Language of document : ECLI:EU:F:2010:61

URTEIL DES GERICHTS FÜR DEN ÖFFENTLICHEN DIENST
(Erste Kammer)

29. Juni 2010

Rechtssache F‑35/09

Maria Teresa Visser-Fornt Raya

gegen

Europäisches Polizeiamt (Europol)

„Öffentlicher Dienst – Bedienstete von Europol – Nichtverlängerung eines Vertrags – Unbefristeter Vertrag – Art. 6 des Statuts der Bediensteten von Europol – Grundsatz der Wahrung der Verteidigungsrechte“

Gegenstand: Klage nach Art. 40 Abs. 3 des Übereinkommens aufgrund von Artikel K.3 des Vertrags über die Europäische Union über die Errichtung eines Europäischen Polizeiamts (Europol-Übereinkommen) und Art. 93 Abs. 1 des Statuts der Bediensteten von Europol auf Aufhebung der Entscheidung von Europol vom 12. Juni 2008, mit der der Klägerin ein unbefristeter Vertrag verweigert wurde, und der Entscheidung von Europol vom 7. Januar 2009, mit der ihre Beschwerde gegen die Entscheidung vom 12. Juni 2008 zurückgewiesen wurde

Entscheidung: Die Entscheidung vom 12. Juni 2008, mit der Europol der Klägerin einen unbefristeten Vertrag verweigert hat, wird aufgehoben. Europol trägt die Kosten.

Leitsätze

1.      Unionsrecht – Grundsätze – Verteidigungsrechte

2.      Beamte – Bedienstete von Europol – Entscheidung, die das Dienstverhältnis eines Bediensteten berührt – Berücksichtigung von nicht in der Personalakte enthaltenen Angaben – Rechtswidrigkeit

(Statut der Bediensteten von Europol, Art. 6 und 23)

3.      Beamte – Bedienstete von Europol – Entscheidung, die das Dienstverhältnis eines Bediensteten berührt – Berücksichtigung von nicht in der Personalakte enthaltenen Angaben – Entscheidender Einfluss – Aufhebung – Voraussetzungen

(Statut der Bediensteten von Europol, Art. 23)

1.      Die Wahrung der Verteidigungsrechte stellt eine wesentliche Formvorschrift dar, deren Verletzung von Amts wegen geprüft werden kann. Sie ist außerdem in jedem Verfahren, das zu einer den Betroffenen beschwerenden Maßnahme führen kann, ein fundamentaler Grundsatz des Unionsrechts, der auch dann gewahrt sein muss, wenn es keine einschlägigen Verfahrensregeln gibt. Dieser Grundsatz gebietet es, dass jeder, gegen den möglicherweise eine beschwerende Entscheidung erlassen wird, in die Lage versetzt wird, zu den Umständen sachgerecht Stellung zu nehmen, auf die in der zu erlassenden Maßnahme zu seinen Lasten abgestellt werden könnte. Als Ausfluss des Grundsatzes der Wahrung der Verteidigungsrechte verlangt das Recht auf Akteneinsicht, dass die Verwaltung dem betroffenen Bediensteten alle Unterlagen übermitteln muss, auf die sie möglicherweise ihre Entscheidung stützen wird.

(vgl. Randnrn. 56 und 57)

Verweisung auf:

Gerichtshof: 7. Mai 1991, Interhotel/Kommission, C‑291/89, Slg. 1991, I‑2257, Randnr. 14; 7. Januar 2004, Aalborg Portland u. a./Kommission, C‑204/00 P, C‑205/00 P, C‑211/00 P, C‑213/00 P, C‑217/00 P und C‑219/00 P, Slg. 2004, I‑123, Randnrn. 68 und 71; 9. November 2006, Kommission/De Bry, C‑344/05 P, Slg. 2006, I‑10915, Randnrn. 37 und 38; 6. Dezember 2007, Marcuccio/Kommission, C‑59/06 P, nicht in der amtlichen Sammlung veröffentlicht, Randnr. 46

