Language of document : ECLI:EU:C:2018:162

URTEIL DES GERICHTSHOFS (Zehnte Kammer)

7. März 2018(*)

„Vorlage zur Vorabentscheidung – Soziale Sicherheit – Mutterschaftsgeld – Berechnung der Höhe auf der Grundlage der Einkünfte des Versicherten während eines Referenzzeitraums von zwölf Monaten – Person, die in diesem Zeitraum im Dienst eines Organs der Europäischen Union stand – Nationale Regelung, die eine Festsetzung der fraglichen Höhe auf 70 % der durchschnittlichen Beitragsbemessungsgrundlage vorsieht – Beschränkung der Freizügigkeit der Arbeitnehmer – Grundsatz der loyalen Zusammenarbeit“

In der Rechtssache C‑651/16

betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht von der Augstākā tiesa (Oberster Gerichtshof, Lettland) mit Entscheidung vom 9. Dezember 2016, beim Gerichtshof eingegangen am 19. Dezember 2016, in dem Verfahren

DW

gegen

Valsts sociālās apdrošināšanas aģentūra

erlässt

DER GERICHTSHOF (Zehnte Kammer)

unter Mitwirkung des Kammerpräsidenten E. Levits sowie der Richter A. Borg Barthet und F. Biltgen (Berichterstatter),

Generalanwalt: P. Mengozzi,

Kanzler: A. Calot Escobar,

aufgrund des schriftlichen Verfahrens,

unter Berücksichtigung der Erklärungen

–        von DW, die sich selbst vertritt,

–        der lettischen Regierung, vertreten durch I. Kucina und A. Bogdanova als Bevollmächtigte,

–        der estnischen Regierung, vertreten durch N. Grünberg als Bevollmächtigte,

–        der Europäischen Kommission, vertreten durch I. Naglis und M. Kellerbauer als Bevollmächtigte,

aufgrund des nach Anhörung des Generalanwalts ergangenen Beschlusses, ohne Schlussanträge über die Rechtssache zu entscheiden,

folgendes

Urteil

1        Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 45 AEUV und Art. 4 Abs. 3 EUV.

2        Dieses Ersuchen ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen DW und der Valsts sociālās apdrošināšanas aģentūra (Staatliche Sozialversicherungsanstalt, Lettland) über die Ermittlung der Höhe des DW zu gewährenden Mutterschaftsgelds.

 Rechtlicher Rahmen

3        Art. 31 des Likums „Par maternitātes slimības ein apdrošināšanu“ (Gesetz über die Mutterschafts- und Krankenversicherung, Latvijas Vēstnesis, 1995, Nr. 182, S. 465) sieht in seinen Abs. 1, 6 und 7 vor:

„(1)      Für die Zwecke der Berechnung einer Leistung der staatlichen Sozialversicherung wird die durchschnittliche Beitragsbemessungsgrundlage anhand der Beitragsbemessungsgrundlage für den Versicherten während eines Zeitraums von zwölf Monaten ermittelt, der zwei Monate vor dem Monat endet, in dem der Versicherungsfall eintritt …

(6)      War der Versicherte während eines Teils des Zeitraums, der bei der Ermittlung der durchschnittlichen Beitragsbemessungsgrundlage im Sinne von Abs. 1 dieses Artikels … berücksichtigt wird, nicht als Beitragszahler der Sozialversicherung erfasst oder befand er sich in unbezahltem Urlaub, … wird bei der Berechnung des Mutterschafts- oder Vaterschaftsgelds die durchschnittliche Beitragsbemessungsgrundlage für diesen Teil des Zeitraums sowie die Teile des Zeitraums, für die es keine Beitragsbemessungsgrundlage gibt, weil der Versicherte sich in unbezahltem Urlaub befand, soweit nicht der unbezahlte Urlaub wegen Kindererziehung erfolgte, auf 70 % der monatlichen durchschnittlichen staatlichen Beitragsbemessungsgrundlage festgelegt.

