Language of document : ECLI:EU:C:2017:795

SCHLUSSANTRÄGE DES GENERALANWALTS

YVES BOT

vom 24. Oktober 2017(1)

Rechtssache C353/16

MP

gegen

Secretary of State for the Home Department

(Vorabentscheidungsersuchen des Supreme Court of the United Kingdom [Oberster Gerichtshof des Vereinigten Königreichs])

„Vorlage zur Vorabentscheidung – Asylpolitik – Mindestnormen für die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft – Voraussetzungen für den Anspruch auf subsidiären Schutz – Folgen von im Herkunftsland erlittener Folter – Gefahr eines ernsthaften Schadens an der psychischen Gesundheit des Antragstellers bei Rückkehr in sein Herkunftsland – Keine angemessene Behandlung der Erkrankungen im Herkunftsland“






I.      Einleitung

1.        Hat ein Drittstaatsangehöriger, der an den Folgen von in seinem Herkunftsland verübter Folter leidet, bei einer Rückkehr dorthin aber keine solchen Misshandlungen mehr zu befürchten hat, Anspruch auf subsidiären Schutz, weil das Gesundheitssystem dieses Drittlands keine angemessene Behandlung seiner psychischen Erkrankungen bieten kann?

2.        Dies ist im Kern die Frage, die der Gerichtshof in der vorliegenden Rechtssache zu beantworten hat. Sie bietet dem Gerichtshof Gelegenheit, sich erneut zu Art. 2 Buchst. e und Art. 15 Buchst. b der Richtlinie 2004/83/EG(2) sowie, hilfsweise, zu Art. 3 der Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten(3) und Art. 14 Abs. 1 des Übereinkommens gegen Folter und andere grausame, unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Strafe(4) zu äußern.

3.        Am Ende meiner Prüfung werde ich dem Gerichtshof vorschlagen, für Recht zu erkennen, dass Art. 2 Buchst. e und Art. 15 Buchst. b der Richtlinie 2004/83 die Mitgliedstaaten nicht dazu verpflichten, die Regelung über den subsidiären Schutz auf einen Fall wie den des Ausgangsverfahrens auszudehnen, und zwar unabhängig von Art. 3 EMRK und Art. 14 Abs. 1 der Antifolterkonvention.

II.    Rechtlicher Rahmen

A.      Völkerrecht

4.        Art. 14 Abs. 1 der Antifolterkonvention bestimmt:

„Jeder Vertragsstaat stellt in seiner Rechtsordnung sicher, dass das Opfer einer Folterhandlung Wiedergutmachung erhält und ein einklagbares Recht auf gerechte und angemessene Entschädigung einschließlich der Mittel für eine möglichst vollständige Rehabilitation hat. Stirbt das Opfer infolge der Folterhandlung, so haben seine Hinterbliebenen Anspruch auf Entschädigung.“

5.        Art. 3 EMRK lautet:

„Niemand darf der Folter oder unmenschlicher oder erniedrigender Strafe oder Behandlung unterworfen werden.“

B.      Unionsrecht

6.        In den Erwägungsgründen 9, 25 und 26 der Richtlinie 2004/83 heißt es:

„(9)      Diejenigen Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen, die in den Hoheitsgebieten der Mitgliedstaaten verbleiben dürfen, nicht weil sie internationalen Schutz benötigen, sondern aus familiären oder humanitären Ermessensgründen, fallen nicht unter diese Richtlinie.

(25)      Es müssen Kriterien eingeführt werden, die als Grundlage für die Anerkennung von internationalen Schutz beantragenden Personen als Anspruchsberechtigte auf einen subsidiären Schutzstatus dienen. Diese Kriterien sollten völkerrechtlichen Verpflichtungen der Mitgliedstaaten aus Rechtsakten im Bereich der Menschenrechte und bestehenden Praktiken in den Mitgliedstaaten entsprechen.

(26)      Gefahren, denen die Bevölkerung oder eine Bevölkerungsgruppe eines Landes allgemein ausgesetzt sind, stellen für sich genommen normalerweise keine individuelle Bedrohung dar, die als ernsthafter Schaden zu beurteilen wäre.“

7.        Art. 2 dieser Richtlinie bestimmt:

„Im Sinne dieser Richtlinie bedeutet:

e)      ‚Person mit Anspruch auf subsidiären Schutz‘ einen Drittstaatsangehörigen oder einen Staatenlosen, der die Voraussetzungen für die Anerkennung als Flüchtling nicht erfüllt, der aber stichhaltige Gründe für die Annahme vorgebracht hat, dass er bei einer Rückkehr in sein Herkunftsland oder, bei einem Staatenlosen, in das Land seines vorherigen gewöhnlichen Aufenthalts tatsächlich Gefahr liefe, einen ernsthaften Schaden im Sinne des Artikels 15 zu erleiden, und auf den Artikel 17 Absätze 1 und 2 keine Anwendung findet und der den Schutz dieses Landes nicht in Anspruch nehmen kann oder wegen dieser Gefahr nicht in Anspruch nehmen will;

…“

8.        Art. 3 der Richtlinie sieht vor:

„Die Mitgliedstaaten können günstigere Normen zur Entscheidung der Frage, wer als Flüchtling oder Person gilt, die Anspruch auf subsidiären Schutz hat, und zur Bestimmung des Inhalts des internationalen Schutzes erlassen oder beibehalten, sofern sie mit dieser Richtlinie vereinbar sind.“

9.        Art. 4 Abs. 4 der Richtlinie 2004/83 bestimmt:

„Die Tatsache, dass ein Antragsteller bereits verfolgt wurde oder einen sonstigen ernsthaften Schaden erlitten hat bzw. von solcher Verfolgung oder einem solchen Schaden unmittelbar bedroht war, ist ein ernsthafter Hinweis darauf, dass die Furcht des Antragstellers vor Verfolgung begründet ist bzw. dass er tatsächlich Gefahr läuft, ernsthaften Schaden zu erleiden, es sei denn, stichhaltige Gründe sprechen dagegen, dass der Antragsteller erneut von solcher Verfolgung oder einem solchen Schaden bedroht wird.“

