Language of document : ECLI:EU:C:2009:183

SCHLUSSANTRÄGE DES GENERALANWALTS

YVES BOT

vom 24. März 20091(1)

Rechtssache C‑123/08

Strafverfahren

gegen

Dominic Wolzenburg

(Vorabentscheidungsersuchen der Rechtbank Amsterdam [Niederlande])

„Polizeiliche und justizielle Zusammenarbeit in Strafsachen – Rahmenbeschluss 2002/584/JI – Gründe, aus denen die Vollstreckung eines Europäischen Haftbefehls abgelehnt werden kann – Begriffe ‚Aufenthalt’ und ‚Wohnsitz’ im Vollstreckungsmitgliedstaat – Unterschiedliche Behandlung von Angehörigen des Vollstreckungsmitgliedstaats und Angehörigen anderer Mitgliedstaaten – Gleichbehandlungsgrundsatz“





1.        Die vorliegende Rechtssache gibt dem Gerichtshof erneut Gelegenheit, Art. 4 Nr. 6 des Rahmenbeschlusses 2002/584/JI des Rates(2), der einen fakultativen Ablehnungsgrund für die Vollstreckung eines Europäischen Haftbefehls vorsieht, auszulegen.

2.        Nach dieser Vorschrift kann die Justizbehörde des Vollstreckungsmitgliedstaats(3) die Vollstreckung eines zur Vollstreckung einer Freiheitsstrafe ausgestellten Haftbefehls verweigern, wenn sich die gesuchte Person „im Vollstreckungsmitgliedstaat aufhält, dessen Staatsangehöriger ist oder dort ihren Wohnsitz hat“ und sich dieser Staat verpflichtet, selbst für die Vollstreckung der Strafe zu sorgen.

3.        Die Rechtbank Amsterdam (Niederlande)(4) möchte wissen, inwieweit dieser Ablehnungsgrund Anwendung finden kann auf einen deutschen Staatsangehörigen, gegen den die Bundesrepublik Deutschland einen Haftbefehl zur Vollstreckung einer Gefängnisstrafe erlassen hat und der seit Juni 2005 in den Niederlanden arbeitet, wo er mit seiner Ehefrau lebt.

4.        Das Gericht sieht sich auch mit dem Umstand konfrontiert, dass der Betroffene nicht über eine unbefristete Aufenthaltsgenehmigung für die Niederlande verfügt und dass er nach niederländischem Recht nicht in den Genuss dieses Ablehnungsgrundes kommen kann, da die Rechtspraxis, wonach die Übergabe eines niederländischen Staatsangehörigen zur Vollstreckung einer Strafe zu verweigern ist, auf Angehörige anderer Mitgliedstaaten nur dann ausgedehnt wird, wenn diese im Besitz einer solchen Aufenthaltsgenehmigung sind.

5.        Das Gericht möchte daher erstens wissen, wie lange sich eine Person, gegen die ein Europäischer Haftbefehl ergangen ist, im Vollstreckungsmitgliedstaat aufgehalten haben muss, um in diesem Staat ihren Aufenthalt oder Wohnsitz im Sinne des Art. 4 Nr. 6 des Rahmenbeschlusses zu begründen.

6.        Zweitens fragt es, ob die Anwendung dieses Ablehnungsgrundes von der Erfüllung zusätzlicher verwaltungsrechtlicher Anforderungen wie dem Besitz einer unbefristeten Aufenthaltsgenehmigung abhängig gemacht werden kann.

7.        Das vorlegende Gericht fragt drittens, ob der Grundsatz der Nichtdiskriminierung einer nationalen Regelung entgegensteht, wonach die Rechtspraxis, die Übergabe eigener Staatsangehöriger zur Vollstreckung einer Strafe zu verweigern, auf Angehörige anderer Mitgliedstaaten nur dann ausgedehnt wird, wenn diese im Besitz einer unbefristeten Aufenthaltsgenehmigung sind.

8.        Diese drei Fragen ähneln sehr den Vorlagefragen, die vor einem anderen Hintergrund in der Rechtssache Kozłowski, in der das Urteil am 17. Juli 2008(5) nach Eingang des vorliegenden Vorabentscheidungsersuchens ergangen ist, gestellt wurden.

9.        In diesem Urteil hat der Gerichtshof die Begriffe „Aufenthalt“ und „Wohnsitz“ im Vollstreckungsmitgliedstaat im Sinne des Art. 4 Nr. 6 des Rahmenbeschlusses ausgelegt. Er hat außerdem die zweite Frage, ob die Anwendung des in dieser Vorschrift vorgesehenen Ablehnungsgrundes von der Erfüllung weiterer Anforderungen wie einer nationalen Aufenthaltsgenehmigung abhängig gemacht werden kann, im Kern beantwortet. Dagegen hat er sich nicht zu der letzten Frage geäußert, ob eine nationale Regelung, die die Übergabe eines eigenen Staatsangehörigen und nicht die Übergabe eines Staatsangehörigen eines anderen Mitgliedstaates verbietet, mit dem Grundsatz der Nichtdiskriminierung in Einklang steht.

10.      Das vorliegende Verfahren gibt dem Gerichtshof Gelegenheit, seine Ausführungen im Urteil Kozłowski zur Auslegung von Art. 4 Nr. 6 des Rahmenbeschlusses weiter zu verfeinern und zu vervollständigen.

11.      Zur ersten Frage des vorlegenden Gerichts werde ich dem Gerichtshof vorschlagen, bei den Begriffen „Wohnsitz“ und „Aufenthalt“ entscheidend darauf abzustellen, ob die von einem Europäischen Haftbefehl betroffene Person mit dem Vollstreckungsmitgliedstaat durch hinreichend enge Beziehungen verbunden ist, die den Schluss erlauben, dass eine Strafvollstreckung in diesem Staat die Chancen der Person auf eine Resozialisierung erhöht. Ich werde darlegen, dass das zuständige Gericht im Rahmen der Sachverhaltswürdigung die Aufenthaltsdauer in diesem Staat als ein gewichtiges Indiz zu werten hat.

12.      Für die Beantwortung der zweiten Frage werde ich dem Gerichtshof vorschlagen, dass die Anwendung des Ablehnungsgrundes in Art. 4 Nr. 6 des Rahmenbeschlusses nicht von der Erfüllung zusätzlicher verwaltungsrechtlicher Anforderungen wie dem Besitz einer unbefristeten Aufenthaltsgenehmigung abhängig gemacht werden darf.

13.      Als Antwort auf die dritte Frage des vorlegenden Gerichts werde ich dem Gerichtshof vorschlagen, festzustellen, dass das nationale Recht im vorliegenden Fall gegen den Grundsatz der Nichtdiskriminierung des Art. 12 EG verstößt.

14.      Vorab erläutere ich nachstehend die wesentlichen Grundsätze, auf die in der Folge Bezug genommen wird und an denen sich die Begründung orientiert:

–        Das durch den Rahmenbeschluss eingeführte Verfahren des Europäischen Haftbefehls hat zwischen den Mitgliedstaaten das Auslieferungsverfahren ersetzt. Das Auslieferungsverfahren hat weiterhin Bestand im Rahmen der Zusammenarbeit mit Drittstaaten sowie zwischen den Mitgliedstaaten in den Fällen, in denen das Verfahren des Europäischen Haftbefehls ausnahmsweise nicht anwendbar ist, insbesondere aufgrund des zeitlichen Anwendungsbereichs des Rahmenbeschlusses.

–        Die Bestimmungen des Art. 4 Nr. 6 des Rahmenbeschlusses machen eine Auseinandersetzung mit Fragen erforderlich, die in der Sache Bestandteil des materiellen Strafrechts sind, insoweit die Anwendung dieser Bestimmungen zwangsläufig mit dem Begriff der Resozialisierung des Verurteilten zusammenhängt. In den Mitgliedstaaten hat eine moderne Strafrechtsentwicklung stattgefunden, die die Resozialisierung zu einem grundlegenden Strafzweck gemacht hat und die wegen des Grundsatzes der Individualisierung von Strafe, wozu auch die Strafvollstreckung gehört, dazu führt, dass jede Entscheidung unter Berücksichtigung der Umstände des jeweiligen Einzelfalls eines Verurteilten zu treffen ist.

–        Die Vollstreckung einer Freiheitsstrafe oder einer ähnlichen Maßnahme wie der „freiheitsentziehenden Maßregel“ betrifft die Freiheit des Einzelnen in gleichem Maße wie die Verurteilung. Daher muss die Eigenständigkeit des Justizwesens, das in jedem Mitgliedstaat Garant für die Einhaltung dieser Freiheit ist, gewährleistet sein, insbesondere muss ein Richter über die notwendige Entscheidungsfreiheit verfügen, um die Grundsätze effektiv durchzusetzen, mit deren Anwendung er beauftragt wurde

I –    Gemeinschaftsrecht

A –    Die einschlägigen Bestimmungen des Rahmenbeschlusses

15.      Der Rahmenbeschluss bezweckt zwischen den Mitgliedstaaten die Abschaffung des formellen, in verschiedenen, von den Mitgliedstaaten mitunterzeichneten Übereinkünften vorgesehenen Auslieferungsverfahrens und dessen Ersetzung durch ein System der Übergabe zwischen Justizbehörden(6). Im fünften Erwägungsgrund des Rahmenbeschlusses heißt es:

„Aus dem der [Europäischen] Union gesetzten Ziel, sich zu einem Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts zu entwickeln, ergibt sich die Abschaffung der Auslieferung zwischen den Mitgliedstaaten und deren Ersetzung durch ein System der Übergabe zwischen Justizbehörden. Die Einführung eines neuen, vereinfachten Systems der Übergabe von Personen, die einer Straftat verdächtigt werden oder wegen einer Straftat verurteilt worden sind, für die Zwecke der strafrechtlichen Verfolgung oder der Vollstreckung strafrechtlicher Urteile ermöglicht zudem die Beseitigung der Komplexität und der Verzögerungsrisiken, die den derzeitigen Auslieferungsverfahren innewohnen. Die bislang von klassischer Kooperation geprägten Beziehungen zwischen den Mitgliedstaaten sind durch ein System des freien Verkehrs strafrechtlicher justizieller Entscheidungen – und zwar sowohl in der Phase vor der Urteilsverkündung als auch in der Phase danach – innerhalb des Raums der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts zu ersetzen.“

16.      Der Rahmenbeschluss beruht auf dem Grundsatz der gegenseitigen Anerkennung justizieller Entscheidungen in Strafsachen, der den „Eckstein“ der justiziellen Zusammenarbeit bildet(7), und auf einem „hohen Maß an Vertrauen“ zwischen den Mitgliedstaaten(8).

17.      Art. 1 des Rahmenbeschlusses hat die Überschrift „Definition des Europäischen Haftbefehls und Verpflichtung zu seiner Vollstreckung“. Er bestimmt:

„(1) Bei dem Europäischen Haftbefehl handelt es sich um eine justizielle Entscheidung, die in einem Mitgliedstaat ergangen ist und die Festnahme und Übergabe einer gesuchten Person durch einen anderen Mitgliedstaat zur Strafverfolgung oder zur Vollstreckung einer Freiheitsstrafe oder einer freiheitsentziehenden Maßregel der Sicherung bezweckt.

(2)   Die Mitgliedstaaten vollstrecken jeden Europäischen Haftbefehl nach dem Grundsatz der gegenseitigen Anerkennung und gemäß den Bestimmungen dieses Rahmenbeschlusses.

(3)   Dieser Rahmenbeschluss berührt nicht die Pflicht, die Grundrechte und die allgemeinen Rechtsgrundsätze, wie sie in Artikel 6 des Vertrags über die Europäische Union niedergelegt sind, zu achten.“

18.      Wird ein Europäischer Haftbefehl zur Vollstreckung einer Freiheitsstrafe oder einer freiheitsentziehenden Maßregel erlassen, muss es sich nach Art. 2 des Rahmenbeschlusses um eine Verurteilung von mindestens vier Monaten handeln.

19.      Art. 2 sieht eine Liste von 32 Straftaten vor, für die, wenn sie im Ausstellungsmitgliedstaat mit einer Freiheitsstrafe im Höchstmaß von mindestens drei Jahren bedroht sind, der Europäische Haftbefehl vollstreckt werden muss, auch wenn die fraglichen Handlungen im Vollstreckungsmitgliedstaat nicht mit Strafe bedroht sind. Bei den anderen Straftaten kann der Vollstreckungsmitgliedstaat die Übergabe einer von einem Europäischen Haftbefehl betroffenen Person vom Vorliegen der doppelten Strafbarkeit abhängig machen.

20.      Die Art. 3 und 4 des Rahmenbeschlusses befassen sich mit zwingenden bzw. mit fakultativen Ablehnungsgründen des Europäischen Haftbefehls. In Art. 4 Nr. 6 des Rahmenbeschlusses heißt es:

„Die vollstreckende Justizbehörde kann die Vollstreckung des Europäischen Haftbefehls verweigern,

wenn der Europäische Haftbefehl zur Vollstreckung einer Freiheitsstrafe oder einer freiheitsentziehenden Maßregel der Sicherung ausgestellt worden ist, sich die gesuchte Person im Vollstreckungsmitgliedstaat aufhält, dessen Staatsangehöriger ist oder dort ihren Wohnsitz hat und dieser Staat sich verpflichtet, die Strafe oder die Maßregel der Sicherung nach seinem innerstaatlichen Recht zu vollstrecken.“

21.      Dieser fakultative Ablehnungsgrund wird durch Art. 5 Nr. 3 des Rahmenbeschlusses ergänzt, der anwendbar ist, wenn der Europäische Haftbefehl zum Zweck der Strafverfolgung ergangen ist. Nach dieser Vorschrift kann die Übergabe der von einem solchen Europäischen Haftbefehl betroffenen Person davon abhängig gemacht werden, dass diese Person, wenn sie Staatsangehörige oder Ansässige des Vollstreckungsmitgliedstaats ist, nach Gewährung rechtlichen Gehörs zur Verbüßung der Freiheitsstrafe oder der freiheitsentziehenden Maßregel der Sicherung, die im Ausstellungsmitgliedstaat gegen sie verhängt wird, in den Vollstreckungsmitgliedstaat rücküberstellt wird.

