Language of document : ECLI:EU:C:2016:68

SCHLUSSANTRÄGE DES GENERALANWALTS

MACIEJ SZPUNAR

vom 2. Februar 2016(1)

Rechtssache C‑47/15

Sélina Affum, verheiratete Amissah,

gegen

Préfet du Pas-de-Calais,

Procureur général de la Cour d’appel de Douai

(Vorabentscheidungsersuchen der Cour de cassation [Kassationsgerichtshof, Frankreich])

„Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts – Richtlinie 2008/115/EG – Rückführung eines illegal aufhältigen Drittstaatsangehörigen – Illegale Einreise – Durchreise – Freiheitsstrafe – Polizeigewahrsam“





I –    Einführung

1.        Mit dieser Vorlage der Cour de cassation (Kassationsgerichtshof, Frankreich) zur Vorabentscheidung wird der Gerichtshof ein weiteres Mal ersucht, sich zu der Frage zu äußern, ob mit der Richtlinie 2008/115/EG(2) eine nationale Rechtsvorschrift vereinbar ist, nach der gegen einen Drittstaatsangehörigen allein deshalb eine Freiheitsstrafe verhängt werden kann, weil er sich aufenthaltsrechtlich in einer illegalen Lage befindet.

2.        Im Vergleich zu den Rechtssachen, in denen diese Frage bisher aufgeworfen worden war(3), weist der vorliegende Fall zwei Besonderheiten auf: Zum einen handelt es sich um eine Drittstaatsangehörige, die sich allein zum Zweck der Durchreise in das Hoheitsgebiet des betreffenden Mitgliedstaats begeben hat und festgenommen wurde, als sie es verlassen wollte. Damit entsteht die Frage, ob es sich um einen Aufenthalt im Sinne der Richtlinie 2008/115 handelt. Zum anderen beabsichtigt der fragliche Mitgliedstaat nicht, eine Rückkehrentscheidung gemäß Art. 6 Abs. 1 der Richtlinie 2008/115 zu erlassen, sondern möchte die Betroffene auf der Grundlage einer vor Inkrafttreten der Richtlinie 2008/115 geschlossenen Vereinbarung an die Behörden eines anderen Mitgliedstaats überstellen.

3.        Die vorliegende Rechtssache wird dem Gerichtshof Gelegenheit zu der Klarstellung geben, dass die Richtlinie 2008/115 für jeden Drittstaatsangehörigen, der sich aufenthaltsrechtlich in einer illegalen Lage befindet, unabhängig davon gilt, aus welchem Grund sein Aufenthalt illegal ist und wo er festgenommen wurde, und dass gegen einen Drittstaatsangehörigen eine Freiheitsstrafe nur in ganz bestimmten Fällen verhängt werden darf, von denen hier keiner vorliegt.

II – Rechtlicher Rahmen

A –    Unionsrecht

1.      Richtlinie 2008/115

4.        Der Zweck der Richtlinie 2008/115 wird in ihrem Art. 1 wie folgt umschrieben:

„Diese Richtlinie enthält gemeinsame Normen und Verfahren, die in den Mitgliedstaaten bei der Rückführung illegal aufhältiger Drittstaatsangehöriger im Einklang mit den Grundrechten als allgemeinen Grundsätzen des Gemeinschafts- und des Völkerrechts, einschließlich der Verpflichtung zum Schutz von Flüchtlingen und zur Achtung der Menschenrechte, anzuwenden sind.“

5.        Art. 2 („Anwendungsbereich“) der Richtlinie 2008/115 bestimmt:

„(1)      Diese Richtlinie findet Anwendung auf illegal im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats aufhältige Drittstaatsangehörige.

(2)      Die Mitgliedstaaten können beschließen, diese Richtlinie nicht auf Drittstaatsangehörige anzuwenden:

a)      die einem Einreiseverbot nach Artikel 13 des Schengener Grenzkodex unterliegen oder die von den zuständigen Behörden in Verbindung mit dem illegalen Überschreiten der Außengrenze eines Mitgliedstaats auf dem Land-, See- oder Luftwege aufgegriffen bzw. abgefangen werden und die nicht anschließend die Genehmigung oder das Recht erhalten haben, sich in diesem Mitgliedstaat aufzuhalten;

b)      die nach einzelstaatlichem Recht aufgrund einer strafrechtlichen Sanktion oder infolge einer strafrechtlichen Sanktion rückkehrpflichtig sind oder gegen die ein Auslieferungsverfahren anhängig ist.