(7)      Hatte ein Versicherter während eines Teils des Zeitraums, der bei der Ermittlung der durchschnittlichen Beitragsbemessungsgrundlage im Sinne von Absatz 1 dieses Artikels … berücksichtigt wird, aufgrund vorübergehender Arbeitsunfähigkeit, eines Schwangerschafts- oder Mutterschaftsurlaubs, eines Vaterschaftsurlaubs, eines unbezahlten Urlaubs zur Kindererziehung oder eines Elternurlaubs keine durchschnittliche Beitragsbemessungsgrundlage, entspricht die durchschnittliche Beitragsbemessungsgrundlage dem um die Tage für vorübergehende Arbeitsunfähigkeit, Schwangerschafts- oder Mutterschaftsurlaub, Vaterschaftsurlaub, unbezahlten Urlaub zur Kindererziehung oder Elternurlaub verkürzten Referenzzeitraum.“

4        In Nr. 7 des Ministru Kabineta noteikumi Nr. 270 „Vidējās apdrošināšanas iemaksu algas aprēķināšanas kārtība un valsts sociālās apdrošināšanas pabalstu piešķiršanas, aprēķināšanas un izmaksas kārtība“ (Regierungsverordnung Nr. 270 „Vorschriften zur Berechnung der durchschnittlichen Beitragsbemessungsgrundlage und Bestimmungen betreffend die Gewährung, Berechnung und Zahlung von Leistungen der staatlichen Sozialversicherung“) vom 27. Juli 1998 (Latvijas Vēstnesis, 1998, Nr. 223/224, S. 1284) heißt es:

„7.      Bei der Ermittlung der durchschnittlichen Beitragsbemessungsgrundlage umfasst die Beitragsbemessungsgrundlage sämtliche Einkünfte des Arbeitnehmers in dem in Art. 31 Abs. 1 des Gesetzes über die Mutterschafts- und Krankenversicherung geregelten Zeitraum:

7.1.      als Arbeitnehmer:

7.1.1.      eines Arbeitgebers, dem der Arbeitnehmer am Tag des Eintritts des Versicherungsfalls aufgrund einer der in Art. 1 Abs. 2 des Gesetzes über die staatliche Sozialversicherung geregelten Rechtsbeziehungen, die eine Beitragsbemessungsgrundlage begründen, dienstverpflichtet ist.“

5        Nr. 8 dieser Regierungsverordnung bestimmt:

„In sämtlichen in Nr. 7 dieser Verordnung genannten Fällen erfolgt die Ermittlung der durchschnittlichen Beitragsbemessungsgrundlage für die Zwecke der Gewährung von Leistungen der staatlichen Sozialversicherung nach folgender Formel:

Vd = (A1 + A2 + … + A12) : D, wobei

Vd = die kalendertägliche durchschnittliche Bemessungsgrundlage …;

A1, A2 … = der Betrag der als Einkünfte aus nichtselbständiger Arbeit in dem jeweiligen Monat des in Art. 31 Abs. 1 des Gesetzes über die Mutterschafts- und Krankenversicherung geregelten Zwölfmonatszeitraums bezogenen Beitragsbemessungsgrundlage, die unter Ausschluss der Zulagen, Prämien, Leistungen und sonstigen Vergütungen, die der Arbeitgeber dem Versicherten nach Maßgabe einer Kollektivvereinbarung oder des Arbeitsvertrags während einer vorübergehenden Arbeitsunfähigkeit, eines Schwangerschafts- oder Mutterschaftsurlaubs, eines Elternurlaubs oder eines unbezahlten Urlaubs zur Kindererziehung gezahlt hat, ermittelt wird;

D = die Anzahl der Tage des in Art. 31 Abs. 1 des Gesetzes über die Mutterschafts- und Krankenversicherung geregelten Zeitraums unter Ausschluss der Kalendertage, an denen wegen einer vorübergehenden Arbeitsunfähigkeit, für die eine Leistung wegen Krankheit gezahlt wird, wegen Schwangerschafts- oder Mutterschaftsurlaubs, wegen eines unbezahlten Urlaubs zur Kindererziehung oder wegen eines Elternurlaubs keine Arbeit geleistet wurde.“

 Ausgangsrechtsstreit und Vorlagefrage

6        Am 2. Januar 2014 beantragte DW bei der Staatlichen Sozialversicherungsanstalt die Gewährung von Mutterschaftsgeld für die Dauer ihres Schwangerschaftsurlaubs. Am 2. April 2014 beantragte sie ferner Mutterschaftsgeld für die Zeit ihres Mutterschaftsurlaubs.

