Language of document : ECLI:EU:F:2012:188

URTEIL DES GERICHTS FÜR DEN ÖFFENTLICHEN DIENST DER EUROPÄISCHEN UNION

(Dritte Kammer)

12. Dezember 2012

Rechtssache F‑90/11

BS

gegen

Europäische Kommission

„Öffentlicher Dienst – Ehemaliger Beamter – Soziale Sicherheit – Art. 73 des Statuts – Regelung zur Sicherung bei Unfällen und Berufskrankheiten – Tabelle im Anhang der Regelung zur Sicherung bei Unfällen und Berufskrankheiten – Grad der Beeinträchtigung der körperlichen und seelischen Unversehrtheit – Auslegung der Tabelle – Ärzteausschuss – Auftrag – Kollegialitätsprinzip“

Gegenstand: Klage nach Art. 270 AEUV, der gemäß Art. 106a EA auch für den EAG-Vertrag gilt, im Wesentlichen auf Aufhebung der Entscheidung vom 20. Dezember 2010, mit der die Anstellungsbehörde das nach Art. 73 des Statuts der Beamten der Europäischen Union (im Folgenden: Statut) eröffnete Verfahren abgeschlossen und das Fehlen einer Beeinträchtigung der körperlichen und seelischen Unversehrtheit des Klägers, eines ehemaligen Beamten der Europäischen Kommission, festgestellt hat

Entscheidung: Die Klage wird abgewiesen. Der Kläger trägt seine eigenen Kosten und wird verurteilt, die Kosten der Kommission zu tragen.

Leitsätze

1.      Beamte – Soziale Sicherheit – Versicherung gegen Unfälle und Berufskrankheiten – Ärztliches Gutachten – Weigerung eines Mitglieds des Ärzteausschusses, das Gutachten zu unterzeichnen – Formfehler – Fehlen – Voraussetzungen

(Beamtenstatut, Art. 73; Regelung zur Sicherung bei Unfällen und Berufskrankheiten, Art. 22 Abs. 3)

2.      Beamte – Soziale Sicherheit – Versicherung gegen Unfälle und Berufskrankheiten – Ärztliches Gutachten – Zuständigkeit des Ärzteausschusses – Rechtliche Bewertungen – Ausschluss – Auslegung der Tabelle zur Bewertung der Beeinträchtigung der physischen und psychischen Integrität – Zulässigkeit

(Beamtenstatut, Art. 73; Regelung zur Sicherung bei Unfällen und Berufskrankheiten, Art. 22 Abs. 3 und Anhang C)

3.      Beamte – Soziale Sicherheit – Versicherung gegen Unfälle und Berufskrankheiten – Ärztliches Gutachten – Gerichtliche Überprüfung – Grenzen

(Beamtenstatut, Art. 73; Regelung zur Sicherung bei Unfällen und Berufskrankheiten, Art. 22 Abs. 3)

4.      Beamte – Soziale Sicherheit – Versicherung gegen Unfälle und Berufskrankheiten – Ärztliches Gutachten – Begründungspflicht des Ärzteausschusses – Umfang

(Beamtenstatut, Art. 73; Regelung zur Sicherung bei Unfällen und Berufskrankheiten, Art. 22 Abs. 3)

5.      Beamte – Soziale Sicherheit – Versicherung gegen Unfälle und Berufskrankheiten – Ärztliches Gutachten – Pflicht des Ärzteausschusses zur Beantwortung der in dem von der Anstellungsbehörde erteilten Auftrag aufgeworfenen Fragen – Umfang – Grenzen

(Beamtenstatut, Art. 73; Regelung zur Sicherung bei Unfällen und Berufskrankheiten, Art. 22 Abs. 2)

6.      Beamte – Soziale Sicherheit – Versicherung gegen Unfälle und Berufskrankheiten – Dienstunfähigkeit – Begriff – Schädigungen von hinreichender Schwere – Einbeziehung

(Beamtenstatut, Art. 73; Regelung zur Sicherung bei Unfällen und Berufskrankheiten, Anhang A Art. 73)

1.      Das Gutachten des Ärzteausschusses ist nicht allein deshalb mit einem Formfehler behaftet, weil sich eines seiner Mitglieder geweigert hat, es zu unterzeichnen. Zur Wahrung des Kollegialitätsprinzips bei der Arbeit des Ausschusses muss jedoch nachgewiesen sein, dass das Mitglied, das das Gutachten nicht unterzeichnet hat, nachweislich Gelegenheit hatte, seine Auffassung gegenüber den beiden anderen Mitgliedern sachdienlich zum Ausdruck zu bringen.

