscheidung weiter, daß die Vereinbarung nicht unter die gesetzliche Ausnahme
des Artikels 3 der Verordnung Nr. 1017/68 falle, da sie nicht bezwecke, direkt
technische Verbesserungen anzuwenden oder direkt eine technische
Zusammenarbeit sicherzustellen (Randnrn. 91 bis 98 der Entscheidung); auch eine
Freistellung gemäß Artikel 5 der Verordnung Nr. 1017/68 könne nicht erfolgen,
denn die Vereinbarung habe weder die Qualität der Eisenbahntransportleistungen
verbessern noch die Produktivität der Unternehmen steigern oder den technischen
oder wirtschaftlichen Fortschritt fördern sollen (Randnrn. 99 bis 103 der
Entscheidung).
- 13.
- Zur Vereinbarkeit der Tarifpraktiken der DB mit den gemeinschaftlichen
Wettbewerbsregeln führt die Entscheidung aus, daß die DB aufgrund ihres
gesetzlich verankerten Monopols eine beherrschende Stellung auf dem Markt der
Bahnleistungen in Deutschland einnehme; die DB habe diese beherrschende
Stellung dadurch mißbraucht, daß sie so gehandelt habe, daß für die Transporte
zwischen einem belgischen oder niederländischen Hafen und Deutschland
wesentlich höhere Tarife berechnet worden seien als für die Transporte zwischen
deutschen Orten und den deutschen Häfen. In der Entscheidung heißt es dazu, daß
die DB es nicht nur in der Hand habe, wie hoch die Tarife für Transporte von
Containern nach und von den Nordhäfen, sondern auch, wie hoch sie für die
Transporte nach und von den Westhäfen angesetzt würden. Denn erstens habe die
DB als obligatorischer Erbringer der Bahnleistungen für den Teil der Beförderung,
der durch Deutschland führe, die Macht gehabt, die von Intercontainer
angewandten Verkaufstarife zu bestimmen; zweitens habe sie angesichts der
Zusammensetzung des Lenkungsausschusses und des Umstands, daß das
Gemeinsame Büro im Verwaltungsgebäude der Transfracht untergebracht gewesen
sei, die Möglichkeit gehabt, jede Entscheidung im Rahmen des MCN zu blockieren;
drittens habe sie außerhalb der MCN-Vereinbarung kurz nach deren Abschluß
einseitig ein neues Tarifsystem mit der Bezeichnung „Kombinierter
Ladungsverkehr-Neu“ (im folgenden: Tarifsystem KLV-Neu) eingeführt, das
Preisermäßigungen für die Strecken nach und von den Nordhäfen, nicht jedoch für
die Strecken nach und von den Westhäfen vorgesehen habe (Randnrn. 139 bis 187
der Entscheidung).
- 14.
- Weiter heißt es in der Entscheidung, die festgestellten Tarifunterschiede könnten
weder durch den Umstand gerechtfertigt werden, daß der Eisenbahntransport auf
der Weststrecke einer stärkeren Konkurrenz der Straße und der Binnenschiffahrt
ausgesetzt sei als der Transport auf der Nordstrecke, noch durch die Tatsache, daß
die Produktionskosten auf der Weststrecke höher seien als auf der Nordstrecke.
Dazu wird in der Entscheidung ausgeführt, daß der stärkere Wettbewerb bei den
Beförderungen auf der Weststrecke nur einen Tarifunterschied zugunsten dieser
Beförderungen rechtfertigen könne und daß die DB keinen logischen
Zusammenhang zwischen den Kosten- und den Tarifunterschieden dargelegt habe
(Randnrn. 199 bis 234 der Entscheidung).
- 15.
- Schließlich wird in der Entscheidung ausgeführt, daß das Vorliegen einer
Zuwiderhandlung der DB gegen Artikel 86 des Vertrages zumindest für den
Zeitraum vom 1. Oktober 1989 bis 31. Juli 1992 belegt sei und daß gegen die DB
eine Geldbuße festzusetzen sei; dabei sei zu berücksichtigen, daß diese keinerlei
Zusagen gegeben habe, ihre Tarifpraktiken anzupassen, daß die Zuwiderhandlung
vorsätzlich begangen worden sei und daß sie u. a. deshalb besonders schwer wiege,
weil sie die Entwicklung des Bahnverkehrs beeinträchtigt habe, die ein wichtiges
Ziel der Verkehrspolitik der Gemeinschaft sei (Randnrn. 255 bis 263 der
Entscheidung).
- 16.
- In Artikel 1 der Entscheidung wird zunächst festgestellt, daß die DB, die SNCB, die
NS, Intercontainer und Transfracht mit der MCN-Vereinbarung, wonach der
gesamte Bahntransport von Übersee-Containern von und nach Deutschland über
einen deutschen, belgischen oder niederländischen Hafen durch ein Gemeinsames
Büro auf der Grundlage dort vereinbarter Tarife vermarktet werde, gegen Artikel
85 des Vertrages verstoßen hätten. In Artikel 2 heißt es weiter, daß die DB gegen
Artikel 86 des Vertrages verstoßen habe, indem sie ihre marktbeherrschende
Stellung auf dem Bahnverkehrsmarkt in Deutschland dazu benutzt habe,
diskriminierende Tarife auf dem Markt der Landtransporte von Übersee-Containern von und nach Deutschland über einen deutschen, belgischen oderniederländischen Hafen durchzusetzen. In Artikel 4 schließlich wird gemäß Artikel
22 der Verordnung Nr. 1017/68 gegen die DB wegen Verstoßes gegen Artikel 86
des Vertrages gemäß Artikel 22 der Verordnung Nr. 1017/68 eine Geldbuße von
11 Millionen ECU festgesetzt (vgl. auch Randnrn. 225 und 256 der Entscheidung).
- 17.
- Die Entscheidung wurde der Klägerin am 8. April 1994 zugestellt.
- 18.
- Der Rechtsbeistand der Klägerin beantragte mit Schreiben vom 27. April 1994
Einsicht in die in den Akten enthaltenen Schriftstücke, auf die die Entscheidung
gestützt sei, um die Interessen seiner Mandantin besser vertreten zu können. Die
Kommission lehnte diesen Antrag mit Schreiben vom 5. Mai 1994 mit der
Begründung ab, der DB sei bereits im Vorverfahren Akteneinsicht gewährt worden.
Verfahren und Anträge der Parteien
- 19.
- Daraufhin hat die Klägerin mit Klageschrift, die am 14. Juni 1994 bei der Kanzlei
des Gerichts eingegangen ist, die vorliegende Klage erhoben.
- 20.
- Die Klägerin hat dem Gericht mit Schriftsatz vom 31. August 1994 ein Gutachten
mit dem Titel „Kosten- und Marktanalyse für Containerverkehre in die West- und
Nordhäfen ex BRD für den Zeitraum 1989-1992 im Auftrag der Deutschen Bahn
AG“ übermittelt. Das Gericht hat dieses Gutachten zu den Akten genommen. Am
15. September 1994 ist der Beklagten eine Kopie des Gutachtens übersandt
worden.
- 21.
- Das Gericht hat auf Bericht des Berichterstatters beschlossen, die mündliche
Verhandlung ohne vorherige Beweisaufnahme zu eröffnen. Die Parteien sind
jedoch im Rahmen prozeßleitender Maßnahmen ersucht worden, vor der
mündlichen Verhandlung schriftlich einige Fragen zu beantworten.
- 22.
- Die Parteien haben in der öffentlichen Sitzung vom 28. Januar 1997 mündlich
verhandelt und mündliche Fragen des Gerichts beantwortet.
- 23.
- Die Klägerin beantragt,
die Entscheidung aufzuheben,
hilfsweise, die gegen sie festgesetzte Geldbuße aufzuheben,
äußerst hilfsweise, die Geldbuße herabzusetzen,
der Beklagten die Kosten aufzuerlegen.
- 24.
- Die Beklagte beantragt,
die Klage abzuweisen,
die Klägerin dazu zu verurteilen, die Kosten des Verfahrens zu tragen.
Der Antrag auf Nichtigerklärung der streitigen Entscheidung
- 25.
- Die Klägerin hat in ihrer Klageschrift im wesentlichen vier Klagegründe zur
Stützung ihres Antrags auf Nichtigerklärung geltend gemacht: erstens, Verletzung
des Artikels 85 des Vertrages und der Rechtsakte, die der Rat zur Bestimmung des
Anwendungsbereichs des Artikels 85 des Vertrages im Verkehrsbereich erlassen
hat; zweitens, Verletzung des Artikels 86 des Vertrages; drittens und viertens,
Verletzung der Verteidigungsrechte sowie der Grundsätze der Rechtssicherheit und
der ordnungsgemäßen Verwaltung.
Erster Klagegrund: Verletzung des Artikels 85 des Vertrages und der vom Rat zur
Bestimmung des Anwendungsbereichs des Artikels 85 des Vertrages im
Transportbereich erlassenen Rechtsakte
Vorbringen der Parteien
- 26.
- Die Klägerin trägt vor, die MCN-Vereinbarung sei eine technische Vereinbarung
im Sinne des Artikels 3 Absatz 1 Buchstabe c der Verordnung Nr. 1017/68 und
falle folglich nicht unter das in Artikel 2 der Verordnung Nr. 1017/68 und in Artikel
85 des Vertrages verankerte Kartellverbot. Sie weist insoweit darauf hin, daß die
Vereinbarung die Begründung einer technischen Kooperation u. a. bei der
Festlegung der Fahrzeiten, dem Wechsel der Lokomotiven und des Personals an
den Grenzen und der Bestimmung der Terminals bezweckt habe.
- 27.
- Soweit die Vereinbarung eine gemeinsame Festsetzung der Tarife bezwecke,
gestatteten Artikel 3 der Verordnung Nr. 1017/68 und Artikel 4 der Entscheidung
82/529/EWG des Rates vom 19. Juli 1982 über die Preisbildung im
grenzüberschreitenden Eisenbahngüterverkehr (ABl. L 234, S. 5) sowie die Artikel
1 und 4 der Empfehlung 84/646/EWG des Rates vom 19. Dezember 1984 an die
nationalen Eisenbahnunternehmen der Mitgliedstaaten über die Verstärkung ihrer
Zusammenarbeit beim genzüberschreitenden Personen- und Güterverkehr (ABl.
L 333, S. 63) ausdrücklich die Aufstellung gemeinsamer Tarife für den
kombinierten Güterverkehr durch verschiedene Eisenbahnunternehmen.
- 28.
- Hilfsweise trägt die Klägerin vor, die MCN-Vereinbarung hätte gemäß Artikel 5 der
Verordnung Nr. 1017/68 vom Kartellverbot freigestellt werden müssen; die
Entscheidung enthalte keine Angabe darüber, weshalb diese Vorschrift nicht
angewandt worden sei.
- 29.
- Weiter hilfsweise führt die Klägerin aus, das Vorbringen der Kommission, die
MCN-Vereinbarung habe den Wettbewerb ausgeschaltet, sei unrichtig, da
Intercontainer und Transfracht auf verschiedenen Strecken tätig und somit keine
Konkurrenten seien und da auch die nationalen Bahnunternehmen nicht in einem
Wettbewerbsverhältnis zueinander stünden.
- 30.
- Nach Auffassung der Beklagten gestattet Artikel 3 der Verordnung Nr. 1017/68 nur
den Abschluß von Vereinbarungen, die ausschließlich die Anwendung technischer
Verbesserungen oder eine technische Zusammenarbeit bezweckten oder bewirkten.
Die MCN-Vereinbarung habe diesen technischen Rahmen überschritten, da sie die
Schaffung eines gemeinsamen Tarifierungssystems bezweckt habe.
- 31.
- Dazu führt die Beklagte aus, die in Artikel 3 der Verordnung Nr. 1017/68
ausgesprochene Genehmigung der „Aufstellung und Anwendung von
Gesamtpreisen und Gesamtbedingungen einschließlich Wettbewerbspreisen“
bedeute keine Genehmigung von Preisabsprachen, die die Ausschaltung des
Wettbewerbs und die Aufteilung der Märkte bezweckten. Dasselbe gelte für Artikel
4 der Entscheidung 82/529. Diese Bestimmung erlaube es den Bahnunternehmen
nicht, den gesamten grenzüberschreitenden Eisenbahntransport von Übersee-Containern gemeinsam zu organisieren, sondern gestatte lediglich Formen der
Zusammenarbeit, durch die verhindert werden solle, daß die Monopole für die
Stellung der Lokomotiven und den Zugang zum Schienennetz den geordneten
Ablauf der grenzüberschreitenden Transporte beeinträchtigten. In den
Anwendungsbereich der Empfehlung 84/646 falle die MCN-Vereinbarung deshalb
nicht, weil sie nicht nur drei Eisenbahnunternehmen, sondern auch zwei
Transportunternehmen betreffe, während die Empfehlung ausschließlich an die
Eisenbahnunternehmen gerichtet sei und ohnehin nur bezwecke,
grenzüberschreitende Formen der Zusammenarbeit, die durch die Existenz der
Monopole erforderlich geworden seien, zu fördern.
