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Vorläufige Fassung

URTEIL DES GERICHTSHOFS (Erste Kammer)

25. April 2024(*)

„Vorlage zur Vorabentscheidung – Unionsbürgerschaft – Art. 20 AEUV – Unionsbürger, der noch nie von seiner Freizügigkeit Gebrauch gemacht hat – Aufenthalt eines Familienangehörigen dieses Unionsbürgers in der Union – Gefährdung der nationalen Sicherheit – Stellungnahme einer nationalen Fachbehörde – Begründung – Akteneinsicht“

In den verbundenen Rechtssachen C‑420/22 und C‑528/22

betreffend Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Szegedi Törvényszék (Stuhlgericht Szeged, Ungarn) mit Entscheidungen vom 16. Juni 2022 und 8. August 2022, beim Gerichtshof eingegangen am 24. Juni 2022 und 8. August 2022, in den Verfahren

NW (C‑420/22),


PQ (C‑528/22)

gegen

Országos Idegenrendészeti Főigazgatóság,

Miniszterelnöki Kabinetirodát vezető miniszter,

erlässt

DER GERICHTSHOF (Erste Kammer)

unter Mitwirkung des Kammerpräsidenten A. Arabadjiev, des Vizepräsidenten des Gerichtshofs L. Bay Larsen (Berichterstatter), der Richter P. G. Xuereb und A. Kumin sowie der Richterin I. Ziemele,

Generalanwalt: J. Richard de la Tour,

Kanzler: M. Siekierzyńska, Verwaltungsrätin,

aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 5. Juli 2023,

unter Berücksichtigung der Erklärungen

–        des NW, vertreten durch B. Pohárnok, Ügyvéd,

–        des PQ, vertreten durch A. Németh und B. Pohárnok, Ügyvédek,

–        der ungarischen Regierung, vertreten durch M. Z. Fehér und R. Kissné Berta als Bevollmächtigte,

–        der französischen Regierung, vertreten durch R. Bénard, A. Daniel und J. Illouz als Bevollmächtigte,

–        der Europäischen Kommission, vertreten durch A. Katsimerou, E. Montaguti und A. Tokár als Bevollmächtigte,

nach Anhörung der Schlussanträge des Generalanwalts in der Sitzung vom 23. November 2023

folgendes

Urteil

1        Die Vorabentscheidungsersuchen betreffen die Auslegung von Art. 20 AEUV, Art. 9 Abs. 3 und Art. 10 Abs. 1 der Richtlinie 2003/109/EG des Rates vom 25. November 2003 betreffend die Rechtsstellung der langfristig aufenthaltsberechtigten Drittstaatsangehörigen (ABl. 2004, L 16, S. 44) sowie von Art. 7, Art. 24, Art. 51 Abs. 1 und Art. 52 Abs. 1 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (im Folgenden: Charta).

2        Sie ergehen im Rahmen von Rechtsstreitigkeiten zwischen zwei Drittstaatsangehörigen, NW und PQ, einerseits und der Országos Idegenrendészeti Főigazgatóság (Nationale Generaldirektion der Fremdenpolizei, Ungarn) (im Folgenden: Fremdenpolizeidirektion) sowie dem Miniszterelnöki Kabinetirodát vezető miniszter (Minister für die Leitung des Kabinettsbüros des Ministerpräsidenten, Ungarn) andererseits. Diese Rechtsstreitigkeiten betreffen Entscheidungen, mit denen NW die Daueraufenthaltskarte entzogen und er aufgefordert wird, das Hoheitsgebiet Ungarns zu verlassen, und der Antrag von PQ auf Erteilung einer nationalen Niederlassungserlaubnis abgelehnt wird.

 Rechtlicher Rahmen

 Unionsrecht

3        Art. 4 Abs. 1 der Richtlinie 2003/109 bestimmt:

„Die Mitgliedstaaten erteilen Drittstaatsangehörigen, die sich unmittelbar vor der Stellung des entsprechenden Antrags fünf Jahre lang ununterbrochen rechtmäßig in ihrem Hoheitsgebiet aufgehalten haben, die Rechtsstellung eines langfristig Aufenthaltsberechtigten.“

4        Art. 5 dieser Richtlinie bestimmt:

„(1)      Die Mitgliedstaaten verlangen vom Drittstaatsangehörigen den Nachweis, dass er für sich und seine unterhaltsberechtigten Familienangehörigen über Folgendes verfügt:

a)      feste und regelmäßige Einkünfte, die ohne Inanspruchnahme der Sozialhilfeleistungen des betreffenden Mitgliedstaats für seinen eigenen Lebensunterhalt und den seiner Familienangehörigen ausreichen. Die Mitgliedstaaten beurteilen diese Einkünfte anhand ihrer Art und Regelmäßigkeit und können die Höhe der Mindestlöhne und ‑renten beim Antrag auf Erteilung der Rechtsstellung eines langfristig Aufenthaltsberechtigten berücksichtigen;

b)      eine Krankenversicherung, die im betreffenden Mitgliedstaat sämtliche Risiken abdeckt, die in der Regel auch für die eigenen Staatsangehörigen abgedeckt sind.

(2)      Die Mitgliedstaaten können von Drittstaatsangehörigen verlangen, dass sie die Integrationsanforderungen gemäß dem nationalen Recht erfüllen.“

5        Art. 7 Abs. 1 dieser Richtlinie bestimmt:

„Um die Rechtsstellung eines langfristig Aufenthaltsberechtigten zu erlangen, reicht der Drittstaatsangehörige bei den zuständigen Behörden des Mitgliedstaats, in dem er sich aufhält, einen Antrag ein. Dem Antrag sind vom nationalen Recht zu bestimmende Unterlagen beizufügen, aus denen hervorgeht, dass er die Voraussetzungen der Artikel 4 und 5 erfüllt, sowie erforderlichenfalls ein gültiges Reisedokument oder eine beglaubigte Abschrift davon.

Die Nachweise nach Unterabsatz 1 können auch Unterlagen in Bezug auf ausreichenden Wohnraum einschließen.“

6        Art. 9 Abs. 3 dieser Richtlinie bestimmt:

„Die Mitgliedstaaten können vorsehen, dass ein Drittstaatsangehöriger die Rechtsstellung eines langfristig Aufenthaltsberechtigten verliert, wenn er in Anbetracht der Schwere der von ihm begangenen Straftaten eine Bedrohung für die öffentliche Ordnung darstellt, ohne dass diese Bedrohung eine Ausweisung … rechtfertigt.“

7        Art. 10 Abs. 1 der Richtlinie 2003/109 lautet:

„Die Entscheidung, die Rechtsstellung eines langfristig Aufenthaltsberechtigten zu versagen oder zu entziehen, ist zu begründen. Jede Entscheidung wird dem betreffenden Drittstaatsangehörigen nach den Verfahren der entsprechenden nationalen Rechtsvorschriften mitgeteilt. In dieser Mitteilung ist auf die möglichen Rechtsbehelfe und die entsprechenden Fristen hinzuweisen.“

8        Art. 13 dieser Richtlinie bestimmt:

„Die Mitgliedstaaten können für die Ausstellung dauerhafter oder unbefristeter Aufenthaltstitel günstigere Voraussetzungen als diejenigen dieser Richtlinie vorsehen. Diese Aufenthaltstitel begründen nicht das Recht auf Aufenthalt in anderen Mitgliedstaaten gemäß Kapitel III.“

 Ungarisches Recht

9        § 94 Abs. 2 bis 5 des A szabad mozgás és tartózkodás jogával rendelkező személyek beutazásáról és tartózkodásáról szóló 2007. évi I. törvény (Gesetz Nr. I von 2007 über die Einreise und den Aufenthalt von Personen, die über das Recht auf Freizügigkeit und freien Aufenthalt verfügen) vom 5. Januar 2007 (Magyar Közlöny 2007/1.) bestimmt:

„(2)      Ein Drittstaatsangehöriger, der über eine Aufenthaltskarte oder Daueraufenthaltskarte verfügt, die ihm als Familienangehörigen eines ungarischen Staatsbürgers … ausgestellt wurde … erhält auf vor Ablauf seiner Aufenthaltskarte oder Daueraufenthaltskarte gestellten Antrag hin ohne Prüfung … eine nationale Niederlassungserlaubnis, es sei denn:

c)      seiner Niederlassung steht ein Versagungsgrund nach § 33 Absatz 1 Buchstabe c und Absatz 2 des [A harmadik országbeli állampolgárok beutazásáról és tartózkodásáról szóló 2007. évi II. törvény (Gesetz Nr. II von 2007 über die Einreise und den Aufenthalt von Drittstaatsangehörigen) vom 5. Januar 2007 (Magyar Közlöny 2007/1.)] entgegen.

(3)      Hinsichtlich Absatz 2 Buchstabe c sind die benannten Fachbehörden gemäß den Vorschriften des [Gesetzes Nr. II von 2007 über die Einreise und den Aufenthalt von Drittstaatsangehörigen] über die Erteilung einer nationalen Niederlassungserlaubnis zu konsultieren, um ihre fachbehördliche Stellungnahme einzuholen.

(4)      Besitzt ein Drittstaatsangehöriger, der Familienangehöriger eines ungarischen Staatsbürgers ist, eine gültige Aufenthaltskarte oder Daueraufenthaltskarte, wird diese entzogen,

b)      wenn der Aufenthalt des Drittstaatsangehörigen die öffentliche Ordnung, die öffentliche Sicherheit oder die nationale Sicherheit Ungarns gefährdet.

(5)      Zu jeder fachlichen Frage nach Absatz 4 Buchstabe b sind die Fachbehörden gemäß den Vorschriften des [Gesetzes Nr. II von 2007 über die Einreise und den Aufenthalt von Drittstaatsangehörigen] über die Erteilung einer nationalen Niederlassungserlaubnis zu konsultieren, um ihre fachbehördliche Stellungnahme einzuholen.“

10      § 33 Abs. 1 und 2 des Gesetzes Nr. II von 2007 über die Einreise und den Aufenthalt von Drittstaatsangehörigen bestimmt:

„(1)      Ein Drittstaatsangehöriger kann eine vorläufige Niederlassungserlaubnis, eine nationale Niederlassungserlaubnis oder eine Erlaubnis zum Daueraufenthalt-EG erhalten,

c)      gegen den kein Versagungsgrund nach diesem Gesetz vorliegt.

(2)      Ein Drittstaatsangehöriger kann keine vorläufige Niederlassungserlaubnis, nationale Niederlassungserlaubnis bzw. Erlaubnis zum Daueraufenthalt-EG erhalten,

b)      wenn seine Niederlassung die öffentliche Sicherheit oder die nationale Sicherheit Ungarns gefährdet.“

11      Art. 87/B Abs. 4 dieses Gesetzes bestimmt:

„Die Stellungnahme der Fachbehörde ist in Bezug auf die fachliche Frage für die befasste Fremdenpolizeibehörde verbindlich.“

12      § 11 des A minősített adat védelméről szóló 2009. évi CLV. törvény (Gesetz Nr. CLV von 2009 über den Schutz von Verschlusssachen) vom 29. Dezember 2009 (Magyar Közlöny 2009/194.) sieht vor:

„(1)      Auf der Grundlage einer von der für die Einstufung zuständigen Stelle erteilten Kenntnisnahmegenehmigung ist die betroffene Person ohne Sicherheitsbescheid für Personen berechtigt, Kenntnis von ihren personenbezogenen Daten in einer nationalen Verschlusssache zu erhalten. Die betroffene Person muss, bevor sie Kenntnis von einer nationalen Verschlusssache erhält, schriftlich eine Geheimhaltungserklärung abgeben und die Vorschriften zum Schutz nationaler Verschlusssachen einhalten.

(2)      Über die Erteilung der Kenntnisnahmegenehmigung beschließt die für die Einstufung zuständige Stelle auf Antrag der betroffenen Person innerhalb von 15 Tagen. Verletzt die Kenntnisnahme von der Information das der Einstufung zugrunde liegende öffentliche Interesse, lehnt die für die Einstufung zuständige Stelle die Erteilung der Kenntnisnahmegenehmigung ab. Die Ablehnung der Kenntnisnahmegenehmigung ist von der für die Einstufung zuständigen Stelle zu begründen.