B –     Die Bedeutung dieser Bestimmungen des Rahmenbeschlusses nach dem Urteil Kozłowski

22.      Das Urteil Kozłowski erging vor dem folgenden tatsächlichen und rechtlichen Hintergrund.

23.      Die polnischen Justizbehörden ersuchten die deutschen Justizbehörden mit Europäischem Haftbefehl um Übergabe von Herrn Kozłowski, einem polnischen Staatsangehörigen, zur Vollstreckung einer rechtskräftig verhängten Freiheitsstrafe von fünf Monaten.

24.      Herr Kozłowski verbüßte in der Justizvollzugsanstalt Stuttgart eine Freiheitsstrafe von drei Jahren und sechs Monaten, die die deutsche Justiz wegen zahlreicher in Deutschland begangener Betrugsfälle gegen ihn verhängt hatte.

25.      Er war ledig und kinderlos. Er war der deutschen Sprache nur eingeschränkt bis gar nicht mächtig. Im Februar 2005 war er nach Deutschland gekommen und hatte sich dort bis zu seiner Verhaftung am 10. Mai 2006 überwiegend aufgehalten, mit einigen Unterbrechungen, insbesondere während der Weihnachtsferien. Er hatte dort gelegentlich im Bausektor gearbeitet. Er stimmte seiner Übergabe an die polnischen Justizbehörden nicht zu und wollte nach seiner Entlassung in Deutschland bleiben.

26.      Art. 4 Nr. 6 des Rahmenbeschlusses ist im deutschen Recht durch unterschiedliche Bestimmungen umgesetzt worden, die danach unterscheiden, ob es sich bei der betroffenen Person um einen deutschen oder einen ausländischen Staatsangehörigen handelt.

27.      Die Auslieferung eines deutschen Staatsangehörigen zum Zweck der Strafvollstreckung ist nur dann zulässig, wenn der Verfolgte zustimmt(9). Die Auslieferung eines ausländischen Staatsangehörigen, der im Inland seinen gewöhnlichen Aufenthalt hat, kann abgelehnt werden, wenn bei einer Auslieferung zum Zweck der Strafvollstreckung die betroffene Person ihrer Übergabe nicht zustimmt und ihr schutzwürdiges Interesse an der Strafvollstreckung im Inland überwiegt, wobei nicht danach unterschieden wird, ob es sich um den Angehörigen eines Mitgliedstaats oder eines Drittstaats handelt(10).

28.      Diese Gesetzesbestimmungen ergingen in der Folge einer Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 18. Juli 2005, in der die Vorgängerregelung wegen einer unverhältnismäßigen Einschränkung des Grundrechts eines jeden Deutschen auf Auslieferungsfreiheit für verfassungswidrig erklärt wurde(11).

29.      Das Oberlandesgericht sah sich mit zwei Fragen konfrontiert. Es musste zunächst feststellen, ob Herr Kozłowski im Sinne von Art. 4 Nr. 6 des Rahmenbeschlusses seinen Aufenthalt oder Wohnsitz in Deutschland hatte. Genauer gesagt stellte es sich die Frage, welche Relevanz im Rahmen dieser Prüfung jeweils den Umständen zukommt, dass der Aufenthalt von Herrn Kozłowski in Deutschland 2005 und 2006 unterbrochen worden war, dass Herr Kozłowski auch mehr als drei Monate nach seiner Ankunft in Deutschland noch keiner Tätigkeit nachgegangen war und seinen Lebensunterhalt im Wesentlichen durch die Begehung von Straftaten gesichert hatte, so dass sein Aufenthalt in Deutschland wahrscheinlich nicht in Einklang mit dem nationalen Aufenthaltsrecht stand, und dass sich Herr Kozłowski in Haft befand.

30.      Das Oberlandesgericht stellte anschließend die Frage nach der Vereinbarkeit des deutschen Rechts, das Art. 4 Nr. 6 des Rahmenbeschlusses umgesetzt hatte, mit dem Grundsatz der Nichtdiskriminierung. Es begehrte insbesondere die Feststellung des Gerichtshofs, ob und inwieweit die Unterscheidung zwischen eigenen Staatsangehörigen und fremden Staatsangehörigen, die Unionsbürger sind, zulässig ist.

31.      Das Oberlandesgericht stellte daher dem Gerichtshof die folgenden zwei Fragen:

1.      Steht der Annahme, dass eine Person einen „Wohnsitz“ oder „Aufenthalt“ im Sinne von Art. 4 Nr. 6 des Rahmenbeschlusses in einem [Vollstreckungsmitgliedstaat] hat, entgegen, dass die betreffende Person

a)      sich nicht ununterbrochen in dem [Vollstreckungsmitgliedstaat] aufhält,

b)      sich nicht im Einklang mit dem Aufenthaltsrecht dort aufhält,

c)      dort gewerbsmäßig Straftaten begeht und/oder

d)      sich dort in Strafhaft befindet?

2.      Ist eine Umsetzung des Art. 4 Nr. 6 des Rahmenbeschlusses in der Weise, dass die Auslieferung eigener Staatsangehöriger eines [Vollstreckungsmitgliedstaat] zur Strafvollstreckung gegen deren Willen stets unzulässig ist, diejenige von Angehörigen anderer Mitgliedstaaten hingegen gegen deren Willen nach behördlichem Ermessen bewilligt werden kann, mit Unionsrecht, insbesondere mit den Grundsätzen der Nichtdiskriminierung und Unionsbürgerschaft nach Art. 6 Abs. 1 EU in Verbindung mit Art. 12, Art. 17 ff. EG, vereinbar, und, wenn ja, sind die genannten Grundsätze zumindest bei der Ausübung des Ermessens zu beachten?

32.      Der Gerichtshof hat im Urteil Kozłowski nur auf die erste Frage geantwortet. Er hat für Recht erkannt:

„Art. 4 Nr. 6 des Rahmenbeschlusses ist dahin auszulegen, dass

–        eine gesuchte Person im Vollstreckungsmitgliedstaat ‚ihren Wohnsitz hat‘, wenn sie dort ihren tatsächlichen Wohnsitz begründet hat, und sich dort ‚ aufhält‘, wenn sie infolge eines beständigen Verweilens von gewisser Dauer in diesem Mitgliedstaat Bindungen zu diesem Staat von ähnlicher Intensität aufgebaut hat, wie sie sich aus einem Wohnsitz ergeben;

–        die vollstreckende Justizbehörde, um zu entscheiden, ob in einer konkreten Situation zwischen der gesuchten Person und dem Vollstreckungsmitgliedstaat Bindungen bestehen, die die Feststellung zulassen, dass diese Person unter den Begriff ‚ sich aufhält‘ im Sinne des Art. 4 Nr. 6 des Rahmenbeschlusses fällt, eine Gesamtschau mehrerer objektiver Kriterien vorzunehmen hat, die die Situation dieser Person kennzeichnen und zu denen insbesondere die Dauer, die Art und die Bedingungen des Verweilens der gesuchten Person sowie ihre familiären und wirtschaftlichen Verbindungen zum Vollstreckungsmitgliedstaat gehören.“

33.      Der Gerichtshof hat die Antwort auf folgende Erwägungen gestützt:

–        Die Bedeutung und die Reichweite der Begriffe „sich aufhält“ und „ihren Wohnsitz hat“ werden im Rahmenbeschluss nicht definiert.

–        Der Begriff „sich aufhält“ darf nicht so weit ausgelegt werden, dass die vollstreckende Justizbehörde die Vollstreckung eines Europäischen Haftbefehls schon allein deshalb ablehnen kann, weil sich die gesuchte Person vorübergehend im Hoheitsgebiet des Vollstreckungsmitgliedstaats befindet. Er kann jedoch auch nicht dahin ausgelegt werden, dass bei einer gesuchten Person, die sich dort seit einiger Zeit aufhält, von vornherein auszuschließen wäre, dass sie zu diesem Staat Bindungen aufgebaut hat, die eine Berufung auf diesen fakultativen Ablehnungsgrund rechtfertigen könnten.

–        Der Begriff „sich aufhält“ ist somit von Bedeutung für die Bestimmung des Anwendungsbereichs von Art. 4 Nr. 6 des Rahmenbeschlusses.

–        Die Begriffe „sich aufhält“ und „ihren Wohnsitz hat“ müssen in der Union einheitlich ausgelegt werden, und die Mitgliedstaaten dürfen diesen Begriffen keine weitere Reichweite beimessen, die über das hinausgeht, was sich aus einer solchen einheitlichen Auslegung ergibt.

–        Die vollstreckende Justizbehörde muss, um zu klären, ob in einer konkreten Situation der in Art. 4 Nr. 6 des Rahmenbeschlusses vorgesehene Ablehnungsgrund anwendbar ist, in einem ersten Schritt nur entscheiden, ob die Person Staatsangehöriger ist, ihren Wohnsitz in diesem Staat hat oder sich dort aufhält und, bejahendenfalls, in einem zweiten Schritt beurteilen, ob ein legitimes Interesse daran besteht, dass die im Ausstellungsmitgliedstaat verhängte Strafe im Hoheitsgebiet des Vollstreckungsmitgliedstaats vollstreckt wird.

–        Art. 4 Nr. 6 des Rahmenbeschlusses soll insbesondere die vollstreckende Justizbehörde in die Lage versetzen, der Frage besondere Bedeutung beizumessen, ob die Resozialisierungschancen der gesuchten Person erhöht werden können.

–        Daher stehen die Begriffe „ihren Wohnsitz hat“ und „sich aufhält“ jeweils für Situationen, in denen die Person, gegen die ein Europäischer Haftbefehl erlassen wurde, entweder ihren tatsächlichen Wohnsitz im Vollstreckungsmitgliedstaat begründet hat oder infolge eines beständigen Verweilens von gewisser Dauer in diesem Mitgliedstaat Bindungen zu diesem Staat von ähnlicher Intensität aufgebaut hat, wie sie sich aus einem Wohnsitz ergeben;

–        ob in einer konkreten Situation eine Person derartige Bindungen aufgebaut hat, ist anhand einer Gesamtschau mehrerer objektiver Kriterien zu ermitteln, die die Situation dieser Person kennzeichnen und zu denen insbesondere die Dauer, die Art und die Bedingungen des Verweilens der gesuchten Person sowie ihre familiären und wirtschaftlichen Verbindungen zum Vollstreckungsmitgliedstaat gehören.

–        Im Rahmen dieser Gesamtschau kommt keinem dieser Umstände für sich genommen eine entscheidende Bedeutung zu.

–        Für die vom vorlegenden Gericht aufgeführten Umstände gilt, dass der Umstand, dass sich die gesuchte Person nicht ununterbrochen im Vollstreckungsmitgliedstaat aufgehalten hat, und die Tatsache, dass sich diese Person nicht im Einklang mit dem nationalen Aufenthaltsrecht dort aufhält, auch wenn sie für sich genommen nicht ausschließen, dass sich diese Person in diesem Staat „aufhält“, gleichwohl für die Beurteilung relevant sein können.

–        Der Umstand, dass die betreffende Person im Vollstreckungsmitgliedstaat gewerbsmäßig Straftaten begeht, und die Tatsache, dass sich diese Person dort in Strafhaft befindet, haben zwar jeweils keine Bedeutung für die Entscheidung, ob sich diese Person in diesem Staat „aufhält“, sie können aber relevant werden für die Entscheidung, ob ein berechtigter Ablehnungsgrund vorliegt.

34.      Der Gerichtshof hat diese Grundsätze auf die konkrete Situation von Herrn Kozłowski angewandt und ist in Anbetracht der Dauer, der Art und der Bedingungen des Verweilens sowie fehlender familiärer und sehr schwacher wirtschaftlicher Bindungen zu dem Schluss gekommen, dass Herr Kozłowski weder einen Wohnsitz in Deutschland hatte noch sich dort aufhielt.

II – Der tatsächliche und rechtliche Rahmen der Vorlageentscheidung

A –    Die Situation der gesuchten Person

35.      Herr Wolzenburg wurde von mehreren deutschen Gerichten wegen mehrerer Straftaten, insbesondere der Einfuhr von Marihuana nach Deutschland, zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von einem Jahr und neun Monaten verurteilt.

36.      Die Staatsanwaltschaft Aachen erließ am 13. Juli 2006 einen Europäischen Haftbefehl gegen Herrn Wolzenburg zur Vollstreckung dieser Freiheitsstrafe und übersandte diesen Haftbefehl am 3. August 2006.

37.      Herr Wolzenburg reiste Anfang Juni 2005 in die Niederlande ein. Ab dem 16. Juni 2005 hielt er sich in einer Wohnung in Venlo auf, die mit einem auf seinen Namen und den Namen seiner Frau lautenden Vertrag angemietet war. Er ist im Melderegister dieser Gemeinde eingetragen. In der Sitzung vom 30. November 2007 hat er erklärt, dass seine Ehefrau, die ebenfalls deutsche Staatsangehörige ist, schwanger sei.

38.      Herr Wolzenburg übte in den Niederlanden in den Jahren 2005 bis 2007 eine bezahlte Tätigkeit aus. Am 24. Juli 2005 wurde ihm eine Steuer- und Sozialversicherungsnummer zugeteilt. Für den Zeitraum vom 1. Januar 2006 bis zum 31. Dezember 2008 hat er einen Krankenversicherungsschutz nachgewiesen.

39.      Am 20. September 2006 meldete er sich bei der Einwanderungs- und Naturalisationsstelle, um sich als Unionsbürger anzumelden. Das vorlegende Gericht hat darauf hingewiesen, dass er über ein Aufenthaltsrecht aufgrund Gemeinschaftsrechts verfüge und dass er sein Aufenthaltsrecht in den Niederlanden nicht aufgrund seiner Verurteilung verlieren dürfte.