- 32.
- Soweit die Klägerin meint, die MCN-Vereinbarung hätte nach Artikel 5 der
Verordnung Nr. 1017/68 freigestellt werden müssen, entgegnet die Beklagte, daß
die Tatbestandsvoraussetzungen dieser Bestimmung wegen der durch die MCN-Vereinbarung bewirkten weitreichenden Wettbewerbsbeschränkungen nicht erfüllt
seien.
- 33.
- Schließlich bestehe zwischen der DB, der SNCB und den NS und zwischen
Intercontainer und Transfracht insbesondere deshalb ein wirkliches
Wettbewerbsverhältnis, weil die DB und Transfracht ein Interesse daran hätten, so
viele Transportaufträge wie möglich auf der Nordstrecke durchzuführen, während
es im unternehmerischen Interesse der SNCB, der NS und der Intercontainer liege,
den Verkehr in Richtung Westen zu konzentrieren. Die Beklagte spricht in diesem
Zusammenhang von einem „Verkehrswege-Wettbewerb“.
Würdigung durch das Gericht
- 34.
- Die MCN-Vereinbarung hatte u. a. die Einrichtung einer gemeinsamen Verwaltung
der Tarifierung der Beförderung von Übersee-Containern auf der Schiene nach und
von Deutschland über deutsche, belgische und niederländische Häfen zum Inhalt.
Aus dem Wortlaut der Vereinbarung selbst ergibt sich, daß der Lenkungsausschuß
mit der „Festlegung und Änderung der lang-, mittel- und kurzfristigen
Geschäftspolitik für den [unter diese Vereinbarung fallenden] Verkehr ...,
insbesondere Festlegung und Änderung der Vertriebs- oder Preispolitik“, und das
Gemeinsame Büro mit der „Funktion Einkauf/Preisbildung/Verkauf“ betraut waren.
- 35.
- Diese gemeinsame Initiative bestand in der „unmittelbaren oder mittelbaren
Festsetzung der ... Preise“ im Sinne des Artikels 85 Absatz 1 Buchstabe a des
Vertrages und des Artikels 2 Buchstabe a der Verordnung Nr. 1017/68. Denn nach
der Rechtsprechung fällt eine Vereinbarung, durch die ein gemeinsames
Preisfestsetzungssystem errichtet wird, unter diese Vorschriften (zu Artikel 85
Absatz 1 Buchstabe a des Vertrages vgl. Urteil des Gerichtshofes vom 17. Oktober
1972 in der Rechtssache 8/72, Cementhandelaren/Kommission, Slg. 1972, 977,
Randnrn. 18 und 19, und Urteil des Gerichts vom 17. Dezember 1991 in der
Rechtssache T-6/89, Enichem Anic/Kommission, Slg. 1991, II-1623, Randnr. 198;
zu Artikel 2 Buchstabe a der Verordnung 1017/68 vgl. Urteil des Gerichts vom
6. Juni 1995 in der Rechtssache T-14/93, Union internationale des chemins de
fer/Kommission, Slg. 1995, II-1503, Randnr. 50), und zwar unabhängig davon,
inwieweit die Bestimmungen der Vereinbarung tatsächlich befolgt worden sind (vgl.
Urteil des Gerichtshofes vom 11. Juli 1989 in der Rechtssache 246/86, Belasco
u. a./Kommission, Slg. 1989, 2117, Randnr. 15, sowie Urteil
Cementhandelaren/Kommission, a. a. O., Randnr. 16).
- 36.
- Dies ist deshalb der Fall, weil die gemeinsame Festsetzung von Preisen den
Wettbewerb insbesondere dadurch einschränkt, daß sie jedem Teilnehmer die
Möglichkeit gibt, mit hinreichender Sicherheit vorauszusehen, welche Preispolitik
die anderen mit ihm im Wettbewerb stehenden Teilnehmer verfolgen werden
(Urteil Cementhandelaren/Kommission, a. a. O., Randnr. 21). Für die MCN-Vereinbarung kann nichts anderes gelten. Da jedes der betroffenen Unternehmen
ein offenkundiges unternehmerisches Interesse daran hat, daß auf den Strecken, auf
denen es am aktivsten ist, so viele Transporte wie möglich durchgeführt werden,
besteht ein Wettbewerbsverhältnis zwischen der DB und den NS sowie zwischen
der DB und der SNCB. Ebenso stehen die NS mit der SNCB und Transfracht mit
Intercontainer im Wettbewerb. Somit haben diese Unternehmen dadurch, daß sie
ein gemeinsames Preisfestsetzungssystem geschaffen haben, jeden Preiswettbewerb
im Sinne der genannten Rechtsprechung spürbar eingeschränkt oder sogar
ausgeschaltet.
- 37.
- Die MCN-Vereinbarung fällt auch entgegen dem Vorbringen der Klägerin nicht
unter die gesetzliche Ausnahme des Artikels 3 Absatz 1 Buchstabe c der
Verordnung Nr. 1017/68, der „Vereinbarungen, Beschlüsse und aufeinander
abgestimmte Verhaltensweisen“ gestattet, „die ausschließlich die Anwendung
technischer Verbesserungen oder die technische Zusammenarbeit bezwecken und
bewirken, und zwar durch ... die Regelung und Durchführung von ... kombinierten
Beförderungen sowie die Aufstellung und Anwendung von Gesamtpreisen und
Gesamtbedingungen einschließlich Wettbewerbspreisen auf diese Beförderungen“.
Die Einführung einer gesetzlichen Ausnahme für Vereinbarungen rein technischer
Natur kann nämlich nicht einer Genehmigung des Abschlusses von Vereinbarungen
über eine gemeinsame Preisfestsetzung durch den Gemeinschaftsgesetzgeber
gleichgestellt werden. Andernfalls müßte jede Vereinbarung, durch die ein
gemeinsames Preisfestsetzungssystem auf dem Gebiet des Eisenbahn-, Straßen- und
Binnenschiffahrtsverkehrs errichtet wird, als technische Vereinbarung im Sinne des
Artikels 3 der Verordnung Nr. 1017/68 angesehen werden, und Artikel 2
Buchstabe a dieser Verordnung wäre gegenstandslos.
- 38.
- Außerdem entspricht es dem Grundgedanken der Wettbewerbsvorschriften des
Vertrages, daß jeder Unternehmer seine Handels- und insbesondere seine
Preispolitik selbst bestimmt (Urteil des Gerichtshofes vom 25. Oktober 1977 in der
Rechtssache 26/76, Metro/Kommission, Slg. 1977, 1875, Randnr. 21; Urteil des
Gerichts vom 24. Oktober 1991 in der Rechtssache T-1/89, Rhône-Poulenc/Kommission, Slg. 1991, II-867, Randnr. 121). Daraus ergibt sich, daß die
in Artikel 3 der Verordnung Nr. 1017/68 vorgesehene Ausnahme, insbesondere die
Begriffe „Gesamtpreise“ und „Wettbewerbspreise“, zurückhaltend auszulegen sind.
Das Gericht hat bereits ausgeführt, daß in Anbetracht des allgemeinen Verbotes
wettbewerbsbeschränkender Vereinbarungen in Artikel 85 Absatz 1 des Vertrages
Ausnahmevorschriften in einer Verordnung einschränkend ausgelegt werden
müssen (Urteile des Gerichts vom 8. Oktober 1996 in den verbundenen
Rechtssachen T-24/93, T-25/93, T-26/93 und T-28/93, Compagnie maritime belge
transport u. a./Kommission, Slg. 1996, II-1201, Randnr. 48, und vom 22. April 1993
in der Rechtssache T-9/92, Peugeot/Kommission, Slg. 1993, II-493, Randnr. 37).
- 39.
- Aufgrund dieser Erwägungen ist der Begriff „Gesamtpreise“ so zu verstehen, daß
er „durchgerechnete“ Preise bezeichnet, die die einzelnen nationalen Teile einer
transnationalen Strecke umfassen, und daß der Begriff „Wettbewerbspreis“, der
durch das Wort „einschließlich“ mit dem Begriff „Gesamtpreise“ verbunden ist, so
zu verstehen ist, daß er es den verschiedenen Unternehmen, die auf derselben
transnationalen Strecke tätig sind, ermöglicht, Gesamtpreise so festzusetzen, daß
sie nicht nur die Tarife jedes einzelnen von ihnen addieren, sondern an dieser
Addition gemeinsame Anpassungen vornehmen, die geeignet sind, die
Wettbewerbsfähigkeit der fraglichen Beförderungen gegenüber anderenBeförderungsarten zu gewährleisten, ohne daß dabei jedoch die Autonomie des
einzelnen Unternehmens hinsichtlich der Festsetzung seiner eigenen Tarife
aufgrund seiner Wettbewerbsinteressen völlig ausgeschaltet wird. Die MCN-Vereinbarung führte jedoch zu einer solchen Ausschaltung und ging über den
Rahmen der nach dem Wortlaut der angeführten Bestimmung zulässigen
Handlungen hinaus, da sie die Preispolitik und die Preisbildung ohne irgendeine
Einschränkung einem gemeinsamen Organ übertrug und da zudem an der
Festsetzung der Gesamtpreise für jede der unter die MCN-Vereinbarung fallenden
Strecken ein Unternehmen teilnahm, das auf dieser Strecke gar nicht tätig war.
- 40.
- Die Kommission hat somit zu Recht angenommen, daß die MCN-Vereinbarung
den Rahmen des Artikels 3 Absatz 1 Buchstabe c der Verordnung Nr. 1017/68
überschritt.
- 41.
- Diese Auslegung des Artikels 3 Absatz 1 Buchstabe c der Verordnung Nr. 1017/68
läuft Artikel 4 der Entscheidung 82/529 nicht zuwider, sondern steht vielmehr mit
diesem im Einklang. Artikel 4 gestattet es nämlich den Eisenbahnunternehmen,
„Tarife mit gemeinsamen Frachtsatzzeigern und durchgerechneten Preisen“ zu
erstellen, und bestimmt, daß „die in diesen Tarifen angebotenen Preise von der
Summe der sich aus den nationalen Tarifen ergebenden Frachten unabhängig sein
[können]“; diese Unabhängigkeit bezweckt nach der vierten Begründungserwägung
der Entscheidung 82/529, die Wettbewerbsstellung des Eisenbahnverkehrs
gegenüber anderen Beförderungsarten zu wahren. Artikel 4 geht jedoch auch davon
aus, daß die Eisenbahnunternehmen „ihren eigenwirtschaftlichen Interessen“
Rechnung tragen. Die Entscheidung 82/529 mißt, wie sich aus ihrer zweiten
Begründungserwägung ergibt, der „ausreichenden kommerziellen Selbständigkeit“
der Eisenbahnunternehmen ausdrücklich Bedeutung zu.
- 42.
- Dieses Ergebnis wird durch die Empfehlung 84/646, auf die sich die Klägerin
ebenfalls berufen hat, nicht in Frage gestellt. Auch Artikel 4 dieser Empfehlung
bestätigt die Möglichkeit, Gesamttarife aufzustellen, die nicht mit der Summe der
nationalen Tarife übereinstimmen, und fördert die Gründung gemeinsamer Büros
nach Maßgabe des Verkaufs bei den Versendern, läßt es jedoch nicht zu, diesen
Stellen unbegrenzte Befugnisse im Bereich der kaufmännischen Geschäftsführung
und der Preisbildung zu verleihen, wie die MCN-Vereinbarung dies getan hat.
- 43.