(3)      Wird die Erteilung der Kenntnisnahmegenehmigung abgelehnt, kann die betroffene Person diesen Bescheid auf dem Verwaltungsrechtsweg anfechten. …“

13      Art. 12 Abs. 1 dieses Gesetzes bestimmt:

„Der für eine Verschlusssache Verantwortliche kann es ablehnen, der betroffenen Person das Recht auf Zugang zu ihren personenbezogenen Daten zu gewähren, wenn das der Einstufung zugrunde liegende öffentliche Interesse durch die Ausübung dieses Rechts gefährdet würde.“

 Ausgangsverfahren und Vorlagefragen

 Rechtssache C420/22

14      NW, ein Drittstaatsangehöriger, heiratete 2004 eine ungarische Staatsangehörige. 2005 bekam das Paar ein Kind, das die ungarische Staatsangehörigkeit besitzt. NW erzieht sein Kind zusammen mit seiner Ehefrau.

15      Nachdem NW sich mehr als fünf Jahre rechtmäßig in Ungarn aufgehalten hatte, stellten ihm die ungarischen Behörden unter Berücksichtigung seiner familiären Situation eine Daueraufenthaltskarte aus, die bis zum 31. Oktober 2022 gültig war.

16      In einer nicht begründeten Stellungnahme vom 12. Januar 2021 erklärte das Alkotmányvédelmi Hivatal (Amt für Verfassungsschutz, Ungarn), dass der Aufenthalt von NW in Ungarn die nationalen Sicherheitsinteressen dieses Mitgliedstaats verletze. Diese Fachbehörde stufte die Informationen, auf die es seine Stellungnahme stützte, als Verschlusssachen ein. Diese Stellungnahme wurde am 13. April 2021 vom Innenminister als zweitinstanzliche Fachbehörde bestätigt.

17      Mit Bescheid vom 22. Januar 2021 entzog die erstinstanzliche Fremdenpolizeibehörde NW die Daueraufenthaltskarte und forderte ihn auf, das Hoheitsgebiet Ungarns zu verlassen, weil sein Aufenthalt in ungarischem Hoheitsgebiet die nationale Sicherheit dieses Mitgliedstaats gefährde.

18      Dieser Bescheid wurde am 10. Mai 2021 von der Fremdenpolizeidirektion mit der Begründung bestätigt, der Innenminister habe festgestellt, der Aufenthalt von NW im ungarischen Hoheitsgebiet verletze die nationalen Sicherheitsinteressen Ungarns. In ihrem Bescheid führte die Fremdenpolizeidirektion aus, nach ungarischem Recht könne sie nicht von der Stellungnahme des Innenministers abweichen und sei daher verpflichtet, NW ohne Berücksichtigung seiner persönlichen Umstände die Daueraufenthaltskarte zu entziehen.

19      NW hat gegen den Bescheid der Fremdenpolizeidirektion vom 10. Mai 2021 beim Szegedi Törvényszék (Stuhlgericht Szeged, Ungarn), dem vorlegenden Gericht, Klage erhoben.

20      Das vorlegende Gericht führt aus, dieser Bescheid beruhe allein auf den verbindlichen und nicht begründeten Stellungnahmen der staatlichen Fachbehörden, d. h. des Amtes für Verfassungsschutz und des Innenministers, die sich auf Verschlusssachen stützten, zu denen weder NW noch die über den Aufenthalt entscheidenden Behörden Zugang gehabt hätten. Diese Behörden hätten somit nicht die Erforderlichkeit und die Verhältnismäßigkeit dieses Bescheids geprüft.

21      Das vorlegende Gericht stellt fest, dass sich aus der Rechtsprechung der Kúria (Oberstes Gericht, Ungarn) ergebe, dass in einer Situation wie der des Ausgangsverfahrens die Verfahrensrechte der betroffenen Person durch die Befugnis des zuständigen Gerichts gewährleistet würden, bei seiner Prüfung der Rechtmäßigkeit der Aufenthaltsentscheidung die der Stellungnahme der Fachbehörden zugrunde liegenden Verschlusssachen einsehen zu können. Dieses Gericht müsse daher, wenn es vom Kläger dazu aufgefordert werde, prüfen, ob die Tatsachen und Angaben, die der betreffenden Stellungnahme zugrunde lägen, diesen Bescheid rechtfertigten, ohne dass es jedoch die als Verschlusssache eingestuften Informationen, von denen es Kenntnis erlangt habe, in sein Urteil aufnehmen dürfe.

22      Nach ungarischem Recht hätten zudem weder die betroffene Person noch ihr Vertreter eine konkrete Möglichkeit, sich zu der nicht begründeten Stellungnahme dieser Behörden zu äußern. Sie hätten zwar das Recht, einen Antrag auf Zugang zu als Verschlusssache eingestuften Informationen über die betroffene Person zu stellen, doch habe der Schutz des öffentlichen Interesses, das die Einstufung der Informationen als Verschlusssache gerechtfertigt habe, grundsätzlich Vorrang vor dem privaten Interesse der betroffenen Person, da das Vorliegen eines Grundes für die Einstufung im Wesentlichen ein hinreichender Grund für die Ablehnung eines Antrags auf Kenntnisnahmegenehmigung der betroffenen Person sei.

23      Selbst wenn einem solchen Antrag stattgegeben würde, dürften weder die betroffene Person noch ihr Vertreter die als Verschlusssache eingestuften Informationen, zu denen ihnen Zugang gewährt werde, im Rahmen von Verwaltungs- oder Gerichtsverfahren verwenden, da es ihnen in der Praxis verwehrt sei, ein Schriftstück zu verfassen, das den wesentlichen Inhalt dieser Informationen enthalte. Das mit einer Klage gegen eine Aufenthaltsentscheidung befasste Gericht habe nach ungarischem Recht in dieser Hinsicht keine Befugnisse.

24      Unter diesen Umständen hat das Szegedi Törvényszék (Stuhlgericht Szeged) beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof die folgenden Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen:

(1)      Ist Art. 10 Abs. 1 der Richtlinie 2003/109 in Verbindung mit Art. 47 der Charta – sowie gegebenenfalls mit Art. 7 und 24 der Charta – dahin auszulegen, dass er die Behörde eines Mitgliedstaats, die eine Entscheidung erlässt, mit der aus Gründen der nationalen Sicherheit und/oder der öffentlichen Ordnung oder der öffentlichen Sicherheit der Entzug einer zuvor erteilten langfristigen Aufenthaltsberechtigung angeordnet wird, sowie die die Geheimhaltung festlegende Fachbehörde dazu verpflichtet, dafür Sorge zu tragen, dass der betroffene Drittstaatsangehörige und sein rechtlicher Vertreter jedenfalls zumindest vom wesentlichen Inhalt der als geheim oder als Verschlusssache eingestuften Daten und Informationen, die der auf die genannten Gründe gestützten Entscheidung zugrunde liegen, Kenntnis erhalten und diese in dem Verfahren, das die Entscheidung betrifft, verwenden können, wenn die zuständige Behörde der Auffassung ist, dass die Offenlegung den Gründen der nationalen Sicherheit zuwiderliefe?

(2)      Bejahendenfalls: Was genau ist im Hinblick auf die Art. 41 und 47 der Charta unter „wesentlicher Inhalt“ der als geheim eingestuften Gründe, auf deren Grundlage eine solche Entscheidung ergeht, zu verstehen?

(3)      Ist Art. 10 Abs. 1 der Richtlinie 2003/109 im Licht von Art. 47 der Charta dahin auszulegen, dass das Gericht eines Mitgliedstaats, das mit der Kontrolle der Rechtmäßigkeit der Stellungnahme der Fachbehörde, die auf einen Grund gestützt ist, der sich auf als geheim oder als Verschlusssache eingestufte Daten bezieht, und der auf dieser Stellungnahme beruhenden materiell-rechtlichen ausländerrechtlichen Entscheidung befasst ist, befugt sein muss, die Rechtmäßigkeit der Geheimhaltung (ihre Erforderlichkeit und Verhältnismäßigkeit) zu prüfen und, wenn es die Geheimhaltung für rechtswidrig hält, mit eigener Entscheidung zu ermöglichen, dass die betroffene Person und ihr Vertreter von allen Daten, auf die sich die Stellungnahme und die Entscheidung der Verwaltungsbehörden stützen, Kenntnis erhalten und diese verwenden, oder, wenn es die Geheimhaltung für rechtmäßig hält, mit eigener Entscheidung sicherzustellen, dass die betroffene Person in dem sie betreffenden ausländerrechtlichen Verfahren zumindest vom wesentlichen Inhalt der vertraulichen Daten Kenntnis erhalten und diesen verwenden kann?

(4)      Sind die Art. 9 Abs. 3 und Art. 10 Abs. 1 der Richtlinie 2003/109 in Verbindung mit den Art. 7 und 24, Art. 51 Abs. 1 und Art. 52 Abs. 1 der Charta dahin auszulegen, dass sie einer Regelung eines Mitgliedstaats entgegenstehen, nach der eine ausländerrechtliche Entscheidung, mit der der Entzug einer zuvor erteilten langfristigen Aufenthaltsberechtigung angeordnet wird, aufgrund einer Entscheidung ohne Begründung erfolgt,

a)      die sich ausschließlich auf eine automatische Bezugnahme auf eine verbindliche, ebenfalls nicht begründete, die Gefährdung oder Verletzung der nationalen Sicherheit, der öffentlichen Sicherheit oder der öffentlichen Ordnung feststellende fachbehördliche Stellungnahme, die keine Ausnahme zulässt, stützt, und

b)      die daher ohne gründliche Prüfung des Vorliegens von Gründen der nationalen Sicherheit, der öffentlichen Sicherheit oder der öffentlichen Ordnung im konkreten Fall und ohne Berücksichtigung der individuellen Umstände und der Erfordernisse der Erforderlichkeit und Verhältnismäßigkeit erlassen wurde?

25      Mit Beschluss vom 8. August 2022, der am selben Tag beim Gerichtshof eingegangen ist, hat das vorlegende Gericht das Vorabentscheidungsersuchen ergänzt.

26      Das vorlegende Gericht hat klargestellt, dass es sich in diesem Ersuchen auf die Prämisse gestützt habe, dass NW in den Anwendungsbereich der Richtlinie 2003/109 falle. Da zwischen NW und seinem minderjährigen Kind ein Abhängigkeitsverhältnis bestehe, sei es jedoch, falls der Gerichtshof diese Prämisse für falsch halten sollte, erforderlich, festzustellen, ob NW ein abgeleitetes Aufenthaltsrecht nach Art. 20 AEUV zu gewähren sei.

27      Daher hat das vorlegende Gericht die dem Gerichtshof bereits vorgelegten Fragen um die folgende Vorlagefrage ergänzt:

a)      Ist Art. 20 AEUV in Verbindung mit den Art. 7 und 24 der Charta dahin auszulegen, dass er der Praxis eines Mitgliedstaats entgegensteht, eine Entscheidung zu erlassen, mit der der Entzug einer Aufenthaltsberechtigung angeordnet wird, die zuvor einem Drittstaatsangehörigen erteilt wurde, der Familienangehöriger von Unionsbürgern (minderjähriges Kind und Ehegattin), die in dem Mitgliedstaat ihrer Staatsangehörigkeit leben, ist, ohne zuvor zu prüfen, ob der betreffende Familienangehörige, der Staatsangehöriger eines Drittstaats ist, Anspruch auf ein abgeleitetes Aufenthaltsrecht nach Art. 20 AEUV hat?

b)      Ist Art. 20 AEUV in Verbindung mit Art. 7 und 24, Art. 51 Abs. 1 und Art. 52 Abs. 1 der Charta dahin auszulegen, dass, soweit ein abgeleitetes Aufenthaltsrecht nach Art. 20 AEUV besteht, der Anwendungsbereich des Unionsrechts zur Folge hat, dass die Verwaltungsbehörden und Gerichte des Mitgliedstaats das Unionsrecht auch anwenden müssen, wenn sie eine ausländerrechtliche Entscheidung erlassen, mit der der Entzug einer Daueraufenthaltskarte angeordnet wird, wenn sie die Ausnahmebestimmungen in Bezug auf Gründe der nationalen Sicherheit, der öffentlichen Ordnung oder der öffentlichen Sicherheit anwenden, auf die sich diese Entscheidung stützt, und wenn sie, wenn solche Gründe nachweisbar vorliegen, die der Rechtfertigung zugrunde liegende Erforderlichkeit und Verhältnismäßigkeit der Beschränkung des Aufenthaltsrechts prüfen?

c)      Für den Fall, dass der Kläger in den Anwendungsbereich von Art. 20 AEUV fällt, ersucht das vorlegende Gericht den Gerichtshof, die in der Vorlageentscheidung gestellten Fragen 1 bis 4 auch im Licht dieses Artikels zu beantworten.