10.      Art. 6 der Richtlinie sieht vor:

„Die Verfolgung bzw. der ernsthafte Schaden kann ausgehen von

a)      dem Staat;

b)      Parteien oder Organisationen, die den Staat oder einen wesentlichen Teil des Staatsgebiets beherrschen;

c)      nichtstaatlichen Akteuren, sofern die unter den Buchstaben a und b genannten Akteure einschließlich internationaler Organisationen erwiesenermaßen nicht in der Lage oder nicht willens sind, Schutz vor Verfolgung bzw. ernsthaftem Schaden im Sinne des Artikels 7 zu bieten.“

11.      Art. 15 der Richtlinie bestimmt:

„Als ernsthafter Schaden gilt

a)      die Verhängung oder Vollstreckung der Todesstrafe oder

b)      Folter oder unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Bestrafung eines Antragstellers im Herkunftsland oder

c)      eine ernsthafte individuelle Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit einer Zivilperson infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen bewaffneten Konflikts.“

12.      Art. 16 der Richtlinie 2004/83 sieht vor:

„(1)      Ein Drittstaatsangehöriger oder ein Staatenloser hat keinen Anspruch auf subsidiären Schutz mehr, wenn die Umstände, die zur Zuerkennung des subsidiären Schutzes geführt haben, nicht mehr bestehen oder sich in einem Maße verändert haben, dass ein solcher Schutz nicht mehr erforderlich ist.

(2)      Bei Anwendung des Absatzes 1 berücksichtigen die Mitgliedstaaten, ob sich die Umstände so wesentlich und nicht nur vorübergehend verändert haben, dass die Person, die Anspruch auf subsidiären Schutz hat, tatsächlich nicht länger Gefahr läuft, einen ernsthaften Schaden zu erleiden.“

III. Ausgangsrechtsstreitigkeit und Vorlagefrage

13.      MP, ein sri-lankischer Staatsangehöriger, reiste im Januar 2005 in das Vereinigte Königreich ein und erhielt eine Aufenthaltserlaubnis als Student. Eine Verlängerung dieser Aufenthaltserlaubnis wurde am 11. Dezember 2008 abgelehnt.

14.      Am 5. Januar 2009 beantragte MP Asyl und begründete dies damit, dass er der Organisation „Befreiungstiger von Tamil Eelam“ (Liberation Tigers of Tamil Eelam) angehört habe, von den Sicherheitskräften in seinem Herkunftsland inhaftiert und gefoltert worden sei und bei einer Rückkehr dorthin Gefahr laufe, erneut misshandelt zu werden.

15.      Dieser Antrag wurde am 23. Februar 2009 mit der Begründung abgelehnt, dass nicht nachgewiesen sei, dass ihm bei einer Rückkehr in sein Herkunftsland erneut Gefahr drohe.

16.      MP focht diese Entscheidung vor dem Upper Tribunal (Obergericht, Vereinigtes Königreich) an und legte ärztliche Zeugnisse vor, die bescheinigten, dass er auf die Folter zurückzuführende Narben aufwies, an einer posttraumatischen Belastungsstörung und einer Depression litt, suizidgefährdet war und ernsthaft entschlossen schien, sich das Leben zu nehmen, wenn er in sein Herkunftsland zurückgeschickt würde. Das Gericht wies jedoch seine Klage zum einen insoweit ab, als sie auf das Abkommen über die Rechtsstellung der Flüchtlinge(5) und die Richtlinie 2004/83 gestützt war, und zum anderen insoweit, als nicht nachgewiesen sei, dass MP in seinem Herkunftsland weiterhin Gefahr drohe.

17.      Es gab der Klage gleichwohl insoweit statt, als sie auf Art. 3 EMRK gestützt war, was im Wesentlichen damit begründet wurde, dass die psychische Erkrankung von MP, wenn er in sein Herkunftsland zurückgeschickt würde, nicht angemessen behandelt würde, was gegen diese Bestimmung verstieße.

18.      Diese Entscheidung wurde vom Court of Appeal (England & Wales) (Berufungsgericht [England und Wales], Vereinigtes Königreich) bestätigt, der ausführte, dass die Richtlinie 2004/83 nicht für Fälle des Art. 3 EMRK gelten solle, in denen eine Gefahr für die Gesundheit oder eine Suizidgefahr, aber keine Verfolgungsgefahr bestehe.

19.      MP legte gegen diese Entscheidung ein Rechtsmittel beim Supreme Court of the United Kingdom (Oberster Gerichtshof des Vereinigten Königreichs), dem vorlegenden Gericht, ein. Er macht geltend, dass der Anwendungsbereich der Richtlinie 2004/83 nicht so eng ausgelegt werden könne, wie das erstinstanzliche und das zweitinstanzliche Gericht dies getan hätten. Er habe Anspruch auf subsidiären Schutz, da er zum einen in seinem Herkunftsland in der Vergangenheit Misshandlungen ausgesetzt gewesen sei, die die Ursache seiner Erkrankungen seien, und zum anderen dort keine Einrichtungen bestünden, die eine angemessene Behandlung dieser Folgeerkrankungen ermöglichten. Bei der Prüfung seines Anspruchs auf subsidiären Schutz dürfe nicht darauf abgestellt werden, dass bei einer Rückkehr in sein Herkunftsland keine Gefahr künftiger Misshandlungen bestehe.

20.      Das vorlegende Gericht ist der Auffassung, dass der Gerichtshof und der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte diese Frage in ihrer Rechtsprechung noch nicht im Einzelnen behandelt hätten.