40.      Das vorlegende Gericht hat ebenfalls hervorgehoben, dass die im Zusammenhang mit der Einfuhr von Marihuana nach Deutschland stehenden Taten teilweise in den Niederlanden begangen worden seien und der Betroffene somit auch in diesem Mitgliedstaat verfolgt werden könne.

B –    Niederländisches Recht

41.      Art. 4 Nr. 6 des Rahmenbeschlusses ist durch Art. 6 des Übergabegesetzes (Overleveringswet) vom 29. April 2004(12) in niederländisches Recht umgesetzt worden. Diese Vorschrift lautet:

„1.   Die Übergabe eines Niederländers kann bewilligt werden, sofern sie zum Zweck der Strafverfolgung gegen ihn erfolgt und nach Ansicht der vollstreckenden Justizbehörde gewährleistet ist, dass der Betroffene im Fall der Verurteilung zu einer Freiheitsstrafe ohne Bewährung im Ausstellungsmitgliedstaat aufgrund der Taten, für die die Übergabe bewilligt werden kann, seine Strafe in den Niederlanden verbüßen kann.

2.     Die Übergabe eines Niederländers ist nicht zulässig, wenn sie zum Zweck der Vollstreckung einer Freiheitsstrafe beantragt wird, die gegen ihn durch rechtskräftiges Urteil verhängt worden ist.

3.     Bei einer ausschließlich auf Abs. 2 gestützten Verweigerung der Übergabe unterrichtet die Staatsanwaltschaft die ausstellende Justizbehörde von der Bereitschaft, die Vollstreckung des Urteils gemäß dem in Art. 11 des Übereinkommens über die Überstellung verurteilter Personen vom 21. März 1983 (Trb. 1983, 74) vorgesehenen Verfahrens oder auf der Grundlage eines anderen anwendbaren Übereinkommens zu übernehmen.

5.     Die Abs. 1 bis 4 finden ebenfalls Anwendung auf einen Ausländer mit einer unbefristeten Aufenthaltsgenehmigung, sofern er in den Niederlanden wegen der dem Europäischen Haftbefehl zugrunde liegenden Taten verfolgt werden kann und sofern zu erwarten ist, dass er sein Aufenthaltsrecht in den Niederlanden nicht infolge einer gegen ihn nach der Übergabe verhängten Strafe oder Maßregel verlieren wird.“

III – Vorlagefragen

42.      Das vorlegende Gericht führt aus, dass Art. 6 Abs. 5 OLW im Fall der Übermittlung eines Europäischen Haftbefehls zur Strafvollstreckung anwendbar ist, so dass die Übergabe gemäß Art. 6 Abs. 2 OLW abzulehnen ist, wenn die Bedingungen dieser Vorschrift erfüllt sind.

43.      Das vorlegende Gericht weist auch darauf hin, dass die genannten Bestimmungen auf die Resozialisierung der verurteilten Person abzielen, indem sie es dieser Person ermöglichen, ihre Strafe in größtmöglicher Nähe zur sozialen Umgebung, in die sie wieder eingegliedert werden muss, zu verbüßen.

44.      Das vorlegende Gericht betont jedoch, dass aufgrund von Art. 6 Abs. 5 OLW die Staatsangehörigen anderer Mitgliedstaaten, die über ein Aufenthaltsrecht in den Niederlanden aufgrund von Art. 18 EG verfügen, ohne im Besitz einer unbefristeten Aufenthaltsgenehmigung zu sein, nicht in den Genuss dieser Bestimmung der OLW kommen.

45.      Das vorlegende Gericht weist darauf hin, dass die Erlangung dieser unbefristeten Aufenthaltsgenehmigung von der doppelten Voraussetzung abhängt, dass sich der Betroffene fünf Jahre ununterbrochen in den Niederlanden aufgehalten hat und dass er eine Gebühr von 201 Euro entrichtet hat.

46.      Nach Auffassung des vorlegenden Gerichts beeinträchtigt das Fehlen der Möglichkeit, in den Genuss des Auslieferungshindernisses gemäß Art. 6 Abs. 5 OLW zu kommen, die Unionsbürgerrechte der Staatsangehörigen eines anderen Mitgliedstaats, die nicht im Besitz einer solchen Aufenthaltsgenehmigung sind.

47.      Mit Hinweis auf das Urteil Pupino vom 16. Juni 2005(13), wonach das nationale Gericht das nationale Recht rahmenbeschlusskonform auslegen muss, ohne dabei zu einer Auslegung contra legem zu kommen, hat die Rechtbank Amsterdam das Verfahren ausgesetzt und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorgelegt:

1.      Sind unter Personen, die sich im Sinne von Art. 4 Nr. 6 des Rahmenbeschlusses im Vollstreckungsmitgliedstaat aufhalten oder dort ihren Wohnsitz haben, auch Personen zu verstehen, die nicht die Staatsangehörigkeit des Vollstreckungsmitgliedstaats, sondern die eines anderen Mitgliedstaats haben und sich aufgrund von Art. 18 Abs. 1 EG rechtmäßig im Vollstreckungsmitgliedstaat aufhalten, und zwar ungeachtet der Dauer des rechtmäßigen Aufenthalts?

2.      a)     Falls die Frage 1 verneint wird: Sind die in Frage 1 aufgeführten Begriffe so auszulegen, dass sie sich auf Personen beziehen, die nicht die Staatsangehörigkeit des Vollstreckungsmitgliedstaats, sondern die eines anderen Mitgliedstaats haben und die sich vor ihrer Festnahme aufgrund eines Europäischen Haftbefehls mindestens für eine bestimmte Zeit gemäß Art. 18 Abs. 1 EG rechtmäßig im Vollstreckungsmitgliedstaat aufgehalten haben?

b)      Falls die Frage 2.a bejaht wird: Welche Anforderungen sind dann an die rechtmäßige Aufenthaltsdauer zu stellen?

3.      Falls die Frage 2.a bejaht wird: Kann der Vollstreckungsmitgliedstaat neben Anforderungen an die rechtmäßige Aufenthaltsdauer noch ergänzende verwaltungsrechtliche Anforderungen, wie den Besitz einer unbefristeten Aufenthaltsgenehmigung, stellen?

4.      Fällt eine nationale Maßnahme, die die Voraussetzungen festlegt, unter denen die Vollstreckung eines zum Zweck der Vollstreckung einer Freiheitsstrafe ausgestellten Europäischen Haftbefehls von der Justizbehörde verweigert werden kann, in den (sachlichen) Geltungsbereich des EG-Vertrags?

5.      Bedeutet unter Berücksichtigung der Tatsache, dass

–        Art. 6 Abs. 2 und 5 OLW eine Regelung enthält, die Personen, die nicht die niederländische Staatsangehörigkeit besitzen, jedoch über eine unbefristete Aufenthaltsgenehmigung für die Niederlande verfügen, niederländischen Staatsangehörigen gleichstellt

und

–        diese Regelung dazu führt, dass für diese Gruppen von Personen die Übergabe verweigert werden muss, wenn der Europäische Haftbefehl zur Vollstreckung einer rechtskräftigen Freiheitsstrafe ausgestellt worden ist,

Art. 6 Abs. 2 und 5 OLW eine durch Art. 12 EG verbotene Diskriminierung, da die erwähnte Gleichstellung nicht ebenso für Staatsangehörige anderer Mitgliedstaaten mit einem Aufenthaltsrecht aufgrund von Art. 18 Abs. 1 EG gilt, die dieses Aufenthaltsrecht nicht als Folge der verhängten rechtskräftigen Freiheitsstrafe verlieren werden, die aber nicht über eine unbefristete Aufenthaltsgenehmigung für die Niederlande verfügen?

IV – Rechtliche Würdigung

48.      Die vom vorlegenden Gericht gestellten Fragen betreffen drei Bereiche, die ich nacheinander prüfen werde. Zunächst geht es um die Dauer, für die sich die gesuchte Person im Vollstreckungsmitgliedstaat aufgehalten haben muss, damit sie sich in diesem Staat im Sinne von Art. 4 Nr. 6 des Rahmenbeschlusses „aufhält“ oder dort „ihren Wohnsitz hat“, anschließend um die Frage, ob die Anwendung des in dieser Vorschrift vorgesehenen Ablehnungsgrundes von zusätzlichen verwaltungsrechtlichen Anforderungen wie dem Besitz einer unbefristeten Aufenthaltsgenehmigung abhängig gemacht werden kann, und schließlich darum, ob der Grundsatz der Nichtdiskriminierung in Art. 12 EG einer mitgliedstaatlichen Vorschrift entgegensteht, wonach die Übergabe von eigenen Staatsangehörigen immer abzulehnen ist, wohingegen die Übergabe von Staatsangehörigen anderer Mitgliedstaaten nur dann abgelehnt werden kann, wenn diese im Besitz einer unbefristeten Aufenthaltsgenehmigung sind.

A –    Zur Aufenthaltsdauer im Vollstreckungsmitgliedstaat

49.      Mit der ersten und der in a) und b) unterteilten zweiten Vorlagefrage möchte das vorlegende Gericht im Wesentlichen wissen, welche Dauer der Aufenthalt der gesuchten Person im Vollstreckungsmitgliedstaat haben muss, damit diese Person in diesem Staat ihren Aufenthalt oder Wohnsitz im Sinne von Art. 4 Nr. 6 des Rahmenbeschlusses hat.

50.      Die Antwort darauf ergibt sich meiner Ansicht nach recht eindeutig aus dem Urteil Kozłowski. In diesem Urteil hat der Gerichtshof für Recht erkannt, dass eine Person ihren Wohnsitz im Vollstreckungsmitglied hat, wenn sie dort ihren tatsächlichen Wohnsitz begründet hat, und sich dort „aufhält“, wenn sie infolge eines beständigen Verweilens von gewisser Dauer in diesem Mitgliedstaat Bindungen zu diesem Staat von ähnlicher Intensität aufgebaut hat, wie sie sich aus einem Wohnsitz ergeben.

51.      Der Gerichtshof hat klargestellt, dass anhand einer Gesamtschau mehrerer objektiver Kriterien, die die Situation dieser Person kennzeichnen und zu denen insbesondere die Dauer, die Art und die Bedingungen des Verweilens sowie ihre familiären und wirtschaftlichen Bindungen zum Vollstreckungsmitgliedstaat gehören, zu ermitteln ist, ob eine Person in einer konkreten Situation derartige Bindungen aufgebaut hat.

52.      Der Gerichtshof hat diese Feststellung aus dem Umstand abgeleitet, dass die Begriffe „aufhalten“ und „Wohnsitz haben“ im Rahmenbeschluss nicht definiert sind und dass diese Begriffe unter Berücksichtigung der mit Art. 4 Nr. 6 des Rahmenbeschlusses verfolgten Ziele, zu denen insbesondere die Erhöhung der Chancen auf Resozialisierung der gesuchten Person gehören, auf Unionsebene einheitlich und nicht weit auszulegen sind.

53.      Aus diesen Überlegungen können für das vorliegende Verfahren folgende Schlussfolgerungen gezogen werden.

54.      Zum einen stellt die Aufenthaltsdauer der gesuchten Person im Vollstreckungsmitgliedstaat eines der Kriterien dar, die für die Frage zu berücksichtigen sind, ob diese Person hinreichende Bindungen zu diesem Staat aufweist. Dies gilt sowohl für den Begriff „Wohnsitz haben“ als auch für den Begriff „sich aufhalten“, wie sich aus der Definition des letztgenannten Begriffs ergibt, wonach sich eine Person in einem Vollstreckungsmitgliedstaat aufhält, wenn sie infolge eines beständigen Verweilens von gewisser Dauer in diesem Staat Bindungen zu diesem Staat von ähnlicher Intensität aufgebaut hat, wie sie sich aus einem Wohnsitz ergeben.

55.      Zum anderen muss dieser Aufenthalt von einer „gewissen Dauer“(14) sein, d. h., er muss so bedeutsam sein, dass im Hinblick auf die gesamte Situation der gesuchten Person eine wirkliche Bindung dieser Person zum Vollstreckungsmitgliedstaat besteht.

56.      Hieraus folgt, dass die Frage, ob sich eine Person im Hoheitsgebiet des Vollstreckungsmitgliedstaats im Sinne von Art. 4 Nr. 6 des Rahmenbeschlusses aufhält oder dort ihren Wohnsitz hat, nicht losgelöst von der Dauer ihres Aufenthalts in diesem Staat beurteilt werden kann. Denn um ihren Aufenthalt im Hoheitsgebiet des Vollstreckungsmitgliedstaats zu haben, reicht es nicht aus, dass sich die gesuchte Person vorübergehend dort befindet(15), und es reicht auch nicht aus, dass diese Person dort erst seit kurzem ihren tatsächlichen oder ihren Hauptwohnsitz hat, ohne zu diesem Staat andere Bindungen wie eine Berufstätigkeit oder die Anwesenheit von Familienmitgliedern zu haben.

57.      Es ist jedoch auch nicht erforderlich, wie sich aus der im Urteil Kozłowski verwendeten Bezeichnung „einer gewissen Dauer“ ebenfalls ergibt, dass die gesuchte Person in dem genannten Staat ununterbrochen für eine bestimmte Dauer, z. B. für fünf Jahre, wie in Art. 16 der Richtlinie 2004/38/EG des Europäischen Parlaments und des Rates(16) vorgesehen, gewohnt haben muss, um in den Genuss eines dauerhaften Aufenthaltsrechts zu kommen. Da die Begriffe „ihren Wohnsitz haben“ und „sich aufhalten“ in der Union einheitlich auszulegen sind, kann ein Mitgliedstaat keine zwingende gesetzliche Aufenthaltsdauer vorschreiben. Das niederländische Recht verstößt meines Erachtens insoweit gegen den Rahmenbeschluss, als es die Ablehnung der Übergabe eines Staatsangehörigen eines anderen Mitgliedstaates im Ergebnis davon abhängig macht, dass sich dieser Staatsangehörige fünf Jahre ununterbrochen in den Niederlanden aufgehalten hat.