 Rechtssache C528/22

28      PQ, ein Drittstaatsangehöriger, reiste im Juni 2005 als professioneller Fußballspieler rechtmäßig nach Ungarn ein und hält sich seither rechtmäßig im Hoheitsgebiet dieses Mitgliedstaats auf. Seit 2011 lebt er mit seiner Lebensgefährtin, die die ungarische Staatsangehörigkeit besitzt, zusammen. 2012 und 2021 bekam das Paar zwei Kinder, die die ungarische Staatsangehörigkeit besitzen.

29      PQ übt gemeinsam mit seiner Lebensgefährtin das elterliche Sorgerecht für ihre Kinder aus. Er lebt dauerhaft mit ihnen zusammen und übt die meiste Zeit die tatsächliche Sorge für sie aus. Zwischen seinen Kindern und PQ, der sich seit ihrer Geburt dauerhaft um sie kümmert, besteht eine enge emotionale Verbindung und ein Abhängigkeitsverhältnis.

30      In einer nicht begründeten Stellungnahme vom 9. September 2020 erklärte das Amt für Verfassungsschutz, dass der Aufenthalt von PQ in Ungarn die nationalen Sicherheitsinteressen dieses Mitgliedstaats verletze. Diese Fachbehörde stufte die Informationen, auf die es seine Stellungnahme stützte, als Verschlusssachen ein. Diese Stellungnahme wurde am 12. Februar 2021 vom Innenminister als zweitinstanzliche Fachbehörde bestätigt.

31      Mit Bescheid vom 27. Oktober 2020 lehnte die erstinstanzliche Fremdenpolizeibehörde einen von PQ gestellten Antrag auf eine nationale Niederlassungserlaubnis ab.

32      Dieser Bescheid wurde am 25. März 2021 von der Fremdenpolizeidirektion mit der Begründung bestätigt, der Innenminister habe festgestellt, der Aufenthalt von PQ im ungarischen Hoheitsgebiet verletze die nationalen Sicherheitsinteressen Ungarns. In ihrem Bescheid führte die Fremdenpolizeidirektion aus, nach ungarischem Recht könne sie nicht von der Stellungnahme des Innenministers abweichen und sei daher verpflichtet, den Antrag von PQ ohne Berücksichtigung seiner persönlichen Umstände abzulehnen.

33      PQ hat gegen den Bescheid der Fremdenpolizeidirektion vom 25. März 2021 beim Szegedi Törvényszék (Stuhlgericht Szeged, Ungarn), dem vorlegenden Gericht, Klage erhoben.

34      Dieses Gericht führt Erwägungen an, die denen entsprechen, die in den Rn. 20 bis 23 des vorliegenden Urteils wiedergegeben werden.

35      Unter diesen Umständen hat das Szegedi Törvényszék (Stuhlgericht Szeged) beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof die folgenden Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen:

(1)      a)      Ist Art. 20 AEUV in Verbindung mit den Art. 7 und 24 der Charta dahin auszulegen, dass er der Praxis eines Mitgliedstaats entgegensteht, eine Entscheidung zu erlassen, mit der der Entzug einer Aufenthaltsberechtigung angeordnet wird, die zuvor einem Drittstaatsangehörigen erteilt wurde, der Familienangehöriger von Unionsbürgern (minderjährige Kinder und Lebenspartnerin), die in dem Mitgliedstaat ihrer Staatsangehörigkeit leben, ist, oder mit der der Antrag auf Verlängerung der Aufenthaltsberechtigung (im vorliegenden Fall ein Antrag auf Erteilung einer nationalen Niederlassungserlaubnis) abgelehnt wird, ohne zuvor zu prüfen, ob der betreffende Familienangehörige, der Staatsangehöriger eines Drittstaats ist, Anspruch auf ein abgeleitetes Aufenthaltsrecht nach Art. 20 AEUV hat?

b)      Ist Art. 20 AEUV in Verbindung mit Art. 7 und 24, Art. 51 Abs. 1 und Art. 52 Abs. 1 der Charta dahin auszulegen, dass, soweit ein abgeleitetes Aufenthaltsrecht nach Art. 20 AEUV besteht, der Anwendungsbereich des Unionsrechts zur Folge hat, dass die Verwaltungsbehörden und Gerichte des Mitgliedstaats das Unionsrecht auch anwenden müssen, wenn sie eine ausländerrechtliche Entscheidung erlassen, die einen Antrag auf Verlängerung der Aufenthaltsberechtigung (im vorliegenden Fall ein Antrag auf Erteilung einer nationalen Niederlassungserlaubnis) betrifft, wenn sie die Ausnahmebestimmungen in Bezug auf Gründe der nationalen Sicherheit, der öffentlichen Ordnung oder der öffentlichen Sicherheit anwenden, auf die sich diese Entscheidung stützt, und wenn sie, wenn solche Gründe nachweisbar vorliegen, die der Rechtfertigung zugrunde liegende Erforderlichkeit und Verhältnismäßigkeit der Beschränkung des Aufenthaltsrechts prüfen?

(2)      Ist Art. 20 AEUV in Verbindung mit Art. 47 der Charta – sowie gegebenenfalls mit den Art. 7 und 24 der Charta – dahin auszulegen, dass er die Behörde eines Mitgliedstaats, die eine Entscheidung erlässt, mit der aus Gründen der nationalen Sicherheit und/oder der öffentlichen Ordnung oder der öffentlichen Sicherheit der Entzug einer zuvor erteilten langfristigen Aufenthaltsberechtigung angeordnet oder über einen Antrag auf Verlängerung der Aufenthaltserlaubnis entschieden wird, sowie die die Geheimhaltung festlegende Fachbehörde dazu verpflichtet, dafür Sorge zu tragen, dass der betroffene Drittstaatsangehörige und sein rechtlicher Vertreter jedenfalls zumindest vom wesentlichen Inhalt der als geheim oder als Verschlusssache eingestuften Daten und Informationen, die der auf die genannten Gründe gestützten Entscheidung zugrunde liegen, Kenntnis erhalten und diese in dem Verfahren, das die Entscheidung betrifft, verwenden können, wenn die zuständige Behörde der Auffassung ist, dass die Offenlegung den Gründen der nationalen Sicherheit zuwiderliefe?

(3)      Bejahendenfalls: Was genau ist im Hinblick auf die Art. 41 und 47 der Charta unter „wesentlicher Inhalt“ der als geheim eingestuften Gründe, auf deren Grundlage eine solche Entscheidung ergeht, zu verstehen?

(4)      Ist Art. 20 AEUV im Licht von Art. 47 der Charta dahin auszulegen, dass das Gericht eines Mitgliedstaats, das mit der Kontrolle der Rechtmäßigkeit der Stellungnahme der Fachbehörde, die auf einen Grund gestützt ist, der sich auf als geheim oder als Verschlusssache eingestufte Daten bezieht, und der auf dieser Stellungnahme beruhenden materiell-rechtlichen ausländerrechtlichen Entscheidung befasst ist, befugt sein muss, die Rechtmäßigkeit der Geheimhaltung (ihre Erforderlichkeit und Verhältnismäßigkeit) zu prüfen und, wenn es die Geheimhaltung für rechtswidrig hält, mit eigener Entscheidung zu ermöglichen, dass die betroffene Person und ihr Vertreter von allen Daten, auf die sich die Stellungnahme und die Entscheidung der Verwaltungsbehörden stützen, Kenntnis erhalten und diese verwenden, oder, wenn es die Geheimhaltung für rechtmäßig hält, mit eigener Entscheidung sicherzustellen, dass die betroffene Person in dem sie betreffenden ausländerrechtlichen Verfahren zumindest vom wesentlichen Inhalt der vertraulichen Daten Kenntnis erhalten und diesen verwenden kann?

(5)      Ist Art. 20 AEUV in Verbindung mit den Art. 7 und 24, Art. 51 Abs. 1 und Art. 52 Abs. 1 der Charta dahin auszulegen, dass er einer Regelung eines Mitgliedstaats entgegensteht, nach der eine ausländerrechtliche Entscheidung, mit der der Entzug einer zuvor erteilten langfristigen Aufenthaltsberechtigung angeordnet oder ein Antrag auf Verlängerung der Aufenthaltserlaubnis beschieden wird, aufgrund einer Entscheidung ohne Begründung erfolgt,

a)      die sich ausschließlich auf eine automatische Bezugnahme auf eine verbindliche, ebenfalls nicht begründete, die Gefährdung oder Verletzung der nationalen Sicherheit, der öffentlichen Sicherheit oder der öffentlichen Ordnung feststellende fachbehördliche Stellungnahme, die keine Ausnahme zulässt, stützt, und

b)      die daher ohne gründliche Prüfung des Vorliegens von Gründen der nationalen Sicherheit, der öffentlichen Sicherheit oder der öffentlichen Ordnung im konkreten Fall und ohne Berücksichtigung der individuellen Umstände und der Erfordernisse der Erforderlichkeit und Angemessenheit erlassen wurde?

36      Wegen des zwischen den Rechtssachen C‑420/22 und C‑528/22 bestehenden Zusammenhangs sind sie zu gemeinsamem Urteil zu verbinden.

 Zur Zuständigkeit des Gerichtshofs und zur Zulässigkeit der Vorabentscheidungsersuchen

37      Ohne ausdrücklich die Zuständigkeit des Gerichtshofs oder die Zulässigkeit der Vorabentscheidungsersuchen in Frage zu stellen, macht die ungarische Regierung geltend, dass die Richtlinie 2003/109 nicht auf den Ausgangsrechtsstreit in der Rechtssache C‑420/22 anwendbar sei und Art. 20 AEUV auf keines der Ausgangsverfahren anwendbar sei, so dass auch die Charta auf diese Rechtsstreitigkeiten nicht anwendbar sei.

38      Was erstens die Anwendbarkeit der Richtlinie 2003/109 auf den Ausgangsrechtsstreit in der Rechtssache C‑420/22 betrifft, macht die ungarische Regierung geltend, NW habe über einen Aufenthaltstitel auf der Grundlage einer nationalen Regelung verfügt, die nicht die Umsetzung dieser Richtlinie bezwecke und die Erteilung eines solchen Aufenthaltstitels vorsehe, ohne dass alle in dieser Richtlinie genannten Voraussetzungen erfüllt seien.

39      Hierzu ist festzustellen, dass sich das vorlegende Gericht in der betreffenden Vorlageentscheidung zwar auf die Prämisse gestützt hat, dass die Richtlinie 2003/109 auf diesen Rechtsstreit anwendbar sei. In dem in Rn. 25 des vorliegenden Urteils genannten Beschluss vom 8. August 2022 hat das vorlegende Gericht jedoch in Betracht gezogen, dass diese Prämisse falsch sein könnte, und den Gerichtshof für den Fall, dass er der Ansicht sein sollte, dass dies tatsächlich der Fall sei, ersucht, die Vorlagefragen auf der Grundlage von Art. 20 AEUV zu beantworten.

40      In diesem Zusammenhang ist darauf hinzuweisen, dass der Gerichtshof bereits entschieden hat, dass in der mit der Richtlinie 2003/109 geschaffenen Regelung klar festgelegt ist, dass die Erlangung der Rechtsstellung eines langfristig Aufenthaltsberechtigten nach dieser Richtlinie einem besonderen Verfahren unterliegt und von der Erfüllung der in Kapitel II der Richtlinie angegebenen Voraussetzungen abhängt (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 17. Juli 2014, Tahir, C‑469/13, EU:C:2014:2094, Rn. 27 und die dort angeführte Rechtsprechung).