- Schließlich war die Kommission keineswegs verpflichtet, auf die MCN-Vereinbarung Artikel 5 der Verordnung Nr. 1017/68 anzuwenden, wonach das
„Verbot des Artikels 2 ... für nicht anwendbar erklärt werden [kann] auf
Vereinbarungen oder Gruppen von Vereinbarungen zwischen Unternehmen, ... die
beitragen zur Verbesserung der Qualität der Verkehrsleistungen oder zur
Förderung einer größeren Kontinuität und Stabilität der Befriedigung des
Verkehrsbedarfs auf den Märkten, auf denen Angebot und Nachfrage starken
zeitlichen Schwankungen unterliegen, oder zur Steigerung der Produktivität der
Unternehmen oder zur Förderung des technischen oder wirtschaftlichen
Fortschritts, ... ohne daß den beteiligten Verkehrsunternehmen ... Möglichkeiten
eröffnet werden, für einen wesentlichen Teil des betreffenden Verkehrsmarktes den
Wettbewerb auszuschalten“. Die Kommission hat ihre Weigerung, die MCN-Vereinbarung freizustellen, entgegen dem Vorbringen der Klägerin begründet, und
zwar indem sie in den Randnummern 99 bis 103 der Entscheidung ausgeführt hat,
es sei nicht erwiesen, daß die Vereinbarung einen technischen oder wirtschaftlichen
Fortschritt, eine Verbesserung der Qualität der Eisenbahnleistungen oder eine
Erhöhung der Produktivität bewirke, während sie weitreichende
Wettbewerbsbeschränkungen mit sich bringe, so daß die Voraussetzungen des
Artikels 5 der Verordnung Nr. 1017/68 jedenfalls nicht erfüllt seien. Wie sich
zudem aus den vorstehenden Feststellungen (Randnrn. 34 bis 40) ergibt, hätte die
Kommission es den betreffenden Unternehmen ermöglicht, den zwischen ihnen
bestehenden Wettbewerb auszuschalten, wenn sie Artikel 2 der Verordnung Nr.
1017/68 für auf die MCN-Vereinbarung unanwendbar erklärt hätte.
- 44.
- Nach alledem ist festzustellen, daß die Kommission die MCN-Vereinbarung zu
Recht für mit dem Gemeinsamen Markt unvereinbar angesehen hat. Folglich ist
der erste Klagegrund zurückzuweisen.
Zweiter Klagegrund: Verletzung des Artikels 86 des Vertrages
- 45.
- Dieser Klagegrund besteht aus zwei Teilen. Die Klägerin macht zunächst geltend,
die DB habe keine beherrschende Stellung auf dem Gemeinsamen Markt oder
einem wesentlichen Teil desselben eingenommen. Sie führt weiter aus, das in der
Entscheidung beanstandete Verhalten sei nicht mißbräuchlich gewesen.
Erster Teil des Klagegrundes: Fehlen einer beherrschenden Stellung
Vorbringen der Parteien
- 46.
- Die Klägerin vertritt die Auffassung, in der Entscheidung werde der relevante
Markt unrichtig definiert und daraus zu Unrecht hergeleitet, daß die DB eine
beherrschende Stellung gehabt habe.
- 47.
- Der relevante Markt umfaßt nach Auffassung der Klägerin die Beförderung von
Übersee-Containern im Schienenverkehr sowie im Straßen- und
Binnenschiffahrtsverkehr. Die Klägerin beruft sich insoweit auf die Rechtsprechung,
nach der der sachlich relevante Markt der Markt aller Dienstleistungen und Güter
sei, die untereinander austauschbar seien. Sie vertritt unter Anwendung dieser
Rechtsprechung auf den vorliegenden Sachverhalt die Auffassung, daß die
Abgrenzung des Marktes, auf dem die Kommission eine beherrschende Stellung der
DB festgestellt habe, zwei Irrtümer enthalte.
- 48.
- Zunächst habe die Kommission dadurch, daß sie den Markt auf die
Eisenbahnleistungen beschränkt habe, verkannt, daß Transfracht eine
Tochtergesellschaft der DB sei und daß, da Mutter- und Tochtergesellschaft eine
wirtschaftliche Einheit bildeten, die wirtschaftlichen Tätigkeiten der DB in ganz
Deutschland außer den Dienstleistungen des Eisenbahngüterverkehrs wie Zugang
zum Schienennetz und Stellung von Lokomotiven und Lokomotivführern die
übrigen Elemente der Beförderung von Übersee-Containern im Schienenverkehr
umfaßten.
- 49.
- Weiter habe die Kommission dadurch, daß sie die Beförderung im Straßen- und im
Binnenschiffahrtsverkehr von diesem Markt ausgenommen habe, verkannt, daß
diese Beförderungsarten für fast alle Versender von Containern mit der
Beförderung im Schienenverkehr austauschbar seien. Diese Austauschbarkeit werde
insbesondere durch den Umstand veranschaulicht, daß zwischen den Beförderern
im Schienen-, im Straßen- und im Binnenschiffahrtsverkehr ein erheblicher
Preiswettbewerb herrsche.
- 50.
- Die Klägerin ist somit der Auffassung, daß der relevante Markt alle Elemente der
Beförderung von Übersee-Containern im Schienenverkehr sowie den Straßen- und
den Binnenschiffahrtsverkehr umfassen müsse; folglich reiche es zum Beweis für
das Vorliegen einer beherrschenden Stellung nicht aus, daß die DB ein gesetzliches
Monopol für die Erbringung von Eisenbahnleistungen in Deutschland innegehabt
habe. Ein gesetzliches Monopol komme einer beherrschenden Stellung im Sinne
des Artikels 86 des Vertrages nur gleich, wenn es den gesamten relevanten Markt
umfasse und wenn die betreffenden Dienstleistungen auf diesem relevanten Markt
keinem tatsächlichen Wettbewerb unterlägen. Wegen des Wettbewerbs durch die
Beförderer im Straßen- und im Binnenschiffahrtsverkehr habe die DB trotz ihres
gesetzlichen Monopols auf dem Markt für Containerbeförderung nur einen Anteil
von 6 % innegehabt.
- 51.
- Die Beklagte weist auf mehrere Entscheidungen des Gerichtshofes hin, wonach ein
Unternehmen, das ein gesetzliches Monopol in einem Mitgliedstaat habe, aus
diesem Grunde eine beherrschende Stellung einnehme und das Hoheitsgebiet eines
Mitgliedstaats als wesentlicher Teil des Gemeinsamen Marktes im Sinne des
Artikels 86 des Vertrages anzusehen sei.
- 52.
- Das Vorbringen der Klägerin, die DB habe nur einen Marktanteil von 6 % der
Containerbeförderung innegehabt, beruhe auf einer ganz anderen Abgrenzung des
Marktes, die nicht der Rechtsprechung entspreche. Die Beklagte weist insoweit
darauf hin, daß die Austauschbarkeit der Dienstleistungen nach der
Rechtsprechung vom Standpunkt der Abnehmer aus und unter Berücksichtigung
der Merkmale der fraglichen Leistungen und der Struktur des Angebots und der
Nachfrage untersucht werden müsse. Die von der DB erbrachten
Eisenbahnleistungen stellten sich jedoch unter allen diesen Aspekten so dar, daß
sie nicht mit den anderen im Rahmen der Beförderung von Übersee-Containern
erbrachten Dienstleistungen austauschbar seien.
Würdigung durch das Gericht
- 53.
- Ob die DB zur Zeit der beanstandeten Handlungen eine beherrschende Stellung
einnahm, hängt von der Abgrenzung des Marktes der in Rede stehenden
Leistungen ab. Die Kommission hat den relevanten Markt, auf dem sie eine
beherrschende Stellung festgestellt hat, sachlich als den Markt der Bahnleistungen,
die von den Bahnunternehmen den Transportunternehmen verkauft werden und
die im wesentlichen in der Stellung der Lokomotiven, der Traktionsleistung und
dem Zugang zum Schienennetz bestehen, und geographisch als das Gebiet
Deutschlands abgegrenzt. Trotz der Verwendung einer weiter gefaßten sachlichen
Definition des Marktes in Artikel 2 der Entscheidung („Bahnverkehrsmarkt“)
entspricht die genannte Abgrenzung derjenigen, die in den Begründungserwägungen
der Entscheidung verwendet wird und von der auch die Klägerin ausgegangen ist.
Die Kommission hat diese Definition im übrigen in ihrer Antwort auf eine Frage
des Gerichts vor der mündlichen Verhandlung bestätigt.
- 54.
- Zur sachlichen Abgrenzung des Marktes weist das Gericht darauf hin, daß nur
dann von einem hinreichend gesonderten Markt der betreffenden Dienstleistung
oder Ware gesprochen werden kann, wenn diese durch besondere Merkmale
gekennzeichnet ist, durch die sie sich von anderen Dienstleistungen oder Waren so
unterscheidet, daß sie mit ihnen nur in geringem Maß austauschbar und ihrem
Wettbewerb nur in wenig spürbarer Form ausgesetzt ist (vgl. Urteile des
Gerichtshofes vom 11. April 1989 in der Rechtssache 66/86, Ahmed Saeed
Flugreisen und Silver Line Reisebüro, Slg. 1989, 803, Randnrn. 39 und 40, und vom
14. Februar 1978 in der Rechtssache 27/76, United Brands/Kommission, Slg. 1978,
207, Randnrn. 11 und 12, sowie Urteil des Gerichts vom 12. Dezember 1991 in der
Rechtssache T-30/89, Hilti/Kommission, Slg. 1991, II-1439, Randnr. 64). In diesem
Rahmen ist die Frage, in welchem Maße Erzeugnisse untereinander austauschbar
sind, aufgrund ihrer objektiven Merkmale sowie der Struktur der Nachfrage und
des Angebots auf dem Markt und der Wettbewerbsbedingungen zu beurteilen (vgl.
Urteil des Gerichtshofes vom 9. November 1983 in der Rechtssache 322/81,
Michelin/Kommission, Slg. 1983, 3461, Randnr. 37, und Urteil des Gerichts vom 6.
Oktober 1994 in der Rechtssache T-83/91, Tetra Pak/Kommission, Slg. 1994, II-755,
Randnr. 63).
- 55.
- Der Markt der Eisenbahnleistungen bildet einen gesonderten Teilmarkt des
Bahnverkehrsmarkts im allgemeinen. Auf diesem Teilmarkt wird eine spezifische
Gesamtheit von Leistungen angeboten, insbesondere die Stellung von Lokomotiven,
die Traktionsleistung und der Zugang zum Schienennetz. Diese Leistungen werden
zwar nach Maßgabe der Nachfrage der Beförderer im Schienenverkehr erbracht,
sind jedoch mit deren Leistungen keineswegs austauschbar und stehen mit ihnen
auch nicht im Wettbewerb. Der besondere Charakter der Eisenbahnleistungen
ergibt sich auch daraus, daß für sie eine spezifische Nachfrage und ein spezifisches
Angebot bestehen. Die Beförderer können nämlich ihre Leistungen nicht erbringen,
wenn sie nicht über die Eisenbahnleistungen verfügen. Die Eisenbahnunternehmen
ihrerseits besaßen zur Zeit der beanstandeten Handlungen ein gesetzliches
Monopol für die Erbringung der Eisenbahnleistungen im Gebiet ihres jeweiligen
Landes. So ist zwischen den Parteien unstreitig, daß die DB bis zum 31. Dezember
1992 ein gesetzliches Monopol für die Erbringung von Eisenbahnleistungen in
Deutschland besaß.
- 56.
- Nach der Rechtsprechung ist ein Teilmarkt, der unter dem Gesichtspunkt der
Nachfrage und des Angebots besondere Merkmale besitzt und auf dem Erzeugnisse
angeboten werden, die auf dem allgemeineren Markt, dessen Teil er ist,
unentbehrlich und nicht austauschbar sind, als gesonderter Produktmarkt anzusehen
(vgl. Urteil des Gerichts vom 10. Juli 1991 in der Rechtssache T-69/89,
RTE/Kommission, Slg. 1991, II-485, Randnrn. 61 und 62). Unter Berücksichtigung
dieser Rechtsprechung und aufgrund der vorstehenden Erwägungen durfte die
Kommission bei der sachlichen Abgrenzung des Marktes die Leistungen der
Beförderer im Schienenverkehr und erst recht die Leistungen der Beförderer im
Straßen- und im Binnenschiffahrtsverkehr unberücksichtigt lassen.
- 57.
- Weiterhin kann nach der Rechtsprechung das Vorliegen einer beherrschenden
Stellung auf einem gesonderten Markt nicht bestritten werden, wenn für die auf
dem Teilmarkt erbrachten Leistungen wie im hier zu entscheidenden Fall ein auf
Rechtsvorschriften beruhendes Monopol besteht, das bewirkt, daß sich die
Nachfragenden in wirtschaftlicher Abhängigkeit vom Lieferer befinden; dies gilt
auch dann, wenn die im Rahmen dieses Monopols erbrachten Leistungen mit
einem Erzeugnis in Zusammenhang stehen, das selbst im Wettbewerb mit anderen
Erzeugnissen steht (Urteile des Gerichtshofes vom 13. November 1975 in der
Rechtssache 26/75, General Motors Continental/Kommission, Slg. 1975, 1367,
Randnrn. 5 bis 10, und vom 11. November 1986 in der Rechtssache 226/84, British
Leyland/Kommission, Slg. 1986, 3263, Randnrn. 3 bis 10).