58.      Ob die Dauer des Aufenthalts der gesuchten Person im Vollstreckungsmitgliedstaat ausreicht, um in den Genuss des in Art. 4 Nr. 6 des Rahmenbeschlusses vorgesehenen Ablehnungsgrundes zu kommen, hängt von der konkreten Betrachtung dieser Dauer vor dem Hintergrund der Gesamtheit der anderen relevanten Kriterien ab, die die Situation dieser Person kennzeichnen.

59.      Der Gerichtshof hat im Einzelnen die Prüfmethode beschrieben, die von der vollstreckenden Justizbehörde zu befolgen ist, wenn sie die Anwendbarkeit dieses Ablehnungsgrundes überprüft. Diese Behörde muss in einem ersten Schritt nur entscheiden, ob die Person Staatsangehöriger dieses Staates ist, dort ihren Wohnsitz hat oder sich dort aufhält, und bejahendenfalls in einem zweiten Schritt beurteilen, ob ein legitimes Interesse daran besteht, dass die im Ausstellungsmitgliedstaat verhängte Strafe im Hoheitsgebiet des Vollstreckungsmitgliedstaats vollstreckt wird(17). Unter diesem Blickwinkel stellt die Resozialisierung der gesuchten Person nur eines dieser legitimen Interessen dar.

60.      Diese Auslegung von Art. 4 Nr. 6 des Rahmenbeschlusses überzeugt mich nicht.

61.      Zum einen kann ich mit Blick auf die in diesem Artikel aufgestellten Bedingungen und die Systematik des Rahmenbeschlusses nicht erkennen, welches andere legitime Interesse aufgrund dieser Bestimmung verfolgt werden könnte. In diesem Zusammenhang weise ich darauf hin, dass alle Mitgliedstaaten, die in der Rechtsache Kozłowski Erklärungen abgegeben haben, sowie die Kommission der Europäischen Gemeinschaften nur die Resozialisierung der gesuchten Person angeführt haben. Außerdem ist daran zu erinnern, dass Art. 4 Nr. 6 des Rahmenbeschlusses eine Ausnahme vom Grundsatz der Übergabe in Art. 1 Abs. 2 des Rahmenbeschlusses darstellt und mithin nicht weit ausgelegt werden darf, worauf der Gerichtshof im Zusammenhang mit dem Begriff „sich aufhält“ hingewiesen hat(18).

62.      Zum anderen widerspricht eine solche Prüfmethode für die Anwendung von Art. 4 Nr. 6 des Rahmenbeschlusses der Methode zur Auslegung eines Begriff des Gemeinschaftsrechts, wonach in den Fällen, in denen ein solcher Begriff in dem Gemeinschaftsrechtsakt nicht definiert wird und hierfür auch nicht auf das Recht der Mitgliedstaaten verwiesen wird, die Auslegung eines solchen Begriffs unter Berücksichtigung seines Kontextes und des von ihm verfolgten Ziels zu erfolgen hat(19). Die Begriffe, von denen die Anwendbarkeit einer bestimmten gemeinschaftlichen Bestimmung abhängt, sind für jeden Einzelfall gerade unter Berücksichtigung des mit dieser Bestimmung verfolgten Ziels zu beurteilen.

63.      Daher muss meiner Ansicht nach die vollstreckende Justizbehörde bei der Feststellung, ob sich die gesuchte Person in dem Vollstreckungsmitgliedstaat im Sinne von Art. 4 Nr. 6 des Rahmenbeschlusses „aufhält“ oder dort „ihren Wohnsitz hat“, in jedem konkreten Einzelfall untersuchen, ob diese Person zu diesem Staat Bindungen aufweist, wie etwa, dass die Vollstreckung der Strafe in diesem Staat für die Förderung der Resozialisierung notwendig erscheint. Die Bedeutung dieser Begriffe wurde vom Gerichtshof in der Rechtssache Kozłowski gerade im Hinblick auf dieses Ziel ausgelegt, und im Hinblick darauf muss sie in jedem Einzelfall beurteilt werden.

64.      Der Ort, an dem sich eine Person, die eine Freiheitsstrafe oder eine freiheitsentziehende Maßregel der Sicherung verbüßen muss, aufhält oder ihren Wohnsitz hat, ist für die Resozialisierung der Person von Bedeutung, da die Resozialisierung ihr ermöglichen soll, wieder ihren Platz in der Gesellschaft zu finden, das heißt das familiäre, soziale und berufliche Umfeld, in dem die Person vor der Urteilsvollstreckung gelebt hat und in das sie wahrscheinlich nach Verbüßung ihrer Strafe zurückkehren wird.

65.      So haben die Mitgliedstaaten des Europarats in ihren Empfehlungen zu den Grundsätzen des Strafvollzugs(20) ihrem Wunsch Ausdruck verliehen, dass die Gefängnishaft soweit wie möglich unter Bedingungen organisiert wird, die es dem Inhaftierten ermöglichen, die Bindungen zu seiner Familie aufrecht zu erhalten und zu verstärken. Die Gefängnishaft muss dem Häftling den Eindruck vermitteln, nicht aus der Gesellschaft ausgeschlossen zu sein. Die Haft muss schließlich das Erlangen oder die Wiederaufnahme einer Arbeit nach Verbüßung der Strafe durch ein in der Strafvollzugsanstalt durchgeführtes Vorbereitungsprogramm auf die Freilassung oder durch eine bedingte Freilassung unter Aufsicht erleichtern(21).

66.      Die Umsetzung dieser Empfehlungen verlangt folglich, dass die Vollstreckung der Strafe oder der freiheitsentziehenden Maßregel der Sicherung die Bindungen zwischen dem Inhaftierten und seiner Familie, seiner Umwelt und der Arbeitswelt so wenig wie möglich unterbricht.

67.      Im Hinblick auf diese Erwägungen muss die vollstreckende Justizbehörde in einer konkreten Situation beurteilen, ob sich die gesuchte Person im Vollstreckungsmitgliedstaat „aufhält“ oder „ihren Wohnsitz“ im Sinne von Art. 4 Nr. 6 des Rahmenbeschlusses hat.

68.      Hieraus folgt meines Erachtens, dass diese Person ihren Wohnsitz im Vollstreckungsmitgliedstaat im Sinne des Art. 4 Nr. 6 des Rahmenbeschlusses haben kann, obwohl sie dort erst seit kurzer Zeit verweilt, wenn sie gleichwohl mit diesem Staat andere ausreichend starke Bindungen unterhält, wie etwa, dass sie dort ihren Hauptwohnsitz hat, dort mit ihrer Familie wohnt und in diesem Staat einer Berufstätigkeit nachgeht.

69.      Was die Situation von Herrn Wolzenburg angeht, bin ich der Auffassung, dass er seinen Wohnsitz in den Niederlanden im Sinne von Art. 4 Nr. 6 des Rahmenbeschlusses hat, da er im Zeitpunkt des Empfangs des ihn betreffenden Europäischen Haftbefehls durch die niederländischen Behörden seinen Hauptwohnsitz in diesem Staat seit etwas mehr als einem Jahr bezogen hatte, da er dort mit seiner Ehefrau wohnte und da er in den Niederlanden einer Berufstätigkeit nachging.

70.      Als Antwort schlage ich daher vor, dass die Aufenthaltsdauer der mit einem Europäischen Haftbefehl gesuchten Person im Vollstreckungsmitgliedstaat für die Feststellung, ob sich diese Person in diesem Staat im Sinne von Art. 4 Nr. 6 des Rahmenbeschlusses aufhält oder dort ihren Wohnsitz hat, ausreichend sein muss, um zu belegen, dass die Person zu diesem Staat Bindungen aufweist, die vor dem Hintergrund der anderen objektiven Kriterien, die die konkrete Situation der Person kennzeichnen, den Schluss zulassen, dass die Vollstreckung der Gefängnisstrafe im Vollstreckungsmitgliedstaat geeignet ist, die Resozialisierung der Person zu fördern.

B –    Zur Möglichkeit, die Anwendung des Ablehnungsgrundes in Art. 4 Nr. 6 des Rahmenbeschlusses von der Erfüllung zusätzlicher verwaltungsrechtlicher Anforderungen wie dem Besitz einer unbefristeten Aufenthaltsgenehmigung abhängig zu machen

71.      Mit seiner dritten Vorlagefrage möchte das vorlegende Gericht im Wesentlichen wissen, ob Art. 4 Nr. 6 des Rahmenbeschlusses dahin auszulegen ist, dass die Anwendung des dort vorgesehenen Ablehnungsgrundes von der Erfüllung zusätzlicher verwaltungsrechtlicher Anforderungen wie dem Besitz einer unbefristeten Aufenthaltsgenehmigung abhängig gemacht werden kann.

72.      Das Urteil Kozłowski liefert bereits einen Hinweis zur Beantwortung dieser Frage. In diesem Urteil hat der Gerichtshof zu der Frage Stellung genommen, ob sich die gesuchte Person im Vollstreckungsmitglied „aufhält“ oder „ihren Wohnsitz hat“, auch wenn sie dort nicht in Einklang mit dem nationalen Einreise- und Aufenthaltsrecht verweilt. Das Oberlandesgericht Stuttgart stellte diese Frage, weil Herr Kozłowski mehr als drei Monate nach seiner Einreise nach Deutschland dort keiner Tätigkeit nachging und seinen Lebensunterhalt im Wesentlichen durch die Begehung von Straftaten sicherte(22).

73.      Nach Auffassung des Gerichtshofs schließt dieser Umstand für sich genommen nicht aus, dass sich die gesuchte Person im Vollstreckungsmitgliedstaat aufhält, aber er kann für die Beurteilung relevant sein, ob diese Bedingung erfüllt ist.

74.      Wie sich aus den oben genannten Kriterien ergibt und wie das vorlegende Gericht erwähnt, ist für die Beantwortung der vorliegenden Frage zunächst darauf abzustellen, dass ein Staatsangehöriger eines anderen Mitgliedstaats sein Aufenthaltsrecht im Vollstreckungsmitgliedstaat aus Art. 18 EG oder gegebenenfalls aus der Ausübung einer wirtschaftlichen Tätigkeit aufgrund eines durch den EG-Vertrag garantierten Rechts auf Freizügigkeit ableitet und dass der Mitgliedstaat dieses Recht nur in Übereinstimmung mit dem Gemeinschaftsrecht beschränken kann.

75.      Nach Art. 17 Abs. 1 EG ist nämlich jeder Staatsangehörige eines Mitgliedstaats zugleich Unionsbürger und besitzt gemäß Art. 18 Abs. 1 EG das Recht, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten vorbehaltlich der im EG-Vertrag und in den Durchführungsbestimmungen vorgesehenen Beschränkungen und Bedingungen frei zu bewegen und aufzuhalten. Es steht auch fest, dass zu dem grundsätzlichen Status jedes Staatsangehörigen eines Mitgliedstaates die Eigenschaft als Unionsbürger gehört und dass sich aus dem durch den EG-Vertrag garantierten Recht, eine selbständige oder unselbständige wirtschaftliche Tätigkeit im Mitgliedstaat seiner Wahl auszuüben, das Aufenthaltsrecht in diesem Staat ableitet.

76.      Wie das vorlegende Gericht ausführt, hängt dieses Aufenthaltsrecht nicht von verwaltungsrechtlichen Bedingungen wie dem Besitz einer unbefristeten Aufenthaltsgenehmigung ab. Eine solche Bedingung findet sich weder im EG-Vertrag noch in der Richtlinie 2004/38, im Gegensatz zu der Vorgabe, über ausreichende Mittel für einen Aufenthalt von mehr als drei Monaten zu verfügen und zu der in der Rechtssache Kozłowski in Frage stehenden Voraussetzung, dass die betreffende Person keine Gefahr für die öffentliche Ordnung und Sicherheit des Aufnahmemitgliedstaats darstellt.

77.      Der Besitz einer unbefristeten Aufenthaltsgenehmigung ist auch keine Voraussetzung für die Anwendung des in Art. 4 Nr. 6 des Rahmenbeschlusses vorgesehenen Ablehnungsgrundes.

78.      Hieraus folgt, dass das Fehlen einer solchen Genehmigung die Anwendung dieses Ablehnungsgrundes weder ausschließen kann noch bei der Anwendung dieses Ablehnungsgrundes zu berücksichtigen ist.

79.      Daher schlage ich vor, auf die dritte Frage zu antworten, dass Art. 4 Nr. 6 des Rahmenbeschlusses dahin auszulegen ist, dass die Anwendung des in dieser Bestimmung vorgesehenen Ablehnungsgrundes nicht von weiteren verwaltungsrechtlichen Bedingungen wie dem Besitz einer unbefristeten Aufenthaltsgenehmigung abhängig gemacht werden kann.

80.      Hilfsweise führe ich an, dass das niederländische Recht die Anwendung dieses Ablehnungsgrundes noch von zwei weiteren Bedingungen abhängig macht. So ist zudem erforderlich, dass die gesuchte Person in den Niederlanden wegen der dem Europäischen Haftbefehl zugrunde liegenden Taten verfolgt werden kann und dass zu erwarten ist, dass sie ihr Aufenthaltsrecht in diesem Mitgliedstaat nach der Freilassung nicht infolge einer gegen sie verhängten Strafe oder Maßregel verlieren wird.

81.      Das vorlegende Gericht hat dem Gerichtshof nicht die Frage der Vereinbarkeit dieser Bedingungen mit dem Rahmenbeschluss gestellt, da es festgestellt hat, dass diese Bedingungen im vorliegenden Fall erfüllt sind. Ich weise dennoch darauf hin, dass die erste dieser Bedingungen, wonach die gesuchte Person im Vollstreckungsmitgliedstaat wegen der Taten, die zu der den Europäischen Haftbefehl stützenden Verurteilung geführt haben, verfolgt werden können muss, meiner Ansicht nach nicht im Einklang mit dem Rahmenbeschluss steht.