41      So erteilen nach Art. 4 Abs. 1 der Richtlinie 2003/109 die Mitgliedstaaten Drittstaatsangehörigen, die sich in den letzten fünf Jahren ununterbrochen rechtmäßig in ihrem Hoheitsgebiet aufgehalten haben, die Rechtsstellung eines langfristig Aufenthaltsberechtigten. Die Erlangung dieser Rechtsstellung vollzieht sich indes nicht automatisch. Gemäß Art. 7 Abs. 1 dieser Richtlinie hat der betreffende Drittstaatsangehörige hierzu nämlich bei den zuständigen Behörden des Mitgliedstaats, in dem er sich aufhält, einen Antrag einzureichen, dem Unterlagen beizufügen sind, aus denen hervorgeht, dass er die Voraussetzungen der Art. 4 und 5 dieser Richtlinie erfüllt (Urteil vom 20. Januar 2022, Landeshauptmann von Wien [Verlust der Rechtsstellung eines langfristig Aufenthaltsberechtigten], C‑432/20, EU:C:2022:39, Rn. 24 und die dort angeführte Rechtsprechung).

42      Daher sind die Vorschriften über den Entzug der Rechtsstellung eines langfristig Aufenthaltsberechtigten in den Art. 9 und 10 der Richtlinie 2003/109 auf eine Entscheidung, mit der ein unbefristeter Aufenthaltstitel entzogen wird, nur insoweit anwendbar, als der betreffende Drittstaatsangehörige diese Rechtsstellung auf der Grundlage dieser Richtlinie erworben hat.

43      Wenn einem Drittstaatsangehörigen ein dauerhafter oder unbefristeter Aufenthaltstitel unter günstigeren als den in der Richtlinie 2003/109 festgelegten Voraussetzungen erteilt wurde, wie es Art. 13 dieser Richtlinie erlaubt, richtet sich der Entzug dieses Aufenthaltstitels mithin nicht nach den Bestimmungen dieser Richtlinie.

44      Im vorliegenden Fall geht aus der Antwort des vorlegenden Gerichts auf ein Ersuchen des Gerichtshofs um Klarstellung hervor, dass der dauerhafte Aufenthaltstitel, auf den sich der Ausgangsrechtsstreit in der Rechtssache C‑420/22 bezieht, NW nicht auf der Grundlage der ungarischen Regelung zur Umsetzung der Richtlinie 2003/109, sondern auf der Grundlage einer anderen ungarischen Regelung erteilt wurde, und dass NW nicht die Erteilung eines Aufenthaltstitels auf der Grundlage dieser erstgenannten Regelung beantragt hat.

45      Daher ist davon auszugehen, dass der Entzug des Aufenthaltstitels, der Gegenstand des Ausgangsrechtsstreits in der Rechtssache C‑420/22 ist, nicht in den Anwendungsbereich der Richtlinie 2003/109 fällt.

46      Diese Feststellung wird im Übrigen durch das Vorbringen von NW in der mündlichen Verhandlung bestätigt, dass er am 22. Juni 2023 einen auf diese Richtlinie gestützten Antrag auf Erteilung eines Aufenthaltstitels gestellt habe, über den die zuständige Behörde noch nicht entschieden habe.

47      Daher ist das Vorabentscheidungsersuchen in der Rechtssache C‑420/22 unzulässig, soweit es die Richtlinie 2003/109 betrifft.

48      Was zweitens die Anwendbarkeit von Art. 20 AEUV auf die Ausgangsrechtsstreitigkeiten betrifft, macht die ungarische Regierung zunächst geltend, dass das vorlegende Gericht in der Rechtssache C‑420/22 seine Befugnisse überschritten habe, indem es von Amts wegen eine auf einen Verstoß gegen Art. 20 AEUV gestützte Argumentation geprüft habe. Ferner bestehe in der Rechtssache C‑528/22 kein Abhängigkeitsverhältnis zwischen PQ und seinen ungarischen Familienangehörigen, während die Anwendbarkeit des Art. 20 AEUV das Bestehen einer solchen Verbindung voraussetze. Schließlich macht die ungarische Regierung in beiden Rechtssachen geltend, dass die Anwendung von Art. 20 AEUV ausgeschlossen werden müsse, da es zum einen um Bescheide gehe, die keine Verpflichtung zum Verlassen des ungarischen Hoheitsgebiets mit sich brächten, und zum anderen weder NW noch PQ sich vor den zuständigen ungarischen Behörden auf diesen Artikel berufen hätten.

49      Da es nicht Sache des Gerichtshofs ist, zu prüfen, ob die Vorlageentscheidung im Einklang mit den nationalen Vorschriften über die Gerichtsorganisation und das gerichtliche Verfahren ergangen ist (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 10. Dezember 2018, Wightman u. a., C‑621/18, EU:C:2018:999, Rn. 30 und die dort angeführte Rechtsprechung), ist insoweit zunächst festzustellen, dass der Umstand, dass das vorlegende Gericht womöglich die ihm durch das ungarische Recht verliehenen Befugnisse überschritten hat, indem es von Amts wegen eine auf einen Verstoß gegen Art. 20 AEUV gestützte Argumentation geprüft habe, selbst wenn dies erwiesen wäre, nicht geeignet wäre, die Unzulässigkeit des Vorabentscheidungsersuchens in der Rechtssache C‑420/22, soweit es die Auslegung von Art. 20 AEUV betrifft, zu begründen.

50      Sodann steht die Behauptung, dass zwischen PQ und seinen ungarischen Familienangehörigen kein Abhängigkeitsverhältnis bestehe, in direktem Widerspruch zu den Feststellungen des vorlegenden Gerichts, von denen der Gerichtshof nicht abweichen kann.

51      Im Rahmen des Verfahrens nach Art. 267 AEUV, das auf einer klaren Aufgabentrennung zwischen den nationalen Gerichten und dem Gerichtshof beruht, ist nämlich allein das nationale Gericht für die Feststellung und Beurteilung des Sachverhalts des Ausgangsrechtsstreits zuständig (Urteil vom 31. Januar 2023, Puig Gordi u. a., C‑158/21, EU:C:2023:57, Rn. 61 und die dort angeführte Rechtsprechung).

52      Schließlich sind die weiteren Argumente der ungarischen Regierung untrennbar mit den Antworten verbunden, die auf die zusätzliche Frage in der Rechtssache C‑420/22 und auf die erste Frage in der Rechtssache C‑528/22 zu geben sind.

53      Nach ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofs ist es im Rahmen der durch Art. 267 AEUV geschaffenen Zusammenarbeit zwischen dem Gerichtshof und den nationalen Gerichten aber allein Sache des nationalen Gerichts, das mit dem Rechtsstreit befasst ist und in dessen Verantwortungsbereich die zu erlassende Entscheidung fällt, anhand der Besonderheiten der Rechtssache sowohl die Erforderlichkeit einer Vorabentscheidung für den Erlass seines Urteils als auch die Erheblichkeit der dem Gerichtshof vorzulegenden Fragen zu beurteilen. Daher ist der Gerichtshof grundsätzlich gehalten, über ihm vorgelegte Fragen zu befinden, wenn diese die Auslegung des Unionsrechts betreffen (Urteil vom 24. Juli 2023, Lin, C‑107/23 PPU, EU:C:2023:606, Rn. 61 und die dort angeführte Rechtsprechung).

54      Infolgedessen spricht eine Vermutung für die Entscheidungserheblichkeit der Fragen zum Unionsrecht. Der Gerichtshof kann die Beantwortung einer Vorlagefrage eines nationalen Gerichts nur ablehnen, wenn die erbetene Auslegung des Unionsrechts offensichtlich in keinem Zusammenhang mit den Gegebenheiten oder dem Gegenstand des Ausgangsverfahrens steht, wenn das Problem hypothetischer Natur ist oder wenn der Gerichtshof nicht über die tatsächlichen und rechtlichen Angaben verfügt, die für eine zweckdienliche Beantwortung der ihm vorgelegten Fragen erforderlich sind (Urteil vom 24. Juli 2023, Lin, C‑107/23 PPU, EU:C:2023:606, Rn. 62 und die dort angeführte Rechtsprechung).

55      In Anbetracht dieser Vermutung der Entscheidungserheblichkeit ist davon auszugehen, dass sich der Einwand der Unanwendbarkeit einer Bestimmung des Unionsrechts auf das Ausgangsverfahren, sofern wie hier nicht offensichtlich ist, dass ihre Auslegung oder die Beurteilung ihrer Gültigkeit in keinem Zusammenhang mit den Gegebenheiten oder dem Gegenstand des Ausgangsverfahrens steht, nicht auf die Zulässigkeit des Vorabentscheidungsersuchens auswirkt, sondern den Inhalt der Fragen betrifft (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 21. Dezember 2023, BMW Bank u. a., C‑38/21, C‑47/21 und C‑232/21, EU:C:2023:1014, Rn. 114 und die dort angeführte Rechtsprechung).

56      Nach alledem ist der Gerichtshof für die Beantwortung der Vorabentscheidungsersuchen zuständig. Diese sind zulässig, soweit sie Art. 20 AEUV betreffen.

 Zu den Vorlagefragen

 Zum ersten Teil der zusätzlichen Frage in der Rechtssache C420/22 und zum ersten Teil der ersten Frage in der Rechtssache C528/22

57      Mit dem ersten Teil der zusätzlichen Frage in der Rechtssache C‑420/22 und dem ersten Teil der ersten Frage in der Rechtssache C‑528/22, die zusammen zu prüfen sind, möchte das vorlegende Gericht im Wesentlichen wissen, ob Art. 20 AEUV dahin auszulegen ist, dass er es den Behörden eines Mitgliedstaats verwehrt, einem Drittstaatsangehörigen, der Familienangehöriger von Unionsbürgern ist, die Staatsangehörige dieses Mitgliedstaats sind und noch nie von ihrer Freizügigkeit Gebrauch gemacht haben, einen Aufenthaltstitel zu entziehen oder zu versagen, ohne zuvor geprüft zu haben, ob zwischen diesem Drittstaatsangehörigen und diesen Unionsbürgern ein Abhängigkeitsverhältnis besteht, das diese Unionsbürger de facto zwingen würde, das Gebiet der Europäischen Union als Ganzes zu verlassen, um diesen Familienangehörigen zu begleiten.

58      Nach ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofs steht Art. 20 AEUV nationalen Maßnahmen entgegen, die bewirken, dass den Unionsbürgern der tatsächliche Genuss der Rechte verwehrt wird, die ihnen dieser Status verleiht (Urteil vom 27. April 2023, M. D. [Verbot der Einreise nach Ungarn], C‑528/21, EU:C:2023:341, Rn. 57 und die dort angeführte Rechtsprechung).

59      Die Bestimmungen des AEU-Vertrags über die Unionsbürgerschaft verleihen Drittstaatsangehörigen allerdings keine eigenen Rechte. Die etwaigen Rechte, die die Vertragsbestimmungen über die Unionsbürgerschaft den Drittstaatsangehörigen verleihen, sind nämlich nicht deren eigene Rechte, sondern aus den Rechten des Unionsbürgers abgeleitete. Ihr Zweck und ihre Rechtfertigung beruhen auf der Feststellung, dass ihre Nichtanerkennung den Unionsbürger insbesondere in seiner Freizügigkeit im Unionsgebiet beeinträchtigen könnte (Urteil vom 7. September 2022, Staatssecretaris van Justitie en Veiligheid [Natur des Aufenthaltsrechts aus Art. 20 AEUV], C‑624/20, EU:C:2022:639, Rn. 51 und die dort angeführte Rechtsprechung).