7        Die Staatliche Sozialversicherungsanstalt gewährte das Mutterschaftsgeld für die Zeiträume vom 2. Januar bis zum 12. März 2014 bzw. vom 13. März bis zum 21. Mai 2014. Das Mutterschaftsgeld wurde auf 80 % der durchschnittlichen täglichen Beitragsbemessungsgrundlage festgesetzt, die unter Berücksichtigung der in dem Zwölfmonatszeitraum vom 1. November 2012 bis zum 31. Oktober 2013 von DW erzielten Einkünfte und der Anzahl der Kalendertage dieses Zeitraums ermittelt wurde. Da DW im zwölfmonatigen Referenzzeitraum elf Monate lang für ein Organ der Europäischen Union gearbeitet hatte und daher nicht als Arbeitnehmerin in Lettland erfasst war, setzte die Staatliche Sozialversicherungsanstalt gemäß Art. 31 Abs. 6 des Gesetzes über die Mutterschafts- und Krankenversicherung die Beitragsbemessungsgrundlage für jeden dieser Monate auf 70 % der durchschnittlichen monatlichen Beitragsbemessungsgrundlage in dem betreffenden Mitgliedstaat – nämlich auf 395,70 Euro – fest. Für den Monat, in dem DW in Lettland als Arbeitnehmerin erfasst war und Beiträge zahlte, wurde die tatsächliche durchschnittliche Beitragsbemessungsgrundlage für diesen Monat, nämlich 1 849,73 Euro, berücksichtigt.

8        DW erhob bei der Administratīvā rajona tiesa (Bezirksverwaltungsgericht, Lettland) Klage auf Neuberechnung der Höhe ihres Mutterschaftsgelds. Das Gericht gab der Klage sowohl unter Berufung auf die Bestimmungen der Verordnung (EG) Nr. 883/2004 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 29. April 2004 zur Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit (ABl. 2004, L 166, S. 1, berichtigt in ABl. 2004, L 200, S. 1) als auch auf die Bestimmungen des AEU-Vertrags über die Freizügigkeit der Arbeitnehmer statt.

9        Der von der Staatlichen Sozialversicherungsanstalt eingelegten Berufung wurde von der Administratīvā apgabaltiesa (Regionales Verwaltungsgericht, Lettland) stattgegeben. Dieses Gericht war der Auffassung, dass die Verordnung Nr. 883/2004, die grundsätzlich die Zusammenrechnung der Zeiten für den Erwerb eines Anspruchs vorsehe, im vorliegenden Fall nicht anwendbar sei, da es nach lettischem Recht für die Gewährung des Anspruchs auf Mutterschaftsgeld nicht erforderlich sei, während eines davorliegenden Zeitraums in Lettland sozialversichert gewesen zu sein. Sie zog daraus den Schluss, dass die Berechnung dieser Leistung ordnungsgemäß allein nach lettischem Recht durchgeführt worden sei.

10      DW legte gegen dieses Urteil bei der Augstākā tiesa (Oberster Gerichtshof, Lettland) Kassationsbeschwerde ein, mit der sie geltend macht, dass die Modalitäten für die Berechnung dieser Leistung mit den Art. 45 bis 48 AEUV und der Rechtsprechung des Gerichtshofs (Urteil vom 16. Februar 2006, Öberg, C‑185/04, EU:C:2006:107) unvereinbar seien. Bei der Berechnung des zu gewährenden Mutterschaftsgelds seien die bei den Organen der Union zurückgelegten Versicherungszeiten nicht zu berücksichtigen und der Betrag der Leistung dem Betrag hinzuzurechnen, den sie erhalten hätte, wenn sie während des gesamten Referenzzeitraums in Lettland gearbeitet hätte. Diese Schlussfolgerung werde durch den Zweck der in Rede stehenden Leistung bestätigt, nämlich das Mutterschaftsgeld für Personen, die eine Beschäftigung ausgeübt hätten, aufzuwerten und zugleich ein Mindesteinkommen für Personen ohne Arbeit sicherzustellen.

11      Die Staatliche Sozialversicherungsanstalt ist demgegenüber der Ansicht, dass die Rechtsprechung des Gerichtshofs über die Zusammenrechnung von Beschäftigungszeiten zur Feststellung des Anspruchs auf Elterngeld auf den vorliegenden Fall der Berechnung der Höhe des Mutterschaftsgelds nicht anwendbar sei.

12      Das vorlegende Gericht hegt Zweifel, ob die Bestimmungen des lettischen Rechts über die Berechnung der Höhe des Mutterschaftsgelds mit dem Unionsrecht vereinbar sind. Insoweit stellt es fest, dass DW Nachteile entstanden seien, nachdem sie von ihrem Recht auf Freizügigkeit Gebrauch gemacht und das Land verlassen habe, um für ein Organ der Union zu arbeiten. Die nach lettischem Recht vorgesehene durchschnittliche Beitragsbemessungsgrundlage für die elf Monate, in denen DW im Dienst eines Organs der Union gestanden habe, sei nämlich erheblich niedriger als die für den verbleibenden Monat, in dem DW in Lettland gearbeitet habe. Nach Ansicht des vorlegenden Gerichts führt die zur Ermittlung des Mutterschaftsgelds angewandte Berechnungsmethode in Wirklichkeit dazu, die Höhe dieser Leistung von der Dauer der Beschäftigungszeit des betreffenden Arbeitnehmers in Lettland abhängig zu machen.