- 58.
- Zur geographischen Abgrenzung des Marktes genügt der Hinweis, daß einMitgliedstaat allein einen wesentlichen Teil des Gemeinsamen Marktes bilden kann,
auf dem ein Unternehmen eine beherrschende Stellung einnehmen kann,
insbesondere, wenn es in diesem Gebiet ein auf Rechtsvorschriften beruhendes
Monopol besitzt (Urteil General Motors Continental/Kommission, a. a. O.,
Randnr. 9; Urteil des Gerichtshofes vom 21. März 1974 in der Rechtssache 127/73,
BRT/Sabam und Fonior, Slg. 1974, 313, Randnr. 5).
- 59.
- Aus allen diesen Erwägungen ist der erste Teil des Klagegrundes zurückzuweisen.
Zweiter Teil des Klagegrundes: Fehlen einer mißbräuchlichen Ausnutzung
Vorbringen der Parteien
- 60.
- Die Klägerin trägt vor, selbst wenn das Gericht das Vorliegen einer beherrschenden
Stellung bejahe, müsse es doch zu dem Ergebnis kommen, daß die DB diese
Stellung nicht mißbraucht habe. Soweit die angefochtene Entscheidung auf die
Höhe der Tarife für Beförderungen im Schienenverkehr nach und von den
Westhäfen gestützt werde und es darin heiße, daß diese nicht höher seien als die
Tarife für Beförderungen im Schienenverkehr nach und von den Nordhäfen,
würden im wesentlichen nicht die Tarifpraktiken der DB, sondern die von
Intercontainer gerügt. In diesem Zusammenhang hat die Klägerin in der
mündlichen Verhandlung ausgeführt, daß die Tarife, nach denen die DB
Intercontainer die dieser erbrachten Eisenbahnleistungen in Rechnung gestellt hat,
immer niedriger gewesen seien als die Tarife, die sie gegenüber Transfracht
angewandt habe, und auch niedriger als die von den NS gegenüber Intercontainer
praktizierten Tarife; dagegen hatte sie in ihrer Klageschrift erklärt, sie bestreite
nicht, daß ihr Preisniveau im Westverkehr über dem Preisniveau im Verkehr zu
den Nordhäfen gelegen habe (Klageschrift, S. 25). Die Klägerin trägt vor, das im
Verhältnis zu den Tarifen für die Beförderung nach und von den Nordhäfen
durchschnittlich höhere Niveau gegenüber den auf die Beförderungen nach und von
den Westhäfen angewandten Tarifen könne nicht der DB angelastet werden.
Außerdem habe für einen Großteil der Strecken über die Westhäfen der die
Eisenbahnleistungen betreffende Tarifanteil zum größten Teil nichts mit der DB
zu tun gehabt, sondern Leistungen betroffen, die von den NS oder von der SNCB
erbracht worden seien (Erwiderung, S. 31 und 32).
- 61.
- In diesem Zusammenhang bestreitet die Klägerin auch, daß die DB im Rahmen
der MCN-Vereinbarung alle Tarifsenkungen von Intercontainer blockiert und
tatsächlich die Beibehaltung dieser Tarife durchgesetzt habe. Jede Preisänderung
nach der MCN-Vereinbarung habe Einstimmigkeit im Lenkungsausschuß erfordert,
also auch die Zustimmung der anderen Eisenbahngesellschaften und von
Intercontainer; es sei nicht dargetan worden, daß gerade die DB eine Verringerung
des Unterschieds zwischen den auf den Weststrecken und den auf den
Nordstrecken angewandten Tarifen für die Beförderung im Schienenverkehr
verhindert habe.
- 62.
- Ohnehin habe jede der Parteien der MCN-Vereinbarung nach dieser Vereinbarung
das Recht gehabt, sie zu kündigen. Somit hätten sich die Parteien der MCN-Vereinbarung vom Einfluß der DB freimachen können, wenn sie dies gewollt
hätten (Erwiderung, S. 31).
- 63.
- Jedenfalls sei der Unterschied zwischen den auf den Weststrecken und den auf den
Nordstrecken angewandten Tarifen durch eine unterschiedliche
Wettbewerbssituation und unterschiedliche Kosten gerechtfertigt.
- 64.
- Um diesen Unterschied hinsichtlich der Wettbewerbssituation zu veranschaulichen,
führt die Klägerin aus, daß es auf den Nordstrecken kaum einen Wettbewerb durch
die Binnenschiffahrt gebe und daß der Wettbewerb durch den Güterkraftverkehr
auf die deutschen Unternehmen beschränkt sei, während auf den Weststrecken der
Binnenschiffahrtstransport die billigste Beförderungsart und der Wettbewerb durch
den Güterkraftverkehr ebenfalls sehr stark sei. So lägen insbesondere die Tarife der
Güterkraftverkehrsunternehmen und der Binnenschiffer auf den Weststrecken 20
bis 40 % unter den von DB/Transfracht im Verkehr zu den Nordhäfen
angewandten Tarifen. Sie sei als kleiner Konkurrent auf dem Markt der
Weststrecken nicht in der Lage, mit diesen Preisen kostendeckend zu konkurrieren.
Ihr finanzielles Ergebnis für die Beförderungen auf den Weststrecken sei seit
Jahren defizitär und habe sich noch verschlechtert, als die DB 1989 und 1991 die
Initiative ergriffen habe, ihre Tarife auf den Weststrecken denen auf den
Nordstrecken ein wenig anzugleichen. Eine gemeinsame Initiative der DB und der
NS im Jahre 1993, auf einer der Weststrecken dieselben Preise wie die
konkurrierenden Kraftverkehrsunternehmen anzuwenden, sei ebenfalls völlig
fehlgeschlagen, da sich mit ihr keine neuen Kunden für den Transport mit der
Bahn hätten gewinnen lassen.
- 65.
- Außerdem sei die von der Kommission vorgenommene Definition des Marktes, auf
dem die DB angeblich ihre beherrschende Stellung mißbraucht habe, wegen der
auf den West- und auf den Nordstrecken unterschiedlichen Wettbewerbssituation
mit einem grundlegenden Irrtum behaftet. Die Kommission habe den Markt dahin
gehend definiert, daß er die Beförderungen von Übersee-Containern zu Lande
sowohl auf den Weststrecken als auch den Nordstrecken umfasse, während nach
ständiger Rechtsprechung nur die Gebiete, in denen sich die objektiven
Wettbewerbsbedingungen glichen, als einheitlicher Markt angesehen werden
könnten. Allein dieser Fehler bei der Abgrenzung des Marktes rechtfertige die
Aufhebung der angefochtenen Entscheidung.
- 66.
- Die Beförderungskosten, insbesondere die Kosten der Eisenbahnleistungen, würden
nicht ausschließlich durch die Wegstrecke bestimmt, sondern hingen auch von
anderen Faktoren ab wie der Zahl und der Dauer der Rangiervorgänge, den
Zollförmlichkeiten sowie der zeitlichen Inanspruchnahme von Personal,
Lokomotiven und Waggons. Folglich könnten die Beförderungskosten auf Routen
mit gleicher Wegstrecke sehr unterschiedlich sein. Im vorliegenden Fall beruhten
die Kostenunterschiede darauf, daß der Eisenbahnverkehr auf den Nordstrecken
stärker sei und daß auf den Weststrecken die Überquerung der belgischen und der
niederländischen Grenze durch die Züge Kosten verursache.
- 67.
- Insbesondere ermögliche das hohe Beförderungsaufkommen auf den Nordstrecken
zur Beförderung von Containern mit demselben Bestimmungsort die Benutzung von
Ganzzügen, für die keine Rangiervorgänge anfielen. Auch brauchten auf den
Nordstrecken die Lokomotiven der Züge nicht ausgetauscht zu werden, da auf allen
diesen Strecken die DB für die Traktionsleistung verantwortlich sei. Somit seien die
Kosten auf den Nordstrecken niedriger, so daß auf diesen Strecken niedrigere
Tarife angewandt werden könnten.
- 68.
- Schließlich ändere der Umstand, daß die DB mit der Einführung des Tarifsystems
KLV-Neu die Kosten und damit die Preise der Eisenbahnleistungen auf den
Nordstrecken noch weiter reduziert habe, nichts daran, daß die Kommission in der
Entscheidung ihre Schlußfolgerungen auf einen Vergleich der Tarife von
Intercontainer mit den Tarifen von Transfracht gestützt und darüber hinaus nicht
bewiesen habe, daß die Herabsetzung der Preise in Deutschland dank des
Tarifsystems KLV-Neu wirtschaftlich nicht gerechtfertigt gewesen sei.
- 69.
- Die Beklagte weist vorab darauf hin, daß nach ständiger Rechtsprechung ein
Mißbrauch im Sinne des Artikels 86 Absatz 2 Buchstabe c des Vertrages vorliege,
wenn ein Unternehmen seine marktbeherrschende Stellung auf einem Markt dazu
benutze, unterschiedliche Bedingungen für gleichwertige Leistungen durchzusetzen
und so die eigenen Leistungen zu begünstigen.
- 70.
- Die Beklagte erläutert zunächst, sie habe als „gleichwertige Leistungen“ die von
Intercontainer durchgeführten Containertransporte von und nach den Westhäfen
einerseits und die von Transfracht durchgeführten Containertransporte von und
nach den Nordhäfen andererseits angesehen.
- 71.
- Als „unterschiedliche Bedingungen“ habe sie die unterschiedlichen Preise pro
Kilometer betrachtet, die für die Leistungen von Intercontainer und von
Transfracht in Rechnung gestellt würden. Diese Unterschiede variierten zwischen
2 und 77 % für die Beförderung von Leercontainern und zwischen 4 und 42 % für
die Beförderung von beladenen Containern; dies ergebe sich aus den Angaben, die
die betroffenen Unternehmen aufgrund der Tarife von Intercontainer für die
Beförderungen von Containern nach dem Hafen Rotterdam einerseits und
aufgrund der Tarife von Transfracht für die Beförderungen nach dem Hafen
Hamburg andererseits gemacht hätten; diese Angaben seien in den Anhängen 3 bis
9 der Entscheidung enthalten und in den Randnummern 162 bis 171 der
Entscheidung untersucht worden. Die Beklagte führt aus, sie habe diese
Unterschiede durch Vergleiche festgestellt, bei denen die einzige Variable die
Transportentfernung gewesen sei, und rechtfertigt diese Vergleichsmethode durch
den Hinweis auf eine von Transfracht bei der Untersuchung gegebene Auskunft,
wonach die Transportentfernung das entscheidende Kriterium darstelle.
- 72.
- Nach Auffassung der Beklagten gibt es keine objektive Rechtfertigung für die
festgestellten Preisunterschiede.
- 73.
- Zur Wettbewerbssituation führt die Beklagte aus, das Bestehen eines härteren
Wettbewerbs mit anderen Verkehrsträgern auf den Weststrecken könne erklären,
daß Intercontainer niedrigere Tarife als Transfracht anwende, nicht aber das
Gegenteil. Im übrigen habe die DB nicht im Wettbewerb mit den Kraftverkehrs-
und Binnenschiffahrtsunternehmen gestanden, da die von ihr angebotenen
Leistungen ihrer Natur nach Eisenbahnleistungen und somit nicht mit den von den
Kraftverkehrs- und Binnenschiffahrtsunternehmen angebotenen Leistungen
austauschbar seien.
- 74.
- Hinsichtlich der Produktionskosten habe die Klägerin nicht dargetan, daß der
Verkehr auf der Weststrecke höhere Kosten mit sich bringe als der Verkehr auf
den Nordstrecken. Insbesondere sei nicht bewiesen, daß die Grenzübertritte die
Beförderungskosten wesentlich erhöhten, und die verfügbaren Angaben über das
Verkehrsvolumen und die Versendungsarten stünden in keinem logischen
Verhältnis zu den Beförderungskosten und -tarifen. Außerdem sei der
Durchschnittspreis pro Kilometer, den die DB Intercontainer in Rechnung stelle,
niedriger als der, den sie Transfracht berechne; dies lege die Vermutung nahe, daß
die Kosten der Eisenbahnleistungen für die Beförderungen nach und von den
Westhäfen niedriger seien als die Kosten der Eisenbahnleistungen für die
Beförderungen nach und von den Nordhäfen (Klagebeantwortung, S. 38 und 39).
