Language of document : ECLI:EU:C:2019:286

BESCHLUSS DES GERICHTSHOFS (Achte Kammer)

4. April 2019(*)

„Vorlage zur Vorabentscheidung – Art. 53 Abs. 2 der Verfahrensordnung des Gerichtshofs – Grundsätze des Unionsrechts – Vorrang – Nationale Regelung, wonach untergeordnete Gerichte der Auslegung übergeordneter Gerichte folgen müssen – Beschränkung der Anrufung übergeordneter Gerichte auf die Beurteilung von Rechtsfragen und von vor den untergeordneten Gerichten erhobenen Klagegründen“

In der Rechtssache C‑545/18

betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Landesverwaltungsgericht Oberösterreich (Österreich), mit Entscheidung vom 16. August 2018, beim Gerichtshof eingegangen am 22. August 2018, in den Verfahren auf Antrag von

DP,

Finanzamt Linz,

Beteiligte:

Bezirkshauptmannschaft Braunau am Inn,

Bezirkshauptmannschaft Linz-Land,

Finanzamt Braunau-Ried-Schärding,

EO,


erlässt

DER GERICHTSHOF (Achte Kammer)

unter Mitwirkung des Kammerpräsidenten F. Biltgen sowie des Richters J. Malenovský (Berichterstatter) und der Richterin L. S. Rossi,

Generalanwalt: N. Wahl,

Kanzler: A. Calot Escobar,

aufgrund der nach Anhörung des Generalanwalts ergangenen Entscheidung, gemäß Art. 53 Abs. 2 der Verfahrensordnung des Gerichtshofs durch mit Gründen versehenen Beschluss zu entscheiden,

folgenden

Beschluss

1        Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 56 AEUV im Licht von Art. 47 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (im Folgenden: Charta).

2        Es ergeht im Rahmen von Verfahren auf Antrag von DP und dem Finanzamt Linz (Österreich) wegen der Beschlagnahme von ohne Konzession betriebenen Glücksspielautomaten.

 Rechtlicher Rahmen

3        § 42 Abs. 4 des Verwaltungsgerichtshofgesetzes 1985 (BGBl. Nr. 10/1985) lautet in seiner auf die Ausgangsverfahren anwendbaren Fassung (im Folgenden: VwGG):

„Der Verwaltungsgerichtshof kann in der Sache selbst entscheiden, wenn sie entscheidungsreif ist und die Entscheidung in der Sache selbst im Interesse der Einfachheit, Zweckmäßigkeit und Kostenersparnis liegt. In diesem Fall hat er den maßgeblichen Sachverhalt festzustellen und kann zu diesem Zweck auch das Verwaltungsgericht mit der Ergänzung des Ermittlungsverfahrens beauftragen.“

4        § 63 Abs. 1 VwGG lautet:

„Wenn der Verwaltungsgerichtshof einer Revision stattgegeben hat, sind die Verwaltungsgerichte und die Verwaltungsbehörden verpflichtet, in der betreffenden Rechtssache mit den ihnen zu Gebote stehenden rechtlichen Mitteln unverzüglich den der Rechtsanschauung des Verwaltungsgerichtshofes entsprechenden Rechtszustand herzustellen.“

 Ausgangsverfahren und Vorlagefragen

 Zum Verfahren zwischen DP und der Bezirkshauptmannschaft Braunau am Inn

5        Am 22. Juni 2017 führten Exekutivorgane der Finanzpolizei in einem Lokal eine Kontrolle durch, in deren Zuge Glücksspielautomaten vorläufig beschlagnahmt wurden, die dem Lokalinhaber von der Gmalieva s.r.o. – einer slowakischen Gesellschaft, deren gesetzlicher Vertreter DP ist – zur Verfügung gestellt worden waren und ohne die erforderliche behördliche Konzession betrieben wurden.

6        Mit Straferkenntnis der Bezirkshauptmannschaft Braunau am Inn vom 11. September 2017 wurde über DP eine Geldstrafe verhängt. DP erhob gegen das Straferkenntnis Beschwerde an das Landesverwaltungsgericht Oberösterreich.

7        Dieses hob das Straferkenntnis mit Erkenntnis vom 19. Dezember 2017 auf und stellte das Verwaltungsstrafverfahren ein, wobei es feststellte, dass das im Glücksspielgesetz (im Folgenden: GSpG) verankerte Glücksspielmonopol mit dem Unionsrecht unvereinbar sei.

