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Vorabentscheidungsersuchen des Amtsgerichts Kehl (Deutschland) eingereicht am 18. Juli 2019 – Strafverfahren gegen FU

(Rechtssache C-554/19)

Verfahrenssprache: Deutsch

Vorlegendes Gericht

Amtsgericht Kehl

Parteien des Ausgangsverfahrens

Staatsanwaltschaft Offenburg

gegen

FU

Vorlagefragen:

Sind Artikel 67 Absatz 2 AEUV sowie die Artikel 22 und 23 der Verordnung (EU) 2016/399 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 9. März 2016 über einen Unionskodex für das Überschreiten der Grenzen durch Personen (Schengener Grenzkodex)1 dahin auszulegen, dass sie einer nationalen gesetzlichen Regelung, die den Polizeibehörden des betreffenden Mitgliedstaats die Befugnis einräumt, innerhalb eines Gebiets von 30 km ab der Landgrenze dieses Mitgliedstaats zu anderen Vertragsstaaten des am 19. Juni 1990 in Schengen (Luxemburg) unterzeichneten Übereinkommens zur Durchführung des Übereinkommens von Schengen vom 14. Juni 1985 zwischen den Regierungen der Staaten der Benelux-Wirtschaftsunion, der Bundesrepublik Deutschland und der Französischen Republik betreffend den schrittweisen Abbau der Kontrollen an den gemeinsamen Grenzen zur Verhinderung oder Unterbindung unerlaubter Einreise in das Hoheitsgebiet dieses Mitgliedstaates oder unerlaubten Aufenthalts in diesem Hoheitsgebiet oder zur Verhütung bestimmter Straftaten, die gegen die Sicherheit der Grenze gerichtet sind, die Identität jeder Person unabhängig von deren Verhalten und vom Vorliegen besonderer Umstände zu kontrollieren, entgegenstehen, die durch einen ministeriellen Erlass wie folgt ergänzt wird?

,,a)    Grenzüberschreitende Kriminalität findet dynamisch (zeitlich, örtlich und unter Nutzung unterschiedlicher Verkehrsmittel) statt und bedarf daher flexibler polizeilicher Befugnisse zu deren Bekämpfung. Die Ausübung der vorgenannten Befugnis zielt im Ergebnis auf die Verhinderung oder Unterbindung grenzüberschreitender Kriminalität ab.

b)    Die Kontrollmaßnahmen haben im eng umschriebenen Rahmen der vorgenannten Kriterien des Artikels 21 Buchstabe a Schengener Grenzkodex zu erfolgen. Sie müssen so ausgestaltet werden, dass sie sich eindeutig von systematischen Personenkontrollen an den Außengrenzen unterscheiden und nicht die gleiche Wirkung wie Grenzkontrollen haben. Die Durchführung dieser Kontrollmaßnahmen muss ihrerseits einem Rahmen unterliegen, so dass sichergestellt ist, dass diese in Intensität und Häufigkeit nicht Grenzübertrittskontrollen gleichkommen.

c)    Dieser Rahmen ist wie folgt ausgestaltet:

Die Kontrollmaßnahmen sind nicht auf Dauer anzulegen, sondern erfolgen unregelmäßig zu unterschiedlichen Zeiten, an unterschiedlichen Orten und stichprobenartig unter Berücksichtigung des Reiseaufkommens.

Die Kontrollmaßnahmen finden nicht allein aus Anlass des Grenzübertritts statt. Sie erfolgen auf der Grundlage von ständig aktualisierten Lageerkenntnissen und/oder (grenz-)polizeilicher Erfahrung, die die Bundespolizeidienststellen auf der Grundlage von eigenen Lageinformationen oder denen anderer Behörden entwickeln. Daher sind allgemeine oder konkrete polizeiliche Informationen und/oder Erfahrungen über grenzüberschreitende Kriminalität, z.B. über häufig genutzte Verkehrsmittel und -wege, bestimmte Verhaltensweisen, und die Analyse der verfügbaren Informationen über grenzüberschreitende Kriminalität, die aus eigenen Quellen oder von anderen Behörden stammen, Ausgangspunkt der Ausübung polizeilicher Maßnahmen sowie ihrer Intensität und Häufigkeit.

Die Ausgestaltung der Kontrollmaßnahmen ist Gegenstand der regelmäßigen Dienst- und Fachaufsicht. Grundsätzliche Regelungen finden sich in § 3 Absatz 1 Satz 4 der Gemeinsamen Geschäftsordnung der Bundesministerien (GGO) und den Grundsätzen zur Ausübung der Fachaufsicht der Bundesministerien über den Geschäftsbereich. Diese werden für den Bereich der Bundespolizei durch die „Ergänzenden Bestimmungen zur Ausübung der Dienst- und Fachaufsicht des BMI über die Bundespolizei“ konkretisiert. Das Bundespolizeipräsidium und dessen nachgeordnete Behörden und Dienststellen haben die Durchführung von Dienst- und Fachaufsicht in ihren Geschäftsverteilungsplänen geregelt und durch eigene Konzeptionen umgesetzt.

d)    Zur Vermeidung von Mehrfachkontrollen sollen die Kontrollmaßnahmen mit anderen Behörden möglichst abgestimmt werden oder sind im Rahmen gemeinsamer Einsatz-/Kooperationsformen durchzuführen.“

2.    Ist das Recht der Europäischen Union, insbesondere Artikel 4 Absatz 3 Unterabsatz 2 AEUV, Artikel 197 Absatz 1 AEUV und Artikel 291 Absatz 1 AEUV, dahin auszulegen, dass es ohne Weiteres oder nach Abwägung zwischen dem Verfolgungsinteresse und dem Interesse des Beschuldigten der Verwertung von Erkenntnissen oder Beweismitteln in einem Strafverfahren entgegensteht, wenn sie aufgrund einer gegen Artikel 67 Absatz 2 AEUV oder die Artikel 22 und 23 der Verordnung 2016/399 verstoßenden polizeilichen Kontrolle des Beschuldigten gewonnen wurden?

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1 ABl. 2016, L 77, S. 1.