21.      Unter diesen Umständen hat der Supreme Court of the United Kingdom (Oberster Gerichtshof des Vereinigten Königreichs) beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof die folgende Frage zur Vorabentscheidung vorzulegen:

Ist die tatsächliche Gefahr, dass der Antragsteller bei einer Rückkehr in das Herkunftsland infolge früherer Folter oder unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung, für die das Herkunftsland verantwortlich war, ernsthaften Schaden an der physischen oder psychischen Gesundheit erleidet, von Art. 2 Buchst. e in Verbindung mit Art. 15 Buchst. b der Richtlinie 2004/83 umfasst?

IV.    Würdigung

22.      Vorab ist festzustellen, dass der Gerichtshof bei der Behandlung des Vorabentscheidungsersuchens zwei Optionen hat. Er kann sich im Rahmen der vom vorlegenden Gericht gestellten Frage – d. h. lediglich zur Auslegung von Art. 2 Buchst. e und Art. 15 Buchst. b der Richtlinie 2004/83 – äußern oder aber in seiner Antwort auch eine Würdigung dieser Bestimmungen anhand von Art. 3 EMRK und Art. 14 der Antifolterkonvention vornehmen.

23.      Erstens ist, was eine ausschließlich auf die Bestimmungen der Richtlinie 2004/83 abstellende Antwort betrifft, darauf hinzuweisen, dass bei einer rein am Wortlaut orientierten Auslegung von Art. 15 dieser Richtlinie, in dem abschließend definiert ist, was als ernsthafter Schaden gilt, die fehlende Möglichkeit einer angemessenen Behandlung einer Erkrankung im Herkunftsland, in das der Betroffene zurückgeschickt werden soll, keinen Anspruch auf subsidiären Schutz begründet.

24.      Der Wortlaut von Art. 15 Buchst. b der Richtlinie ist nämlich eindeutig. Danach wird subsidiärer Schutz nur gewährt, wenn die Gefahr eines ernsthaften Schadens besteht, der durch Folter oder unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Bestrafung, der ein Antragsteller im Fall einer Rückkehr in sein Herkunftsland in der Zukunft ausgesetzt wäre, hervorgerufen wird.

25.      Der Gerichtshof hat im Übrigen entschieden, dass die drei in Art. 15 der Richtlinie definierten Arten eines ernsthaften Schadens als Tatbestandsmerkmale erfüllt sein müssen, um den Anspruch einer Person auf subsidiären Schutz zu begründen, sofern gemäß Art. 2 Buchst. e der Richtlinie stichhaltige Gründe für die Annahme vorliegen, dass der Antragsteller bei einer Rückkehr in das Herkunftsland tatsächlich Gefahr liefe, einen solchen Schaden zu erleiden(6).

26.      Diese Auslegung bedeutet, dass MP im vorliegenden Fall keinen Anspruch auf subsidiären Schutz hat, da feststeht, dass ihm bei einer Rückkehr in sein Herkunftsland keine Folter mehr droht, auch wenn er wegen der Unzulänglichkeiten des Gesundheitssystems wahrscheinlich nicht die für die Bewältigung seiner posttraumatischen Belastungsstörung erforderliche Behandlung erhalten kann und die Gefahr besteht, dass er Selbstmord begeht, wenn er in sein Herkunftsland zurückgeschickt wird.

27.      Insoweit hat der Gerichtshof entschieden, dass die Gefahr einer Verschlechterung des Gesundheitszustands eines Drittstaatsangehörigen, die nicht darauf zurückzuführen ist, dass ihm absichtlich die Versorgung verweigert wird, nicht von Art. 15 der Richtlinie 2004/83 erfasst wird. Art. 15 Buchst. b dieser Richtlinie definiert einen ernsthaften Schaden in Form von Folter oder unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung oder Bestrafung eines Drittstaatsangehörigen in seinem Herkunftsland(7).

28.      Nach dieser Rechtsprechung ergibt sich aus der Auslegung von Art. 6 der Richtlinie, dass die in Rede stehenden ernsthaften Schäden durch das Verhalten eines Dritten verursacht werden müssen und nicht bloß die Folge allgemeiner Unzulänglichkeiten des Gesundheitssystems des Herkunftslands sein können(8).

29.      Es sei daran erinnert, dass ein Leiden aufgrund einer Krankheit zwar unter bestimmten Umständen eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung darstellen kann(9); dies ändert aber nichts daran, dass eines der wesentlichen Kriterien für die Zuerkennung subsidiären Schutzes nicht erfüllt ist, nämlich die Bestimmung eines Akteurs, von dem der Schaden ausgeht und vor dem geschützt werden muss.

30.      Ein Anspruch auf subsidiären Schutz ist nämlich nicht schon dann begründet, wenn nachgewiesen wird, dass für den Betroffenen bei einer Rückkehr in sein Herkunftsland die Gefahr einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung bestünde. Es muss auch nachgewiesen werden, dass diese Gefahr auf Faktoren beruht, die den Behörden dieses Landes direkt oder indirekt anzulasten und ihnen stets bewusst sind, und zwar entweder weil die Behörden des Staates, dem der Betroffene angehört, ihn persönlich bedrohen oder diese Bedrohung tolerieren, oder weil diese Bedrohung auf unabhängige Gruppen zurückgeht, vor denen die Behörden ihre Staatsangehörigen nicht wirksam schützen können.

31.      Bei einer Person, die aufgrund ihres Gesundheitszustands ärztlicher Behandlung bedarf und in ihrem Herkunftsland keine angemessene Behandlung erhalten könnte, beruht die unmenschliche oder erniedrigende Behandlung, die ihr im Fall einer Rückkehr in dieses Land droht, jedoch nicht auf einer bewussten Handlung oder Unterlassung der Behörden oder vom Staat unabhängiger Organe und ist nicht gegen eine bestimmte Person gerichtet.

32.      Hier ist eine der wesentlichen Voraussetzungen für die Gewährung subsidiären Schutzes sachlich nicht erfüllt, nämlich die direkte oder indirekte Verantwortung der Behörden des Herkunftslands für die Zufügung eines ernsthaften Schadens, wogegen Schutz geboten ist.