Gericht erster Instanz: 15. März 2000, Cimenteries CBR u. a./Kommission, T‑25/95, T‑26/95, T‑30/95 bis T‑32/95, T‑34/95 bis T‑39/95, T‑42/95 bis T‑46/95, T‑48/95, T‑50/95 bis T‑65/95, T‑68/95 bis T‑71/95, T‑87/95, T‑88/95, T‑103/95 und T‑104/95, Slg. 2000, II‑491, Randnr. 487

Gericht für den öffentlichen Dienst: 11. September 2008, Bui Van/Kommission, F‑51/07, Slg. ÖD 2008, I‑A‑1‑289 und II‑A‑1‑1533, Randnr. 77, Rechtsmittel beim Gericht der Europäischen Union anhängig, Rechtssache T‑491/08 P

2.      Art. 23 des Statuts der Bediensteten von Europol soll diesen Bediensteten die Verteidigungsrechte dadurch gewährleisten, dass verhindert wird, dass Entscheidungen der Verwaltung, die das Dienstverhältnis des Bediensteten und seine Laufbahn berühren, auf Tatsachen in Bezug auf seine Befähigung, seine Leistung oder sein Verhalten gestützt werden, die in seiner Personalakte nicht erwähnt sind. Daher verstößt eine auf solchen Tatsachen beruhende Entscheidung gegen die Garantien dieses Statuts und muss aufgehoben werden, weil sie infolge eines rechtswidrigen Verfahrens ergangen ist.

Eine Entscheidung, die aufgrund eines besonderen Verfahrens zur Vergabe unbefristeter Verträge nach Art. 6 des Statuts der Bediensteten von Europol und Art. 7 des Beschlusses vom 8. Dezember 2006 zur Durchführung von Art. 6 dieses Statuts ergangen ist, kann das Dienstverhältnis eines Europol-Bediensteten berühren und stellt somit eine beschwerende Entscheidung dar. Eine solche Entscheidung darf daher nur im Einklang mit dem Grundsatz der Wahrung der Verteidigungsrechte erlassen werden.

(vgl. Randnrn. 58 und 60)

Verweisung auf:

Gerichtshof: 28. Juni 1972, Brasseur/Parlament, 88/71, Slg. 1972, 499, Randnr. 11; 12. Februar 1987, Bonino/Kommission, 233/85, Slg. 1987, 739, Randnr. 11

Gericht erster Instanz: 6. Februar 2003, Pyres/Kommission, T‑7/01, Slg. ÖD 2003, I‑A‑37 und II‑239, Randnrn. 70 und 72; 13. Dezember 2005, Cwik/Kommission, T‑155/03, T‑157/03 und T‑331/03, Slg. ÖD 2005, I‑A‑411 und II‑1865, Randnr. 50

Gericht für den öffentlichen Dienst: 28. Juni 2007, Bianchi/ETF, F‑38/06, Slg. ÖD 2007, I‑A‑1‑183 und II‑A‑1‑1009, Randnr. 48

3.      Ein Verstoß gegen Art. 23 des Statuts der Bediensteten von Europol und den Grundsatz der Wahrung der Verteidigungsrechte führt nur dann zur Aufhebung einer Handlung, wenn feststeht, dass sich Schriftstücke, die einem Bediensteten nicht übermittelt worden sind, entscheidend auf die diesen Bediensteten betreffende Entscheidung der Verwaltung auswirken konnten.

Ein Beurteilungsformular, das sich nicht als bloße Wiederholung der Angaben darstellt, die im zur Beurteilung des betreffenden Bediensteten erstellten Bericht enthalten sind, sondern Rubriken zu Befähigung, Leistung und Führung dieses Bediensteten sowie zu den Auswirkungen einer Nichtverlängerung seines Vertrags auf die Funktionsfähigkeit von Europol umfasst, ist geeignet, die den Bediensteten betreffende Entscheidung der Verwaltung entscheidend zu beeinflussen.

(vgl. Randnrn. 64 bis 68)

Verweisung auf:

Gerichtshof: 12. November 1996, Ojha/Kommission, C‑294/95 P, Slg. 1996, I‑5863, Randnr. 67

Gericht erster Instanz: 6. Februar 2007, Wunenburger/Kommission, T‑246/04 und T‑71/05, Slg. ÖD 2007, I‑A‑2‑21 und II‑A‑2‑131, Randnr. 149