60      Insoweit hat der Gerichtshof festgestellt, dass es ganz besondere Sachverhalte gibt, in denen einem Drittstaatsangehörigen, der Familienangehöriger eines Unionsbürgers ist, ein Aufenthaltsrecht eingeräumt werden muss, obwohl das für das Aufenthaltsrecht von Drittstaatsangehörigen geltende abgeleitete Unionsrecht nicht anwendbar ist und der betreffende Unionsbürger sein Recht auf Freizügigkeit nicht ausgeübt hat, da sonst die Unionsbürgerschaft ihrer praktischen Wirksamkeit beraubt würde, wenn sich der Unionsbürger infolge der Verweigerung des Aufenthaltsrechts de facto gezwungen sähe, das Gebiet der Union als Ganzes zu verlassen, und ihm dadurch der tatsächliche Genuss des Kernbestands der Rechte, die ihm dieser Status verleiht, verwehrt würde (Urteile vom 27. April 2023, M. D. [Verbot der Einreise nach Ungarn], C‑528/21, EU:C:2023:341, Rn. 58, und vom 22. Juni 2023, Staatssecretaris van Justitie en Veiligheid [Thailändische Mutter eines niederländischen minderjährigen Kindes], C‑459/20, EU:C:2023:499, Rn. 24 und die dort angeführte Rechtsprechung).

61      Die Weigerung, einem Drittstaatsangehörigen ein Aufenthaltsrecht zu gewähren, kann die praktische Wirksamkeit der Unionsbürgerschaft jedoch nur dann beeinträchtigen, wenn zwischen ihm und dem betroffenen Unionsbürger, der sein Familienangehöriger ist, ein Abhängigkeitsverhältnis besteht, das dazu führen würde, dass der Unionsbürger gezwungen wäre, den betreffenden Drittstaatsangehörigen zu begleiten und das Gebiet der Union als Ganzes zu verlassen (Urteile vom 27. April 2023, M. D. [Verbot der Einreise nach Ungarn], C‑528/21, EU:C:2023:341, Rn. 59, und vom 22. Juni 2023, Staatssecretaris van Justitie en Veiligheid [Thailändische Mutter eines niederländischen minderjährigen Kindes], C‑459/20, EU:C:2023:499, Rn. 26 und die dort angeführte Rechtsprechung).

62      Das einem Drittstaatsangehörigen nach Art. 20 AEUV in seiner Eigenschaft als Familienangehöriger eines Unionsbürgers zuerkannte Aufenthaltsrecht ist somit gerechtfertigt, weil der Aufenthalt erforderlich ist, damit dieser Unionsbürger den Kernbestand der Rechte, die ihm dieser Status verleiht, wirksam in Anspruch nehmen kann, solange das Abhängigkeitsverhältnis zu diesem Drittstaatsangehörigen fortbesteht (Urteil vom 22. Juni 2023, Staatssecretaris van Justitie en Veiligheid [Thailändische Mutter eines niederländischen minderjährigen Kindes], C‑459/20, EU:C:2023:499, Rn. 33 und die dort angeführte Rechtsprechung).

63      Nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs ist die Zuerkennung eines Aufenthaltsrechts nach Art. 20 AEUV im Hinblick auf die Intensität des Abhängigkeitsverhältnisses zwischen dem betreffenden Drittstaatsangehörigen und dem Unionsbürger, der Familienangehöriger von Ersterem ist, zu beurteilen, wobei bei einer solchen Beurteilung sämtliche Umstände des Einzelfalls zu berücksichtigen sind (Urteil vom 7. September 2022, Staatssecretaris van Justitie en Veiligheid [Natur des Aufenthaltsrechts aus Art. 20 AEUV], C‑624/20, EU:C:2022:639, Rn. 38 und die dort angeführte Rechtsprechung).

64      In diesem Zusammenhang ist erstens darauf hinzuweisen, dass sich aus dem Vorstehenden ergibt, dass in den in Rn. 60 des vorliegenden Urteils genannten ganz besonderen Sachverhalten Art. 20 AEUV nicht nur der Ausweisung eines Drittstaatsangehörigen entgegensteht, sondern dazu verpflichtet, ihm ein Aufenthaltsrecht zu gewähren.

65      Folglich kann Art. 20 AEUV nicht nur gegen Entscheidungen geltend gemacht werden, mit denen ein Drittstaatsangehöriger verpflichtet wird, das Hoheitsgebiet des betreffenden Mitgliedstaats zu verlassen, sondern auch gegen Entscheidungen, mit denen einem Drittstaatsangehörigen ein Aufenthaltstitel entzogen oder versagt wird (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 13. September 2016, Rendón Marín, C‑165/14, EU:C:2016:675, Rn. 78; vom 10. Mai 2017, Chavez-Vilchez u. a., C‑133/15, EU:C:2017:354, Rn. 65, und vom 22. Juni 2023, Staatssecretaris van Justitie en Veiligheid [Thailändische Mutter eines niederländischen minderjährigen Kindes], C‑459/20, EU:C:2023:499, Rn. 22).

66      Da ein Drittstaatsangehöriger die Gewährung eines abgeleiteten Aufenthaltsrechts nach Art. 20 AEUV nur dann beanspruchen kann, wenn ohne ein solches Aufenthaltsrecht sowohl der Drittstaatsangehörige als auch der Unionsbürger als Familienangehöriger aufgrund des zwischen ihnen bestehenden Abhängigkeitsverhältnisses gezwungen wäre, das Gebiet der Union zu verlassen, kann die Gewährung dieses Aufenthaltsrechts jedoch nur dann in Betracht gezogen werden, wenn der Drittstaatsangehörige, der zur Familie eines Unionsbürgers gehört, nicht die Voraussetzungen erfüllt, um auf der Grundlage anderer Bestimmungen und insbesondere nach dem geltenden nationalen Recht ein Aufenthaltsrecht in dem Mitgliedstaat zu erhalten, dessen Staatsangehörigkeit der Unionsbürger besitzt (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 5. Mai 2022, Subdelegación del Gobierno en Toledo [Aufenthalt eines Familienangehörigen – Unzureichende Existenzmittel], C‑451/19 und C‑532/19, EU:C:2022:354, Rn. 47 und die dort angeführte Rechtsprechung).

67      Daher reicht zwar der Umstand, dass sich eine Rechtssache auf eine Entscheidung bezieht, die nicht unmittelbar zur Folge hat, dass der betroffene Drittstaatsangehörige verpflichtet ist, das Hoheitsgebiet des betreffenden Mitgliedstaats zu verlassen, nicht aus, um die Anwendung von Art. 20 AEUV auszuschließen, doch kann Art. 20 AEUV nicht mit Erfolg geltend gemacht werden, wenn diesem Drittstaatsangehörigen aufgrund einer anderen in diesem Mitgliedstaat anwendbaren Bestimmung ein Aufenthaltsrecht gewährt werden kann.

68      Was zweitens die von den zuständigen nationalen Behörden durchzuführenden Ermittlungen betrifft, die vor dem Erlass von Bescheiden wie den in den Ausgangsverfahren in Rede stehenden durchzuführen sind, so ist es zwar Sache der Mitgliedstaaten, die Modalitäten der Umsetzung des abgeleiteten Aufenthaltsrechts festzulegen, das einem Drittstaatsangehörigen in den ganz besonderen Sachverhalten, die in Rn. 60 des vorliegenden Urteils angeführt sind, nach Art. 20 AEUV zuzuerkennen ist, doch dürfen diese Verfahrensmodalitäten die praktische Wirksamkeit von Art. 20 AEUV nicht beeinträchtigen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 27. Februar 2020, Subdelegación del Gobierno en Ciudad Real [Ehegatte eines Unionsbürgers], C‑836/18, EU:C:2020:119, Rn. 51 und die dort angeführte Rechtsprechung).

69      Der Gerichtshof hat hierzu festgestellt, dass die nationalen Behörden nicht verpflichtet sind, systematisch und von sich aus das Bestehen eines Abhängigkeitsverhältnisses im Sinne von Art. 20 AEUV zu prüfen, da die betroffene Person die Informationen beizubringen hat, anhand deren sich beurteilen lässt, ob die Voraussetzungen für die Anwendung von Art. 20 AEUV erfüllt sind (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 27. Februar 2020, Subdelegación del Gobierno en Ciudad Real [Ehegatte eines Unionsbürgers], C‑836/18, EU:C:2020:119, Rn. 52 und die dort angeführte Rechtsprechung).

70      Um die praktische Wirksamkeit von Art. 20 AEUV zu gewährleisten, obliegt es jedoch den nationalen Behörden, die über das Aufenthaltsrecht eines Drittstaatsangehörigen, der Familienangehöriger eines Unionsbürgers ist, zu entscheiden haben, u. a. auf der Grundlage der Informationen, die der betreffende Drittstaatsangehörige und der betreffende Unionsbürger nach freiem Ermessen beibringen können müssen, und – sofern notwendig – nach Vornahme der erforderlichen Ermittlungen zu beurteilen, ob zwischen diesen beiden Personen ein Abhängigkeitsverhältnis der in Rn. 60 des vorliegenden Urteils beschriebenen Art besteht (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 27. Februar 2020, Subdelegación del Gobierno en Ciudad Real [Ehegatte eines Unionsbürgers], C‑836/18, EU:C:2020:119, Rn. 53, und vom 27. April 2023, M. D. [Verbot der Einreise nach Ungarn], C‑528/21, EU:C:2023:341, Rn. 65).

71      Daher ist festzustellen, dass, wie der Generalanwalt in Nr. 77 seiner Schlussanträge ausgeführt hat, die nationalen Behörden, wenn sie in Anwendung des geltenden nationalen Rechts beabsichtigen, einem Drittstaatsangehörigen, dessen familiäre Bindungen zu einem Unionsbürger ihnen bekannt sind, einen Aufenthaltstitel zu entziehen oder zu versagen, sich – gegebenenfalls durch Einholung der hierzu erforderlichen Informationen – vergewissern müssen, dass der von ihnen zu erlassende Bescheid nicht dazu führt, dass sich der Unionsbürger de facto gezwungen sieht, das Gebiet der Union als Ganzes zu verlassen.

72      Zu diesem Zweck müssen diese Behörden insbesondere prüfen, ob zwischen den betroffenen Personen ein Abhängigkeitsverhältnis der in Rn. 60 des vorliegenden Urteils beschriebenen Art besteht.

73      In Anbetracht des in Rn. 70 des vorliegenden Urteils angeführten Grundsatzes kann, wenn diesen Behörden Informationen über das Bestehen familiärer Bindungen zwischen dem betroffenen Drittstaatsangehörigen und einem Unionsbürger vorliegen, der Umstand, dass dieser Drittstaatsangehörige keinen ausdrücklich auf Art. 20 AEUV gestützten Antrag auf Erteilung eines Aufenthaltstitels gestellt hat und dass er sich vor diesen Behörden nicht speziell auf diesen Artikel berufen hat, diese Behörden nicht von der Durchführung einer solchen Prüfung entbinden.

74      Nach alledem ist auf den ersten Teil der zusätzlichen Frage in der Rechtssache C‑420/22 und auf den ersten Teil der ersten Frage in der Rechtssache C‑528/22 zu antworten, dass Art. 20 AEUV dahin auszulegen ist, dass er es den Behörden eines Mitgliedstaats verwehrt, einem Drittstaatsangehörigen, der Familienangehöriger von Unionsbürgern ist, die Staatsangehörige dieses Mitgliedstaats sind und noch nie von ihrer Freizügigkeit Gebrauch gemacht haben, einen Aufenthaltstitel zu entziehen oder zu versagen, ohne zuvor geprüft zu haben, ob zwischen diesem Drittstaatsangehörigen und diesen Unionsbürgern ein Abhängigkeitsverhältnis besteht, das diese Unionsbürger de facto zwingen würde, das Gebiet der Union als Ganzes zu verlassen, um diesen Familienangehörigen zu begleiten, wenn zum einen diesem Drittstaatsangehörigen aufgrund einer anderen in diesem Mitgliedstaat anwendbaren Bestimmung kein Aufenthaltsrecht gewährt werden kann und zum anderen diesen Behörden Informationen über das Bestehen familiärer Bindungen zwischen diesem Drittstaatsangehörigen und diesen Unionsbürgern vorliegen.