33.      Daher befriedigt der vom Mitgliedstaat gewährte Schutz in einem Fall wie dem des Ausgangsverfahrens keinen Bedarf an internationalem Schutz im Sinne von Art. 2 Buchst. e der Richtlinie 2004/83 und fällt somit nicht unter das Gemeinsame Europäische Asylsystem.

34.      Daraus folgt, dass die Gefahr einer Verschlechterung des Gesundheitszustands eines psychisch erkrankten Drittstaatsangehörigen, die auf das Fehlen einer angemessenen Behandlung in seinem Herkunftsland zurückzuführen ist, ohne dass diesem Drittstaatsangehörigen die Versorgung bewusst verweigert wurde, nicht ausreichen kann, um ihm den subsidiären Schutzstatus zuzuerkennen(10), auch wenn seine Erkrankung auf Folter zurückzuführen ist, die er in der Vergangenheit in seinem Herkunftsland erlitten hat.

35.      Deshalb ist nicht, wie der Kläger des Ausgangsverfahrens und die Republik Polen meinen, davon auszugehen, dass der einzige Unterschied zu der dem Urteil vom 18. Dezember 2014, M'Bodj(11), zugrunde liegenden Rechtssache – nämlich der Umstand, dass die Erkrankungen von MP die Folge von Folter sind, die er in der Vergangenheit in seinem Herkunftsland erlitten hat, und nicht die einer natürlich aufgetretenen Krankheit – geeignet ist, etwas an den Voraussetzungen für die Zuerkennung des subsidiären Schutzes, wie sie sich aus der Richtlinie 2004/83 ergeben und bereits vom Gerichtshof ausgelegt worden sind(12), zu ändern.

36.      Folglich ist dem Gerichtshof vorzuschlagen, für Recht zu erkennen, dass Art. 2 Buchst. e in Verbindung mit Art. 15 Buchst. b der Richtlinie 2004/83 nicht die tatsächliche Gefahr umfasst, dass der Antragsteller bei einer Rückkehr in das Herkunftsland infolge früherer Folter oder unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung, für die das Herkunftsland verantwortlich war, ernsthaften Schaden an der physischen oder psychischen Gesundheit erleidet.

37.      Zweitens sind für den Fall, dass der Gerichtshof eine umfassendere Antwort geben möchte, bei der die Bestimmungen der Richtlinie 2004/83 in Verbindung mit Art. 3 EMRK und Art. 14 Abs. 1 der Antifolterkonvention ausgelegt werden, folgende Ausführungen angebracht.

38.      Was zum einen Art. 3 EMRK betrifft, liefert uns die Rechtsprechung bereits wichtige Anhaltspunkte.

39.      Zunächst ist daran zu erinnern, dass der Gerichtshof bereits entschieden hat, dass das durch Art. 3 EMRK garantierte Grundrecht zu den allgemeinen Grundsätzen des Unionsrechts gehört, deren Einhaltung der Gerichtshof sichert, und dass für die Auslegung seiner Reichweite in der Unionsrechtsordnung die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte Berücksichtigung findet, wobei Art. 15 Buchst. b der Richtlinie 2004/83 im Wesentlichen Art. 3 EMRK entspricht(13).

40.      Der Gerichtshof hat jedoch entschieden, dass aus den Erwägungsgründen 5, 6, 9 und 24 der Richtlinie 2004/83 hervorgeht, dass diese Richtlinie zwar darauf abzielt, die in der Genfer Flüchtlingskonvention festgelegte Schutzregelung für Flüchtlinge durch den subsidiären Schutz zu ergänzen und insoweit die Personen, die tatsächlich internationalen Schutz benötigen, zu bestimmen, dass sich ihr Geltungsbereich aber nicht auf Personen erstreckt, die aus anderen Gründen, nämlich aus familiären oder humanitären Ermessensgründen, in den Hoheitsgebieten der Mitgliedstaaten verbleiben dürfen. Dies kann durch die Verpflichtung, Art. 15 Buchst. b der Richtlinie 2004/83 unter Berücksichtigung von Art. 3 EMRK, dem er im Wesentlichen entspricht, auszulegen, nicht in Frage gestellt werden(14).

41.      Er hat allerdings auch festgestellt(15), dass die Auslegung von Art. 15 der Richtlinie 2004/83 anhand von Art. 3 EMRK nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte die Zuerkennung subsidiären Schutzes erlauben kann, aber nur in absoluten Ausnahmefällen, wenn die humanitären Erwägungen, die gegen die Abschiebung sprechen, zwingend sind(16).

42.      Dieser Gerichtshof hat insoweit entschieden, dass der Umstand, dass ein an einer schweren Krankheit leidender Drittstaatsangehöriger in absoluten Ausnahmefällen nicht in ein Land abgeschoben werden kann, in dem eine angemessene Behandlung seiner Krankheit nicht verfügbar ist, nicht unbedingt bedeutet, dass ihm die Erlaubnis zum Aufenthalt im Vertragsstaat gewährt werden muss(17).

43.      Diese Rechtsprechung ließe sich auf den Fall des Ausgangsverfahrens übertragen und würde bedeuten, dass die Mitgliedstaaten nicht verpflichtet wären, einer Person, die infolge von in der Vergangenheit in ihrem Herkunftsland erlittener Folter erkrankt ist, automatisch subsidiären Schutz zu gewähren. Der Fall von MP kann nämlich nicht als ein Ausnahmefall angesehen werden, bei dem zwingende humanitäre Erwägungen vorliegen.