82.      Denn zum einen sieht Art. 4 Nr. 6 dieses Rahmenbeschlusses als Anwendungsbedingungen nur vor, dass erstens die gesuchte Person Staatsangehöriger des Vollstreckungsmitgliedstaats ist, sich dort aufhält oder dort ihren Wohnsitz hat und dass zweitens sich dieser Staat verpflichtet, die Strafe oder Maßregel der Sicherung nach seinem innerstaatlichen Recht zu vollstrecken. Darüber hinaus hat der Gerichtshof wie erwähnt festgestellt, dass die Begriffe „sich aufhält“ und „ihren Wohnsitz hat“ in allen Mitgliedstaaten einheitlich auszulegen sind. Aus dieser Analyse der Begriffe, von denen die Anwendung des Ablehnungsgrundes in Art. 4 Nr. 6 des Rahmenbeschlusses abhängt, folgt meines Erachtens, dass ein Mitgliedstaat die Anwendung nicht von einer weiteren, dort nicht vorgesehenen Bedingung abhängig machen darf.

83.      Zum anderen lässt sich die fragliche weitere Bedingung nicht mit dem durch Art. 4 Nr. 6 des Rahmenbeschlusses verfolgten Ziel der Resozialisierung der gesuchten Person rechtfertigen. Es besteht a priori keine Beziehung zwischen dem Ort der Begehung einer Straftat und dem Ort, an dem eine Person ihren Lebensmittelpunkt hat und an dem folglich ihre Inhaftierung die beste Ansicht auf ihre Resozialisierung bietet.

84.      Die zweite Bedingung, wonach die gesuchte Person ihr Aufenthaltsrecht im Vollstreckungsmitgliedstaat nicht verlieren darf, erscheint durchaus mit dem Rahmenbeschluss vereinbar, da der mit Art. 4 Nr. 6 des Rahmenbeschlusses verfolgte Resozialisierungszweck stillschweigend voraussetzt, dass sich die gesuchte Person in diesem Staat weiterhin aufhalten kann und das Aufenthaltsrecht eines Unionsbürgers in einem anderen Mitgliedstaat, dessen Staatsangehörigkeit er nicht besitzt, nicht unbeschränkt ist.

85.      Ich erinnere lediglich daran, dass, auch wenn einem Unionsbürger sein Aufenthaltsrecht aufgrund der Begehung einer Straftat in einem Mitgliedstaat in diesem Staat entzogen werden kann, ein solcher Entzug nur aufgrund einer in Übereinstimmung mit den sehr restriktiven Bedingungen der Art. 27 bis 33 der Richtlinie 2004/38 getroffenen Ausweisungsverfügung erfolgen kann.

86.      Eine solche Verfügung kann somit nur unter außergewöhnlichen Umständen getroffen werden, und zwar dann, wenn das Verhalten des Betroffenen eine tatsächliche, gegenwärtige und erhebliche Gefahr für ein Grundinteresse der Gesellschaft darstellt. Bevor er eine Ausweisung aus Gründen der öffentlichen Ordnung oder Sicherheit verfügt, muss der Aufnahmemitgliedstaat außerdem insbesondere die Dauer des Aufenthalts des Betroffenen im Hoheitsgebiet, sein Alter, seinen Gesundheitszustand, seine familiäre und wirtschaftliche Lage, seine soziale und kulturelle Integration in diesem Staat und das Ausmaß seiner Bindungen zu seinem Herkunftsstaat berücksichtigen.

C –    Zwischenergebnis

87.      Aus den vorstehenden Erwägungen ist zu schließen, dass sich eine gesuchte Person in der Lage von Herrn Wolzenburg im Sinne von Art. 4 Nr. 6 des Rahmenbeschlusses in den Niederlanden aufhält oder dort ihren Wohnsitz hat und dass sie daher in den Genuss des in dieser Vorschrift vorgesehenen Ablehnungsgrundes kommen kann.

88.      Wie sich aus dem Urteil Pupino ergibt und wie das vorlegende Gericht hervorgehoben hat, ist es Aufgabe der nationalen Gerichte, in Übereinstimmung mit dem Grundsatz konformer Auslegung ihr nationales Recht so weit wie möglich an Wortlaut und Zweck des Rahmenbeschlusses ausrichten, um das mit ihm angestrebte Ergebnis zu erreichen(23). Diese Verpflichtung endet jedoch, wenn das innerstaatliche Recht nicht in Übereinstimmung mit dem Rahmenbeschluss ausgelegt werden kann, da der Grundsatz konformer Auslegung nicht zu einer Auslegung contra legem führen darf(24).

89.      Im Urteil vom 5. Oktober 2004, Pfeiffer u. a.(25), hat der Gerichtshof jedoch näher ausgeführt, inwieweit dieses Hindernis dank des Grundsatzes der Äquivalenz ausgeräumt werden kann. Nach Auffassung des Gerichtshofs ist das nationale Gericht verpflichtet, in den Fällen, in denen es das nationale Recht durch die Anwendung seiner Auslegungsmethoden ermöglicht, eine innerstaatliche Bestimmung unter bestimmten Umständen so auszulegen, dass eine Kollision mit einer anderen Norm des innerstaatlichen Rechts vermieden wird, oder die Reichweite dieser Bestimmung zu diesem Zweck einzuschränken und sie nur insoweit anzuwenden, als sie mit dieser Norm vereinbar ist, die gleichen Methoden anzuwenden, um das von der betreffenden Richtlinie verfolgte Ziel zu erreichen(26). Diese Auslegung der Reichweite des Grundsatzes konformer Auslegung ist auf den Fall eines Rahmenbeschlusses übertragbar.

90.      Im vorliegenden Fall hat das vorlegende Gericht nicht dargelegt, ob und inwieweit die Auslegungsmethoden des nationalen Rechts es ihm ermöglichen, die Kollision zwischen Art. 6 OLW und Art. 4 Nr. 6 des Rahmenbeschlusses dahin gehend zu lösen, dass die Übergabe einer Person in der Lage von Herrn Wolzenburg abgelehnt werden kann und diese Person ihre Strafe in den Niederlanden verbüßen darf.

91.      Das vorlegende Gericht hat nicht dargelegt, inwiefern die vierte und die fünfte Frage, die darauf gerichtet sind, ob das fragliche nationale Recht gegen den Grundsatz der Nichtdiskriminierung des Art. 12 EG verstößt, insoweit relevant sind. Es ist gleichwohl nicht auszuschließen, dass davon abhängt, ob das vorlegende Gericht aufgrund der Auslegungsmethoden seines innerstaatlichen Rechts das von dem Rahmenbeschluss angestrebte Ergebnis erreichen kann. Die vierte und die fünfte Frage, deren Zulässigkeit nicht bestritten worden ist, können daher nicht als offensichtlich ohne jede Bedeutung für das Ausgangsverfahren angesehen werden, so dass ich dem Gerichtshof ihre Prüfung vorschlage.

D –    Zur Vereinbarkeit der streitigen Regelung mit dem Grundsatz der Nichtdiskriminierung

92.      Mit der vierten und der fünften Vorlagefrage möchte das vorlegende Gericht wissen, ob seine nationale Regelung mit Art. 12 EG, der im Anwendungsbereich des EG-Vertrags jede Diskriminierung aus Gründen der Staatsangehörigkeit verbietet, im Einklang steht.

93.      Das vorlegende Gericht stellt im Wesentlichen die Frage, ob Art. 12 EG in Verbindung mit Art. 4 Nr. 6 des Rahmenbeschlusses der Regelung eines Mitgliedstaats entgegensteht, wonach die Übergabe eigener Staatsangehöriger zur Vollstreckung eines Europäischen Haftbefehls abzulehnen ist, während die Übergabe von Staatsangehörigen anderer Mitgliedstaaten, die sich im Sinne dieser Vorschrift des Rahmenbeschlusses im Vollstreckungsmitgliedstaat aufhalten oder dort ihren Wohnsitz haben, nur dann abgelehnt werden kann, wenn sie Inhaber einer unbefristeten Aufenthaltsgenehmigung sind.

94.      Mehrere Mitgliedstaaten, die sich an diesem Verfahren beteiligt haben, ersuchen den Gerichtshof, diese Frage aus unterschiedlichen Gründen zu verneinen, wobei sich diese Gründe wie folgt zusammenfassen lassen.

95.      Erstens räume Art. 4 Nr. 6 des Rahmenbeschlusses – so die dänische, die deutsche und die österreichische Regierung – den Mitgliedstaaten das Recht ein, eine Bestimmung vorzusehen, wonach die Übergabe in den in Art. 4 Nr. 6 des Rahmenbeschlusses aufgeführten Fälle abgelehnt werden könne, doch seien diese Staaten hierzu nicht verpflichtet. Sollten sich die Mitgliedstaaten dazu entschließen, Art. 4 Nr. 6 des Rahmenbeschlusses umzusetzen, so verfügten sie hierbei über einen weiten Ermessensspielraum, der es ihnen erlaube, die Anwendung dieser Vorschrift gegenüber eigenen Staatsangehörigen und gegenüber Staatsangehörigen anderer Mitgliedstaaten jeweils von unterschiedlichen Voraussetzungen abhängig zu machen.

96.      Zweitens sei – so die niederländische Regierung – eine solche Regelung nicht anhand von Art. 12 EG zu beurteilen, da sie nicht auf den EG-Vertrag, sondern auf den Bereich der polizeilichen und justiziellen Zusammenarbeit in Strafsachen zurückgehe. Außerdem werde die Lage, in der sich Herr Wolzenburg befinde, nicht vom EG-Vertrag erfasst, da dessen Festnahme am 1. August 2006 aufgrund einer im Rahmen des Schengener Informationssystems zur Vollstreckung einer Freiheitsstrafe ergangenen Mitteilung erfolgt sei.

97.      Drittens habe ein Mitgliedstaat das Recht, die Übergabe eigener Staatsangehöriger zu verbieten. Nach Auffassung der österreichischen Regierung stimmt dieses Verbot mit Art. 4 Nr. 6 und Art. 5 Nr. 3 des Rahmenbeschlusses überein, wonach unwiderruflich vermutet werde, dass zwischen Staatsangehörigen des Vollstreckungsmitgliedstaats und diesem Staat ein Näheverhältnis bestehe.

98.      Darüber hinaus finde sich das Verbot der Auslieferung eigener Staatsangehöriger in Art. 3 des Protokolls Nr. 4(27). Auch handele es sich um ein Grundprinzip, das in anderen aufgrund von Titel VI des EU-Vertrags über die polizeiliche und justizielle Zusammenarbeit in Strafsachen ergangenen Rechtsakten angewandt werde(28).

99.      Auch habe der Gerichtshof in mehreren Urteilen entschieden, dass ein Mitgliedstaat gegenüber eigenen und gegenüber Staatsangehörigen anderer Mitgliedstaaten unterschiedliche Maßnahmen treffen könne, wenn diese unterschiedliche Behandlung objektiv gerechtfertigt sei(29). Eine nationale Regelung, nach der wie im vorliegenden Fall die Übergabe nationaler Staatsangehöriger abgelehnt und diese Ablehnung nur auf solche Staatsangehörige der anderen Mitgliedstaaten, die Inhaber einer unbefristeten Aufenthaltsgenehmigung seien, ausgedehnt werde, sei objektiv gerechtfertigt, da diese beiden Kategorien von Unionsbürgern eine engere Bindung zum Vollstreckungsmitgliedstaat hätten.

100. Im Übrigen habe der Unionsgesetzgeber mit der Annahme von Art. 5 Nr. 3 des Rahmenbeschlusses entschieden, dass Unionsbürger mit Wohnsitz im Vollstreckungsmitgliedstaat anders zu behandeln seien als Unionsbürger, die sich in diesem Staat aufhielten, ohne dort ihren Wohnsitz zu haben.

1.      Zur Befugnis der Mitgliedstaaten, Art. 4 Nr. 6 des Rahmenbeschlusses nicht umzusetzen, und zu dem im Fall der Umsetzung bestehenden Ermessensspielraum

101. Die vorliegende unterschiedliche Behandlung durch das nationale Recht kann meiner Ansicht nach nicht durch den Ermessensspielraum gerechtfertigt werden, über den die Mitgliedstaaten bei der Umsetzung von Art. 4 Nr. 6 des Rahmenbeschlusses verfügen, und zwar aus den beiden folgenden Gründen.

102. An erster Stelle steht die Umsetzung des Ablehnungsgrundes in Art. 4 Nr. 6 des Rahmenbeschlusses in innerstaatliches Recht meines Erachtens nicht im Ermessen der Mitgliedstaaten, sondern ist zwingend geboten. Selbst wenn man hilfsweise annimmt, dass diese Umsetzung nicht zwingend ist, darf ein Mitgliedstaat keine Maßnahme einführen, die eine Diskriminierung aus Gründen der Staatsangehörigkeit darstellt.

103. Erstens zielt, wie der Gerichtshof im Urteil Kozłowski festgestellt hat, der Ablehnungsgrund in Art. 4 Nr. 6 des Rahmenbeschlusses darauf ab, die Resozialisierung der gesuchten Person zu fördern. Da diese Person als Unionsbürger das Recht hat, sich in allen Mitgliedstaaten frei zu bewegen und aufzuhalten, betrifft ihre erfolgreiche Resozialisierung nicht nur den Vollstreckungsmitgliedstaat, sondern auch alle anderen Mitgliedstaaten und die dort wohnenden Personen.

104. Dies gilt ebenso für Staatsangehörige von Drittstaaten. Diese Staatsangehörigen können sich aufgrund des Wegfalls der Grenzkontrollen im Schengenraum innerhalb dieses Raums frei bewegen. Sie können sich auch als Familienangehörige eines Staatsangehörigen eines anderen Mitgliedstaats in der gesamten Union bewegen und aufhalten.