…“

6.        Art. 3 („Begriffsbestimmungen“) der Richtlinie 2008/115 sieht vor:

„Im Sinne dieser Richtlinie bezeichnen die Ausdrücke

2.      ‚illegaler Aufenthalt‘: die Anwesenheit von Drittstaatsangehörigen, die nicht oder nicht mehr die Einreisevoraussetzungen nach Artikel 5 des Schengener Grenzkodex oder andere Voraussetzungen für die Einreise in einen Mitgliedstaat oder den dortigen Aufenthalt erfüllen, im Hoheitsgebiet dieses Mitgliedstaats;

3.      ‚Rückkehr‘: die Rückreise von Drittstaatsangehörigen – in freiwilliger Erfüllung einer Rückkehrverpflichtung oder erzwungener Rückführung – in

–        deren Herkunftsland oder

–        ein Transitland gemäß gemeinschaftlichen oder bilateralen Rückübernahmeabkommen oder anderen Vereinbarungen oder

–        ein anderes Drittland, in das der betreffende Drittstaatsangehörige freiwillig zurückkehren will und in dem er aufgenommen wird;

4.      ‚Rückkehrentscheidung‘: die behördliche oder richterliche Entscheidung oder Maßnahme, mit der der illegale Aufenthalt von Drittstaatsangehörigen festgestellt und eine Rückkehrverpflichtung auferlegt oder festgestellt wird;

5.      ‚Abschiebung‘: die Vollstreckung der Rückkehrverpflichtung, d. h. die tatsächliche Verbringung aus dem Mitgliedsstaat;

…“

7.        In Art. 4 („Günstigere Bestimmungen“) der Richtlinie 2008/115 heißt es:

„(1)      Von dieser Richtlinie unberührt bleiben günstigere Bestimmungen von

a)      bilateralen oder multilateralen Vereinbarungen zwischen der Gemeinschaft oder der Gemeinschaft und ihren Mitgliedstaaten und einem Drittland oder mehreren Drittländern;

b)      bilateralen oder multilateralen Vereinbarungen zwischen einem oder mehreren Mitgliedstaaten und einem oder mehreren Drittstaaten.

(4)      In Bezug auf die nach Artikel 2 Absatz 2 Buchstabe a vom Anwendungsbereich dieser Richtlinie ausgenommenen Drittstaatsangehörigen verfahren die Mitgliedstaaten wie folgt; sie:

a)      stellen sicher, dass diese nicht eine weniger günstige Behandlung erfahren oder ihnen nicht ein geringeres Maß an Schutz gewährt wird, als dies in Artikel 8 Absätze 4 und 5 (Beschränkung der Anwendung von Zwangsmaßnahmen), Artikel 9 Absatz 2 Buchstabe a (Aufschub der Abschiebung), Artikel 14 Absatz 1 Buchstaben b und d (medizinische Notversorgung und Berücksichtigung der Bedürfnisse schutzbedürftiger Personen) und Artikel 16 und 17 (Haftbedingungen) vorgesehen ist, und

b)      halten den Grundsatz der Nichtzurückweisung ein.“

8.        Die Art. 6 bis 8 der Richtlinie 2008/115 sehen vor:

„Artikel 6


Rückkehrentscheidung


(1)      Unbeschadet der Ausnahmen nach den Absätzen 2 bis 5 erlassen die Mitgliedstaaten gegen alle illegal in ihrem Hoheitsgebiet aufhältigen Drittstaatsangehörigen eine Rückkehrentscheidung.

(3)      Die Mitgliedstaaten können davon absehen, eine Rückkehrentscheidung gegen illegal in ihrem Gebiet aufhältige Drittstaatsangehörige zu erlassen, wenn diese Personen von einem anderen Mitgliedstaat aufgrund von zum Zeitpunkt des Inkrafttretens dieser Richtlinie geltenden bilateralen Abkommen oder Vereinbarungen wieder aufgenommen wird. In einem solchen Fall wendet der Mitgliedstaat, der die betreffenden Drittstaatsangehörigen wieder aufgenommen hat, Absatz 1 an.

Artikel 7


Freiwillige Ausreise


(1)      Eine Rückkehrentscheidung sieht unbeschadet der Ausnahmen nach den Absätzen 2 und 4 eine angemessene Frist zwischen sieben und 30 Tagen für die freiwillige Ausreise vor. …

Artikel 8


Abschiebung


(1)      Die Mitgliedstaaten ergreifen alle erforderlichen Maßnahmen zur Vollstreckung der Rückkehrentscheidung, wenn nach Artikel 7 Absatz 4 keine Frist für die freiwillige Ausreise eingeräumt wurde oder wenn die betreffende Person ihrer Rückkehrverpflichtung nicht innerhalb der nach Artikel 7 eingeräumten Frist für die freiwillige Ausreise nachgekommen ist.