- 75.
- Zu der Frage, ob die genannten Tarifunterschiede der DB zugerechnet werden
können, verweist die Beklagte auf ihre Untersuchung in den Randnummern 143 bis
156 der Entscheidung, wonach die DB die Möglichkeit gehabt habe,
Entscheidungen innerhalb der durch die MCN-Vereinbarung geschaffenen Organe
zu blockieren, und diese genutzt habe, um eine Senkung der Tarife von
Intercontainer zu verhindern, während sie gleichzeitig auf den Nordstrecken ein
einseitig von ihr geschaffenes neues Tarifsystem angewandt habe. Die
Unzufriedenheit von Intercontainer, der NS und der SNCB über die Haltung der
DB im Rahmen der MCN-Vereinbarung ergebe sich deutlich aus den Protokollen
der von Intercontainer veranstalteten Sitzungen und der im Rahmen der MCN-Vereinbarung veranstalteten Zusammenkünfte.
- 76.
- Die Beklagte führt abschließend aus, die DB habe Tarifunterschiede erzwungen;
diese hätten diskriminierenden Charakter. Die wirtschaftlichen Auswirkungen dieser
Diskriminierungen seien nicht in den Beziehungen zwischen den Beförderern auf
dem Schienenwege und den anderen Beförderern zu suchen, sondern lägen in den
Beziehungen der DB zu den NS und zur SNCB und in den Beziehungen zwischen
Transfracht und Intercontainer. Es sei klar, daß die DB und Transfracht in diesen
Beziehungen von den genannten Tarifunterschieden profitiert hätten.
Würdigung durch das Gericht
- 77.
- Artikel 8 Absätze 1 und 2 Buchstabe c der Verordnung Nr. 1017/68 übernimmt den
Wortlaut des Artikels 86 Absätze 1 und 2 Buchstabe c, indem er die
mißbräuchliche Ausnutzung einer beherrschenden Stellung auf einem wesentlichen
Teil des Gemeinsamen Marktes durch die Anwendung „unterschiedlicher
Bedingungen bei gleichwertigen Leistungen gegenüber Handelspartnern, wodurch
diese im Wettbewerb benachteiligt werden“, verbietet, soweit dies dazu führen
kann, den Handel zwischen Mitgliedstaaten zu beeinträchtigen. Auch weist keine
Begründungserwägung und keine Vorschrift der Verordnung Nr. 1017/68 deren
Artikel 8 eine Zielsetzung zu, die sich von der des Artikels 86 des Vertrages
wesentlich unterschiede. Folglich ist der Kommission, als sie eine Zuwiderhandlung
gegen Artikel 86 des Vertrages, nicht aber gegen Artikel 8 der Verordnung Nr.
1017/68 festgestellt hat, kein Irrtum unterlaufen, ohne den die Entscheidung einen
anderen Inhalt hätte haben können. Die Bezugnahme auf Artikel 86 des Vertrages
in der Entscheidung ist im übrigen von der Klägerin nicht beanstandet worden.
- 78.
- Mit der Wendung „mißbräuchliche Ausnutzung einer beherrschenden Stellung“
wird einem beherrschenden Unternehmen verboten, die eigene Stellung zu stärken,
indem es zu anderen Mitteln als denjenigen eines Leistungswettbewerbs greift (vgl.
in diesem Sinne Urteil des Gerichtshofes vom 3. Juli 1991 in der Rechtssache C-62/86, AKZO/Kommission, Slg. 1991, I-3359, Randnr. 70). So darf ein
Unternehmen keine künstlichen Preisunterschiede herbeiführen, die geeignet sind,
seine Kunden zu benachteiligen und den Wettbewerb zu verfälschen (Urteil TetraPak/Kommission, a. a. O., Randnr. 160).
- 79.
- Die mißbräuchliche Ausnutzung einer beherrschenden Stellung wird auch nicht
dadurch ausgeschlossen, daß das marktbeherrschende Unternehmen förmlich einer
Vereinbarung beigetreten ist, die die gemeinsame Festsetzung von Tarifen zum
Gegenstand hat und somit unter das Kartellverbot fällt. Denn das Bestehen einer
solchen Vereinbarung schließt nicht aus, daß eines der durch die Vereinbarung
gebundenen Unternehmen einseitig diskriminierende Tarife erzwingen kann (vgl.
entsprechend Urteil Ahmed Saeed Flugreisen und Silver Line Reisebüro, a. a. O.,
Randnrn. 34 und 37).
- 80.
- Im vorliegenden Fall konnte die Kommission aufgrund mehrerer Anhaltspunkte in
den Akten zu der Auffassung gelangen, daß die DB ungeachtet der MCN-Vereinbarung und ihres vorrangigen Zweckes der, wie die Klägerin in der
mündlichen Verhandlung bestätigt hat, darin bestand, die Tarife von Intercontainer
zu senken und so die Wettbewerbsfähigkeit des Schienenverkehrs auf den
Weststrecken wiederherzustellen einseitig in einer diesem Zweck
zuwiderlaufenden Art und Weise gehandelt hat.
- 81.
- Erstens verfügte die Kommission über eine Reihe von Unterlagen, aufgeführt in
den Randnummern 152 bis 154 der Entscheidung, deren Existenz von der Klägerin
nicht bestritten wurde und deren Inhalt weitgehend bestätigt, daß die DB in
Wirklichkeit für die Festsetzung der Tarife innerhalb der MCN-Vereinbarung und
folglich für die Aufrechterhaltung der Tarifunterschiede verantwortlich war. So wird
im Protokoll einer Gesamtkonferenz des Verwaltungsrats von Intercontainer auf
die Erklärung eines Vertreters der SNCB hingewiesen, wonach der
Lenkungsausschuß „von der DB ausgeschlossen worden ist“. Desgleichen heißt es
in einem internen Vermerk von Intercontainer: „Die Nordhäfenverkehre werden
ausschließlich von Transfracht und DB direkt betreut, ohne Einbeziehung des
[Lenkungsausschusses]. In der Praxis hat sich zudem erwiesen, daß auch für die
Westhäfenverkehre die Tarifhoheit nicht beim [Lenkungsausschuß] liegt.“
Schließlich setzen bestimmte Vorschläge der DB, die in dem Protokoll eines
Treffens von Vertretern der Westhäfen mit Vertretern der DB, der SNCB und der
NS enthalten sind, eindeutig voraus, daß die DB über die Macht verfügte, sowohl
auf den Weststrecken als auch auf den Nordstrecken das Preisniveau zu
kontrollieren. Die DB hat anläßlich dieses Treffens insbesondere vorgeschlagen,
„auf die Preisfrage ... wieder zurück[zu]kommen, ausgehend von den politischen
Rahmenbedingungen in Deutschland“, um auf diese Weise einen „Abbau des
Tarifgefälles von 50 % zum 1. Januar 1990“ und einen „weiteren Abbau zum 1. Juli
1990“ zu erreichen.
- 82.
- Die Auffassung der Kommission, daß die DB und Transfracht sich der
Blockademöglichkeit, die sie aufgrund des Erfordernisses der Einstimmigkeit im
Entscheidungsprozeß innerhalb des Lenkungsausschusses besaßen (siehe oben,
Randnr. 6), bedient hätten, um ein Sinken der Tarife von Intercontainer zu
verhindern, wurde somit durch mehrere Indizien gestützt. Entgegen dem
Vorbringen der Klägerin waren die SNCB, die NS und Intercontainer nicht in der
Lage, sich durch eine Kündigung der MCN-Vereinbarung von dieser Blockade
freizumachen. Zunächst hätte eine Kündigung der MCN-Vereinbarung nichts daran
geändert, daß die in Belgien und in den Niederlanden tätigen Eisenbahn- und
Transportunternehmen auf allen Strecken zwischen dem Hafen Antwerpen oder
Rotterdam und einer deutschen Stadt für die Anschlußstrecke in Deutschland von
der Zusammenarbeit mit der DB abhängig waren. Weiter hätte eine Kündigung der
Vereinbarung nichts daran geändert, daß die DB die Höhe der Beförderungstarife
auf den Nordstrecken völlig unabhängig festsetzte und somit den Unterschied
zwischen den Tarifen auf den Weststrecken und denen auf den Nordstrecken
beeinflußte.
- 83.
- Zweitens steht fest, daß die DB einseitig am 1. Juni 1988, d. h. kaum drei Monate
nach dem Inkrafttreten der MCN-Vereinbarung, ein neues Tarifsystem, nämlich das
System KLV-Neu, eingeführt hat. Dies hat die Klägerin in Beantwortung einer
Frage des Gerichts vor der mündlichen Verhandlung bestätigt. In ihrer Antwort hat
die Klägerin ebenfalls bestätigt, daß das Tarifsystem KLV-Neu nur zu einer
Senkung der Preise zugunsten der Versender von Übersee-Containern auf dem
Schienenweg über die deutschen Häfen geführt hat, da dieses Tarifsystem auf
Rationalisierungsmaßnahmen beruht habe, die in der Praxis nur auf die
Beförderung von Containern über die Nordhäfen angewandt worden seien.
- 84.
- Aus den Feststellungen in den vorstehenden Randnummern geht hervor, daß das
Verhalten der DB während des Untersuchungszeitraums unmittelbar zur
Aufrechterhaltung eines Unterschieds zwischen den Preisen pro Kilometer für die
Beförderungen über die Westhäfen und denjenigen für Beförderungen über die
Nordhäfen beigetragen hat.
- 85.
- An dieser Stelle ist zu prüfen, ob dieser Unterschied der Preise pro Kilometer
diskriminierenden Charakter hatte und deshalb die Wettbewerbsstellung
bestimmter Wirtschaftsteilnehmer beeinträchtigt hat.
- 86.
- Hierzu sind die in den Anhängen 3 bis 9 der Entscheidung aufgeführten Zahlen zu
untersuchen. Diese Zahlen zeigen, daß außer beim Zielort Saarbrücken bei jedem
Zielort, der wesentlich näher bei Rotterdam als bei Hamburg liegt und für den die
Beförderung über Rotterdam somit objektiv vorteilhafter war, dieser wirtschaftliche
Vorteil gegenüber der Beförderung über Hamburg immer ausgeglichen wurde, und
zwar entweder dadurch, daß die absoluten Preise für die Beförderungen nach
Rotterdam höher waren, oder dadurch, daß gleich hohe absolute Preise angewandt
wurden. Unter den ungleichen absoluten Preisen finden sich zum Beispiel die
Preise für die Beförderungen von Leercontainern zwischen dem 1. Oktober 1990
und dem 31. Dezember 1991 (Anhang 3) nach Duisburg, Bochum, Wuppertal,
Mannheim und Karlsruhe. Diese absoluten Preise führen zu Preisunterschieden pro
Kilometer von 77,6 % (Duisburg), 56,5 % (Bochum), 42 % (Wuppertal), 16,5 %
(Mannheim) und 22,6 % (Karlsruhe). Unter den gleich hohen absoluten Preisen
finden sich z. B. diejenigen, die ab 1. Januar 1992 (Anhang 7) für die
Beförderungen von beladenen Containern nach Frankfurt, Karlsruhe, Duisburg,
Düsseldorf, Wuppertal und Bochum verlangt wurden. Diese Preise führen zu
Unterschieden beim Kilometerpreis von 4,6 % (Frankfurt), 11,35 % (Karlsruhe),
58 % (Düsseldorf), 28 % (Wuppertal) und 20,9 % (Bochum). Außerdem waren
nur mit Ausnahme des Zielortes Saarbrücken die auf Beförderungen von und
nach Rotterdam angewandten absoluten Preise für keine Stadt in Deutschland
unabhängig davon, ob sie näher bei Rotterdam oder bei Hamburg lag niedriger
als die auf Beförderungen von und nach Hamburg angewandten absoluten Preise.
Dies galt z. B. für die KLV-Tarife für die Beförderungen von Containern ab 1. Juli
1991 (Anhang 9) nach Frankfurt (absoluter Preis: 857 DM nach Rotterdam gegen
833 DM nach Hamburg), Düsseldorf (653 DM gegen 618 DM) und Mainz
(867 DM gegen 843 DM) einerseits (Städte, die näher bei Rotterdam als bei
Hamburg liegen) und nach Augsburg (1 456 DM gegen 1 415 DM), München
(1 520 DM gegen 1 410 DM) und Regensburg (1 386 DM gegen 1 334 DM)
andererseits (Städte, die näher bei Hamburg liegen). Diese Praxis hat eine
Tarifsituation künstlich verfestigt, die Beförderungen im Schienenverkehr über die
Nordhäfen schützt, und muß als Erzwingung ungleicher Tarifbedingungen zu Lasten
der Wettbewerbssituation der Unternehmen, die auf den Eisenbahn-Weststrecken
tätig sind, gegenüber denen, die auf den Eisenbahn-Nordstrecken tätig sind,
angesehen werden.