13      Das vorlegende Gericht verweist in diesem Zusammenhang auf die Rechtsprechung des Gerichtshofs, nach der eine solche Regelung eine nach Art. 45 AEUV verbotene Beschränkung der Freizügigkeit der Arbeitnehmer darstellen könne. Diese Regelung sei außerdem angesichts der Pflicht zur loyalen Zusammenarbeit und Unterstützung, die den Mitgliedstaaten obliege und die ihren Ausdruck in der Verpflichtung nach Art. 4 Abs. 3 EUV finde, nicht hinnehmbar (Urteile vom 16. Dezember 2004, My, C‑293/03, EU:C:2004:821, Rn. 45 bis 48, vom 16. Februar 2006, Öberg, C‑185/04, EU:C:2006:107, Rn. 16 und 17, und vom 4. Februar 2015, Melchior, C‑647/13, EU:C:2015:54, Rn. 26 und 27).

14      Unter diesen Umständen hat die Augstākā tiesa (Oberster Gerichtshof) beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Frage zur Vorabentscheidung vorzulegen:

Sind Art. 4 Abs. 3 EUV und Art. 45 Abs. 1 und 2 AEUV dahin auszulegen, dass danach eine Regelung eines Mitgliedstaats wie die im Ausgangsverfahren in Rede stehende zulässig ist, nach der für die Zwecke der Festsetzung der Höhe des Mutterschaftsgelds die Monate, in denen die betreffende Person bei einem Organ der Europäischen Union gearbeitet hat und dem Gemeinsamen Fürsorgesystem der Union angeschlossen war, nicht von dem Zwölfmonatszeitraum ausgenommen sind, der zur Ermittlung der durchschnittlichen Beitragsbemessungsgrundlage heranzuziehen ist, sondern, wenn festgestellt wird, dass die betreffende Person in diesem Zeitraum nicht in Lettland sozialversichert war, ihre Einkünfte der durchschnittlichen staatlichen Beitragsbemessungsgrundlage gleichgesetzt werden, wodurch die Höhe des gewährten Mutterschaftsgelds im Vergleich zu der möglichen Höhe der Leistung, die sie hätte beziehen können, wenn sie in dem für die Berechnung berücksichtigten Zeitraum nicht bei einem Organ der Union gearbeitet hätte, sondern weiterhin in Lettland beschäftigt gewesen wäre, erheblich niedriger sein kann?

 Zur Vorlagefrage

15      Mit seiner Frage möchte das vorlegende Gericht wissen, ob Art. 4 Abs. 3 EUV und Art. 45 AEUV dahin auszulegen sind, dass sie einer Regelung eines Mitgliedstaats wie der im Ausgangsverfahren fraglichen entgegenstehen, nach der für die Zwecke der Festsetzung der durchschnittlichen Beitragsbemessungsgrundlage, die zur Ermittlung der Höhe des Mutterschaftsgelds heranzuziehen ist, die Monate des Referenzzeitraums, in denen die betreffende Person für ein Organ der Union gearbeitet hat und in denen sie in diesem Mitgliedstaat nicht sozialversichert war, mit einem Zeitraum der Nichtbeschäftigung gleichgesetzt werden und auf sie die in diesem Mitgliedstaat festgesetzte durchschnittliche Beitragsbemessungsgrundlage angewendet wird, was zur Folge hat, dass die Höhe des dieser Person gewährten Mutterschaftsgelds im Vergleich zu jener, auf die sie Anspruch gehabt hätte, wenn sie eine Berufstätigkeit nur in diesem Mitgliedstaat ausgeübt hätte, erheblich niedriger ist.

16      Zunächst ist darauf hinzuweisen, dass die Mitgliedstaaten zwar weiterhin für die Ausgestaltung ihrer Systeme der sozialen Sicherheit zuständig sind, indem sie u. a. die Voraussetzungen für die Gewährung von Leistungen der sozialen Sicherheit festsetzen, doch müssen sie dabei das Unionsrecht und insbesondere die Vertragsbestimmungen über die Freizügigkeit der Arbeitnehmer beachten (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 1. April 2008, Gouvernement de la Communauté française und Gouvernement wallon, C‑212/06, EU:C:2008:178, Rn. 43, vom 21. Januar 2016, Kommission/Zypern, C‑515/14, EU:C:2016:30, Rn. 38, und vom 6. Oktober 2016, Adrien u. a., C‑466/15, EU:C:2016:749, Rn. 22).

