Language of document : ECLI:EU:C:2010:708

Rechtssache C‑145/09

Land Baden-Württemberg

gegen

Panagiotis Tsakouridis

(Vorabentscheidungsersuchen des Verwaltungsgerichtshofs Baden-Württemberg)

„Freizügigkeit – Richtlinie 2004/38/EG – Art. 16 Abs. 4 und Art. 28 Abs. 3 Buchst. a – Unionsbürger, der im Aufnahmemitgliedstaat geboren ist und dort mehr als 30 Jahre gewohnt hat – Abwesenheiten vom Aufnahmemitgliedstaat – Strafrechtliche Verurteilungen – Ausweisungsverfügung – Zwingende Gründe der öffentlichen Sicherheit“

Leitsätze des Urteils

1.        Unionsbürgerschaft – Recht, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten frei zu bewegen und aufzuhalten – Richtlinie 2004/38 – Beschränkungen des Einreise‑ und Aufenthaltsrechts aus Gründen der öffentlichen Ordnung oder Sicherheit – Schutz vor Ausweisung – Voraussetzung

(Richtlinie 2004/38 des Europäischen Parlaments und des Rates, Art. 28 Abs. 3 Buchst. a)

2.        Unionsbürgerschaft – Recht, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten frei zu bewegen und aufzuhalten – Richtlinie 2004/38 – Beschränkungen des Einreise‑ und Aufenthaltsrechts aus Gründen der öffentlichen Ordnung oder Sicherheit – Ausweisungsverfügung – Zu berücksichtigende Gesichtspunkte – Beurteilung durch das nationale Gericht

(Richtlinie 2004/38 des Europäischen Parlaments und des Rates, Art. 27 und 28)

3.        Unionsbürgerschaft – Recht, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten frei zu bewegen und aufzuhalten – Richtlinie 2004/38 – Beschränkungen des Einreise‑ und Aufenthaltsrechts aus Gründen der öffentlichen Ordnung oder Sicherheit – Schutz vor Ausweisung – Ausnahmen

(Richtlinie 2004/38 des Europäischen Parlaments und des Rates, Art. 28 Abs. 2 und 3)

1.        Art. 28 Abs. 3 Buchst. a der Richtlinie 2004/38 über das Recht der Unionsbürger und ihrer Familienangehörigen, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten frei zu bewegen und aufzuhalten, ist dahin gehend auszulegen, dass für die Bestimmung, ob sich ein Unionsbürger in den letzten zehn Jahren vor der Ausweisung im Aufnahmemitgliedstaat aufgehalten hat, was das ausschlaggebende Kriterium für die Gewährung des verstärkten Schutzes nach dieser Vorschrift ist, alle im Einzelfall relevanten Umstände zu berücksichtigen sind, insbesondere die Dauer jeder einzelnen Abwesenheit des Betroffenen vom Aufnahmemitgliedstaat, die Gesamtdauer und die Häufigkeit der Abwesenheiten sowie die Gründe, die ihn dazu veranlasst haben, diesen Mitgliedstaat zu verlassen, und anhand deren sich feststellen lässt, ob die entsprechenden Abwesenheiten bedeuten, dass sich der Mittelpunkt seiner persönlichen, familiären oder beruflichen Interessen in einen anderen Mitgliedstaat verlagert hat.

(vgl. Randnr. 38, Tenor 1)

2.        Bei der Anwendung der Richtlinie 2004/38 über das Recht der Unionsbürger und ihrer Familienangehörigen, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten frei zu bewegen und aufzuhalten, ist insbesondere der außergewöhnliche Charakter der Bedrohung der öffentlichen Sicherheit aufgrund des persönlichen Verhaltens der betroffenen Person, die gegebenenfalls zu der Zeit zu beurteilen ist, zu der die Ausweisungsverfügung ergeht, und zwar nach Maßgabe der verwirkten und verhängten Strafen, des Grades der Beteiligung an der kriminellen Aktivität, des Umfangs des Schadens und gegebenenfalls der Rückfallneigung, gegen die Gefahr abzuwägen, die Resozialisierung des Unionsbürgers in dem Staat, in den er vollständig integriert ist – die nicht nur im Interesse dieses Staates, sondern auch im Interesse der Europäischen Union insgesamt liegt –, zu gefährden.

Die verhängte Strafe ist als ein Umstand dieser Gesamtheit von Faktoren zu berücksichtigen. Eine Verurteilung zu einer Freiheitsstrafe von fünf Jahren kann nicht zu einer Ausweisungsverfügung führen, ohne dass die oben beschriebenen Umstände berücksichtigt werden, was vom nationalen Gericht zu prüfen ist. Im Rahmen der entsprechenden Beurteilung ist den Grundrechten Rechnung zu tragen, deren Beachtung der Gerichtshof sichert, da Gründe des Allgemeininteresses zur Rechtfertigung einer innerstaatlichen Maßnahme, die geeignet ist, die Ausübung der Freizügigkeit zu behindern, nur dann herangezogen werden können, wenn die fragliche Maßnahme diesen Rechten Rechnung trägt, insbesondere dem in Art. 7 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union und Art. 8 der Europäischen Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten niedergelegten Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens.

(vgl. Randnrn. 50-52)

3.        Art. 28 Abs. 3 der Richtlinie 2004/38 über das Recht der Unionsbürger und ihrer Familienangehörigen, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten frei zu bewegen und aufzuhalten, ist dahin gehend auszulegen, dass die Bekämpfung der mit dem bandenmäßigen Handel mit Betäubungsmitteln verbundenen Kriminalität unter den Ausdruck „zwingende Gründe der öffentlichen Sicherheit“ fallen kann, mit denen eine Ausweisungsmaßnahme in Bezug auf einen Unionsbürger, der seinen Aufenthalt in den letzten zehn Jahren im Aufnahmemitgliedstaat gehabt hat, gerechtfertigt werden kann.

Art. 28 Abs. 2 der Richtlinie 2004/38 ist dahin gehend auszulegen, dass die Bekämpfung der mit dem bandenmäßigen Handel mit Betäubungsmitteln verbundenen Kriminalität unter den Ausdruck „schwerwiegende Gründe der öffentlichen Ordnung oder Sicherheit“ fällt.

(vgl. Randnr. 56, Tenor 2)