105. Die Öffnung der Grenzen hat die Mitgliedstaaten daher in die gemeinsame Verantwortung für die Verbrechensbekämpfung gestellt. Gerade deshalb ist der europäische Strafrechtsraum erforderlich geworden, damit von den Verkehrsfreiheiten nicht zu Lasten der öffentlichen Sicherheit Gebrauch gemacht wird.

106. Die Umsetzung von Art. 4 Nr. 6 des Rahmenbeschlusses ist meiner Ansicht nach erforderlich, damit der Europäische Haftbefehl nicht zu Lasten der Resozialisierung der verurteilten Person und damit zu Lasten des legitimen Interesses aller Mitgliedstaaten an der Verhütung von Verbrechen, das der in dieser Vorschrift vorgesehene Ablehnungsgrund gewährleisten will, ausgestellt wird.

107. Daher stimme ich der Kommission zu, dass die Wendung am Anfang von Art. 4 Nr. 6 des Rahmenbeschlusses „[d]ie vollstreckende Justizbehörde kann die Vollstreckung des Europäischen Haftbefehls verweigern“, dahin verstanden werden muss, dass das innerstaatliche Recht der vollstreckenden Justizbehörde die Möglichkeit einräumen muss, die Übergabe abzulehnen, wenn die in dieser Bestimmung angeführten Bedingungen erfüllt sind. Bestätigt wird dieses Ergebnis meines Erachtens durch den Rahmenbeschluss 2008/909/JI des Rates(30), wonach Haftstrafen in dem Staat vollstreckt werden sollten, in dem ihre Vollstreckung geeignet ist, die Resozialisierung der verurteilten Person zu begünstigen.

108. Zweitens dürfen die Mitgliedstaaten, selbst wenn sie über das Ob der Umsetzung von Art. 4 Nr. 6 des Rahmenbeschlusses frei entscheiden können sollten, im Fall einer solchen Umsetzung nicht gegen den Grundsatz der Nichtdiskriminierung verstoßen.

2.      Zur Anwendung des Grundsatzes der Nichtdiskriminierung

109. Der Rahmenbeschluss erging zwar auf der Grundlage des EU-Vertrags und nicht des EG-Vertrags. Es trifft auch zu, dass das Staatsangehörigkeitsrecht weiterhin in die alleinige Kompetenz der Mitgliedstaaten fällt und dass das Gemeinschaftsrecht nicht darauf abzielt, jede unterschiedliche Behandlung von eigenen Staatsangehörigen und Staatsangehörigen anderer Mitgliedstaaten durch das Recht eines Mitgliedstaats zu beseitigen. Die Pflichte und Rechte, die einen Mitgliedstaat mit jedem seiner Staatsangehörigen gegenseitig verbinden, sollen daher nicht systematisch auf alle Staatsangehörigen der anderen Mitgliedstaaten ausgedehnt werden(31).

110. Gleichwohl darf aus dieser Vorbemerkung nicht geschlossen werden, dass die von einem Mitgliedstaat zur Umsetzung eines auf dem EU-Vertrag beruhenden Rechtsakts erlassenen Vorschriften jeglicher Rechtmäßigkeitskontrolle im Hinblick auf den Grundsatz der Nichtdiskriminierung entzogen seien.

111. Einerseits haben die Personen, die von einem vom EG-Vertrag garantierten Freizügigkeitsrecht Gebrauch machen, nach ständiger Rechtsprechung das Recht, sich auf Art. 12 EG zu berufen. Die Ausübung eines Freizügigkeitsrechts stellt die für die Anwendung dieses Artikels notwendige Verbindung zum Gemeinschaftsrecht her(32). Die Vereinbarkeit einer mitgliedstaatlichen Regelung mit diesem Artikel kann somit immer dann geprüft werden, wenn sie sich auf eine Person bezieht, die von einem Freizügigkeitsrecht Gebrauch gemacht hat, auch wenn diese Regelung in den Bereich ausschließlicher mitgliedstaatlicher Zuständigkeit fällt(33).

112. So hat der Gerichtshof in dem Urteil Cowan festgestellt, dass sich ein britischer Staatsangehöriger, der während eines touristischen Aufenthalts in Frankreich angegriffen wurde, gegenüber dem französischen Opferentschädigungsgesetz zu Recht auf den Grundsatz der Nichtdiskriminierung berufen konnte, obwohl dieses Gesetz im innerstaatlichen Recht den Charakter einer strafprozessualen Vorschrift hat. Im Urteil Garcia Avello hat der Gerichtshof festgestellt, dass sich spanische Kinder, die sich als Unionsbürger legal in Belgien aufhielten, gegenüber den belgischen Bestimmungen über den Familiennamen ebenfalls auf diesen Grundsatz berufen konnten.

113. Diese Urteile sind Teil einer ständigen Rechtsprechung, wonach ein Mitgliedstaat bei der Ausübung seiner ausschließlichen Zuständigkeiten die Regeln des EG-Vertrags, zu denen das Verbot jeder Diskriminierung aus Gründen der Staatsangehörigkeit in Art. 12 EG gehört, nicht verletzen darf(34). Diese Rechtsprechung ist, wie sich aus Art. 47 EU, wonach die Bestimmungen des EU-Vertrags den EG-Vertrag unberührt lassen, ergibt, umso mehr zu beachten, wenn ein Mitgliedstaat einen Unionsrechtsakt wie einen Rahmenbeschluss umsetzt.

114. Herr Wolzenburg, der sich in den Niederlanden in Ausübung der vom EG-Vertrag gewährten Freizügigkeitsrechte aufhält, kann sich als Unionsbürger oder als Wirtschaftsbeteiligter somit gegenüber der niederländischen Regelung, die die Bedingungen festlegt, zu denen er in den Genuss eines in Art. 4 Nr. 6 des Rahmenbeschlusses vorgesehenen Ablehnungsgrundes kommen kann, zu Recht auf Art. 12 EG berufen.

115. Andererseits darf ein Mitgliedstaat bei der Umsetzung eines Rahmenbeschlusses nicht gegen den Grundsatz der Nichtdiskriminierung verstoßen, der als grundlegendes Prinzip insbesondere in Art. 14 der am 4. November 1950 in Rom unterzeichneten Europäischen Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten (im Folgenden: EMRK) und in Art. 21 der am 7. Dezember 2000 in Nizza proklamierten Charta der Grundrechte der Europäischen Union Niederschlag gefunden hat(35).

116. Nach gefestigter Rechtsprechung haben die Mitgliedstaaten bei der Umsetzung von Unionsrecht die Grundrechte, wie sie durch die EMRK und wie sie sich aus den gemeinsamen Verfassungsüberlieferungen der Mitgliedstaaten ergeben, als allgemeine Grundsätze des Gemeinschaftsrechts zu achten(36).

117. Die Bedingungen, zu denen ein Mitgliedstaat den in Art. 4 Nr. 6 des Rahmenbeschlusses vorgesehenen Ablehnungsgrund umsetzt, sind daher einer Kontrolle der Vereinbarkeit mit dem Grundsatz der Nichtdiskriminierung nicht entzogen.

3.       Zum Vorliegen einer Diskriminierung

118. Die fragliche niederländische Regelung nimmt unstreitig eine unterschiedliche Behandlung aus Gründen der Staatsangehörigkeit vor. Wie die Kommission dargelegt hat, kommen Staatsangehörige der anderen Mitgliedstaaten, die sich im Sinne von Art. 4 Nr. 6 des Rahmenbeschlusses in den Niederlanden aufhalten oder dort ihren Wohnsitz haben, nur dann, wenn sie weitere verwaltungsrechtliche Bedingungen erfüllen, in den Genuss des Ablehnungsgrundes, niederländische Staatsangehörige dagegen zwingend und ohne Bedingung.

119. Nach der Rechtsprechung erfordert der Grundsatz der Nichtdiskriminierung, dass vergleichbare Sachverhalte nicht unterschiedlich behandelt werden, es sei denn, dass eine derartige Behandlung objektiv gerechtfertigt ist(37). Die unterschiedliche Behandlung muss darüber hinaus zur Erreichung des angestrebten Ziels erforderlich und verhältnismäßig sein(38).

120. Mehrere Mitgliedstaaten haben die Auffassung vertreten, dass sie die Übergabe eigener Staatsangehöriger systematisch ausschließen dürften und dass insoweit deren Situation im Rahmen der Anwendung von Art. 4 Nr. 6 des Rahmenbeschlusses nicht mit der Situation von Staatsgehörigen der anderen Mitgliedstaaten vergleichbar sei. Ich teile diese Ansicht aus den folgenden Gründen nicht.

121. Erstens halte ich den völligen Ausschluss der Übergabe der Staatsangehörigen des Vollstreckungsmitgliedstaats für mit dem Rahmenbeschluss unvereinbar.

122. Zum einen ist festzustellen, dass der Umstand, Staatsangehöriger des Vollstreckungsmitgliedstaats zu sein, und der Umstand, sich in diesem Staat aufzuhalten oder dort den Wohnsitz zu haben, nach Art. 4 Nr. 6 des Rahmenbeschlusses jeweils dieselbe Rechtsfolge nach sich ziehen, wonach die Übergabe jeweils nur im Anschluss an eine von der vollstreckenden Justizbehörde fallweise vorzunehmende Berücksichtigung der konkreten Lage der gesuchten Person abgelehnt werden kann.

123. Zum anderen bezweckt der in Art. 4 Nr. 6 des Rahmenbeschlusses angeführte Ablehnungsgrund, die Resozialisierungschancen der gesuchten Person zu verbessern. Indem er auf die Staatsangehörigkeit des Vollstreckungsmitgliedstaats abgestellt hat, hat der Unionsgesetzgeber angenommen, dass aufgrund dieser Eigenschaft die Vermutung besteht, dass zwischen der gesuchten Person und dem Vollstreckungsmitgliedstaat Bindungen bestehen und deshalb die Verbüßung der Strafe in diesem Staat eine solche Resozialisierung erleichtern wird.

124. Gleichwohl bin ich nicht der Ansicht, dass ein Mitgliedstaat diese Vermutung als unwiderleglich ausgestalten darf. Dies belegt die große Vielfalt menschlicher Schicksale, mit denen die Justizbehörden eines Mitgliedstaats täglich konfrontiert werden. So kann ich mir den Fall eines niederländischen Staatsangehörigen vorstellen, der seit vielen Jahren in einem anderen Mitgliedstaat als dem Königreich der Niederlande lebt, dort seine Familie und seine Arbeit hat und diesen Staat nur verlässt, um sich der Vollstreckung eines gegen ihn im ersten Staat ergangenen Urteils zu entziehen. Ich glaube nicht, dass sich in einer solchen Situation unwiderleglich vermuten lässt, dass die Resozialisierung des Betroffenen eher durch eine Vollstreckung der Strafe in den Niederlanden gewährleistet wäre.

125. Darum bin ich der Ansicht, dass sich der mit Art. 4 Nr. 6 des Rahmenbeschlusses verfolgte Resozialisierungszweck nicht ohne eine einzelfallbezogene Anwendung der Strafvollzugsbestimmungen, die dem Richter seine uneingeschränkte richterliche Entscheidungsbefugnis belässt und eine vollständig unabhängige Entscheidung ermöglicht, erreichen lässt. Dieser Zweck kann es nicht rechtfertigen, dass ein Mitgliedstaat der zuständigen Justizbehörde jeden Ermessenspielraum nimmt, wenn ein Europäischer Haftbefehl gegen einen eigenen Staatsangehörigen ergangen ist. Die Justizbehörde muss in der Lage sein, einem Übergabeersuchen stattzugeben, wenn wie im vorgenannten Beispiel die betroffene Person keine anderen Bindungen zum Vollstreckungsmitgliedstaat aufweist als die Staatsangehörigkeit.

126. Zweitens steht der völlige Ausschluss der Übergabe von Staatsangehörigen des Vollstreckungsmitgliedstaats meiner Ansicht nach nicht im Einklang mit Systematik und Zielsetzung des Rahmenbeschlusses.

127. Die Nichtauslieferung eigener Staatsangehöriger durch einen Staat ist ein traditioneller Grundsatz des Auslieferungsrechts. Dieser Grundsatz wird durch das von den Mitgliedstaaten des Europarats am 13. Dezember 1957 in Paris unterzeichnete Europäische Auslieferungsübereinkommen anerkannt, das in Art. 6 Abs. 1 Buchst. a vorsieht, dass jede Vertragspartei das Recht hat, die Auslieferung eigener Staatsangehöriger abzulehnen.

128. Der Grundsatz der Nichtauslieferung hat seine Wurzeln in der Souveränität der Staaten über ihre Staatsangehörigen, in den aus gegenseitiger Verbundenheit entstehenden Pflichten und in dem fehlenden Vertrauen in die Rechtsordnungen anderer Staaten. So wird als einer der Gründe zur Rechtfertigung dieses Grundsatzes angeführt, dass ein Staat insbesondere die Pflicht habe, seine Staatsangehörigen vor der Anwendung einer ausländischen Strafrechtsordnung, deren Verfahren und Sprache sie nicht kennen und in der sie sich nur schwer verteidigen können, zu schützen(39).

129. Der Rahmenbeschluss bedeutet eine klare Abkehr von diesem Grundsatz zwischen den Mitgliedstaaten. Wie sich aus seinen Erwägungsgründen und seinen Bestimmungen, insbesondere Art. 31, ergibt, verfolgt der Rahmenbeschluss ausdrücklich das Ziel, zwischen den Mitgliedstaaten das Auslieferungsverfahren aufzuheben und es durch ein System der Übergabe zu ersetzen, in dessen Rahmen die vollstreckende Justizbehörde die Übergabe nur durch eine ausdrücklich auf die in den Art. 3 und 4 des Rahmenbeschlusses abschließend aufgezählten Ablehnungsgründe gestützte Entscheidung ablehnen kann.