17      Daher ist zu prüfen, ob die Vertragsbestimmungen über die Freizügigkeit der Arbeitnehmer in einer Situation wie der des Ausgangsverfahrens anwendbar sind. Ist dies der Fall, ist zu klären, ob eine nationale Regelung wie die im Ausgangsverfahren in Rede stehende eine Beschränkung der Freizügigkeit der Arbeitnehmer darstellt und, wenn ja, ob diese Beschränkung objektiv gerechtfertigt sein kann.

18      Was erstens die Anwendbarkeit der Vertragsbestimmungen über die Freizügigkeit der Arbeitnehmer anbelangt, ist darauf hinzuweisen, dass nach ständiger Rechtsprechung ein Unionsbürger, der vom Recht auf Freizügigkeit der Arbeitnehmer Gebrauch macht und in einem anderen Mitgliedstaat als seinem Herkunftsstaat eine Berufstätigkeit ausgeübt hat, unabhängig von seinem Wohnort und seiner Staatsangehörigkeit in den Anwendungsbereich des Art. 45 AEUV fällt (Urteile vom 16. Februar 2006, Rockler, C‑137/04, EU:C:2006:106, Rn. 14, und vom 16. Februar 2006, Öberg, C‑185/04, EU:C:2006:107, Rn. 11 und die dort angeführte Rechtsprechung).

19      Im Übrigen fällt auch ein Unionsbürger, der in einem anderen Mitgliedstaat als seinem Herkunftsstaat arbeitet und eine Stelle in einer internationalen Organisation angenommen hat, in den Anwendungsbereich dieser Vorschrift (vgl. in diesem Sinne u. a. Urteile vom 16. Februar 2006, Rockler, C‑137/04, EU:C:2006:106, Rn. 15, vom 16. Februar 2006, Öberg, C‑185/04, EU:C:2006:107, Rn. 12 und die dort angeführte Rechtsprechung, und vom 4. Juli 2013, Gardella, C‑233/12, EU:C:2013:449, Rn. 25). Ein Unionsbürger verliert nämlich nicht deshalb seine Eigenschaft als „Arbeitnehmer“ im Sinne von Art. 45 AEUV, weil er bei einer internationalen Organisation beschäftigt ist (Urteil vom 4. Juli 2013, Gardella, C‑233/12, EU:C:2013:449, Rn. 26).

20      Somit fällt die Situation von DW in den Anwendungsbereich des Art. 45 AEUV.

21      Was zweitens die Frage betrifft, ob die Anwendung einer nationalen Regelung wie der im Ausgangsverfahren in Rede stehenden zu einer Beschränkung der Freizügigkeit der Arbeitnehmer führt, ist darauf hinzuweisen, dass sämtliche Vertragsbestimmungen über die Freizügigkeit den Unionsbürgern die Ausübung beruflicher Tätigkeiten aller Art im Gebiet der Union erleichtern sollen und Maßnahmen entgegenstehen, die die Unionsbürger benachteiligen könnten, wenn sie im Gebiet eines anderen Mitgliedstaats eine wirtschaftliche Tätigkeit ausüben wollen (Urteile vom 16. Februar 2006, Rockler, C‑137/04, EU:C:2006:106, Rn. 17, vom 16. Februar 2006, Öberg, C‑185/04, EU:C:2006:107, Rn. 14 und die dort angeführte Rechtsprechung, vom 1. April 2008, Gouvernement de la Communauté française und Gouvernement wallon, C‑212/06, EU:C:2008:178, Rn. 44, und vom 21. Januar 2016, Kommission/Zypern, C‑515/14, EU:C:2016:30, Rn. 39).

22      Daher stellen Vorschriften, die einen Staatsangehörigen eines Mitgliedstaats davon abhalten können oder daran hindern, seinen Herkunftsstaat zu verlassen, um von seinem Recht auf Freizügigkeit Gebrauch zu machen, eine Beschränkung dieser Freiheit dar, auch wenn sie unabhängig von der Staatsangehörigkeit der betroffenen Arbeitnehmer Anwendung finden (Urteile vom 16. Februar 2006, Rockler, C‑137/04, EU:C:2006:106, Rn. 18, und vom 16. Februar 2006, Öberg, C‑185/04, EU:C:2006:107, Rn. 15 und die dort angeführte Rechtsprechung).