- 87.
- Die Klägerin hat vorgetragen, die unterschiedlichen Kilometerpreise ergäben sich
daraus, daß die Kosten der Leistungen auf den Weststrecken höher seien als auf
den Nordstrecken und daß die Beförderung im Schienenverkehr auf den
Weststrecken einem stärkeren Wettbewerb durch andere Verkehrsträger ausgesetzt
sei als auf den Nordstrecken.
- 88.
- Hierzu ist erstens festzustellen, daß die Kostenunterschiede, auf die sich die
Klägerin beruft, teilweise von der DB selbst verursacht worden sind. Diese hat
insbesondere im Rahmen des Tarifsystems KLV-Neu mehrere
Rationalisierungsmaßnahmen ergriffen, wie z. B. eine stärkere Verwendung von
Direktzügen/Ganzzügen sowie eine Konzentration auf den Nachtverkehr und auf
die Beförderungen nach bestimmten Terminals mit Rationalisierung des
Terminalbetriebs. Diese Maßnahmen haben eine Kostensenkung ermöglicht, jedoch
nur für den Verkehr nach und von den deutschen Häfen (siehe Randnr. 83).
- 89.
- Die Klägerin hat nichts dafür vorgetragen, daß die Eisenbahnleistungen für die
Beförderungen nach den belgischen und niederländischen Häfen von den
Rationalisierungsmaßnahmen im Rahmen des Tarifsystems KLV-Neu und damit
von der Gesamtheit der von der DB getroffenen Preissenkungsmaßnahmen
notwendig ausgeschlossen werden mußten. Das Argument, die im Rahmen des
Tarifsystems KLV-Neu getroffenen Rationalisierungsmaßnahmen hätten wegen des
schwachen Volumens dieses Verkehrs und der daraus folgenden Unmöglichkeit,
Direktzüge und Ganzzüge zusammenzustellen, nicht auf den Verkehr über die
Westhäfen angewandt werden können, vermag insoweit nicht zu überzeugen. Die
Klägerin hat im übrigen auf Fragen des Gerichts in der mündlichen Verhandlung
zweimal erklärt, daß auf den Weststrecken Ganzzüge zusammengestellt würden.
- 90.
- Soweit die Klägerin sich auf Kosten berufen hat, die speziell auf den Weststrecken,
nämlich durch den Wechsel der Lokomotiven und die Neuzusammenstellung der
Waggons an der Grenze entstünden, ist festzustellen, daß diese Kosten nur einen
kleinen Teil der Kosten ausmachen können, die für die fragliche
Gesamtdienstleistung (Bereitstellung der Lokomotiven und Traktion der Züge unter
allen Gesichtspunkten) entstehen, so daß sie die festgestellten Preisunterschiede
nicht zu rechtfertigen vermögen. Auch ergibt sich aus den zwischen den Parteien
unstreitigen Zahlen im Anhang 15 der Entscheidung, daß der Gesamtbetrag der
Preise, die die DB einerseits und die NS andererseits Intercontainer für ihre
Bahnleistungen auf den Strecken zwischen den deutschen Städten und dem Hafen
Rotterdam in Rechnung gestellt haben, im Durchschnitt niedriger war als der Preis,
den die DB der Transfracht für ihre Bahnleistungen auf der Nordstrecke in
Rechnung stellte. Unter diesen Umständen mußten die Kosten, die unmittelbar auf
die von den Eisenbahnunternehmen erbrachten Dienstleistungen entfallen,
logischerweise für die Weststrecken niedriger sein als für die Nordstrecken.
- 91.
- Zweitens liefert der stärkere Wettbewerb zwischen den Beförderern im
Schienenverkehr einerseits und den Beförderern im Straßenverkehr und im
Binnenschiffahrtsverkehr andererseits auf den Weststrecken keine Erklärung dafür,
daß Intercontainer auf diesen Strecken höhere Tarife anwendet als Transfracht auf
den Nordstrecken. Denn selbst wenn es zuträfe, daß der stärkere Wettbewerb
zwischen verschiedenen Verkehrsträgern auf den Weststrecken einen
Preisunterschied zu rechtfertigen vermag, könnte daraus kaufmännisch gesehen
logischerweise nur ein Unterschied zugunsten der auf den Weststrecken
angewandten Tarife resultieren.
- 92.
- Zu dem Vorbringen der Klägerin, die unterschiedliche Wettbewerbssituation mache
die Definition des geographisch relevanten Marktes durch die Kommission
fehlerhaft, genügt der Hinweis, daß die Definition des geographischen Marktes
keine vollkommene Homogenität der objektiven Bedingungen des Wettbewerbs
zwischen den Wirtschaftsteilnehmern verlangt; es reicht aus, daß diese Bedingungen
einander „gleichen“ oder „hinreichend homogen“ sind. Somit können nur Gebiete,
in denen die objektiven Wettbewerbsbedingungen „heterogen“ sind, nicht als
einheitlicher Markt angesehen werden (Urteile United Brands/Kommission,
a. a. O., Randnrn. 11 und 53, und Tetra Pak/Kommission, a. a. O., Randnrn. 91
und 92). Im vorliegenden Fall kann der stärkere Wettbewerb zwischen
verschiedenen Verkehrsträgern auf den Weststrecken nicht dazu führen, daß die
auf diesen Strecken bestehenden objektiven Wettbewerbsbedingungen als
gegenüber denen auf den Nordstrecken „heterogen“ einzustufen wären.
- 93.
- Nach alledem hat die Kommission ausreichende Beweise zur Stützung ihrer
Beurteilung des Verhaltens der DB erbracht und rechtlich hinreichend dargetan,
daß die DB durch ihr Verhalten unterschiedliche Bedingungen für gleichwertige
Leistungen erzwungen und dadurch ihren Handelspartnern, die auf den
Weststrecken tätig sind, einen Nachteil im Wettbewerb mit ihr selbst und ihrer
Tochtergesellschaft Transfracht zugefügt hat. Folglich ist auch der zweite Teil des
Klagegrundes zurückzuweisen.
- 94.
- Sonach greift der gesamte zweite Klagegrund nicht durch.
- 95.
- Diesem Ergebnis steht auch die von der Klägerin in der Erwiderung und in der
mündlichen Verhandlung erhobene zusätzliche Rüge nicht entgegen, daß das
Ergebnis, zu dem die Kommission hinsichtlich des Mißbrauchs einer
beherrschenden Stellung durch die DB gekommen sei, unter Verstoß gegen Artikel
190 des Vertrages unzureichend begründet sei. Nach Artikel 48 § 2 der
Verfahrensordnung kann ein neues Angriffs- und Verteidigungsmittel im Laufe des
Verfahrens nicht mehr vorgebracht werden, es sei denn, daß es auf rechtliche oder
tatsächliche Gründe gestützt wird, die erst während des Verfahrens zutage getreten
sind. Die Rüge einer Verletzung des Artikels 190 des Vertrages stellt ein neues
Angriffsmittel dar, das nicht auf Gründen beruht, die erst während des Verfahrenszutage getreten sind; diese Rüge kann somit nicht erstmals im Verfahren vor dem
Gericht geltend gemacht werden.
- 96.
- Jedenfalls hat die Kommission dadurch, daß sie nacheinander den „entscheidenden
Einfluß der DB auf die Preisbildung für den Übersee-Container-Transport von und
nach Deutschland“ (Randnrn. 143 bis 156 der Entscheidung), die „Tarife von
Transfracht und Intercontainer“ (Randnrn. 162 bis 177 der Entscheidung), den
„Standpunkt der Unternehmen zum Vorwurf der Tarifdiskriminierung“,
insbesondere den „Standpunkt von DB/Transfracht“ (Randnrn. 185 bis 190 der
Entscheidung) sowie die Wettbewerbssituationen und die Produktionskosten
(Randnrn. 199 bis 248 der Entscheidung) untersucht und einen Zusammenhang
zwischen diesen Untersuchungen hergestellt hat, in ihrer Entscheidung ausführlich
erläutert, weshalb die DB ihrer Meinung nach ihre beherrschende Stellung
mißbraucht hat, so daß das Gericht die ihm obliegende Rechtmäßigkeitskontrolle
ausüben kann. Ebenso ist die Klägerin sowohl in ihrer Klageschrift als auch im
Laufe des Verfahrens auf die Überlegungen eingegangen, die die Kommission in
der Entscheidung zum Mißbrauch einer beherrschenden Stellung angestellt hat, was
zeigt, daß sie ihre Rechte aufgrund der in der Entscheidung enthaltenen Angaben
wahrnehmen konnte. Unter diesen Umständen kann nicht festgestellt werden, daß
die Begründung unzureichend ist (vgl. Urteil des Gerichtshofes vom 14. Februar
1990 in der Rechtssache C-350/88, Delacre u. a./Kommission, Slg. 1990, I-395,
Randnr. 15, und Urteil des Gerichts vom 6. April 1995 in der Rechtssache T-150/89, Martinelli/Kommission, Slg. 1995, II-1165, Randnr. 65).
Dritter Klagegrund: Verletzung der Verteidigungsrechte
Vorbringen der Parteien
- 97.
- Die Klägerin führt aus, daß sie bei der Kommission nach Zustellung der
Entscheidung Antrag auf Akteneinsicht gestellt und die Kommission dies abgelehnt
habe. Die beantragte Akteneinsicht sei wesentlich, um ihrem Rechtsbeistand eine
ordnungsgemäße Vorbereitung des streitigen Verfahrens zu ermöglichen. Daß im
vorprozessualen Verfahren Akteneinsicht gewährt worden sei, sei insoweit
unerheblich, da es sich seinerzeit weder um dasselbe Unternehmen noch um
denselben Rechtsbeistand gehandelt habe. Jedenfalls sei sie nicht im Besitz der
Kopien, die der Rechtsbeistand der DB bei seiner Prüfung der Akten angefertigt
habe.
- 98.
- Die Klägerin weist außerdem darauf hin, daß durch das Gesetz vom 27. Dezember
1993 zur Neuordnung des Eisenbahnwesens ein neuer Rechtsträger, das
„Bundeseisenbahnvermögen“, als offizieller Nachfolger der DB geschaffen worden
sei. Sie leitet daraus her, daß sie weder mit der DB identisch noch deren
Rechtsnachfolgerin sei. Deshalb habe die Weigerung der Kommission, ihr
Akteneinsicht zu gewähren, die Klägerin, die erst seit Januar 1994 existiere,
insoweit rechtlos gestellt. Dies komme einer Verletzung der Verteidigungsrechte
gleich; die angefochtene Entscheidung leide deshalb an einem wesentlichen
Verfahrensmangel.
- 99.
- Darüber hinaus habe die Weigerung der Kommission, der Änderung der Identität
des Unternehmens Rechnung zu tragen, zu einer Verletzung der
Begründungspflicht geführt. Die Klägerin leitet insbesondere aus der
Rechtsprechung des Gerichts her, daß eine Entscheidung zur Anwendung der
Artikel 85 oder 86 des Vertrages, durch die eine Geldbuße gegen ein Unternehmen
festgesetzt werde, das als für die von einem anderen Unternehmen begangene
Vertragsverletzung verantwortlich angesehen werde, eine ausführliche Darlegung
der Gründe enthalten müsse, die die Verantwortung des Unternehmens, dem die
Geldbuße auferlegt werde, für die Vertragsverletzung rechtfertige (Urteil des
Gerichts vom 28. April 1994 in der Rechtssache T-38/92, AWS
Benelux/Kommission, Slg. 1994, II-211, Randnrn. 26 und 27). Die angefochtene
Entscheidung enthalte jedoch keine derartige Begründung.
- 100.
- Die Beklagte trägt vor, mit dem Abschluß des Verwaltungsverfahrens erlösche der
Anspruch auf Akteneinsicht. Sobald eine Entscheidung erlassen und
bekanntgemacht worden sei, werde der Anspruch des Adressaten auf rechtliches
Gehör durch die Möglichkeit einer gerichtlichen Anfechtung der Entscheidung
gewahrt.
- 101.