8        Gegen dieses Erkenntnis erhob die Bezirkshauptmannschaft Braunau am Inn Revision an den Verwaltungsgerichtshof. Dieser gab der Revision mit Erkenntnis vom 11. Juli 2018 statt und hob das Erkenntnis des Landesverwaltungsgerichts Oberösterreich vom 19. Dezember 2017 auf, wobei er feststellte, dass die im GSpG verankerte Monopolregelung als unionsrechtskonform anzusehen sei.

9        Das vorlegende Gericht führt aus, dass es an diesem Punkt des Verfahrens dazu verpflichtet sei, gemäß § 63 Abs. 1 VwGG neuerlich – und zwar unter Bindung an das Erkenntnis des Verwaltungsgerichtshofs vom 11. Juli 2018 – eine (sogenannte „Ersatz“‑)Entscheidung zu erlassen.

 Zum Verfahren zwischen dem Finanzamt Linz und der Bezirkshauptmannschaft Linz-Land

10      Aufgrund einer Anzeige des Finanzamts Linz vom 30. August 2012, beschlagnahmte die Bezirkshauptmannschaft Linz-Land mehrere Glücksspielautomaten, die in einem Lokal ohne die erforderliche behördliche Konzession betrieben wurden.

11      Nachdem sie diese Beschlagnahme bestätigt hatte, stellte die Bezirkshauptmannschaft Linz-Land das gegen den Lokalbetreiber zunächst geführte Verwaltungsstrafverfahren mit Bescheid vom 14. April 2015 ein.

12      Gegen diesen Bescheid erhob das Finanzamt Linz am 28. April 2015 Beschwerde an das Landesverwaltungsgericht Oberösterreich.

13      Dieses setzte mit Beschluss vom 9. September 2015 das Beschwerdeverfahren bis zum Einlangen der Entscheidung des Verwaltungsgerichtshofs in einer gleichartigen Rechtssache aus.

14      In dieser Rechtssache entschied der Verwaltungsgerichtshof mit Erkenntnis vom 16. März 2016, dass eine Unionsrechtswidrigkeit von Bestimmungen des GSpG im Wesentlichen nicht zu erkennen sei.

15      Mit Beschluss vom 16. November 2016 setzte das Landesverwaltungsgericht Oberösterreich das Verfahren aus und richtete ein Vorabentscheidungsersuchen an den Gerichtshof, der dieses mit Beschluss vom 7. Juni 2018, Filippi u. a. (C‑589/16, EU:C:2018:417), für offensichtlich unzulässig erklärte.

16      Das vorlegende Gericht führt aus, dass es nunmehr gemäß § 63 Abs. 1 VwGG dazu verpflichtet sei, neuerlich – und zwar unter Bindung an das in Rn. 8 des vorliegenden Beschlusses erwähnte Erkenntnis des Verwaltungsgerichtshofs vom 11. Juli 2018 – eine (sogenannte „Ersatz“‑)Entscheidung zu erlassen.

17      Unter diesen Umständen hat das Landesverwaltungsgericht Oberösterreich beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen:

1.      Ist Art. 56 Abs. 1 AEUV und Art. 47 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union so auszulegen bzw. ist die bisherige Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union, wonach die Frage der Vereinbarkeit nationaler Regelungen mit dem Unionsrecht von jedem Gericht autonom und ohne Bindung an die diesbezügliche Rechtsanschauung anderer – gegebenenfalls auch übergeordneter – innerstaatlicher Gerichte zu beurteilen ist, bzw. sind im Besonderen die Feststellungen des Gerichtshofs in dessen Beschlüssen vom 15. Oktober 2015, Naderhirn (C‑581/14, nicht veröffentlicht, EU:C:2015:707, Rn. 36), sowie vom 7. Juni 2018, Filippi u. a. (C‑589/16, EU:C:2018:417, Rn. 36), wonach das Gericht „alle hierfür erforderlichen Maßnahmen ergreift“, so zu verstehen, dass sich eine Bestimmung des nationalen Rechts wie § 63 Abs. 1 Verwaltungsgerichtshofgesetz nur dann als mit Art. 56 Abs. 1 AEUV und mit Art. 47 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union vereinbar erweist, wenn diese so ausgelegt wird, dass die Verwaltungsgerichte hinsichtlich der Frage der Vereinbarkeit von nationalem Recht mit Unionsrecht nicht bloß an eine diesbezüglich divergierende Rechtsanschauung des Verwaltungsgerichtshofes nicht gebunden, sondern in dem Fall, dass der Verwaltungsgerichtshof keine eigenständige Sachentscheidung vorgenommen, sondern die Entscheidung des Verwaltungsgerichtes bloß aufgehoben hat, diese in der Folge auch nicht zur Erlassung einer neuerlichen (sogenannten „Ersatz“‑)Entscheidung verpflichtet sind?