 Zum zweiten Teil der zusätzlichen Frage und zur vierten Frage in der Rechtssache C420/22 sowie zum zweiten Teil der ersten Frage und zur fünften Frage in der Rechtssache C528/22

75      Mit dem zweiten Teil der zusätzlichen Frage und der vierten Frage in der Rechtssache C‑420/22 sowie dem zweiten Teil der ersten Frage und der fünften Frage in der Rechtssache C‑528/22, die zusammen zu prüfen sind, möchte das vorlegende Gericht im Wesentlichen wissen, ob Art. 20 AEUV dahin auszulegen ist, dass er einer nationalen Regelung entgegensteht, die die nationalen Behörden verpflichtet, aus einem Grund der nationalen Sicherheit einem Drittstaatsangehörigen, der nach Art. 20 AEUV Anspruch auf ein abgeleitetes Aufenthaltsrecht haben kann, allein auf der Grundlage einer nicht begründeten verbindlichen Stellungnahme einer mit Aufgaben der nationalen Sicherheit betrauten Fachbehörde einen Aufenthaltstitel zu entziehen oder zu versagen, ohne alle individuellen Umstände und die Verhältnismäßigkeit dieser Entscheidung über den Entzug oder die Versagung gründlich zu prüfen.

76      Erstens ergibt sich aus der ständigen Rechtsprechung des Gerichtshofs, dass die Mitgliedstaaten unter bestimmten Voraussetzungen bei einem Familienangehörigen eines Unionsbürgers im Sinne von Rn. 60 des vorliegenden Urteils von dem sich aus Art. 20 AEUV ergebenden abgeleiteten Aufenthaltsrecht abweichen können, um die Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung oder den Schutz der öffentlichen Sicherheit zu gewährleisten. Dies kann der Fall sein, wenn der Drittstaatsangehörige eine tatsächliche, gegenwärtige und erhebliche Gefahr für die öffentliche Ordnung oder die öffentliche oder nationale Sicherheit darstellt (Urteil vom 27. April 2023, M. D. [Verbot der Einreise nach Ungarn], C‑528/21, EU:C:2023:341, Rn. 67 und die dort angeführte Rechtsprechung).

77      Eine auf diesen Grund gestützte Versagung des Aufenthaltsrechts kann sich jedoch nur aus einer konkreten Beurteilung sämtlicher relevanter Umstände des Einzelfalls ergeben und muss im Licht des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit, der Grundrechte, deren Beachtung der Gerichtshof sichert, und gegebenenfalls des Wohls des Kindes des betroffenen Drittstaatsangehörigen ergehen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 5. Mai 2022, Subdelegación del Gobierno en Toledo [Aufenthalt eines Familienangehörigen – Unzureichende Existenzmittel], C‑451/19 und C‑532/19, EU:C:2022:354, Rn. 53 und die dort angeführte Rechtsprechung).

78      Das Unionsrecht bestimmt zwar nicht, welche Behörde diese Beurteilung, die integraler Bestandteil der nach Art. 20 AEUV vorzunehmenden Prüfung ist, durchzuführen hat, doch kann eine Entscheidung, einem Drittstaatsangehörigen, der nach Art. 20 AEUV Anspruch auf ein abgeleitetes Aufenthaltsrecht haben kann, einen Aufenthaltstitel zu entziehen oder zu versagen, erst nach einer solchen Beurteilung erlassen werden.

79      Zweitens enthält das Unionsrecht keine Vorschrift, die die konkreten Modalitäten der nach Art. 20 AEUV vorzunehmenden Prüfung genau festlegt, so dass diese nach dem Grundsatz der Verfahrensautonomie der Mitgliedstaaten Sache der innerstaatlichen Rechtsordnung jedes Mitgliedstaats sind, wobei allerdings vorauszusetzen ist, dass diese Modalitäten nicht ungünstiger sein dürfen als diejenigen, die gleichartige innerstaatliche Sachverhalte regeln (Äquivalenzgrundsatz), und dass sie die Ausübung der durch die Rechtsordnung der Union verliehenen Rechte nicht praktisch unmöglich machen oder übermäßig erschweren dürfen (Effektivitätsgrundsatz) (vgl. entsprechend Urteil vom 22. September 2022, Országos Idegenrendészeti Főigazgatóság u. a., C‑159/21, EU:C:2022:708, Rn. 43 und die dort angeführte Rechtsprechung).

80      In diesem Zusammenhang ist auch darauf hinzuweisen, dass die Mitgliedstaaten bei der Umsetzung des Unionsrechts zu gewährleisten haben, dass sowohl die aus dem allgemeinen Grundsatz der guten Verwaltung folgenden Anforderungen als auch das in Art. 47 Abs. 1 der Charta verankerte Recht auf einen wirksamen Rechtsbehelf gewahrt werden (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 22. September 2022, Országos Idegenrendészeti Főigazgatóság u. a., C‑159/21, EU:C:2022:708, Rn. 35 und 44 und die dort angeführte Rechtsprechung).

81      Nach ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofs ist es für die Wirksamkeit der durch Art. 47 Abs. 1 der Charta gewährleisteten gerichtlichen Kontrolle aber erforderlich, dass der Betroffene Kenntnis von den Gründen, auf denen eine ihm gegenüber ergangene Entscheidung beruht, erlangen kann, und zwar entweder durch die Lektüre der Entscheidung selbst oder durch eine auf seinen Antrag hin erfolgte Mitteilung dieser Gründe, unbeschadet der Befugnis des zuständigen Gerichts, von der betreffenden Behörde die Übermittlung dieser Gründe zu verlangen, um dem Betroffenen zu ermöglichen, seine Rechte unter den bestmöglichen Bedingungen zu verteidigen und in Kenntnis aller Umstände zu entscheiden, ob es für ihn von Nutzen ist, das zuständige Gericht anzurufen, und um dieses vollständig in die Lage zu versetzen, die Kontrolle der Rechtmäßigkeit der fraglichen nationalen Entscheidung auszuüben (Urteil vom 24. November 2020, Minister van Buitenlandse Zaken, C‑225/19 und C‑226/19, EU:C:2020:951, Rn. 43 und die dort angeführte Rechtsprechung).

82      Aus den vorstehenden Erwägungen und insbesondere denjenigen, die sich auf das Erfordernis der Berücksichtigung aller für die Anwendung von Art. 20 AEUV relevanten Umstände sowie auf die Pflicht beziehen, Entscheidungen, die die Anwendung von Art. 20 AEUV betreffen, zu begründen, ergibt sich, dass eine für Aufenthaltsfragen zuständige nationale Behörde sich nicht darauf beschränken darf, eine nicht begründete Entscheidung einer anderen nationalen Behörde umzusetzen, die diesem Erfordernis nicht nachgekommen ist, und dass sie nicht allein auf dieser Grundlage die Entscheidung treffen darf, aus einem Grund der nationalen Sicherheit einem Drittstaatsangehörigen, der nach Art. 20 AEUV Anspruch auf ein abgeleitetes Aufenthaltsrecht haben kann, einen Aufenthaltstitel zu entziehen oder zu versagen (vgl. entsprechend Urteil vom 22. September 2022, Országos Idegenrendészeti Főigazgatóság u. a., C‑159/21, EU:C:2022:708, Rn. 79).

83      Diese Feststellung schließt keineswegs aus, dass ein Teil der Informationen, die die Behörde verwendet, die für die Durchführung der in Rn. 77 des vorliegenden Urteils genannten Beurteilung zuständig ist, aus eigener Initiative oder auf Ersuchen dieser Behörde von mit speziellen Aufgaben der nationalen Sicherheit betrauten Behörden erteilt werden kann (vgl. entsprechend Urteil vom 22. September 2022, Országos Idegenrendészeti Főigazgatóság u. a., C‑159/21, EU:C:2022:708, Rn. 82).

84      Ebenso wenig verbietet diese Feststellung einem Mitgliedstaat, einer mit Aufgaben der nationalen Sicherheit betrauten Fachbehörde die Befugnis zu verleihen, eine Stellungnahme abzugeben, mit der verbindlich die Verpflichtung auferlegt wird, einen solchen Aufenthaltstitel zu entziehen oder zu versagen, sofern diese Behörde der Begründungspflicht nachkommt und eine solche Stellungnahme erst abgeben kann, nachdem sie alle in Rn. 77 des vorliegenden Urteils genannten relevanten Umstände gebührend berücksichtigt hat.

85      Daher ist auf den zweiten Teil der zusätzlichen Frage und auf die vierte Frage in der Rechtssache C‑420/22 sowie auf den zweiten Teil der ersten Frage und die fünfte Frage in der Rechtssache C‑528/22 zu antworten, dass Art. 20 AEUV in Verbindung mit Art. 47 der Charta dahin auszulegen ist, dass er einer nationalen Regelung entgegensteht, die die nationalen Behörden verpflichtet, aus einem Grund der nationalen Sicherheit einem Drittstaatsangehörigen, der nach Art. 20 AEUV Anspruch auf ein abgeleitetes Aufenthaltsrecht haben kann, allein auf der Grundlage einer nicht begründeten verbindlichen Stellungnahme einer mit Aufgaben der nationalen Sicherheit betrauten Fachbehörde einen Aufenthaltstitel zu entziehen oder zu versagen, ohne alle individuellen Umstände und die Verhältnismäßigkeit dieser Entscheidung über den Entzug oder die Versagung gründlich zu prüfen.

 Zur ersten und zur zweiten Frage in der Rechtssache C420/22 sowie zur zweiten und zur dritten Frage in der Rechtssache C528/22

86      Mit der ersten und der zweiten Frage in der Rechtssache C‑420/22 sowie der zweiten und der dritten Frage in der Rechtssache C‑528/22, die zusammen zu prüfen sind, möchte das vorlegende Gericht im Wesentlichen wissen, ob der allgemeine Grundsatz der guten Verwaltung und Art. 47 der Charta in Verbindung mit Art. 20 AEUV dahin auszulegen sind, dass sie einer nationalen Regelung entgegenstehen, die vorsieht, dass in Fällen, in denen eine Entscheidung über den Entzug oder die Versagung eines Aufenthaltstitels, die in Bezug auf einen Drittstaatsangehörigen erlassen wird, der nach Art. 20 AEUV Anspruch auf ein abgeleitetes Aufenthaltsrecht haben kann, auf Informationen beruht, deren Offenlegung die nationale Sicherheit des betreffenden Mitgliedstaats gefährden würde, dieser Drittstaatsangehörige oder sein Vertreter erst Zugang zu diesen Informationen erhalten können, nachdem sie eine entsprechende Genehmigung erhalten haben, ihnen nicht einmal der wesentliche Inhalt der Gründe mitgeteilt wird, auf denen solche Entscheidungen beruhen, und sie die Informationen, zu denen sie Zugang hätten haben können, jedenfalls nicht für Verwaltungs- oder Gerichtsverfahren verwenden können.

87      Vorab ist, soweit das Unionsrecht keine besonderen Vorschriften über die Modalitäten des Zugangs zu den Akten eines Verfahrens enthält, das sich auf das Aufenthaltsrecht nach Art. 20 AEUV bezieht, festzustellen, dass die konkreten Modalitäten der zu diesem Zweck eingerichteten Verfahren innerhalb der Grenzen, die sich aus den in den Rn. 79 und 80 des vorliegenden Urteils angeführten Grundsätzen und dem dort angeführten Recht ergeben, Sache der Rechtsordnung jedes Mitgliedstaats sind.

88      Daraus folgt insbesondere, dass die Achtung der Verteidigungsrechte der betroffenen Person sowohl im Verwaltungsverfahren als auch in einem etwaigen gerichtlichen Verfahren gewährleistet sein muss (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 22. September 2022, Országos Idegenrendészeti Főigazgatóság u. a., C‑159/21, EU:C:2022:708, Rn. 44 und die dort angeführte Rechtsprechung).