44.      Im vorliegenden Fall ist nicht nachgewiesen, dass die Unzulänglichkeiten des Gesundheitssystems für sich genommen einen Verstoß gegen Art. 3 EMRK darstellen. Würden diese Unzulänglichkeiten aber zu einer Verschlechterung des Gesundheitszustands des Betroffenen führen, könnte ein Verstoß gegen diese Bestimmung vorliegen. Es ist allein Sache des nationalen Gerichts, zu prüfen, ob ein solcher Verstoß vorliegt, auch wenn es in Anbetracht des posttraumatischen Syndroms, an dem MP leidet, und seiner Suizidalität im Fall einer Rückkehr in sein Herkunftsland wahrscheinlich erscheint, dass dies hier der Fall ist. Im Übrigen haben die innerstaatlichen Gerichte im ersten und im zweiten Rechtszug entschieden, dass ein Verstoß gegen diese Bestimmungen vorliegt, und aus den Akten ergibt sich unbestritten, dass MP nicht in sein Herkunftsland zurückgeschickt wird.

45.      Es sei ferner daran erinnert, dass das System des subsidiären Schutzes von den Erwägungen abzukoppeln ist, die im Ausgangsrechtsstreit maßgeblich sind, in dem feststeht, dass dem Antragsteller bei einer Rückkehr in sein Herkunftsland keine Folter mehr droht.

46.      Der Gerichtshof hat insoweit entschieden, dass es der allgemeinen Systematik und den Zielen der Richtlinie 2004/83 widerspräche, den in dieser Richtlinie vorgesehenen Schutz Drittstaatsangehörigen zuzuerkennen, die sich in Situationen befinden, die keinen Zusammenhang mit dem Zweck dieses internationalen Schutzes aufweisen(18).

47.      Aus den bereits zur Auslegung von Art. 2 Buchst. e und Art. 15 Buchst. b dieser Richtlinie angestellten Überlegungen folgt nämlich, dass es sich bei dem internationalen Schutz, der dem Antragsteller gewährt würde, um eine andere Form des Schutzes im Sinne von Art. 2 Buchst. g letzter Halbsatz der Richtlinie handeln würde. Dieser Schutz würde aus einem anderen Grund gewährt, nämlich aus familiären oder humanitären Ermessensgründen, die insbesondere auf Art. 3 EMRK gestützt sind.

48.      Der Gesetzgeber war aber ausweislich des neunten Erwägungsgrundes der Richtlinie 2004/83 offensichtlich bestrebt, die Fälle, in denen humanitäre Gründe zum Tragen kommen, vom Geltungsbereich der Richtlinie auszuschließen(19).

49.      Nach alledem sind die Mitgliedstaaten nach den Bestimmungen der Richtlinie 2004/83 in Verbindung mit Art. 3 EMRK nicht daran gehindert, Personen vom Anwendungsbereich des subsidiären Schutzes auszunehmen, die sich in einer Lage wie MP befinden und an den Folgen von in der Vergangenheit erlittener Folter leiden, bei einer Rückkehr in ihr Herkunftsland aber nicht mehr Gefahr laufen, solchen Misshandlungen ausgesetzt zu sein, allerdings selbstmordgefährdet sind und sicherlich keine angemessene Behandlung ihrer Erkrankungen erhalten können. In diesem Zusammenhang ist es allein Sache des nationalen Gerichts, zu prüfen, ob unter Berücksichtigung aller ihm vorliegenden Gesichtspunkte ein Verstoß gegen Art. 3 EMRK vorliegt.

50.      Zu Art. 14 der Antifolterkonvention sei zunächst darauf hingewiesen, dass die Bestimmungen der Richtlinie 2004/83 und die übrigen Rechtsakte, die dem Gemeinsamen Europäischen Asylsystem zugrunde liegen, erlassen wurden, um die zuständigen Behörden der Mitgliedstaaten bei der Anwendung der Genfer Konvention und der anderen einschlägigen Verträge nach Art. 78 Abs. 1 AEUV(20) zu leiten. Die Bestimmungen der Richtlinie sind daher im Licht der allgemeinen Systematik und des Zwecks dieser Texte auszulegen(21).

51.      Nach ständiger Rechtsprechung ist das Unionsrecht jedoch gegenüber dem humanitären Völkerrecht autonom anzuwenden(22). Ferner hat der Gerichtshof bereits entschieden, dass das humanitäre Völkerrecht und die Regelung des subsidiären Schutzes nach der Richtlinie 2004/83 unterschiedliche Ziele verfolgen und klar voneinander getrennte Schutzmechanismen einführen(23).

52.      Daher ist festzustellen, dass die Richtlinie 2004/83 keine Bestimmung enthält, die auch nur im weitesten Sinne Art. 14 Abs. 1 der Antifolterkonvention entspräche, der die Vertragsparteien dazu verpflichtet, Verfahren und Mittel vorzusehen, die es Folteropfern ermöglichen, Wiedergutmachung zu erlangen.

53.      Nur in diesem Umfang könnte der Gerichtshof also eventuell prüfen, ob sich ein Verstoß gegen Art. 14 der Antifolterkonvention durch einen Drittstaat, dessen Staatsangehörigkeit der Antragsteller besitzt, auf die Verpflichtungen der Mitgliedstaaten der Union im Zusammenhang mit der Gewährung subsidiären Schutzes auswirken kann, die sich aus der Richtlinie 2004/83 ergeben und es ermöglichen, Betroffene vor ernsthaftem Schaden zu bewahren.

54.      Aus einer am Wortlaut orientierten Auslegung von Art. 14 Abs. 1 der Antifolterkonvention folgt nämlich, dass der Staat, der für die in seinem Hoheitsgebiet begangenen Folterhandlungen verantwortlich ist, grundsätzlich die Mittel und Verfahren vorsehen muss, die es den Betroffenen erlauben, Wiedergutmachung oder eine möglichst vollständige Rehabilitation zu erlangen(24).

55.      Tatsächlich wird diese am Wortlaut orientierte Auslegung durch eine Gesamtschau der Bestimmungen dieser Konvention bestätigt, da deren Art. 13 ff. im Wesentlichen an den für den Verstoß verantwortlichen Staat gerichtet sind(25). Insofern stellt sich die Frage, ob es die Verpflichtungen der Mitgliedstaaten im Zusammenhang mit dem subsidiären Schutz erweitern würde, wenn Sri Lanka den sich aus der Antifolterkonvention, deren Vertragspartei es ist, ergebenden Verpflichtungen nicht nachkäme.