130. Der Rahmenbeschluss beruht auf dem Prinzip der gegenseitigen Anerkennung. Der Europäische Haftbefehl stellt, wie sich aus dem sechsten Erwägungsgrund ergibt, im strafrechtlichen Bereich die erste konkrete Verwirklichung des vom Europäischen Rat bei seiner Tagung in Tampere am 15. und 16. Oktober 1999 als „Eckstein“ der justiziellen Zusammenarbeit qualifizierten Prinzips der gegenseitigen Anerkennung dar.

131. Aufgrund dieses Prinzips kommt einer Entscheidung, die eine Justizbehörde in Übereinstimmung mit ihrem staatlichen Recht trifft, vollständige und unmittelbare Wirkung in der gesamten Union zu, so dass die zuständigen Behörden jedes Mitgliedstaats die Vollstreckung der Entscheidung so unterstützen müssen, wie wenn die Entscheidung von einer Justizbehörde ihres eigenen Staats erlassen worden wäre(40). Der Geltungsbereich einer justiziellen Entscheidung ist somit nicht mehr auf das Hoheitsgebiet des Ausstellungsmitgliedstaats beschränkt, sondern erstreckt sich nunmehr auf die gesamte Union.

132. Folglich muss die Entscheidung der Justizbehörde eines Mitgliedstaats, mit der die Übergabe einer Person aufgrund einer endgültigen Verurteilung oder zum Zweck der Strafverfolgung beantragt wird, in allen Mitgliedstaaten automatisch anerkannt und vollstreckt werden, ohne dass dagegen andere als die in dem Rahmenbeschluss vorgesehenen Ablehnungsgründe angeführt werden können. Durch ihre Einwilligung, den europäischen Rechtsraum und insbesondere das System des Europäischen Haftbefehls auf der Grundlage des Prinzips der gegenseitigen Anerkennung zu errichten, haben die Mitgliedstaaten mit anderen Worten auf ihre souveräne Befugnis verzichtet, die eigenen Staatsangehörigen den Ermittlungen und Sanktionen durch Justizbehörden der anderen Mitgliedstaaten zu entziehen.

133. Wie im zehnten Erwägungsgrund des Rahmenbeschlusses erwähnt, wurde dieser Verzicht möglich, weil „Grundlage für den Mechanismus des europäischen Haftbefehls … ein hohes Maß an Vertrauen zwischen den Mitgliedstaaten [ist]“.

134. Dieses Vertrauen zeigte sich erstmals, als die Mitgliedstaaten mit dem in Art. 54 des Schengener Durchführungsübereinkommens(41) aufgestellten Verbot der Doppelbestrafung, wonach eine in einem Mitgliedstaat endgültig verurteilte Person keinen weiteren Strafverfolgungen in einem anderen Mitgliedstaat aufgrund derselben Taten ausgesetzt werden darf, auf ihr Strafverfolgungsrecht verzichtet haben,

135. Wie der Gerichtshof im Urteil Gözütok und Brügge(42) vom 11. Februar 2003 klargestellt hat, impliziert dieses Verbot unabhängig davon, welche Verfahren im Einzelnen zum Strafausspruch geführt haben, zwingend, dass ein gegenseitiges Vertrauen der Mitgliedstaaten in ihre jeweiligen Strafjustizsysteme besteht und dass jeder Mitgliedstaat die Anwendung des in den anderen Mitgliedstaaten geltenden Strafrechts akzeptiert, auch wenn die Anwendung seines eigenen nationales Rechts zu einem anderen Ergebnis führen würde(43).

136. Dieses Vertrauen speist sich aus mehreren Quellen. Einerseits haben alle Mitgliedstaaten bei der Gründung der Europäischen Gemeinschaften oder bei dem Beitritt zu ihm bewiesen, dass sie Rechtsstaaten sind, die die Grundrechte, wie sie in der EMRK und seit dem 7. Dezember 2000 in der Charta der Grundrechte der Europäischen Union vorgesehen sind, achten. Außerdem haben sich, wie die Kommission in Ziff. 1 der Begründung zum Vorschlag für den Rahmenbeschluss festgestellt hat(44), alle diese Staaten über die Ratifizierung dieses Übereinkommens und die Proklamation dieser Charta hinaus dem anspruchsvollen Prinzip der Rechtsstaatlichkeit verschrieben.

137. Obwohl es bis zum heutigen Tag noch nicht zu einer weitreichenden Harmonisierung des materiellen und prozessualen Strafrechts innerhalb der Union gekommen ist, konnten sich die Mitgliedstaaten davon überzeugen, dass die Art und Weise, in der ihre Staatsangehörigen in den anderen Mitgliedstaaten verfolgt und verurteilt werden, deren Rechte achtet und ihnen trotz sprachlicher Schwierigkeiten und mangelnder Vertrautheit mit den Verfahrensregeln die Möglichkeit zu angemessener Verteidigung bietet.

138. Darüber hinaus ist das Vertrauen jedes Mitgliedstaats und seiner Bürger in die Justiz der anderen Mitgliedstaaten die logische und unausweichliche Folge der Schaffung des Gemeinsamen Marktes und der Unionsbürgerschaft.

139. Jeder Mitgliedstaat hat nämlich in Anwendung der durch den EG-Vertrag eingeführten Freizügigkeitsrechte die Pflicht, die Bürger der anderen Mitgliedstaaten in seinem Hoheitsgebiet eine selbständige oder unselbständige wirtschaftliche Tätigkeit zu den gleichen Bedingungen ausüben zu lassen wie eigene Staatsangehörige.

140. Mit der Schaffung der Unionsbürgerschaft wurde ein weiterer Abschnitt erreicht, da nunmehr jeder Mitgliedstaat die Bürger der anderen Mitgliedstaaten, die sich in seinem Hoheitsgebiet aufhalten wollen, aufnehmen muss, wenn diese Bürger zumindest für die ersten fünf Jahre über ausreichende Mittel für den Lebensunterhalt und über eine Sozialversicherung verfügen. Der Mitgliedstaat muss diesen Personen auch die Teilnahme an den Kommunalwahlen und an den Wahlen zum Europäischen Parlament ermöglichen. Schließlich muss er den diplomatischen oder konsularischen Schutz auf jeden Unionsbürger, der sich in einem dritten Land aufhält, ausdehnen, wenn kein Schutz durch den Mitgliedstaat, dessen Staatsangehöriger der Betroffene ist, besteht.

141. Die Schaffung des Gemeinsamen Marktes und die Unionsbürgerschaft haben die Mitgliedstaaten somit schrittweise veranlasst, die Staatsangehörigen der anderen Mitgliedstaaten in einem immer größeren Teil des wirtschaftlichen, sozialen und politischen Lebens wie ihre Staatsangehörigen zu behandeln. Beides erlaubt es jedem Bürger, innerhalb der Union in dem Mitgliedstaat seiner Wahl wie jeder nationale Staatsangehörige dieses Staates zu leben oder zu arbeiten.

142. Die Zeit scheint daher durchaus reif zu sein, dieser rechtlichen Konstruktion die Gleichbehandlung vor der Justiz anzufügen. Da ein Unionsbürger seitdem in jedem Mitgliedstaat zu einem großen Teil identische Rechte wie ein Angehöriger dieses Staates hat, ist es mit anderen Worten gerechtfertigt, dass er auch denselben Pflichten auf strafrechtlichem Gebiet unterliegt. Deshalb sollte er für den Fall, dass er eine Straftat im Aufnahmemitgliedstaat begeht, dort wie die nationalen Staatsangehörigen verfolgt und von den Gerichten dieses Staats verurteilt werden und dort seine Strafe verbüßen, es sei denn, dass die Strafvollstreckung in seinem eigenen Staat seine Chancen auf Resozialisierung erhöht.

143. Die Aufgabe des Grundsatzes der Nichtauslieferung eigener Staatsangehöriger im Rahmenbeschluss wird auch, sollte dies erforderlich sein, durch die in Art. 33 des Rahmenbeschlusses zugunsten der Republik Österreich vorgesehenen Übergangsbestimmungen untermauert, die es diesem Mitgliedstaat ermöglichen, diesen Grundsatz für die zur Änderung seiner Verfassung erforderliche Zeit, spätestens jedoch bis zum 31. Dezember 2008, aufrecht zu erhalten.

144. Es trifft zu, dass der Rahmenbeschluss 2002/946/JI, der zeitlich nach dem Rahmenbeschluss erlassen wurde, in Art. 5 ausdrücklich den Fall regelt, dass ein Mitgliedstaat nach seinem Recht „seine eigenen Staatsangehörigen nicht aus[liefert]“, und vorsieht, dass in diesem Fall die Person, die beschuldigt wird, in einem anderen Mitgliedstaat eine in diesem Rechtsakt beschriebene Handlung begangen zu haben, in dem Staat, dessen Staatsangehöriger sie ist, nach Art. 6 des Europäischen Auslieferungsübereinkommens vom 13. Dezember 1957 strafrechtlich verfolgt werden muss. Jedoch können diese Bestimmungen aus einem Rechtstext, der zum Ziel hat, die Bekämpfung einer bestimmten Straftat zu verstärken, nicht über die Auslegung des Rahmenbeschlusses bestimmen.

145. Schließlich glaube ich nicht, dass die Übergabe eines eigenen Staatsangehörigen durch einen Mitgliedstaat in Vollstreckung eines Europäischen Haftbefehls gegen die Grundrechte verstößt, insbesondere nicht gegen Art. 3 Abs. 1 des Protokolls Nr. 4, wonach niemand aus dem Hoheitsgebiet des Staates ausgewiesen werden darf, dessen Angehöriger er ist.

146. Zum einen kann die Übergabe an die Justizbehörden eines anderen Mitgliedstaats nicht als Ausweisung im Sinne dieser Vorschrift angesehen werden.

147. Zum anderen nimmt die im Rahmenbeschluss vorgesehene Abschaffung des Grundsatzes der Nichtauslieferung eigener Staatsangehöriger den Justizbehörden nicht jedes Mittel zum Schutz der betroffenen Person, wenn sich im Ausnahmefall zeigt, dass ein Antrag auf Übergabe gegen die Grundrechte dieser Person verstößt.

148. So hat, obgleich der Rahmenbeschluss wie jeder Sekundärrechtsakt mit den Grundrechten übereinstimmen muss(45) und obgleich auch die Mitgliedstaaten bei der Umsetzung des Rahmenbeschlusses wie bei der Umsetzung eines jeden Gemeinschaftsrechtsakts diese Rechte beachten müssen, der Rat der Europäischen Union in Art. 1 Abs. 3 des Rahmenbeschlusses noch einmal ausdrücklich darauf hingewiesen, dass die Pflicht zur Übergabe in keiner Weise die Grundrechte und die in Art. 6 EU niedergelegten Rechtsgrundsätze berühren darf.

149. Die vollstreckende Justizbehörde kann daher in einem besonderen Fall und ausnahmsweise die Vollstreckung eines Europäischen Haftbefehls ablehnen, wenn, wie es im zwölften Erwägungsgrund des Rahmenbeschlusses heißt, „objektive Anhaltspunkte dafür vorliegen, dass der genannte Haftbefehl zum Zweck der Verfolgung oder Bestrafung einer Person aus Gründen ihres Geschlechts, ihrer Rasse, Religion, ethnischen Herkunft, Staatsangehörigkeit, Sprache oder politischen Überzeugung oder sexuellen Ausrichtung erlassen wurde oder dass die Stellung dieser Person aus einem dieser Gründe beeinträchtigt werden kann“.

150. Darüber hinaus ist auch daran zu erinnern, dass der Rat die Anwendung des Rahmenbeschlusses nach Art. 7 EU aussetzen könnte, wenn ein Mitgliedstaat Bestimmungen des materiellen oder prozessualen Strafrechts erließe, die gegen die in Art. 6 EU niedergelegten Rechtsgrundsätze verstoßen, worauf auch im zehnten Erwägungsgrund des Rahmenbeschlusses hingewiesen wird.

151. Der ausdrückliche Hinweis auf diese unterschiedlichen Garantien im Rahmenbeschluss, dem selber keine konstitutive Wirkung zukommt, da diese Garantien bereits integraler Bestandteil der Gemeinschaftsrechtsordnung sind, belegt, wie sehr dem Unionsgesetzgeber daran gelegen war, dass die durch den Rahmenbeschluss gegenüber dem traditionellen System der Auslieferung eingeführten Neuerungen, wie die Aufgabe des Prinzips der Nichtauslieferung eigener Staatsangehöriger, nicht zu einem verminderten Grundrechtsschutz führen.

152. Die Mitgliedstaaten dürfen daher in ihrem innerstaatlichen Recht keine Vorschriften erlassen, die auf die eine oder andere Weise systematische Ausnahmen zugunsten eigener Staatsangehöriger wiedereinführen, ohne die praktische Wirksamkeit des Rahmenbeschlusses zu beeinträchtigen.

153. Selbst wenn Art. 4 Nr. 6 des Rahmenbeschlusses so ausgelegt werden könnte, dass ein Mitgliedstaat die Übergabe eigener Staatsangehöriger systematisch ausschließen darf, so würde eine solche Auslegung in keinem Fall die in der fraglichen niederländischen Vorschrift enthaltene unterschiedliche Behandlung rechtfertigen.

154. Gemäß Art. 4 Nr. 6 des Rahmenbeschlusses wird ein Angehöriger eines anderen Mitgliedstaats, der sich im Vollstreckungsmitgliedstaat aufhält oder dort seinen Wohnsitz hat, im Sinne dieser Vorschrift einem Angehörigen des Vollstreckungsmitgliedstaats insoweit gleichgestellt, als er in den Genuss einer die Übergabe ablehnenden Entscheidung kommen und damit die Möglichkeit erhalten muss, seine Strafe in diesem Staat zu verbüßen.

155. Der Ausschluss eines solchen Staatsangehörigen vom Geltungsbereich dieser Vorschrift hat zur Folge, dass die gesuchte Person zwingend ihre Strafe im Ausstellungsmitgliedstaat verbüßen muss, unabhängig von der Dauer dieser Strafe und von der Entfernung zwischen Vollstreckungsmitgliedstaat und Ausstellungsmitgliedstaat.