23      Mit Art. 45 AEUV soll nämlich insbesondere verhindert werden, dass ein Arbeitnehmer, der von seinem Recht auf Freizügigkeit Gebrauch gemacht hat und in mehr als einem Mitgliedstaat beschäftigt war, ohne objektiven Grund schlechter gestellt wird als ein Arbeitnehmer, der seine gesamte berufliche Laufbahn in einem einzigen Mitgliedstaat zurückgelegt hat (vgl. in diesem Sinne u. a. Urteile vom 7. März 1991, Masgio, C‑10/90, EU:C:1991:107, Rn. 17, und vom 21. Januar 2016, Kommission/Zypern, C‑515/14, EU:C:2016:30, Rn. 42).

24      Im vorliegenden Fall ergibt sich aus den dem Gerichtshof vorgelegten Akten, dass nach den anwendbaren nationalen Rechtsvorschriften eine Arbeitnehmerin, die während des Referenzzeitraums von zwölf Monaten nicht als Beitragszahlerin des staatlichen Sozialversicherungssystems erfasst war, weil sie bei einem Organ der Union gearbeitet hat, mit einer nicht berufstätigen Person gleichgesetzt wird und Mutterschaftsgeld in einer Mindesthöhe bezieht, die nach der im betreffenden Mitgliedstaat festgesetzten durchschnittlichen Beitragsbemessungsgrundlage ermittelt wird, während das Mutterschaftsgeld einer Arbeitnehmerin, die ihre gesamte berufliche Laufbahn in diesem Mitgliedstaat zurückgelegt hat, auf der Grundlage der während des Referenzzeitraums in das nationale Sozialversicherungssystem gezahlten Versicherungsbeiträge ermittelt wird.

25      In diesem Zusammenhang ist darauf hinzuweisen, dass, auch wenn die anwendbaren nationalen Rechtsvorschriften als solche den Anspruch auf Mutterschaftsgeld nicht davon abhängig machen, während des Referenzzeitraums Beitragszahler zur staatlichen Sozialversicherung gewesen zu sein, die Anwendung der Modalitäten zur Berechnung des Mutterschaftsgelds gleichwohl zu einem ähnlichen Ergebnis führt, da die Höhe der einer Arbeitnehmerin gewährten Leistung, die im Dienst eines Organs der Union stand, erheblich niedriger ist als jene, auf die sie Anspruch gehabt hätte, wenn sie im Gebiet des betreffenden Mitgliedstaats gearbeitet und Beiträge zu dessen Sozialversicherungssystem geleistet hätte.

26      Der Gerichtshof hat ferner entschieden, dass eine nationale Regelung, die für die Berechnung der Höhe des Elterngeldes Beschäftigungszeiten nicht berücksichtigt, die im Gemeinsamen Krankenfürsorgesystem der Union zurückgelegt wurden, geeignet ist, die Staatsangehörigen eines Mitgliedstaats davon abzuhalten, diesen Staat zu verlassen, um eine Berufstätigkeit bei einem Organ der Union auszuüben, das seinen Sitz in einem anderen Mitgliedstaat hat, weil sie mit der Annahme einer Stelle bei einem solchen Organ die Möglichkeit verlören, nach der nationalen Krankenversicherungsregelung eine Familienleistung zu erhalten, auf die sie Anspruch gehabt hätten, wenn sie diese Stelle nicht angenommen hätten (Urteile vom 16. Februar 2006, Rockler, C‑137/04, EU:C:2006:106, Rn. 19, und vom 16. Februar 2006, Öberg, C‑185/04, EU:C:2006:107, Rn. 16).

27      Daraus folgt, dass eine nationale Regelung wie die im Ausgangsverfahren in Rede stehende die Ausübung einer Berufstätigkeit außerhalb des betreffenden Mitgliedstaats, sei es in einem anderen Mitgliedstaat oder bei einem Organ der Union oder bei einer anderen internationalen Organisation, behindern und somit davon abschrecken kann, da eine Arbeitnehmerin, die davor oder danach dem Sozialversicherungssystem des betreffenden Mitgliedstaats angehörte, durch die Annahme einer solchen Stelle nach diesem System eine Leistung erhält, die erheblich niedriger ist als diejenige, auf die sie Anspruch gehabt hätte, wenn sie von ihrem Recht auf Freizügigkeit nicht Gebrauch gemacht hätte.

28      Eine solche nationale Regelung stellt daher eine nach Art. 45 AEUV grundsätzlich verbotene Beschränkung der Freizügigkeit der Arbeitnehmer dar.