56.      Könnte ein Verstoß eines nicht zur Union gehörenden Staates gegen die Antifolterkonvention dazu führen, dass ein Recht auf subsidiären Schutz in der Europäischen Union geltend gemacht werden kann? Könnte dieser Verstoß als ein Beweis dafür betrachtet werden, dass dem Betroffenen bei einer Rückkehr in sein Herkunftsland unmenschliche oder erniedrigende Behandlung droht? Könnte das Fehlen eines Verfahrens zur Erlangung einer Wiedergutmachung im Herkunftsland als eine Gefahr ernsthaften Schadens angesehen werden? Zu diesen Fragen möchte sich der Gerichtshof möglicherweise äußern.

57.      Bestimmte Staaten könnten bereit sein, die sich aus der Antifolterkonvention ergebenden Verpflichtungen zu übernehmen, obwohl sie für die fraglichen Folterhandlungen nicht verantwortlich sind. Eine solche Universalkompetenz besteht auf dem Gebiet des Strafrechts bezüglich der Verfolgung und der Verurteilung von Folterern. Die Antifolterkonvention lässt es nämlich zu, dass der einzige Bezug zwischen dem Staat des Gerichtsstands und der Begehung der Straftat darin besteht, dass sich der mutmaßliche Folterer im Hoheitsgebiet des Staates aufhält, dem es obliegt, den mutmaßlichen Täter entweder auszuliefern oder strafrechtlich zu verfolgen und zu verurteilen(26). Diese Universalkompetenz wird jedoch üblicherweise nicht auf dem Gebiet der zivilrechtlichen Haftung und des Rechts der Opfer von schädigenden Handlungen auf Entschädigung anerkannt(27). Der erforderliche Bezug zwischen der Straftat und dem Staat bestünde dabei in der Anwesenheit des Opfers von im Ausland begangenen Folterhandlungen im Hoheitsgebiet des Staates, der die Schadensersatzklage zulässt. Diese Ausdehnung der Gerichtsbarkeit der Vertragsparteien der Antifolterkonvention würde es, wenn der Gerichtshof sie zuließe(28), den Folteropfern ermöglichen, ihre Schadensersatzansprüche wirksam durchzusetzen und dem ius cogens(29) zur vollen Geltung zu verhelfen, wodurch der weltweite Kampf gegen Folter gestärkt würde(30).

58.      Nur insoweit ließe sich annehmen, dass Art. 14 Abs. 1 der Antifolterkonvention im Ausgangsfall Anwendung findet und es ermöglicht, die Verpflichtungen der Mitgliedstaaten im Zusammenhang mit dem subsidiären Schutz zu erweitern. Allerdings würde die Anerkennung einer solchen Universalkompetenz über das hinausgehen, was in der Unionsrechtsprechung bereits anerkannt ist, und der Ausgangsfall scheint nicht die beste Gelegenheit zu sein, um diesen Schritt zu tun, da der Anwendbarkeit von Art. 14 Abs. 1 der Antifolterkonvention zwei Gesichtspunkte entgegenstehen.

59.      Zum einen enthält die Akte nichts dafür, dass Sri Lanka MP gegenüber bewusst die Verpflichtungen aus Art. 14 Abs. 1 der Antifolterkonvention missachten würde, wenn er dorthin zurückgeschickt würde. Tatsächlich ergibt sich aus dem Vorstehenden, dass MP nicht geltend machen kann, dass ihm in Sri Lanka bewusst eine Behandlung verwehrt würde, so dass dies keine Gefahr eines ernsthaften Schadens im Sinne der in Art. 15 der Richtlinie 2004/83 aufgeführten Fälle, in denen subsidiärer Schutz gewährt werden kann, darstellen könnte, selbst wenn die Unzulänglichkeit des Gesundheitssystems nicht bestritten wird. Es ist daher nicht möglich, von vornherein anzunehmen, dass Sri Lanka MP gegenüber die Verpflichtungen aus der Antifolterkonvention missachtet.

60.      Zum anderen kann ein Schadensersatzanspruch nur dann anerkannt werden, wenn Beschwerde eingelegt oder Klage erhoben wird. Die Person, die geltend macht, Opfer von Folterhandlungen zu sein, muss nämlich Klage erheben, um Wiedergutmachung zu erhalten oder in den Genuss angemessener Umstände für eine möglichst vollständige Rehabilitation zu gelangen, wie es in Art. 14 Abs. 1 der Antifolterkonvention selbst heißt. Im vorliegenden Fall hat der Kläger des Ausgangsverfahrens nicht dargetan, ja nicht einmal behauptet, eine Entschädigung oder Mittel zur Rehabilitation – sei es von sri-lankischen oder von mitgliedstaatlichen Behörden, selbst wenn Letztere sich für zuständig erklären könnten – gefordert zu haben. Die Akte enthält nichts dafür, dass MP eine Klage auf der Grundlage von Art. 14 Abs. 1 der Antifolterkonvention erhoben hätte.

61.      Dementsprechend ließe sich der Ausgangsfall nur dann unter diese Vorschrift subsumieren, wenn man zum einen annähme, dass in der Unzulänglichkeit des Gesundheitssystems von Sri Lanka ein bewusster Verstoß gegen die Verpflichtungen dieses Staates aus Art. 14 Abs. 1 der Antifolterkonvention liegt, und zum anderen, dass der Antrag auf subsidiärem Schutz in einem Mitgliedstaat der Union als Antrag auf Entschädigung oder die für eine möglichst vollständige Rehabilitation erforderlichen Mittel gilt.

62.      Diese Auslegung scheint jedoch den Anwendungsbereich sowohl der Bestimmungen der Richtlinie 2004/83 als auch von Art. 14 Abs. 1 der Antifolterkonvention zu überdehnen.