2.      Nur wenn die erste Frage zu verneinen ist: Kann eine nationale Bestimmung wie § 63 Abs. 1 Verwaltungsgerichtshofgesetz vor dem Hintergrund des Art. 56 Abs. 1 AEUV und des Art. 47 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union in Fällen divergierender Rechtsauffassungen unionsrechtskonform dahin ausgelegt werden, dass sie es den Verwaltungsgerichten im Interesse der Rechtssicherheit (d. h. zur Verhinderung eines sonst entstehenden infiniten Kreislaufes) gestattet, sich – beispielweise unter Bezugnahme in ihrer Begründung auf die Rechtsfigur eines „integrationsfesten Verfassungskerns“ – im Zuge der Erlassung eines Ersatz-Erkenntnisses dennoch an die Rechtsanschauung des Verwaltungsgerichtshofes gebunden zu erachten?

 Zur Zulässigkeit des Vorabentscheidungsersuchens

18      Mit seinen Fragen, die zusammen zu prüfen sind, möchte das vorlegende Gericht wissen, auf welche Art und Weise die Vereinbarkeit einer Regelung eines Mitgliedstaats wie der im Ausgangsverfahren in Rede stehenden mit Art. 56 Abs. 1 AEUV und Art. 47 der Charta gemäß den Ausführungen des Gerichtshofs insbesondere in seinen Beschlüssen vom 15. Oktober 2015, Naderhirn (C‑581/14, nicht veröffentlicht, EU:C:2015:707), sowie vom 7. Juni 2018, Filippi u. a. (C‑589/16, EU:C:2018:417), zu beurteilen ist, wenn das vorlegende Gericht aufgrund einer Bestimmung des nationalen Rechts dieses Mitgliedstaats an die Rechtsanschauung des obersten Verwaltungsgerichts dieses Mitgliedstaats gebunden ist, das jedoch keine eigenständige Sachentscheidung vorgenommen hat.

19      Nach Art. 53 Abs. 2 seiner Verfahrensordnung kann der Gerichtshof, wenn ein Vorabentscheidungsersuchen offensichtlich unzulässig ist, nach Anhörung des Generalanwalts jederzeit die Entscheidung treffen, durch mit Gründen versehenen Beschluss zu entscheiden, ohne das Verfahren fortzusetzen.

20      Diese Bestimmung ist in der vorliegenden Rechtssache anzuwenden.

21      Nach Art. 267 Abs. 1 AEUV in Verbindung mit dessen Abs. 2 kann ein Gericht eines Mitgliedstaats insbesondere dann, wenn ihm eine Frage nach der Auslegung der Verträge gestellt wird und es eine Entscheidung darüber zum Erlass seines Urteils für erforderlich hält, diese Frage dem Gerichtshof zur Entscheidung vorlegen.

22      Formal ersucht das vorlegende Gericht um Klarstellung bestimmter Erwägungen, die der Gerichtshof insbesondere in seinem Beschluss vom 7. Juni 2018, Filippi u. a. (C‑589/16, EU:C:2018:417), angestellt hat, der sich jedoch auf das Urteil vom 30. April 2014, Pfleger u. a. (C‑390/12, EU:C:2014:281), bezieht.

23      In diesem Urteil hat sich der Gerichtshof zur Vereinbarkeit einer nationalen Regelung wie der im Ausgangsverfahren in Rede stehenden mit Art. 56 Abs. 1 AEUV geäußert. Der Gerichtshof hat entschieden, dass eine solche Regelung eine mit Art. 56 AEUV unvereinbare Beschränkung des freien Dienstleistungsverkehrs darstellt, sofern sie nicht wirklich das Ziel des Spielerschutzes oder der Kriminalitätsbekämpfung verfolgt und nicht tatsächlich dem Anliegen entspricht, in kohärenter und systematischer Weise die Gelegenheiten zum Spiel zu verringern oder die mit diesen Spielen verbundene Kriminalität zu bekämpfen (Urteil vom 30. April 2014, Pfleger u. a., C‑390/12, EU:C:2014:281, Rn. 56).