29      Diese Feststellung wird durch das Vorbringen der lettischen Regierung, wonach zeitlich begrenzte Leistungen wie das Mutterschaftsgeld kein wesentliches Hindernis für die Entscheidung eines Arbeitnehmers begründen könnten, eine Stelle bei einem Organ der Union oder im Gebiet eines anderen Mitgliedstaats als seinem Herkunftsstaat anzunehmen, in keiner Weise in Frage gestellt. Insoweit genügt der Hinweis, dass die Beschränkung der Freizügigkeit der Arbeitnehmer nicht im Hinblick auf die Fortdauer der in Rede stehenden Leistung beurteilt wird. Nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs stellen die Artikel des Vertrags über die Freizügigkeit nämlich grundlegende Bestimmungen für die Union dar und ist jede Beeinträchtigung dieser Freiheit, mag sie noch so unbedeutend sein, verboten (Urteil vom 15. Februar 2000, Kommission/Frankreich, C‑34/98, EU:C:2000:84, Rn. 49).

30      Um dem vorlegenden Gericht eine vollständige Antwort zu geben, ist drittens das Vorliegen einer eventuellen Rechtfertigung der Beschränkung der Freizügigkeit der Arbeitnehmer zu prüfen.

31      Insoweit ergibt sich aus der Rechtsprechung des Gerichtshofs, dass eine Maßnahme, mit der die durch den Vertrag garantierten grundlegenden Freiheiten eingeschränkt werden, nur gerechtfertigt sein kann, wenn mit ihr ein legitimes Ziel verfolgt wird, das mit dem Vertrag vereinbar ist, und wenn sie den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit beachtet. Dafür muss eine solche Maßnahme geeignet sein, die Verwirklichung des mit ihr verfolgten Ziels zu gewährleisten, und sie darf nicht über das hinausgehen, was zur Erreichung dieses Ziels erforderlich ist (vgl. u. a. Urteile vom 16. Februar 2006, Rockler, C‑137/04, EU:C:2006:106, Rn. 22, und vom 16. Februar 2006, Öberg, C‑185/04, EU:C:2006:107, Rn. 19 und die dort angeführte Rechtsprechung).

32      Die lettische Regierung macht in diesem Zusammenhang geltend, dass die im Ausgangsverfahren in Rede stehende nationale Regelung auf Gründe des Allgemeininteresses gestützt werde und dass das Mutterschaftsgeld, das auf dem Grundsatz der Solidarität beruhe, eingeführt worden sei, um die Stabilität des nationalen Sozialversicherungssystems zu gewährleisten. Dieses System, dessen Selbstfinanzierung aufgrund des unmittelbaren Zusammenhangs zwischen den gezahlten Beiträgen und der Höhe des gewährten Mutterschaftsgelds gewährleistet sei, begünstige die Verbesserung der demografischen Situation.

33      Insoweit ist daran zu erinnern, dass, auch wenn rein wirtschaftliche Motive keinen zwingenden Grund des Allgemeininteresses darstellen können, der eine Beschränkung einer vom Vertrag garantierten Grundfreiheit rechtfertigen könnte, eine nationale Regelung ein gerechtfertigtes Hindernis für eine Grundfreiheit darstellen kann, wenn sie durch wirtschaftliche Überlegungen vorgegeben wird, mit denen ein im Allgemeininteresse liegendes Ziel verfolgt wird. Daher kann nicht ausgeschlossen werden, dass eine erhebliche Gefährdung des finanziellen Gleichgewichts des Systems der sozialen Sicherheit einen zwingenden Grund des Allgemeininteresses darstellt, der einen Verstoß gegen die Bestimmungen des Vertrags zum Recht auf Freizügigkeit der Arbeitnehmer rechtfertigen kann (Urteil vom 21. Januar 2016, Kommission/Zypern, C‑515/14, EU:C:2016:30, Rn. 53 und die dort angeführte Rechtsprechung).

34      Nach ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofs obliegt es jedoch den zuständigen nationalen Stellen, wenn sie eine Maßnahme erlassen, die von einem im Unionsrecht verankerten Grundsatz abweicht, in jedem Einzelfall nachzuweisen, dass diese Maßnahme geeignet ist, die Erreichung des mit ihr angestrebten Ziels zu gewährleisten, und nicht über das hierfür Erforderliche hinausgeht. Ein Mitgliedstaat muss neben den Rechtfertigungsgründen, die er geltend machen kann, geeignete Beweise oder eine Untersuchung zur Geeignetheit und Verhältnismäßigkeit der von ihm erlassenen beschränkenden Maßnahme vorlegen sowie genaue Angaben zur Stützung seines Vorbringens machen. Anhand einer solchen objektiven, eingehenden und auf Zahlenangaben gestützten Untersuchung muss sich mittels zuverlässiger, übereinstimmender und beweiskräftiger Daten nachweisen lassen, dass das Gleichgewicht des Systems der sozialen Sicherheit tatsächlich gefährdet ist (Urteil vom 21. Januar 2016, Kommission/Zypern, C‑515/14, EU:C:2016:30, Rn. 54).