- Jedenfalls könne ein Wechsel des Rechtsbeistands keinerlei Auswirkungen auf das
Recht auf Akteneinsicht haben, da dieses Recht ein solches des betroffenen
Unternehmens und nicht eines bestimmten Rechtsanwalts sei. Auch der Umstand,
daß im vorliegenden Verfahren das Unternehmen selbst nicht mehr dasselbe sei,
sei unerheblich, da die Klägerin sowohl wirtschaftlich als auch rechtlich
Nachfolgerin der DB sei und folglich ihre Rechte und Pflichten mit denen der DB
identisch seien, einschließlich des Rechts auf Akteneinsicht, das die DB im
vorprozessualen Verfahren ausgeübt habe.
Würdigung durch das Gericht
- 102.
- Da der Antrag der Klägerin auf Akteneinsicht nach dem Erlaß und der Zustellung
der Entscheidung bei der Kommission gestellt wurde, handelt es sich insoweit um
einen Umstand, der nach dem Erlaß der Entscheidung eingetreten ist; folglich
konnte die Rechtmäßigkeit der Entscheidung keinesfalls durch die Weigerung der
Kommission, die beantragte Einsicht zu gewähren, beeinträchtigt werden (vgl.
Urteil des Gerichts vom 6. April 1995 in der Rechtssache T-145/89,
Baustahlgewebe/Kommission, Slg. 1995, II-987, Randnr. 30, sowie Urteil des
Gerichtshofes vom 29. Oktober 1989 in den Rechtssachen 209/78 bis 215/78 und
218/78, Van Landewyck u. a./Kommission, Slg. 1980, 3125, Randnr. 40).
- 103.
- Der dritte Klagegrund ist daher zurückzuweisen.
- 104.
- Dem steht nicht entgegen, daß die Klägerin eine weitere Verfahrensrüge erhoben
hat, mit der sie die unzureichende Begründung der Schlußfolgerung, die
festgestellte Zuwiderhandlung sei ihr zuzurechnen, geltend macht. Diese Rüge ist
erstmals im Stadium der Erwiderung erhoben worden. Obwohl sie im Rahmen des
Vorbringens zur Akteneinsicht erhoben worden ist, ist sie inhaltlich von der Frage
der Akteneinsicht und den anderen in der Klageschrift aufgeworfenen Fragen
verschieden und deshalb als unabhängiges und neues Angriffsmittel anzusehen. Da
sie nicht auf rechtliche oder tatsächliche Gründe gestützt wird, die erst während des
Verfahrens zutage getreten sind, war die Klägerin nicht berechtigt, sie im Laufe des
Verfahrens vorzubringen (vgl. entsprechend Randnr. 95).
- 105.
- Jedenfalls kann die von der Klägerin in ihrer Erwiderung erhobene Rüge der
unzureichenden Begründung nicht durchgreifen. Die Kommission hat nämlich in
Randnummer 13 der Entscheidung angegeben, daß die Klägerin seit dem 1. Januar
1994 die Rechtsnachfolgerin der DB sei. Diese Angabe erklärt hinreichend, weshalb
sich die Kommission für berechtigt hielt, der Klägerin aufzugeben, die von der DB
begangene Zuwiderhandlung gegen Artikel 86 des Vertrages abzustellen, und ihr
eine Geldbuße wegen derselben Zuwiderhandlung aufzuerlegen (Artikel 3 und 4
der Entscheidung). Diese von der Kommission vorgenommene Beurteilung ist im
übrigen im Rahmen des vorliegenden Rechtsstreits völlig korrekt, da sich aus dem
Gesetz zur Neuordnung des Eisenbahnwesens, durch das das
Bundeseisenbahnvermögen geschaffen wurde, ergibt, daß die Klägerin über das
Bundeseisenbahnvermögen die Liegenschaften der DB insoweit übernommen hat,
als es für die Erbringung von Eisenbahnverkehrsleistungen und das Betreiben der
Eisenbahnverkehrsstruktur notwendig war.
- 106.
- Die vorliegende Rechtssache unterscheidet sich im übrigen von dem Fall, der dem
Urteil AWS/Kommission (a. a. O.) zugrunde lag, in dem das Gericht entschieden
hat, daß eine ausführliche Begründung der Feststellung, daß die Zuwiderhandlung
dem mit einer Geldbuße belegten Unternehmen zuzurechnen sei, erforderlich war,
da das beanstandete Verhalten mehrere Unternehmen betraf. In jener Rechtssache
waren mehrere Unternehmen am Verwaltungsverfahren beteiligt gewesen, was zu
komplexen Fragen der Zurechnung der Zuwiderhandlung führte, nachdem diese
schließlich festgestellt worden war. Im vorliegenden Fall ist die von der Kommission
geahndete Zuwiderhandlung jedoch nur von einem einzigen Unternehmen, der DB,
begangen worden. Die Begründung, weshalb diese Zuwiderhandlung der Klägerin
zugerechnet wurde, konnte somit auf die bloße Feststellung beschränkt werden, daß
diese die Nachfolgerin der DB sei.
Vierter Klagegrund: Verletzung der Grundsätze der Rechtssicherheit und der
ordnungsgemäßen Verwaltung
Vorbringen der Parteien
- 107.
- Die Klägerin führt aus, die Kommission habe die Tarifpolitik der DB seit langem
gekannt und mehrfach als gemeinschaftsrechtskonform bezeichnet.
- 108.
- In diesem Rahmen weist die Klägerin darauf hin, daß die Kommission im
Europäischen Parlament durch die schriftliche Anfrage Nr. 1720/81 vom 9. Februar
1982 gefragt worden sei, wann und wie sie „der Wettbewerbsverzerrung zwischen
deutschen und niederländischen Nordseehäfen ein Ende setzen [wird], die aus den
diskriminierenden Tarifen der Deutschen Bundesbahn entsteht“, und daß sie auf
diese Frage geantwortet habe: „Bisher haben alle Untersuchungen einzelner dieser
Tarife oder des gesamten Tarifsystems zu der Feststellung geführt, daß die
Unterschiede zwischen den Beförderungspreisen der Eisenbahn zu den
niederländischen und zu den deutschen Seehäfen nicht auf das Bestehen
diskriminierender Tarife zurückzuführen sind. Es handelt sich dabei um korrekt
berechnete Wettbewerbsfrachten, welche die DB unter Berücksichtigung der
Selbstkosten und der Marktlage in ihrem eigenen Geschäftsinteresse anwendet“
(ABl. C 198, S. 2). In ihrer Antwort auf eine erneute parlamentarische Anfrage im
Jahre 1983 habe die Kommission diesen Standpunkt wiederholt (Antwort auf die
schriftliche Anfrage Nr. 664/83, ABl. C 308, S. 13).
- 109.
- 1986 habe die Kommission anläßlich einer weiteren parlamentarischen Anfrage die
Preisunterschiede zwischen dem Markt der Beförderungen im deutschen
Inlandsverkehr und dem Markt der Beförderungen im internationalen Verkehr
erneut gutgeheißen, indem sie geantwortet habe: „Auf diesen sehr umkämpften
Märkten wenden beide Unternehmen [Transfracht und Intercontainer] ...
Beförderungspreise an, die den Preisen der wettbewerbenden
Verkehrsunternehmer Rechnung tragen“; es könne sich „bei den ... Preisen von
Transfracht nicht um eine Beihilfe, die zu einer Wettbewerbsverzerrung führen
kann, handeln“ (Antwort auf die schriftliche Anfrage Nr. 911/86, ABl. 1987, C 198,
S. 6).
- 110.
- Die Klägerin weist darauf hin, daß die angefochtene Entscheidung in völligem
Widerspruch zu diesen Stellungnahmen vor dem Parlament stehe. Die Kommission
habe dadurch, daß sie ihre Verkehrspolitik so tiefgreifend und plötzlich geändert
habe, ohne diese Änderung auch nur durch eine Mitteilung im Amtsblatt
bekanntzugeben, die Grundsätze der Rechtssicherheit und der ordnungsgemäßen
Verwaltung in schwerwiegender Weise verletzt.
- 111.
- Die Beklagte führt aus, sie habe der Klägerin gegenüber keinen
Vertrauenstatbestand begründet. Sie habe in keiner der drei Stellungnahmen vor
dem Parlament zur Frage der Rechtmäßigkeit der Tarifpolitik der DB unter dem
Gesichtspunkt des Wettbewerbsrechts der Gemeinschaft Stellung genommen,
sondern lediglich zum Ausdruck gebracht, daß sie seinerzeit nicht über
Informationen verfügt habe, die es ihr ermöglicht hätten, eine Verletzung der
Wettbewerbsvorschriften anzunehmen. Im übrigen habe sie zu demselben Thema
erneut vor dem Parlament Stellung genommen, und zwar im April 1989 in ihrer
Antwort auf die schriftliche Anfrage Nr. 2172/88 (ABl. 1989, C 255, S. 23). Bei
dieser Gelegenheit habe sie mangels Informationen wiederum nicht zur Frage der
Rechtmäßigkeit des Verhaltens der DB Stellung genommen, sondern bemerkt:
„Sobald die Betreffenden der Kommission mitteilen, weshalb sie diese Tarife für
diskriminierend halten, kann die Angelegenheit mit den zuständigen Stellen geprüft
werden.“
- 112.
- Die Beklagte trägt weiterhin vor, die zitierten Stellungnahmen seien für das
vorliegende Verfahren unerheblich, da sie auf die Jahre 1982, 1983 und 1986 sowie
April 1989 zurückgingen, während die angefochtene Entscheidung Verhaltensweisen
der DB im Rahmen der MCN-Vereinbarung zwischen dem 1. Oktober 1989 und
dem 31. Juli 1992 betreffe.
Würdigung durch das Gericht
- 113.
- Nach ständiger Rechtsprechung soll der Grundsatz der Rechtssicherheit die
Voraussehbarkeit der unter das Gemeinschaftsrecht fallenden Tatbestände und
Rechtsbeziehungen gewährleisten (Urteil des Gerichtshofes vom 15. Februar 1996
in der Rechtssache C-63/93, Duff u. a., Slg. 1996, I-569, Randnr. 20). Hierzu ist es
wesentlich, daß die Gemeinschaftsorgane die Unantastbarkeit der von ihnen
erlassenen Rechtsakte, die die rechtliche und sachliche Lage der Rechtssubjekte
berühren, wahren; sie können diese daher nur unter Beachtung der Zuständigkeits-
und Verfahrensregeln ändern (Urteile des Gerichts vom 27. Februar 1992 in den
Rechtssachen T-79/89, T-84/89, T-85/89, T-86/89, T-89/89, T-91/89, T-92/89,
T-94/89, T-96/89, T-98/89, T-102/89 und T-104/89 (BASF u. a./Kommission,
Slg. 1992, II-315, Randnr. 35, und vom 6. April 1995 in den Rechtssachen T-80/89,
T-81/89, T-83/89, T-87/89, T-88/89, T-90/89, T-93/89, T-95/89, T-97/89, T-99/89, T-100/89, T-101/89, T-103/89, T-105/89, T-107/89 und T-112/89 (BASF
u. a./Kommission, Slg. 1995, II-729, Randnr. 73).
- 114.
- Die Antworten der Kommission auf die von der Klägerin zitierten
parlamentarischen Anfragen haben keine bindenden Rechtswirkungen erzeugt und
waren nicht geeignet, die rechtliche und sachliche Lage der DB zu beeinträchtigen.
Zudem waren die Antworten der Kommission, soweit sie die Tarifpraktiken der DB
betreffen, sehr zurückhaltend formuliert. Insbesondere hat die Kommission in ihrerAntwort auf die schriftliche Anfrage Nr. 1720/81 ihre Beurteilung der Tarifpolitik
der DB mit dem Zusatz „bisher“ versehen und ausgeführt, sie sei „bereit, den von
dem Herrn Abgeordneten aufgeworfenen Fall zu prüfen, wenn ihr präzisere
Informationen, insbesondere über die betreffenden Verkehrsverbindungen und die
zur Anwendung gelangenden Beförderungspreise und -bedingungen zugeleitet
werden“. Folglich steht die angefochtene Entscheidung, die gerade auf solchen
„präziseren Informationen“ beruht, nicht im Widerspruch zu den Antworten, die
die Kommission im Parlament erteilt hat, und ändert somit nicht deren Tragweite.
- 115.
- Demnach kann sich die Klägerin wegen der Stellungnahmen der Kommission vor
dem Parlament weder auf den Grundsatz der Rechtssicherheit berufen noch
geltend machen, sie habe ein berechtigtes Vertrauen in sie gesetzt.
- 116.