89      Was erstens das Verwaltungsverfahren betrifft, so ergibt sich insoweit aus der ständigen Rechtsprechung des Gerichtshofs, dass Achtung der Verteidigungsrechte bedeutet, dass der Adressat einer Entscheidung, die seine Interessen spürbar beeinträchtigt, von den Verwaltungen der Mitgliedstaaten, wenn sie Maßnahmen treffen, die in den Geltungsbereich des Unionsrechts fallen, in die Lage versetzt werden muss, seinen Standpunkt zu den Gesichtspunkten, auf die die Verwaltung ihre Entscheidung zu stützen beabsichtigt, sachdienlich vorzutragen (Urteil vom 22. September 2022, Országos Idegenrendészeti Főigazgatóság u. a., C‑159/21, EU:C:2022:708, Rn. 45 und die dort angeführte Rechtsprechung).

90      Diese Anforderung zielt im Rahmen eines Verfahrens, das sich auf die Anwendung von Art. 20 AEUV bezieht, insbesondere darauf ab, der zuständigen Behörde zu ermöglichen, ihrer in Rn. 85 des vorliegenden Urteils genannten Verpflichtung nachzukommen und dabei in voller Kenntnis der Sache eine individuelle Prüfung sämtlicher maßgebender Umstände vorzunehmen, was voraussetzt, dass der Adressat der Entscheidung einen Fehler berichtigen oder Umstände, die seine persönliche Situation betreffen, vortragen kann, die für oder gegen den Erlass oder für oder gegen einen bestimmten Inhalt der Entscheidung sprechen (vgl. entsprechend Urteil vom 22. September 2022, Országos Idegenrendészeti Főigazgatóság u. a., C‑159/21, EU:C:2022:708, Rn. 46 und die dort angeführte Rechtsprechung).

91      Da die genannte Anforderung notwendigerweise voraussetzt, dass diesem Adressaten, gegebenenfalls über einen Rechtsberater, eine konkrete Möglichkeit geboten wird, Kenntnis von den Gesichtspunkten zu erlangen, auf die die Verwaltung ihre Entscheidung zu stützen beabsichtigt, geht mit der Achtung der Verteidigungsrechte das Recht auf Einsicht in den gesamten Akteninhalt im Laufe des Verwaltungsverfahrens einher (vgl. entsprechend Urteil vom 22. September 2022, Országos Idegenrendészeti Főigazgatóság u. a., C‑159/21, EU:C:2022:708, Rn. 47 und die dort angeführte Rechtsprechung).

92      Was zweitens das gerichtliche Verfahren betrifft, so setzt die Achtung der Verteidigungsrechte voraus, dass der Kläger nicht nur Zugang zu den Gründen der ihm gegenüber ergangenen Entscheidung, sondern auch Einsicht in den gesamten Akteninhalt erhalten kann, auf den sich die Verwaltung gestützt hat, um dazu tatsächlich Stellung nehmen zu können (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 22. September 2022, Országos Idegenrendészeti Főigazgatóság u. a., C‑159/21, EU:C:2022:708, Rn. 48 und die dort angeführte Rechtsprechung).

93      Ferner besagt der Grundsatz des kontradiktorischen Verfahrens, der Bestandteil der Verteidigungsrechte nach Art. 47 der Charta ist, dass die Verfahrensbeteiligten das Recht haben müssen, von allen Schriftstücken oder Erklärungen, die dem Gericht vorgelegt werden, um seine Entscheidung zu beeinflussen und sie zu erörtern, Kenntnis zu erhalten und dazu Stellung zu nehmen, was voraussetzt, dass die Person, der gegenüber eine Aufenthaltsentscheidung, die in den Anwendungsbereich des Unionsrechts fällt, ergeht, von den sie betreffenden Aktenstücken Kenntnis nehmen können muss, die dem Gericht, das über den gegen diese Entscheidung eingelegten Rechtsbehelf zu befinden hat, zur Verfügung stehen (vgl. entsprechend Urteil vom 22. September 2022, Országos Idegenrendészeti Főigazgatóság u. a., C‑159/21, EU:C:2022:708, Rn. 49 und die dort angeführte Rechtsprechung).

94      Es ist jedoch darauf hinzuweisen, dass die Verteidigungsrechte nicht schrankenlos gelten und dass das damit einhergehende Recht auf Akteneinsicht eingeschränkt werden kann: Dabei sind der allgemeine Grundsatz der guten Verwaltung und das Recht der betroffenen Person auf einen wirksamen Rechtsbehelf gegen diejenigen Interessen abzuwägen, die als Rechtfertigung dafür angeführt werden, dass ein Aktenbestandteil gegenüber dieser Person nicht offengelegt wird, insbesondere wenn die Interessen die nationale Sicherheit betreffen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 22. September 2022, Országos Idegenrendészeti Főigazgatóság u. a., C‑159/21, EU:C:2022:708, Rn. 50 und die dort angeführte Rechtsprechung).

95      Diese Abwägung darf jedoch angesichts der gebotenen Beachtung von Art. 47 der Charta nicht dazu führen, dass den Verteidigungsrechten der betroffenen Person jede Wirksamkeit genommen und ihr aus Art. 47 der Charta erwachsendes Recht auf einen Rechtsbehelf insbesondere dadurch ausgehöhlt wird, dass ihr oder gegebenenfalls ihrem Vertreter nicht zumindest der wesentliche Inhalt der Gründe mitgeteilt wird, auf denen die ihr gegenüber ergangene Entscheidung beruht (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 22. September 2022, Országos Idegenrendészeti Főigazgatóság u. a., C‑159/21, EU:C:2022:708, Rn. 51 und die dort angeführte Rechtsprechung).

96      Die genannte Abwägung kann indessen dazu führen, dass bestimmte Aktenbestandteile der betroffenen Person nicht mitgeteilt werden, wenn die Offenlegung dieser Bestandteile geeignet ist, die nationale Sicherheit des betreffenden Mitgliedstaats insoweit unmittelbar und in besonderer Weise zu beeinträchtigen, als sie insbesondere das Leben, die Gesundheit oder die Freiheit von Personen gefährden oder die von den mit Aufgaben der nationalen Sicherheit betrauten Fachbehörden speziell angewandten Untersuchungsmethoden enthüllen und damit die zukünftige Erfüllung der Aufgaben dieser Behörden ernsthaft behindern oder sogar unmöglich machen kann (Urteil vom 22. September 2022, Országos Idegenrendészeti Főigazgatóság u. a., C‑159/21, EU:C:2022:708, Rn. 52 und die dort angeführte Rechtsprechung).

97      Auch wenn die Mitgliedstaaten, namentlich dann, wenn die nationale Sicherheit dies verlangt, der betroffenen Person im Rahmen eines sich auf Art. 20 AEUV beziehenden Verfahrens keinen direkten Zugang zu ihrer gesamten Akte zu gewähren brauchen, können sie somit nicht ohne Verstoß gegen den Effektivitätsgrundsatz, den allgemeinen Grundsatz der guten Verwaltung und das Recht auf einen wirksamen Rechtsbehelf diese Person in eine Lage versetzen, in der weder sie noch ihr Vertreter es vermöchten, sich – gegebenenfalls im Rahmen eines speziellen Verfahrens, das der Wahrung der nationalen Sicherheit dient – in zweckdienlicher Weise Kenntnis vom wesentlichen Inhalt entscheidender Bestandteile dieser Akte zu verschaffen (vgl. entsprechend Urteil vom 22. September 2022, Országos Idegenrendészeti Főigazgatóság u. a., C‑159/21, EU:C:2022:708, Rn. 53).

98      Zum einen ist in diesem Zusammenhang festzustellen, dass, wenn die Offenlegung von zur Akte gereichten Informationen aus einem Grund der nationalen Sicherheit beschränkt wurde, die Achtung der Verteidigungsrechte der betroffenen Person nicht hinreichend dadurch gewährleistet wird, dass diese Person unter bestimmten Voraussetzungen eine Genehmigung für den Zugang zu diesen Informationen erhalten kann, die mit einem vollständigen Verbot der Verwendung der so erlangten Informationen für die Zwecke des Verwaltungsverfahrens oder eines etwaigen gerichtlichen Verfahrens verbunden ist (vgl. entsprechend Urteil vom 22. September 2022, Országos Idegenrendészeti Főigazgatóság u. a., C‑159/21, EU:C:2022:708, Rn. 54).

99      Zum anderen ist, da sich aus den Vorlageentscheidungen ergibt, dass die in den Ausgangsverfahren in Rede stehende Regelung auf der Erwägung beruht, dass die Verteidigungsrechte der betroffenen Person durch die Möglichkeit des zuständigen Gerichts, Einsicht in die Akte zu nehmen, hinreichend gewährleistet sind, darauf hinzuweisen, dass eine solche Möglichkeit nicht an die Stelle dessen treten kann, dass die betroffene Person oder ihr Vertreter zu den in dieser Akte befindlichen Informationen Zugang haben (vgl. entsprechend Urteil vom 22. September 2022, Országos Idegenrendészeti Főigazgatóság u. a., C‑159/21, EU:C:2022:708, Rn. 57).

100    Die Achtung der Verteidigungsrechte im gerichtlichen Verfahren bedeutet nämlich, dass die betroffene Person, gegebenenfalls über einen Rechtsberater, ihre Interessen geltend machen kann, indem sie ihren Standpunkt hierzu zum Ausdruck bringt (vgl. entsprechend Urteil vom 22. September 2022, Országos Idegenrendészeti Főigazgatóság u. a., C‑159/21, EU:C:2022:708, Rn. 58).

101    Nach alledem ist auf die erste und die zweite Frage in der Rechtssache C‑420/22 sowie auf die zweite und die dritte Frage in der Rechtssache C‑528/22 zu antworten, dass der allgemeine Grundsatz der guten Verwaltung und Art. 47 der Charta in Verbindung mit Art. 20 AEUV dahin auszulegen sind, dass sie einer nationalen Regelung entgegenstehen, die vorsieht, dass in Fällen, in denen eine Entscheidung über den Entzug oder die Versagung eines Aufenthaltstitels, die in Bezug auf einen Drittstaatsangehörigen erlassen wird, der nach Art. 20 AEUV Anspruch auf ein abgeleitetes Aufenthaltsrecht haben kann, auf Informationen beruht, deren Offenlegung die nationale Sicherheit des betreffenden Mitgliedstaats gefährden würde, dieser Drittstaatsangehörige oder sein Vertreter erst Zugang zu diesen Informationen erhalten, nachdem sie eine entsprechende Genehmigung erhalten haben, ihnen nicht einmal der wesentliche Inhalt der Gründe mitgeteilt wird, auf denen solche Entscheidungen beruhen, und sie die Informationen, zu denen sie Zugang hätten haben können, jedenfalls nicht für Verwaltungs- oder Gerichtsverfahren verwenden können.

 Zur dritten Frage in der Rechtssache C420/22 und zur vierten Frage in der Rechtssache C528/22

102    Mit der dritten Frage in der Rechtssache C‑420/22 und der vierten Frage in der Rechtssache C‑528/22, die zusammen zu prüfen sind, möchte das vorlegende Gericht im Wesentlichen wissen, ob Art. 47 der Charta in Verbindung mit Art. 20 AEUV dahin auszulegen ist, dass er verlangt, dass ein Gericht, das die Rechtmäßigkeit einer auf als Verschlusssache eingestuften Informationen gestützten Aufenthaltsentscheidung nach Art. 20 AEUV zu kontrollieren hat, befugt ist, die Rechtmäßigkeit der Einstufung dieser Informationen als Verschlusssache zu prüfen und der betroffenen Person Zugang zu all diesen Informationen, wenn es der Ansicht ist, dass diese Einstufung rechtswidrig ist, oder zum wesentlichen Inhalt dieser Informationen zu gewähren, wenn es diese Einstufung für rechtmäßig hält.

103    Es ist festzustellen, dass die Vorschriften über die Einstufung von Informationen als Verschlusssache und die Aufhebung dieser Einstufung nach nationalem Recht nicht Gegenstand von Vorschriften sind, die durch einen Rechtsakt der Union harmonisiert wurden.

104    Ebenso wenig enthält das Unionsrecht Bestimmungen, die genau festlegen, über welche Befugnisse das nationale Gericht verfügen muss, das für die Prüfung einer Klage gegen eine Entscheidung zuständig ist, mit der über das Aufenthaltsrecht nach Art. 20 AEUV befunden wurde.