156. Diese Lösung kann somit dazu führen, dass es praktisch unmöglich oder sehr schwierig wird, den Kontakt zwischen der verurteilten Person und ihren Angehörigen durch Besuche am Haftort sowie die Ausübung der beruflichen Tätigkeit dieser Person beispielsweise im Rahmen von Hafterleichterungen im offenen Vollzug aufrecht zu erhalten.

157. Eine solch unterschiedliche Behandlung ist offensichtlich unverhältnismäßig, da die jeweilige Lage von Staatsangehörigen des Vollstreckungsmitgliedstaats und Staatsangehörigen anderer Mitgliedstaaten, die sich im Sinne von Art. 4 Nr. 6 des Rahmenbeschlusses im Vollstreckungsmitgliedstaat aufhalten oder dort ihren Wohnsitz haben, auseinanderfällt, wenn man Art. 4 Nr. 6 des Rahmenbeschlusses entsprechend der von der niederländischen Regierung vertretenen Auffassung auslegt.

158. Die betreffende niederländische Regelung verstößt daher nach meiner Auffassung gegen den Grundsatz der Nichtdiskriminierung.

159. Aufgrund dieser Gesichtspunkte schlage ich dem Gerichtshof vor, für Recht zu erkennen, dass Art. 12 EG in Verbindung mit Art. 4 Nr. 6 des Rahmenbeschlusses einer Regelung eines Mitgliedstaats entgegensteht, die vorsieht, dass die Übergabe eigener Staatsangehöriger in Vollstreckung eines Europäischen Haftbefehls abzulehnen ist, während die Übergabe von Angehörigen anderer Mitgliedstaaten, die sich im Sinne dieser Bestimmung des Rahmenbeschlusses im Vollstreckungsmitgliedstaat aufhalten oder dort ihren Wohnsitz haben, nur abgelehnt werden kann, wenn sie im Besitz einer unbefristeten Aufenthaltsgenehmigung sind.

V –     Ergebnis

160. Nach alledem schlage ich vor, auf die von der Rechtbank Amsterdam zur Vorabentscheidung vorgelegten Fragen wie folgt zu antworten:

1.      Die Aufenthaltsdauer der mit einem Europäischen Haftbefehl gesuchten Person im Vollstreckungsmitgliedstaat muss für die Feststellung, ob sich diese Person in diesem Staat im Sinne von Art. 4 Nr. 6 des Rahmenbeschlusses 2002/584/JI des Rates vom 13. Juni 2002 über den Europäischen Haftbefehl und die Übergabeverfahren zwischen den Mitgliedstaaten aufhält oder dort ihren Wohnsitz hat, ausreichend sein, um zu belegen, dass die Person zu diesem Staat Bindungen aufweist, die vor dem Hintergrund der anderen objektiven Kriterien, die die konkrete Situation der Person kennzeichnen, den Schluss zulassen, dass die Vollstreckung der Gefängnisstrafe in diesem Staat geeignet ist, die Resozialisierung der Person zu fördern.

2.      Art. 4 Nr. 6 des Rahmenbeschlusses 2002/584/JI ist dahin auszulegen, dass die Anwendung des in dieser Bestimmung vorgesehenen Ablehnungsgrundes nicht von weiteren verwaltungsrechtlichen Bedingungen wie dem Besitz einer unbefristeten Aufenthaltsgenehmigung abhängig gemacht werden kann.

3.      Art. 12 EG in Verbindung mit Art. 4 Nr. 6 des Rahmenbeschlusses 2002/584/JI steht einer Regelung eines Mitgliedstaats, die vorsieht, dass die Übergabe eigener Staatsangehöriger in Vollstreckung eines Europäischen Haftbefehls abzulehnen ist, während die Übergabe von Angehörigen anderer Mitgliedstaaten, die sich im Sinne dieser Bestimmung des Rahmenbeschlusses 2002/584/JI im Vollstreckungsmitgliedstaat aufhalten oder dort ihren Wohnsitz haben, nur abgelehnt werden kann, wenn sie im Besitz einer unbefristeten Aufenthaltsgenehmigung sind, entgegen.


1 – Originalsprache: Französisch.


2 – Rahmenbeschluss vom 13. Juni 2002 über den Europäischen Haftbefehl und die Übergabeverfahren zwischen den Mitgliedstaaten (ABl. L 190, S. 1, im Folgenden: Rahmenbeschluss).


3 – Im Folgenden: vollstreckende Justizbehörde.


4 – Aufgrund der vom Königreich der Niederlande gemäß Art. 35 EU abgegebenen Erklärung kann dieses Gericht dem Gerichtshof eine Frage, die sich wie im Fall des Rahmenbeschlusses auf die Auslegung eines Rechtsakts aus dem Bereich der polizeilichen und justiziellen Zusammenarbeit in Strafsachen bezieht, zur Vorabentscheidung vorlegen (Information über den Zeitpunkt des Inkrafttretens des Vertrags von Amsterdam [ABl. 1999, L 114, S. 56]).


5 – C‑66/08, noch nicht in der amtlichen Sammlung veröffentlicht.


6 – Erster und fünfter Erwägungsgrund des Rahmenbeschlusses.


7 – Sechster Erwägungsgrund des Rahmenbeschlusses.


8 – Zehnter Erwägungsgrund des Rahmenbeschlusses.


9 – Art. 80 Abs. 3 des Gesetzes über die internationale Rechtshilfe in Strafsachen vom 23. Dezember 1982 in der durch das Europäische Haftbefehlsgesetz vom 20. Juli 2006 geänderten Fassung (BGBl. 2006 I S. 1721).


10 – Art. 83b Abs. 2 des Gesetzes über die internationale Rechtshilfe in Strafsachen.


11 – Art. 16 Abs. 2 des Grundgesetzes für die Bundesrepublik Deutschland bestimmt:


„Kein Deutscher darf an das Ausland ausgeliefert werden. Durch Gesetz kann eine abweichende Regelung für Auslieferungen an einen Mitgliedstaat der Europäischen Union oder an einen internationalen Gerichtshof getroffen werden, soweit rechtsstaatliche Grundsätze gewahrt sind.“


12 – Staatsblad 2004, Nr. 195, in der später geänderten Fassung (im Folgenden: OLW).


13 – C‑105/03, Slg. 2005, I‑5285.


14 – Urteil Kozłowski (Randnr. 46).


15 – Ebd. (Randnr. 36).


16 – Richtlinie vom 29. April 2004 über das Recht der Unionsbürger und ihrer Familienangehörigen, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten frei zu bewegen und aufzuhalten, zur Änderung der Verordnung (EWG) Nr. 1612/68 und zur Aufhebung der Richtlinien 64/221/EWG, 68/360/EWG, 72/194/EWG, 73/148/EWG, 75/34/EWG, 75/35/EWG, 90/364/EWG, 90/365/EWG und 93/96/EWG (ABl. L 158, S. 77).


17 – Urteil Kozłowski (Randnr. 44).


18 – Ebd. (Randnr. 36).


19 – Ebd. (Randnr. 42).


20 – Vgl. insbesondere die am 12. Februar 1987 angenommene Empfehlung Nr. R (87) 3 des Ministerkomitees an die Mitgliedstaaten über die europäischen Gefängnisvorschriften, die durch die am 11. Januar 2006 angenommene Empfehlung Rec(2006) 2 ersetzt wurde. Vgl. auch das Übereinkommen des Europarats über die Überstellung verurteilter Personen. Die Funktion der Resozialisierung wird auch in der Entschließung des Europäischen Parlaments zur Achtung der Menschenrechte in der Europäischen Union (1997) erwähnt (ABl. 1999, C 98, S. 279), wo das Europäische Parlament darauf hingewiesen hat, dass die Strafe die Funktion der Korrektion und der Resozialisierung hat und dass das Ziel dieser Maßnahme in der menschlichen und sozialen Wiedereingliederung des Häftlings liegt (Ziff. 78).


21 – Empfehlungen Nr. R (87) 3 (Ziff. 65 Buchst. c, 70.1 und 88) und Rec(2006) 2 (Ziff. 24, 103 und 107).


22 – Dabei ist zu beachten, dass ein Mitgliedstaat aufgrund von Art. 7 Abs. 1 Buchst. b der Richtlinie 2004/38 das Recht hat, den Aufenthalt eines Unionsbürgers in seinem Hoheitsgebiet für einen Zeitraum von über drei Monaten davon abhängig zu machen, dass dieser Bürger für sich und seine Familienangehörigen über ausreichende Existenzmittel verfügt, um dem Sozialversicherungssystem des Aufnahmemitgliedstaats nicht zur Last zu fallen.


23 – Urteil Pupino (Randnr. 43).


24 – Ebd. (Randnr. 47).


25 – C‑397/01 bis C‑403/01, Slg. 2004, I‑8835.


26 – Randnr. 116.


27 – Protokoll Nr. 4 zur Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten vom 16. September 1963, durch das gewisse Rechte und Freiheiten gewährleistet werden, die nicht bereits in der Konvention oder im ersten Zusatzprotokoll enthalten sind, in der durch das Protokoll Nr. 11 geänderten Fassung (im Folgenden: Protokoll Nr. 4).


28 – Die dänische Regierung weist insbesondere auf Art. 5 des Rahmenbeschlusses 2002/946/JI des Rates vom 28. November 2002 betreffend die Verstärkung des strafrechtlichen Rahmens für die Bekämpfung der Beihilfe zur unerlaubten Ein- und Durchreise und zum unerlaubten Aufenthalt (ABl. L 328, S. 1) hin.


29 – Die dänische Regierung weist auf die Urteile vom 23. Januar 1997, Pastoors und Trans‑Cap (C‑29/95, Slg. 1997, I‑285), und vom 29. April 2004, Orfanopoulos und Oliveri (C‑482/01 und C‑493/01, Slg. 2004, I‑5257), hin.


30 – Rahmenbeschluss vom 27. November 2008 über die Anwendung des Grundsatzes der gegenseitigen Anerkennung auf Urteile in Strafsachen, durch die eine freiheitsentziehende Strafe oder Maßnahme verhängt wird, für die Zwecke ihrer Vollstreckung in der Europäischen Union (ABl. L 327, S. 27).


31 – Die besondere Bindung zwischen jedem Mitgliedstaat und seinen eigenen Staatsangehörigen wird im Übrigen in Art. 17 Abs. 1 EG erwähnt, wonach die Unionsbürgerschaft die nationale Staatsbürgerschaft ergänzt und nicht ersetzt.


32 – Vgl. insbesondere Urteile vom 2. Februar 1989, Cowan (186/87, Slg. 1989, 195, Randnr. 19) und vom 2. Oktober 2003, Garcia Avello (C‑148/02, Slg. 2003, I‑11613, Randnr. 29). Vgl., e contrario, Urteil vom 23. September 2008, Bartsch (C‑427/06, noch nicht in der amtlichen Sammlung veröffentlicht, Randnr. 25).


33 – Vgl. bezüglich der strafprozessualen Regeln das Urteil Cowan und hinsichtlich des Personennamensrechts das Urteil Garcia Avello.


34 – Vgl. insbesondere auf dem Gebiet der direkten Besteuerung das Urteil vom 12. September 2006, Cadbury Schweppes und Cadbury Schweppes Overseas (C‑196/04, Slg. 2006, I‑7995, Randnr. 40), und auf dem Gebiet der öffentlichen Sicherheit das Urteil vom 11. Januar 2000, Kreil (C‑285/98, Slg. 2000, I‑69, Randnrn. 15 und 16).


35 – ABl. C 364, S. 1. Nach Art. 21 Abs. 2 dieser Charta ist „[i]m Anwendungsbereich des [EG-]Vertrags … und des [EU-]Vertrags … unbeschadet der besonderen Bestimmungen dieser Verträge jede Diskriminierung aus Gründen der Staatsangehörigkeit verboten“.


36 – Urteil vom 3 Mai 2007, Advocaten voor de Wereld (C‑303/05, Slg. 2007, I‑3633, Randnr. 45 und die dort angeführte Rechtsprechung).


37 – Ebd. (Randnr. 56 und die dort angeführte Rechtsprechung).


38 – Urteil Pastoors und Trans‑Cap (Randnr. 26).


39 – Deen‑Racsmány, Z., und Blekxtoon, R., „The Decline of the Nationality Exception in European Extradition?“, European Journal of Crime, Criminal Law and Criminal Justice, vol. 13/3, S. 317 bis 363, Koninklijke Brill NV, Niederlande, 2005.


40 – Vgl. hierzu die Mitteilung der Kommission an den Rat und das Europäische Parlament vom 26. Juli 2000 über die gegenseitige Anerkennung von Endentscheidungen in Strafsachen [KOM(2000) 495 endg., speziell S. 8].


41 – Übereinkommen zur Durchführung des Übereinkommens von Schengen vom 14. Juni 1985 zwischen den Regierungen der Staaten der Benelux-Wirtschaftsunion, der Bundesrepublik Deutschland und der Französischen Republik betreffend den schrittweisen Abbau der Kontrollen an den gemeinsamen Grenzen (ABl. 2000, L 239, S. 19), unterzeichnet in Schengen am 19. Juni 1990.


42 – C‑187/01 und C‑385/01, Slg. 2003, I‑1345.


43 – Randnr. 33.


44 – Vorschlag für einen Rahmenbeschluss des Rates vom 25. September 2001 über den Europäischen Haftbefehl und die Übergabeverfahren zwischen den Mitgliedstaaten [KOM(2001) 522 endg./2].


45 – Im Urteil Advocaten voor de Wereld hat der Gerichtshof im Rahmen eines Vorabentscheidungsersuchens über die Gültigkeit des Rahmenbeschlusses bereits festgestellt, dass der Rahmenbeschluss, soweit er für die in Art. 2 aufgeführten 32 Straftaten eine Abkehr vom Grundsatz der doppelten Strafbarkeit vorsieht, mit den in Art. 6 EU aufgeführten Rechtsgrundsätzen übereinstimmt.