(vgl. Randnr. 38)

Verweisung auf:

Gericht für den öffentlichen Dienst: 14. September 2010, AE/Kommission, F‑79/09, Randnr. 56 und die dort angeführte Rechtsprechung

2.      Art. 22 Abs. 3 der in Art. 73 des Statuts vorgesehenen Regelung zur Sicherung bei Unfällen und Berufskrankheiten beschränkt die Zuständigkeit des Ärzteausschusses auf den rein medizinischen Aspekt eines Vorgangs und verpflichtet ihn, sich bei einem Vorgang, der den Charakter eines Rechtsstreits hat, für nicht zuständig zu erklären.

Zu diesem Zweck wendet der Ärzteausschuss bei der Beurteilung des Grades der Beeinträchtigung der körperlichen und seelischen Unversehrtheit (im Folgenden: Beeinträchtigungsgrad) der Versicherten die Europäische Tabelle zur Bewertung der Beeinträchtigung der physischen und psychischen Integrität für medizinische Zwecke in Anhang A der Regelung zur Sicherung bei Unfällen und Berufskrankheiten sowie deren Anhang C an. Bei dieser Anwendung bringt der Ärzteausschuss aber notwendigerweise die von ihm getroffenen medizinischen Feststellungen in einen Zusammenhang mit den in der Tabelle und in Anhang C festgelegten rechtlichen Kategorien, was die vorherige Ermittlung und Abgrenzung dieser Kategorien voraussetzt. Mit der Tätigkeit des Ärzteausschusses ist es somit notwendigerweise verbunden, dass er die von ihm getroffenen medizinischen Feststellungen anhand der von ihm angewandten Bestimmungen der Tabelle und des Anhangs C einstuft. Seine Zuständigkeit ist daher nicht ausgeschlossen, wenn sich dieses Vorgehen eindeutig in den Rahmen des medizinischen Aspekts des Vorgangs einfügt.

Im Übrigen wird die vom Ärzteausschuss zur Einstufung der von ihm getroffenen Feststellungen vorgenommene Auslegung der Tabelle und des Anhangs C letztlich von der Anstellungsbehörde bestätigt oder verworfen, die somit jegliche Gefahr einer rechtlichen Unsicherheit im Zusammenhang mit möglichen Unterschieden bei dieser Auslegung angesichts der unterschiedlichen Zusammensetzung der Ärzteausschüsse verhindert.

(vgl. Randnrn. 62, 64, 65 und 69)

3.      Die gerichtliche Überprüfung ärztlicher Gutachten kann sich nicht auf die eigentlichen medizinischen Beurteilungen beziehen, die als endgültig anzusehen sind, wenn sie unter ordnungsgemäßen Bedingungen vorgenommen wurden. Hingegen kann der Unionsrichter nachprüfen, ob ein ärztliches Gutachten eine Begründung enthält, anhand deren die Erwägungen, auf denen die in dem Gutachten enthaltenen Schlussfolgerungen beruhen, beurteilt werden können, und ob ein verständlicher Zusammenhang zwischen den in dem Gutachten enthaltenen medizinischen Feststellungen und den darin gezogenen Schlussfolgerungen besteht.

(vgl. Randnr. 72)

Verweisung auf:

Gericht erster Instanz: 27. Juni 2000, Plug/Kommission, T‑47/97, Randnr. 117

4.      Der Ärzteausschuss hat den Auftrag, ein Gutachten zu den an ihn gerichteten medizinischen Fragen zu erstellen. Angesichts dieses Auftrags beinhaltet die ihm obliegende Begründungspflicht lediglich, dass er den Weg erläutert, der ihn auf der Grundlage der Informationen, die ihm zur Verfügung standen, zu den letztlich getroffenen medizinischen Schlussfolgerungen geführt hat. Diese Begründungspflicht umfasst nicht die Pflicht, zu erklären, aus welchen Gründen er sich für zuständig hielt.