- Schließlich ist der Umstand, daß die Kommission ihre Antworten an das Parlament
unter Vorbehalt erteilt hat und daß sie in der Folgezeit, als sie aufgrund einer
Beschwerde und der im Rahmen des Verwaltungsverfahrens durchgeführten
Untersuchungsmaßnahmen eine festere und kritischere Haltung eingenommen hat,
nicht unvereinbar mit den Erfordernissen einer ordnungsgemäßen Verwaltung,
sondern vielmehr ein gutes Beispiel hierfür.
- 117.
- Folglich ist auch der vierte Klagegrund zurückzuweisen.
Zum Hilfsantrag auf Aufhebung oder Herabsetzung der Geldbuße
Vorbringen der Parteien
- 118.
- Die Klägerin ist der Meinung, die gegen sie verhängte Geldbuße sei unter
Verletzung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes festgesetzt worden. Die
Kommission habe während zwanzig Jahren keine Vertragsverletzung im Bereich
des Eisenbahnverkehrs festgestellt, obwohl ihr die Praktiken der Bahnunternehmen
sehr wohl bekannt gewesen seien. Eine Geldbuße sei aufzuheben oder zumindest
herabzusetzen, wenn die Kommission gezögert habe, gegen vermeintliche
Wettbewerbsverletzungen einzuschreiten (Urteil des Gerichtshofes vom 6. März
1974 in den Rechtssachen 6/73 und 7/73, Istituto Chemioterapico Italiano und
Commercial Solvents/Kommission, Slg. 1974, 223, Randnrn. 51 und 52).
- 119.
- Der Betrag der Geldbuße sei auch im Hinblick auf die Schwere der angeblichen
Zuwiderhandlung unverhältnismäßig. Tatsächlich seien die Folgen der
Zuwiderhandlung, die die Kommission als erwiesen ansehe, in Wirklichkeit nicht
eingetreten. Die Klägerin weist insoweit darauf hin, daß die untersuchte Tarifpolitik
keinerlei Verlust für die in der beschwerdeführenden Vereinigung
zusammengeschlossenen Unternehmen mit sich gebracht und auf dem Markt der
Transporte über die Westhäfen im allgemeinen keine Umstellung der Versender
in den belgisch/niederländischen Häfen auf andere Verkehrsträger zur Folge gehabt
habe. Eine solche Umstellung sei selbst theoretisch kaum möglich, da der Lkw- und
der Binnenschiffahrtstransport auf diesem Markt bereits die am meisten genutzten
Transportarten seien.
- 120.
- Die Klägerin beanstandet abschließend, daß die Kommission entgegen ihrer
Verwaltungspraxis bei der Berechnung von Geldbußen die durch Artikel 22 Absatz
2 der Verordnung Nr. 1017/68 gezogenen Grenzen anhand des Gesamtumsatzes
der DB (12,9 Milliarden ECU für das Jahr 1993) und nicht anhand des durch den
Containerverkehr erzielten Umsatzes (461 Millionen DM für das Jahr 1993)
berechnet habe.
- 121.
- Die Beklagte trägt vor, die angefochtene Geldbuße sei die erste, die aufgrund der
Verordnung Nr. 1017/68 festgesetzt worden sei. Dieser Umstand habe jedoch die
Festsetzung des Betrages nicht beeinflußt. Der Betrag der Geldbuße sei vollauf
gerechtfertigt, da sich die DB über die von ihr vorgenommene Diskriminierung
völlig im klaren gewesen und nicht bereit gewesen sei, diese abzustellen.
- 122.
- Das Verhalten der DB habe darüber hinaus schwerwiegende Folgen gehabt.
Während des Zeitraums 1989 bis 1991 habe der Verkehr auf der Nordstrecke um
20 % zu- und auf der Weststrecke um 10 % abgenommen. Die Beklagte räumt ein,
daß das Gutachten nahelege, daß die Verkehrsströme während des
Untersuchungszeitraums mehr oder minder konstant geblieben seien; selbst wenn
aber diese Berechnungen richtig wären, komme das Verhalten der DB doch einer
Verhinderung der Erhöhung des Anteils der Bahn am Containertransport auf den
Weststrecken gleich, was allein schon einen schweren Verstoß gegen die
Wettbewerbsregeln darstelle.
- 123.
- Die Beklagte weist noch darauf hin, daß sie nach der Rechtsprechung des Gerichts
nicht verpflichtet sei, ihre Absicht anzukündigen, eine Geldbuße festzusetzen. Sie
habe die Untersuchung eröffnet, sobald sie die Beschwerde erhalten habe. Der
Betrag der festgesetzten Geldbuße schließlich liege innerhalb der durch Artikel 22
der Verordnung Nr. 1017/68 gezogenen Grenze.
Würdigung durch das Gericht
- 124.
- Artikel 22 der Verordnung Nr. 1017/68 verleiht der Kommission die Befugnis, eine
Geldbuße wegen Verletzung des Artikels 8 dieser Verordnung festzusetzen. Der
Umstand, daß die Kommission eine Zuwiderhandlung gegen Artikel 86 des
Vertrages und nicht gegen Artikel 8 der Verordnung Nr. 1017/68 festgestellt hat,
hindert sie nicht, eine Geldbuße gemäß Artikel 22 der Verordnung Nr. 1017/68
festzusetzen, da die anwendbaren Vorschriften des Artikels 8 dieser Verordnung
denselben Wortlaut und dieselbe Tragweite haben wie die des Artikels 86 des
Vertrages (vgl. Randnr. 77). Die Wahl des Artikels 22 der Verordnung Nr. 1017/68
als Rechtsgrundlage für die Festsetzung der Geldbuße ist im übrigen von der
Klägerin nicht beanstandet worden.
- 125.
- Das Gericht hat gemäß Artikel 24 der Verordnung Nr. 1017/68 bei Klagen gegen
Entscheidungen der Kommission, in denen eine Geldbuße oder ein Zwangsgeld
festgesetzt ist, die Befugnis zu unbeschränkter Nachprüfung der Entscheidung im
Sinne von Artikel 172 des Vertrages.
- 126.
- Hinsichtlich der Berechnung der Geldbuße stellt das Gericht fest, daß die
Kommission den in Artikel 22 Absatz 2 der Verordnung Nr. 1017/68 festgesetzten
Höchstsatz von 10 % nicht überschritten hat. Nach dieser Vorschrift kann die
Kommission Geldbußen bis zu 10 % des „von dem einzelnen an der
Zuwiderhandlung beteiligten Unternehmen im letzten Geschäftsjahr erzielten
Umsatzes“ festsetzen. Nach ständiger Rechtsprechung kann sie in diesem Rahmen
sowohl den Gesamtumsatz des Unternehmens als auch den Anteil dieses Umsatzes,
der auf die von der Zuwiderhandlung betroffenen Leistungen entfällt,
berücksichtigen (Urteil Compagnie maritime belge transport u. a./Kommission,
a. a. O., Randnr. 233). Unter Berücksichtigung der von den Parteien gemachten
Angaben entspricht die Geldbuße von 11 Millionen ECU weniger als 0,1 % des von
der DB 1993 erzielten Umsatzes und weniger als 5 % des von der DB 1993 im
Containerverkehr erzielten Umsatzes. Daraus folgt, daß die Kommission bei jeder
Betrachtungsweise unterhalb des in Artikel 22 der Verordnung Nr. 1017/68
festgesetzten Höchstsatzes geblieben ist.
- 127.
- Hinsichtlich der Festsetzung der Höhe der Geldbuße innerhalb der in Artikel 22
der Verordnung Nr. 1017/68 vorgesehenen quantitativen Grenzen ist darauf
hinzuweisen, daß die Geldbußen ein Instrument der Wettbewerbspolitik der
Kommission sind und diese somit bei ihrer Festsetzung über ein Ermessen verfügen
muß, um die Unternehmen dazu anhalten zu können, die Wettbewerbsregeln
einzuhalten (Urteile des Gerichts in der Rechtssache Martinelli/Kommission,
a. a. O., Randnr. 59, und vom 11. Dezember 1996 in der Rechtssache T-49/95, Van
Megen Sports/Kommission, Slg. 1996, II-1799, Randnr. 53). Das Gericht hat jedoch
nachzuprüfen, ob der Betrag der festgesetzten Geldbuße in einem angemessenen
Verhältnis steht zur Dauer der festgestellten Zuwiderhandlung und zu den anderen
Faktoren, die für die Beurteilung der Schwere des Verstoßes eine Rolle spielen,
wie dem Einfluß, den das Unternehmen auf dem Markt ausüben konnte, dem
Gewinn, den es aus seinem Verhalten ziehen konnte, dem Volumen und dem Wert
der betroffenen Leistungen sowie der Gefahr, die die Zuwiderhandlung für die
Ziele der Gemeinschaft bedeutet (vgl. Urteil des Gerichtshofes vom 7. Juni 1983
in den Rechtssachen 100/80, 101/80, 102/80 und 103/80, Musique Diffusion
Française u. a./Kommission, Slg. 1983, 1825, Randnrn. 120 und 129).
- 128.
- Im vorliegenden Fall konnte der DB nicht unbekannt sein, daß ihr Verhalten
aufgrund seines Ausmaßes, seiner Dauer und seines systematischen Charakters die
Beförderungen über die deutschen Häfen erheblich begünstigte und so
schwerwiegende Einschränkungen des Wettbewerbs mit sich brachte. Folglich hat
die Kommission die Zuwiderhandlung zu Recht als vorsätzlich eingestuft (vgl. dazu
Urteil des Gerichts vom 2. Juli 1992 in der Rechtssache T-61/89, Dansk
Pelsdyravlerforening/Kommission, Slg. 1992, II-1931, Randnr. 157). Die Kommission
hat außerdem zu Recht der relativ langen Dauer der Zuwiderhandlung (zumindest
zwei Jahre und zehn Monate), der Tatsache, daß die DB nach Erhalt der
Mitteilung der Beschwerdepunkte keinerlei Zusagen gegeben hat, ihr Verhalten zu
ändern, und den wirtschaftlichen Vorteilen, die die DB aus ihrer Zuwiderhandlung
ziehen konnte, Rechnung getragen.
- 129.
- Aus diesen Erwägungen ergibt sich, daß die Kommission über Beweise für den
besonders schwerwiegenden Charakter der festgestellten Zuwiderhandlung verfügte
und daß deshalb die Höhe der festgesetzten Geldbuße, insbesondere der
Prozentsatz des Umsatzes, den sie darstellt, nicht unverhältnismäßig ist.
- 130.
- Die Kommission war entgegen dem Vorbringen der Klägerin nicht verpflichtet,
einen niedrigeren Betrag festzusetzen, weil sie zuvor noch keine Geldbußen in dem
betreffenden Sektor verhängt hatte. Insoweit genügt der Hinweis, daß das Fehlen
von Präzedenzfällen nicht für eine Herabsetzung einer Geldbuße geltend gemacht
werden kann, wenn die Schwere des Mißbrauchs einer beherrschenden Stellung
und die dadurch bewirkten Einschränkungen des Wettbewerbs feststehen (Urteil
Tetra Pak/Kommission, a. a. O., Randnr. 239; Urteil des Gerichtshofes vom 14.
November 1996 in der Rechtssache C-333/94 P, Tetra Pak/Kommission, Slg. 1996,
I-5951, Randnrn. 46 bis 49). Auch kann die Klägerin der Kommission nicht
vorwerfen, daß sie gezögert habe, einzugreifen, und so selbst zur Dauer der
Zuwiderhandlung beigetragen habe. Insoweit genügt die Feststellung, daß die
Kommission sogleich nach Erhalt einer Beschwerde über die Tarifpraktiken der
Klägerin eine Untersuchung eingeleitet hat.
- 131.
- Die gegen die Klägerin festgesetzte Geldbuße ist daher weder aufzuheben noch
herabzusetzen.
- 132.
- Nach alledem ist die Klage abzuweisen.
Kosten
- 133.
- Nach Artikel 87 § 2 der Verfahrensordnung ist die unterliegende Partei auf Antrag
zur Tragung der Kosten zu verurteilen. Da die Klägerin mit ihrem Vorbringen
unterlegen ist und die Kommission beantragt hat, ihr die Kosten aufzuerlegen, ist
die Klägerin zur Tragung der Kosten zu verurteilen.
Aus diesen Gründen
hat
DAS GERICHT (Erste erweiterte Kammer)
für Recht erkannt und entschieden:
1. Die Klage wird abgewiesen.
2. Die Klägerin trägt die Kosten des Verfahrens.
Saggio Kalogeropoulos
Tiili
Moura Ramos Jaeger
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Verkündet in öffentlicher Sitzung in Luxemburg am 21. Oktober 1997.
Der Kanzler
Der Präsident
H. Jung
A. Saggio