35      Es ist aber festzustellen, dass es im vorliegenden Fall an einer solchen Untersuchung fehlt. Die lettische Regierung hat sich in ihren beim Gerichtshof eingereichten schriftlichen Erklärungen nämlich auf ganz allgemeine Behauptungen beschränkt, ohne jedoch konkrete Beweise zur Stützung ihres Vorbringens zu liefern, dass die im Ausgangsverfahren in Rede stehende nationale Regelung aus Gründen des Allgemeininteresses gerechtfertigt sei. Die angebliche Rechtfertigung, die auf den unmittelbaren Zusammenhang zwischen den gezahlten Beiträgen und der Höhe der gewährten Leistung gestützt wird, kann nicht durchgreifen, da die Gewährung des Mutterschaftsgelds selbst an keinerlei Beitragspflicht gebunden ist.

36      Daher kann die Beschränkung der Freizügigkeit der Arbeitnehmer angesichts der Angaben in den dem Gerichtshof vorgelegten Akten nicht gerechtfertigt werden.

37      Da festgestellt worden ist, dass die im Ausgangsverfahren in Rede stehende Regelung mit dem durch Art. 45 AEUV garantierten Grundsatz der Freizügigkeit der Arbeitnehmer unvereinbar ist, ist über die Auslegung von Art. 4 Abs. 3 EUV nicht mehr zu entscheiden (Urteil vom 6. Oktober 2016, Adrien u. a., C‑466/15, EU:C:2016:749, Rn. 37).

38      Nach alledem ist auf die Vorlagefrage zu antworten, dass Art. 45 AEUV dahin auszulegen ist, dass er einer Regelung eines Mitgliedstaats wie der im Ausgangsverfahren fraglichen entgegensteht, nach der für die Zwecke der Festsetzung der durchschnittlichen Beitragsbemessungsgrundlage, die zur Ermittlung der Höhe des Mutterschaftsgelds heranzuziehen ist, die Monate des Referenzzeitraums, in denen die betreffende Person für ein Organ der Union gearbeitet hat und in denen sie in diesem Mitgliedstaat nicht sozialversichert war, mit einem Zeitraum der Nichtbeschäftigung gleichgesetzt werden und auf sie die in diesem Mitgliedstaat festgesetzte durchschnittliche Beitragsbemessungsgrundlage angewendet wird, was zur Folge hat, dass die Höhe des dieser Person gewährten Mutterschaftsgelds im Vergleich zu jener, auf die sie Anspruch gehabt hätte, wenn sie eine Berufstätigkeit nur in diesem Mitgliedstaat ausgeübt hätte, erheblich niedriger ist.

 Kosten

39      Für die Parteien des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren ein Zwischenstreit in dem bei dem vorlegenden Gericht anhängigen Rechtsstreit; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig.

Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Zehnte Kammer) für Recht erkannt:

Art. 45 AEUV ist dahin auszulegen, dass er einer Regelung eines Mitgliedstaats wie der im Ausgangsverfahren fraglichen entgegensteht, nach der für die Zwecke der Festsetzung der durchschnittlichen Beitragsbemessungsgrundlage, die zur Ermittlung der Höhe des Mutterschaftsgelds heranzuziehen ist, die Monate des Referenzzeitraums, in denen die betreffende Person für ein Organ der Europäischen Union gearbeitet hat und in denen sie in diesem Mitgliedstaat nicht sozialversichert war, mit einem Zeitraum der Nichtbeschäftigung gleichgesetzt werden und auf sie die in diesem Mitgliedstaat festgesetzte durchschnittliche Beitragsbemessungsgrundlage angewendet wird, was zur Folge hat, dass die Höhe des dieser Person gewährten Mutterschaftsgelds im Vergleich zu jener, auf die sie Anspruch gehabt hätte, wenn sie eine Berufstätigkeit nur in diesem Mitgliedstaat ausgeübt hätte, erheblich niedriger ist.

Unterschriften


*      Verfahrenssprache: Lettisch.