24      Außerdem hat der Gerichtshof in diesem Urteil darauf hingewiesen, dass es dem vorlegenden Gericht obliegt, unter Berücksichtigung der Hinweise des Gerichtshofs zu prüfen, ob diese Regelung tatsächlich den Zielen entspricht, die sie in kohärenter und systematischer Weise verfolgt. Hierfür muss das nationale Gericht eine Gesamtwürdigung der Umstände vornehmen, unter denen die Regelung erlassen worden ist und durchgeführt wird (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 30. April 2014, Pfleger u. a., C‑390/12, EU:C:2014:281, Rn. 48, 49 und 52).

25      Der Vorlageentscheidung zufolge möchte das vorlegende Gericht wissen, auf welche Art und Weise die Vereinbarkeit der im Ausgangsverfahren in Rede stehenden Regelung mit Art. 56 Abs. 1 AEUV und Art. 47 der Charta gemäß den Ausführungen des Gerichtshofs in seinem Urteil vom 30. April 2014, Pfleger u. a. (C‑390/12, EU:C:2014:281), zu beurteilen ist, wenn das vorlegende Gericht, das diese Beurteilung vorzunehmen hat, nach dem VwGG an die Rechtsanschauung des Verwaltungsgerichtshofs gebunden ist, der keine eigenständige Sachentscheidung vorgenommen hat.

26      Aus der Vorlageentscheidung geht jedoch nicht hervor, warum das vorlegende Gericht der Ansicht ist, dass für seine in den Ausgangsverfahren zu erlassende Entscheidung eine Entscheidung des Gerichtshofs über die Auslegung der Verträge erforderlich ist.

27      In Wirklichkeit ersucht das vorlegende Gericht den Gerichtshof, über die Umsetzung der sich aus Art. 56 Abs. 1 AEUV ergebenden Anforderungen und insbesondere des Grundsatzes der Kohärenz im Licht der Besonderheiten der Funktionsweise des österreichischen Systems der Gerichtsbarkeit zu entscheiden.

28      Die Vorlagefragen betreffen somit die Modalitäten der Anwendung des –bereits im Urteil vom 30. April 2014, Pfleger u. a. (C‑390/12, EU:C:2014:281), ausgelegten – Art. 56 Abs. 1 AEUV in dem betroffenen Mitgliedstaat.

29      Zwar beziehen sich die Fragen des vorlegenden Gerichts auch auf den Beschluss des Gerichtshofs vom 15. Oktober 2015, Naderhirn (C‑581/14, nicht veröffentlicht, EU:C:2015:707), wonach in dem Fall, dass die Beurteilung eines nationalen Gerichts nicht dem Unionsrecht entspricht, ein anderes nationales Gericht, das nach dem innerstaatlichen Recht vorbehaltlos an die Auslegung des Unionsrechts durch das erstgenannte Gericht gebunden ist, nach dem Unionsrecht verpflichtet ist, aus eigener Entscheidungsbefugnis die innerstaatliche Rechtsvorschrift unangewandt zu lassen, die von ihm verlangt, sich an die vom erstgenannten Gericht herangezogene Auslegung des Unionsrechts zu halten (Beschluss vom 15. Oktober 2015, Naderhirn, C‑581/14, nicht veröffentlicht, EU:C:2015:707, Rn. 35).

30      Jedoch ist dieser Beschluss für die vorliegende Rechtssache irrelevant, denn er betrifft die „Auslegung“ des Unionsrechts und nicht dessen Anwendung, um die es in den Vorlagefragen geht.

31      Nach alledem ist festzustellen, dass das vorlegende Gericht die in Rn. 21 des vorliegenden Beschlusses genannten Voraussetzungen des Art. 267 AEUV nicht erfüllt hat.

32      Folglich ist das vorliegende Vorabentscheidungsersuchen gemäß Art. 53 Abs. 2 der Verfahrensordnung offensichtlich unzulässig.

 Kosten

33      Für die Beteiligten des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren ein Zwischenstreit in dem beim vorlegenden Gericht anhängigen Rechtsstreit; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts.

Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Achte Kammer) für Recht erkannt:

Das vom Landesverwaltungsgericht Oberösterreich mit Entscheidung vom 16. August 2018 eingereichte Vorabentscheidungsersuchen ist offensichtlich unzulässig.

Luxemburg, den 4. April 2019

Der Kanzler

 

Der Präsident der Achten Kammer

A. Calot Escobar

 

F. Biltgen


*      Verfahrenssprache: Deutsch.