63.      Überdies ist es unerlässlich, die praktischen Folgen einer derart extensiven Auslegung zu bedenken. Würde damit jedem, der in der Vergangenheit Misshandlungen erlitten hat, ein Recht auf subsidiären Schutz gewährt, solange das Herkunftsland nicht die Mittel und Verfahren – einschließlich eines hinreichenden Gesundheitssystems – vorsähe, die eine Entschädigung oder eine Rehabilitation der Opfer ermöglichen, würde dies die Verpflichtungen der Mitgliedstaaten auf dem Gebiet des subsidiären Schutzes erheblich ausweiten und sowohl verfahrensmäßige als auch materielle Schwierigkeiten begründen. Eine solche Auslegung ginge weit über das hinaus, was der Unionsgesetzgeber mit der Richtlinie 2004/83 und dem Gemeinsamen Europäische Asylsystem erreichen wollte, und würde dazu führen, dass die Zahl der Anträge auf internationalen Schutz steigt und es im Fall von posttraumatischem Stress oder Suizidgefahr schwierig wird, diesen Schutz gemäß Art. 16 der Richtlinie 2004/83 wieder zu beenden. Außerdem gilt die Rechtsprechung des Gerichtshofs unbeschadet des Ermessens der Mitgliedstaaten, den Aufenthalt von Personen, die an solchen Pathologien leiden, aus humanitären Gründen zuzulassen.

64.      Nach alledem ist dem Gerichtshof vorzuschlagen, zu entscheiden, dass Art. 14 Abs. 1 der Antifolterkonvention es nicht verbietet, einem Antragsteller, der sich in einer Lage befindet, wie sie im Ausgangsverfahren in Rede steht, keinen subsidiären Schutz zu gewähren.

65.      Folglich ist dem Gerichtshof vorzuschlagen, für Recht zu erkennen, dass die tatsächliche Gefahr, dass der Antragsteller bei einer Rückkehr in das Herkunftsland infolge früherer Folter oder unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung, für die das Herkunftsland verantwortlich war, ernsthaften Schaden an der physischen oder psychischen Gesundheit erleidet, nicht von Art. 2 Buchst. e in Verbindung mit Art. 15 Buchst. b der Richtlinie 2004/83 umfasst ist; dem steht weder Art. 3 EMRK noch Art. 14 Abs. 1 der Antifolterkonvention entgegen.

V.      Ergebnis

66.      Nach alledem schlage ich dem Gerichtshof vor, die vom Supreme Court of the United Kingdom (Oberster Gerichtshof, Vereinigtes Königreich) vorgelegte Frage wie folgt zu beantworten:

Die tatsächliche Gefahr, dass der Antragsteller bei einer Rückkehr in das Herkunftsland infolge früherer Folter oder unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung, für die das Herkunftsland verantwortlich war, ernsthaften Schaden an der physischen oder psychischen Gesundheit erleidet, ist nicht von Art. 2 Buchst. e in Verbindung mit Art. 15 Buchst. b der Richtlinie 2004/83/EG des Rates vom 29. April 2004 über Mindestnormen für die Anerkennung und den Status von Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen als Flüchtlinge oder als Personen, die anderweitig internationalen Schutz benötigen, und über den Inhalt des zu gewährenden Schutzes umfasst.


1      Originalsprache: Französisch.


2      Richtlinie 2004/83/EG des Rates vom 29. April 2004 über Mindestnormen für die Anerkennung und den Status von Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen als Flüchtlinge oder als Personen, die anderweitig internationalen Schutz benötigen, und über den Inhalt des zu gewährenden Schutzes (ABl. 2004, L 304, S. 12).


3      Unterzeichnet am 4. November 1950 in Rom (im Folgenden: EMRK).


4      Unterzeichnet am 10. Dezember 1984 in New York (im Folgenden: Antifolterkonvention).


5      Unterzeichnet am 28. Juli 1951 in Genf (im Folgenden: Genfer Flüchtlingskonvention).


6      Urteile vom 17. Februar 2009, Elgafaji (C‑465/07, EU:C:2009:94, Rn. 31), vom 30. Januar 2014, Diakité (C‑285/12, EU:C:2014:39, Rn. 18), und vom 18. Dezember 2014, M'Bodj (C‑542/13, EU:C:2014:2452, Rn. 30).


7      Urteil vom 18. Dezember 2014, M'Bodj (C‑542/13, EU:C:2014:2452, Rn. 31 und 32).


8      Urteil vom 18. Dezember 2014, M'Bodj (C‑542/13, EU:C:2014:2452, Rn. 35).


9      Vgl. meine Schlussanträge in der Rechtssache M'Bodj (C‑542/13, EU:C:2014:2113, Nrn. 44 bis 46 und die dort angeführte Rechtsprechung des EGMR). Vgl. auch EGMR, 29. April 2002, Pretty/Vereinigtes Königreich (CE:ECHR:2002:0429JUD000234602, § 52).


10      Urteil vom 18. Dezember 2014, M'Bodj (C‑542/13, EU:C:2014:2452, Rn. 36).


11      C‑542/13, EU:C:2014:2452.


12      Urteil vom 18. Dezember 2014, M'Bodj (C‑542/13, EU:C:2014:2452).


13      Urteil vom 17. Februar 2009, Elgafaji (C‑465/07, EU:C:2009:94, Rn. 28). Für eine Zusammenfassung der Auslegung von Art. 3 EMRK durch den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte vgl. EGMR, 28. Februar 2008, Saadi/Italien (CE:ECHR:2008:0228JUD003720106, § 134 f.), und 21. Januar 2011, M. S. S./Belgien und Griechenland (CE:ECHR:2011:0121JUD003069609, § 219 ff.). In diesem Urteil weist der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte darauf hin, dass die in Art. 3 EMRK verbotene Behandlung insbesondere von einer gewissen Schwere, mit Vorbedacht zugefügt, erniedrigend und demütigend sein muss.