105    Gleichwohl müssen diese Befugnisse, wie sich aus den Rn. 79 und 80 des vorliegenden Urteils ergibt, durch das nationale Recht insbesondere unter Beachtung von Art. 47 der Charta festgelegt werden.

106    Der Gerichtshof hat jedoch entschieden, dass es gegen das Grundrecht auf einen wirksamen gerichtlichen Rechtsbehelf verstoßen würde, wenn eine gerichtliche Entscheidung auf Tatsachen und Dokumente gegründet würde, von denen die Parteien – oder eine von ihnen – keine Kenntnis nehmen und zu denen sie daher auch nicht Stellung nehmen konnten (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 4. Juni 2013, ZZ, C‑300/11, EU:C:2013:363, Rn. 56).

107    Um zu verhindern, dass dem Betroffenen aus Gründen der Sicherheit des Staates in Ausnahmefällen die genauen und umfassenden Gründe mitgeteilt werden, die der Aufenthaltsentscheidung zugrunde liegen, steht es den Mitgliedstaaten jedoch frei, verfahrensrechtliche Techniken und Regeln vorzusehen, die es ermöglichen, die legitimen Erwägungen der Sicherheit des Staates in Bezug auf die Art und die Quellen der Informationen, die beim Erlass der betreffenden Entscheidung berücksichtigt worden sind, auf der einen und das Erfordernis, dem Einzelnen seine Verfahrensrechte wie das Recht, gehört zu werden, und den Grundsatz des kontradiktorischen Verfahrens hinreichend zu gewährleisten, auf der anderen Seite zum Ausgleich zu bringen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 4. Juni 2013, ZZ, C‑300/11, EU:C:2013:363, Rn. 57).

108    Der Gerichtshof hat ein System als mit Art. 47 der Charta vereinbar angesehen, in dem das zuständige Gericht sowohl von allen Gründen und den entsprechenden Beweisen, auf deren Grundlage die Entscheidung getroffen wurde, Kenntnis nehmen, aber auch prüfen kann, ob die von der nationalen Behörde im Hinblick auf die Sicherheit des Staates angeführten Gründe einer vollständigen Mitteilung dieser Gründe und Beweise tatsächlich entgegenstehen oder nicht (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 4. Juni 2013, ZZ, C‑300/11, EU:C:2013:363, Rn. 58 und 59).

109    Zur gerichtlichen Kontrolle dieser Gründe hat der Gerichtshof die Auffassung vertreten, dass es zur Gewährleistung der Beachtung von Art. 47 der Charta ausreichend ist, dass das zuständige Gericht, falls es diese Gründe für nicht zutreffend hält, der nationalen Behörde die Möglichkeit einräumen kann, dem Betroffenen die fehlenden Gründe und Beweise mitzuteilen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 4. Juni 2013, ZZ, C‑300/11, EU:C:2013:363, Rn. 63).

110    Um Art. 47 der Charta nachzukommen, muss das zuständige Gericht in einem solchen Fall, wenn die nationale Behörde beschließt, nicht alle Gründe und die entsprechenden Beweise mitzuteilen, die Rechtmäßigkeit der in Rede stehenden Entscheidung allein anhand der mitgeteilten Gründe und Beweise prüfen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 4. Juni 2013, ZZ, C‑300/11, EU:C:2013:363, Rn. 63).

111    Umgekehrt hat der Gerichtshof für den Fall, dass das zuständige Gericht entscheidet, dass die von der nationalen Behörde angeführten Gründe einer vollständigen Mitteilung dieser Gründe und Beweise entgegenstehen, die Auffassung vertreten, dass das zuständige Gericht diese Gründe und Beweise berücksichtigen kann, indem es die maßgeblichen Erfordernisse in angemessener Weise zum Ausgleich bringt, und ausgeführt, dass dieses Gericht, wenn es so zu verfahren beabsichtigt, dafür sorgen muss, dass dem Betroffenen der wesentliche Inhalt der Gründe, auf denen die fragliche Entscheidung beruht, in einer Weise mitgeteilt wird, die die erforderliche Geheimhaltung der Beweise gebührend berücksichtigt (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 4. Juni 2013, ZZ, C‑300/11, EU:C:2013:363, Rn. 64 bis 68).

112    Der Gerichtshof hat jedoch auch klargestellt, dass das Gericht nach dem nationalen Recht die Konsequenzen aus einer Missachtung dieser Mitteilungspflicht ziehen muss (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 4. Juni 2013, ZZ, C‑300/11, EU:C:2013:363, Rn. 68).

113    Aus dem Vorstehenden ergibt sich zum einen, dass die Mitteilung aller oder eines Teils der Gründe und Beweise gegebenenfalls vom zuständigen Gericht unabhängig von ihrer etwaigen Einstufung als Verschlusssache in Betracht zu ziehen ist, und zum anderen, dass es den Mitgliedstaaten freisteht, den betreffenden Behörden die Befugnis vorzubehalten, diese Gründe oder Beweise mitzuteilen oder nicht mitzuteilen, sofern das zuständige Gericht befugt ist, die Konsequenzen aus der letztlich von diesen Behörden in dieser Hinsicht getroffenen Entscheidung zu ziehen.

114    Eine solche Lösung ist, wenn die nationale Behörde die Mitteilung aller oder eines Teils der Gesichtspunkte, die der in Rede stehenden Entscheidung zugrunde liegen, in nicht gerechtfertigter Weise behindert, jedenfalls geeignet, die vollständige Einhaltung von Art. 47 der Charta zu gewährleisten, da sie sicherstellt, dass die Missachtung der ihr obliegenden Verfahrenspflichten durch diese Behörde nicht dazu führt, dass die gerichtliche Entscheidung auf Tatsachen und Dokumente gestützt wird, von denen der Antragsteller keine Kenntnis nehmen und zu denen er daher auch nicht Stellung nehmen konnte.

115    Daher kann, wie der Generalanwalt in Nr. 130 seiner Schlussanträge ausgeführt hat, nicht davon ausgegangen werden, dass Art. 47 der Charta voraussetzt, dass das für die Kontrolle einer die Anwendung von Art. 20 AEUV betreffenden Entscheidung zuständige Gericht notwendigerweise befugt sein muss, für bestimmte Informationen die Einstufung als Verschlusssache aufzuheben und diese selbst dem Antragsteller mitzuteilen, da eine solche Aufhebung der Einstufung als Verschlusssache und eine solche Mitteilung nicht unerlässlich sind, um einen wirksamen gerichtlichen Rechtsschutz bei der Beurteilung der Rechtmäßigkeit der angefochtenen Entscheidung sicherzustellen.

116    Folglich ist auf die dritte Frage in der Rechtssache C‑420/22 und die vierte Frage in der Rechtssache C‑528/22 zu antworten, dass Art. 47 der Charta in Verbindung mit Art. 20 AEUV dahin auszulegen ist, dass er nicht verlangt, dass ein Gericht, das die Rechtmäßigkeit einer auf als Verschlusssache eingestuften Informationen gestützten Aufenthaltsentscheidung nach Art. 20 AEUV zu kontrollieren hat, befugt ist, die Rechtmäßigkeit der Einstufung dieser Informationen als Verschlusssache zu prüfen und der betroffenen Person Zugang zu all diesen Informationen, wenn es der Ansicht ist, dass diese Einstufung rechtswidrig ist, oder zum wesentlichen Inhalt dieser Informationen zu gewähren, wenn es diese Einstufung für rechtmäßig hält. Dieses Gericht muss indessen, um die Achtung der Verteidigungsrechte dieser Person zu gewährleisten, gegebenenfalls die Konsequenzen aus einer etwaigen Entscheidung der zuständigen Behörden ziehen, die Mitteilung aller oder eines Teils der Gründe und der entsprechenden Beweise dieser Entscheidung zu unterlassen.

 Kosten

117    Für die Parteien der Ausgangsverfahren ist das Verfahren Teil der beim vorlegenden Gericht anhängigen Verfahren; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig.

Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Erste Kammer) für Recht erkannt:

1.      Die Rechtssachen C420/22 und C528/22 werden zu gemeinsamem Urteil verbunden.

2.      Art. 20 AEUV ist dahin auszulegen, dass er es den Behörden eines Mitgliedstaats verwehrt, einem Drittstaatsangehörigen, der Familienangehöriger von Unionsbürgern ist, die Staatsangehörige dieses Mitgliedstaats sind und noch nie von ihrer Freizügigkeit Gebrauch gemacht haben, einen Aufenthaltstitel zu entziehen oder zu versagen, ohne zuvor geprüft zu haben, ob zwischen diesem Drittstaatsangehörigen und diesen Unionsbürgern ein Abhängigkeitsverhältnis besteht, das diese Unionsbürger de facto zwingen würde, das Gebiet der Europäischen Union als Ganzes zu verlassen, um diesen Familienangehörigen zu begleiten, wenn zum einen diesem Drittstaatsangehörigen aufgrund einer anderen in diesem Mitgliedstaat anwendbaren Bestimmung kein Aufenthaltsrecht gewährt werden kann und zum anderen diesen Behörden Informationen über das Bestehen familiärer Bindungen zwischen diesem Drittstaatsangehörigen und diesen Unionsbürgern vorliegen.

3.      Art. 20 AEUV in Verbindung mit Art. 47 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union ist dahin auszulegen, dass er einer nationalen Regelung entgegensteht, die die nationalen Behörden verpflichtet, aus einem Grund der nationalen Sicherheit einem Drittstaatsangehörigen, der nach Art. 20 AEUV Anspruch auf ein abgeleitetes Aufenthaltsrecht haben kann, allein auf der Grundlage einer nicht begründeten verbindlichen Stellungnahme einer mit Aufgaben der nationalen Sicherheit betrauten Fachbehörde einen Aufenthaltstitel zu entziehen oder zu versagen, ohne alle individuellen Umstände und die Verhältnismäßigkeit dieser Entscheidung über den Entzug oder die Versagung gründlich zu prüfen.

4.      Der allgemeine Grundsatz der guten Verwaltung und Art. 47 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union in Verbindung mit Art. 20 AEUV sind dahin auszulegen, dass sie einer nationalen Regelung entgegenstehen, die vorsieht, dass in Fällen, in denen eine Entscheidung über den Entzug oder die Versagung eines Aufenthaltstitels, die in Bezug auf einen Drittstaatsangehörigen erlassen wird, der nach Art. 20 AEUV Anspruch auf ein abgeleitetes Aufenthaltsrecht haben kann, auf Informationen beruht, deren Offenlegung die nationale Sicherheit des betreffenden Mitgliedstaats gefährden würde, dieser Drittstaatsangehörige oder sein Vertreter erst Zugang zu diesen Informationen erhalten, nachdem sie eine entsprechende Genehmigung erhalten haben, ihnen nicht einmal der wesentliche Inhalt der Gründe mitgeteilt wird, auf denen solche Entscheidungen beruhen, und sie die Informationen, zu denen sie Zugang hätten haben können, jedenfalls nicht für Verwaltungs- oder Gerichtsverfahren verwenden können.

5.      Art. 47 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union in Verbindung mit Art. 20 AEUV ist dahin auszulegen, dass er nicht verlangt, dass ein Gericht, das die Rechtmäßigkeit einer auf als Verschlusssache eingestuften Informationen gestützten Aufenthaltsentscheidung nach Art. 20 AEUV zu kontrollieren hat, befugt ist, die Rechtmäßigkeit der Einstufung dieser Informationen als Verschlusssache zu prüfen und der betroffenen Person Zugang zu all diesen Informationen, wenn es der Ansicht ist, dass diese Einstufung rechtswidrig ist, oder zum wesentlichen Inhalt dieser Informationen zu gewähren, wenn es diese Einstufung für rechtmäßig hält. Dieses Gericht muss indessen, um die Achtung der Verteidigungsrechte dieser Person zu gewährleisten, gegebenenfalls die Konsequenzen aus einer etwaigen Entscheidung der zuständigen Behörden ziehen, die Mitteilung aller oder eines Teils der Gründe und der entsprechenden Beweise dieser Entscheidung zu unterlassen.

Unterschriften


*      Verfahrenssprache: Ungarisch.