(vgl. Randnr. 77)

5.      Dem Ärzteausschuss kann nicht vorgeworfen werden, dass er nicht im Einzelnen auf alle in dem ihm erteilten Auftrag erwähnten Punkte antwortet, wenn im Übrigen aus den Unterlagen zu dem Vorgang, die er der Anstellungsbehörde übermittelt, aufgrund seiner medizinischen Beurteilungen sämtliche Informationen hervorgehen, die für den Erlass einer Entscheidung der Anstellungsbehörde erforderlich sind. Denn Art. 22 Abs. 2 der Regelung zur Sicherung bei Unfällen und Berufskrankheiten sieht zwar vor, dass das Organ den Auftrag festlegt, den es sodann dem Ärzteausschuss erteilt, jedoch ist in dieser Vorschrift nicht ausdrücklich vorgesehen, dass der Ausschuss verpflichtet wäre, jede einzelne Frage, die in dem Auftrag enthalten ist, zu beantworten.

Insoweit wird der Ärzteausschuss durch die Regelung zur Sicherung bei Unfällen und Berufskrankheiten mit einer umfassenden Aufgabe betraut, die darin besteht, der Anstellungsbehörde alle medizinischen Beurteilungen zu liefern, die für deren Entscheidung über die Festlegung des Beeinträchtigungsgrads erforderlich sind. Außerdem obliegt es dem Ärzteausschuss im Rahmen der ihm durch die Regelung zur Sicherung bei Unfällen und Berufskrankheiten übertragenen Aufgabe, in voller Objektivität und Unabhängigkeit medizinische Fragen zu beurteilen, was bedeutet, dass er in seiner Beurteilung völlig frei ist. Zwar kann die Anstellungsbehörde, wenn sie das von ihr in Auftrag gegebene Gutachten des Ärzteausschusses erhält, ihre Fragen durch einen zusätzlichen Auftrag präzisieren oder neue Fragen stellen, um alle gewünschten Beurteilungen zu erhalten; und in diesem Fall ist der Ärzteausschuss verpflichtet, die Fragen der Anstellungsbehörde klar und genau zu beantworten. Der Ärzteausschuss ist aber auch dann befugt, die Anstellungsbehörde über zusätzliche medizinische Feststellungen zu informieren, die ihr Klarheit für ihre Entscheidung verschaffen können, wenn der Auftrag zu einem bestimmten Punkt keine Frage enthält.

(vgl. Randnrn. 80 bis 85)

Verweisung auf:

Gerichtshof: 19. Januar 1988, Biedermann/Rechnungshof, 2/87, Randnr. 19

Gericht erster Instanz: 9. Juli 1997, S/Gerichtshof, T‑4/96, Randnrn. 41, 42 und 44

6.      Als dienstunfähig im Sinne von Art. 73 des Statuts ist eine Person anzusehen, die infolge eines Unfalls oder einer Berufskrankheit vollständig oder teilweise nicht mehr in der Lage ist, ein normales Berufsleben zu führen. Folglich liefe es der Zielsetzung von Art. 73 des Statuts zuwider, der gerade die Risiken einer solchen Invalidität absichern soll, Art. 73 der Europäischen Tabelle zur Bewertung der Beeinträchtigung der physischen und psychischen Integrität für medizinische Zwecke in Anhang A der Regelung zur Sicherung bei Unfällen und Berufskrankheiten dahin auszulegen, dass jede Schädigung der Haut, gleich welcher Schwere, einen Beeinträchtigungsgrad von mindestens 5 % zur Folge hat. Daher können nur solche Schädigungen berücksichtigt werden, die eine hinreichende Schwere aufweisen.

(vgl. Randnr. 91)

Verweisung auf:

Gerichtshof: 2. Oktober 1979, B./Kommission, 152/77, Randnr. 10