14      Urteil vom 18. Dezember 2014, M'Bodj (C‑542/13, EU:C:2014:2452, Rn. 37 und 38).


15      Urteil vom 18. Dezember 2014, M'Bodj (C‑542/13, EU:C:2014:2452, Rn. 39 und 40).


16      Vgl. insbesondere EGMR, 27. Mai 2008, N./Vereinigtes Königreich (CE:ECHR:2008:0527JUD002656505, §§ 42 bis 45). In diesem Urteil führt der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte aus, dass seine Rechtsprechung in erster Linie HIV-Infizierte betrifft, dass aber auch in anderen Fällen ganz ausnahmsweise die Abschiebung von Personen, die an einer natürlich auftretenden physischen oder psychischen Krankheit leiden, unzulässig sein kann.


17      EGMR, 27. Februar 2014, S. J./Belgien (CE:ECHR:2015:0319JUD007005510, §§ 118 bis 120). Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte weist in diesem Urteil darauf hin, dass sich Drittstaatsangehörige, die abgeschoben werden sollen, nach seiner Rechtsprechung grundsätzlich nicht auf ein Recht auf Verbleib in einem Vertragsstaat berufen können, um weiterhin Unterstützung und medizinische, soziale und sonstige Dienste des Abschiebestaats in Anspruch nehmen zu können. Ein Verstoß gegen Art. 3 EMRK liegt nicht schon deshalb vor, weil sich die Lage des Rechtssuchenden im Fall seiner Abschiebung aus dem Vertragsstaat erheblich verschlechtern und sich insbesondere seine Lebenserwartung wesentlich verkürzen könnte.


18      Urteil vom 18. Dezember 2014, M'Bodj (C‑542/13, EU:C:2014:2452, Rn. 44).


19      Vgl. meine Schlussanträge in der Rechtssache M'Bodj (C‑542/13, EU:C:2014:2113, Nrn. 60 bis 63).


20      Vgl. u. a. meine Schlussanträge in der Rechtssache Danqua (C‑429/15, EU:C:2016:485, Nr. 55).


21      Urteil vom 7. November 2013, X u. a. (C‑199/12 bis C‑201/12, EU:C:2013:720, Rn. 39 und 40 und die dort angeführte Rechtsprechung).


22      Urteile vom 30. Januar 2014, Diakité (C‑285/12, EU:C:2014:39, Rn. 24 bis 26), und vom 14. März 2017, A u. a. (C‑158/14, EU:C:2017:202, Rn. 91).


23      Urteil vom 30. Januar 2014, Diakité (C‑285/12, EU:C:2014:39, Rn. 24).


24      Vgl. in diesem Sinne Chanet, C., „La Convention des Nations Unies contre la torture et autres peines ou traitements cruels, inhumains ou dégradants“, Annuaire français de droit international, Bd. 30, Persée, Paris, 1984, S. 625 ff.


25      Vgl. in diesem Sinne Ponroy, E., und Jacq, C., „Étude comparative des Conventions des Nations Unies et du Conseil de l’Europe relatives à la torture et aux peines ou traitements inhumains ou dégradants“, Revue de science criminelle et de droit pénal comparé, Dalloz, Paris, 1990, S. 317.


26      Vgl. Art. 5 Abs. 2 der Antifolterkonvention, und zwar nach dem Grundsatz aut dedere aut iudicare (ausliefern oder verfolgen). Vgl. in diesem Sinne Vandermeersch, D., „La compétence universelle“, Juridictions nationales et crimes internationaux, Presses universitaires de France, Paris, 2002, S. 590 bis 594.


27      EGMR, 21. Juni 2016, Nait-Liman/Schweiz, CE:ECHR:2016:0621JUD005135707, §§ 49 ff. und 115 ff.). In diesem Urteil hat es der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte abgelehnt, festzustellen, dass Art. 6 Abs. 1 EMRK die Vertragsstaaten verpflichtet, Mechanismen zur zivilrechtlichen Wiedergutmachung von in Drittstaaten begangenen Folterhandlungen vorzusehen. Der Gerichtshof erläutert dort, dass die Annahme einer entsprechenden universalen Gerichtsbarkeit eine Klagewelle auslösen würde. Nach einer erschöpfenden Prüfung der europäischen Rechtssysteme (§ 49) gelangt der Gerichtshof zu dem Schluss, dass das Folterverbot zwar zum ius cogens gehört und universale Gerichtsbarkeit besteht, dass sich der Gerichtstand für Zivilklagen, die Folge von Folterhandlungen sind, jedoch nach dem Territorialitätsprinzip richtet. Vgl. auch EGMR, 21. November 2001, Al-Adsani/Vereinigtes Königreich (CE:ECHR:2001:1121JUD003576397, §§ 61 und 115 ff.).


28      Wobei zu berücksichtigen ist, dass diese Frage in den europäischen Rechtsordnungen und in der Lehre keineswegs einheitlich beantwortet wird, wie vom Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte in seinen Urteilen vom 21. November 2001, Al-Adsani/Vereinigtes Königreich (CE:ECHR:2001:1121JUD003576397, §§ 61 f.), und vom 21. Juni 2016, Nait-Liman/Schweiz (CE:ECHR:2016:0621JUD005135707, §§ 115 ff.), ausgeführt.


29      Für eine Definition vgl. Urteil vom 3. September 2008, Kadi und Al Barakaat International Foundation/Rat und Kommission (C‑402/05 P und C‑415/05 P, EU:C:2008:461, Rn. 87): „verstanden als internationaler Ordre public, der für alle Völkerrechtssubjekte … [gilt] und von dem nicht abgewichen werden [darf]“.


30      Vgl. Urteil des Internationalen Strafgerichtshofs für das ehemalige Jugoslawien vom 10. Dezember 1998, Anto Furundzija (IT‑95-17, § 156).