…“

9.        Art. 15 („Inhaftnahme“) der Richtlinie 2008/115 bestimmt:

„(1)      Sofern in dem konkreten Fall keine anderen ausreichenden, jedoch weniger intensiven Zwangsmaßnahmen wirksam angewandt werden können, dürfen die Mitgliedstaaten Drittstaatsangehörige, gegen die ein Rückkehrverfahren anhängig ist, nur in Haft nehmen, um deren Rückkehr vorzubereiten und/oder die Abschiebung durchzuführen, und zwar insbesondere dann, wenn

a)      Fluchtgefahr besteht oder

b)      die betreffenden Drittstaatsangehörigen die Vorbereitung der Rückkehr oder das Abschiebungsverfahren umgehen oder behindern.

Die Haftdauer hat so kurz wie möglich zu sein und sich nur auf die Dauer der laufenden Abschiebungsvorkehrungen [zu] erstrecken, solange diese mit der gebotenen Sorgfalt durchgeführt werden.

…“

2.            Das SDÜ und der Schengener Grenzkodex

10.      Das am 19. Juni 1990 in Schengen unterzeichnete Übereinkommen zur Durchführung des Übereinkommens von Schengen vom 14. Juni 1985 zwischen den Regierungen der Staaten der Benelux-Wirtschaftsunion, der Bundesrepublik Deutschland und der Französischen Republik betreffend den schrittweisen Abbau der Kontrollen an den gemeinsamen Grenzen (ABl. 2000, L 239, S. 19, im Folgenden: SDÜ) ist Teil des Schengen-Besitzstands.

11.      Das Kapitel 4 („Voraussetzungen für den Reiseverkehr von Drittausländern“) des Titels II des SDÜ regelt in seinen Art. 19 Abs. 1 und 2, 20 Abs. 1 und 21 Abs. 1 und 2 die Voraussetzungen, unter denen sich Drittausländer, die Inhaber eines einheitlichen Sichtvermerks oder eines von einer der Vertragsparteien erteilten Sichtvermerks sind, nicht der Visumspflicht unterliegende Ausländer sowie Ausländer, denen ein Aufenthaltstitel oder vorläufiger Aufenthaltstitel von einer Vertragspartei ausgestellt wurde, frei in dem Hoheitsgebiet aller Vertragsparteien bewegen können. Diese Bestimmungen beziehen sich u. a. auf bestimmte in Art. 5 Abs. 1 SDÜ festgelegte Einreisevoraussetzungen.

12.      Durch die Verordnung (EG) Nr. 562/2006(4) wurde der Schengen-Besitzstand konsolidiert und weiterentwickelt.

13.      Laut dem 27. Erwägungsgrund des Schengener Grenzkodex stellt dieser „eine Weiterentwicklung von Bestimmungen des Schengen-Besitzstands dar, an denen sich das Vereinigte Königreich [Großbritannien und Nordirland] … nicht beteiligt. Das Vereinigte Königreich beteiligt sich daher nicht an der Annahme dieser Verordnung, die für das Vereinigte Königreich nicht bindend oder anwendbar ist.“

14.      In seinem Art. 1 sieht der Schengener Grenzkodex vor, „dass keine Grenzkontrollen in Bezug auf Personen stattfinden, die die Binnengrenzen zwischen den Mitgliedstaaten der Europäischen Union überschreiten“ und „legt Regeln für die Grenzkontrollen in Bezug auf Personen fest, die die Außengrenzen der Mitgliedstaaten der Europäischen Union überschreiten“.

15.      Art. 2 Nrn. 1 und 2 des Schengener Grenzkodex enthält folgende Definitionen:

„1.      ‚Binnengrenzen‘

a)      die gemeinsamen Landgrenzen der Mitgliedstaaten, einschließlich der Fluss‑ und Binnenseegrenzen,

b)      die Flughäfen der Mitgliedstaaten für Binnenflüge,

c)      die See‑, Flussschifffahrts‑ und Binnenseehäfen der Mitgliedstaaten für regelmäßige Fährverbindungen;

2.      ‚Außengrenzen‘ die Landgrenzen der Mitgliedstaaten, einschließlich der Fluss- und Binnenseegrenzen, der Seegrenzen und der Flughäfen sowie der Flussschifffahrts‑, See‑ und Binnenseehäfen, soweit sie nicht Binnengrenzen sind“.

16.      Das Kapitel I („Überschreitung der Außengrenzen und Einreisevoraussetzungen“) des Titels II des Schengener Grenzkodex bestimmt in seinen Art. 4 und 5:

„Artikel 4


Überschreiten der Außengrenzen


(1)      Die Außengrenzen dürfen nur an den Grenzübergangsstellen und während der festgesetzten Verkehrsstunden überschritten werden. Die Verkehrsstunden sind an den Grenzübergangsstellen, die nicht rund um die Uhr geöffnet sind, deutlich anzugeben.

(3)      Unbeschadet der Ausnahmen des Absatzes 2 und der internationalen Schutzverpflichtungen der Mitgliedstaaten sehen die Mitgliedstaaten nach nationalem Recht Sanktionen für das unbefugte Überschreiten der Außengrenzen außerhalb der Grenzübergangsstellen oder der festgesetzten Verkehrsstunden vor. Diese Sanktionen müssen wirksam, verhältnismäßig und abschreckend sein.

Artikel 5


Einreisevoraussetzungen für Drittstaatsangehörige


(1)      Für einen Aufenthalt von bis zu drei Monaten je Sechsmonatszeitraum gelten für einen Drittstaatsangehörigen folgende Einreisevoraussetzungen:

a)      Er muss im Besitz eines oder mehrerer gültiger Reisedokumente sein, die ihn zum Überschreiten der Grenze berechtigen.

b)      Er muss im Besitz eines gültigen Visums sein, falls dies … vorgeschrieben ist, außer wenn er Inhaber eines gültigen Aufenthaltstitels ist.

c)      Er muss den Zweck und die Umstände des beabsichtigten Aufenthalts belegen, und er muss über ausreichende Mittel zur Bestreitung des Lebensunterhalts sowohl für die Dauer des beabsichtigten Aufenthalts als auch für die Rückreise in den Herkunftsstaat oder für die Durchreise in einen Drittstaat, in dem seine Zulassung gewährleistet ist, verfügen oder in der Lage sein, diese Mittel rechtmäßig zu erwerben.

d)      Er darf nicht im [Schengener Informationssystem (SIS)] zur Einreiseverweigerung ausgeschrieben sein.

e)      Er darf keine Gefahr für die öffentliche Ordnung, die innere Sicherheit, die öffentliche Gesundheit oder die internationalen Beziehungen eines Mitgliedstaates darstellen …

(4)      Abweichend von Absatz 1 gilt Folgendes:

a)      Drittstaatsangehörigen, die nicht alle Voraussetzungen des Absatzes 1 erfüllen, aber Inhaber eines Aufenthaltstitels oder eines Visums für einen längerfristigen Aufenthalt sind, wird die Einreise in das Hoheitsgebiet der anderen Mitgliedstaaten zum Zwecke der Durchreise zur Erreichung des Hoheitsgebiets des Mitgliedstaats gestattet, der den Aufenthaltstitel oder das Visum für einen längerfristigen Aufenthalt ausgestellt hat …

c)      Ein Mitgliedstaat kann Drittstaatsangehörigen, die eine oder mehrere Voraussetzungen des Absatzes 1 nicht erfüllen, die Einreise in sein Hoheitsgebiet aus humanitären Gründen oder Gründen des nationalen Interesses oder aufgrund internationaler Verpflichtungen gestatten. …“

17.      Das Kapitel II („Grenzkontrollen an den Außengrenzen und Einreiseverweigerung“) des Titels II des Schengener Grenzkodex bestimmt in seinem Art. 7, der die Grenzübertrittskontrollen von Personen betrifft:

„Artikel 7


Grenzübertrittskontrollen von Personen


(1)      Der grenzüberschreitende Verkehr an den Außengrenzen unterliegt den Kontrollen durch die Grenzschutzbeamten. Die Kontrollen erfolgen nach Maßgabe dieses Kapitels.

(3)      Drittstaatsangehörige werden bei der Ein‑ und Ausreise eingehend kontrolliert.

a)      Die eingehende Kontrolle bei der Einreise umfasst die Überprüfung der in Artikel 5 Absatz 1 festgelegten Einreisevoraussetzungen sowie gegebenenfalls der für den Aufenthalt und die Ausübung einer Erwerbstätigkeit erforderlichen Erlaubnisse. Hierzu gehört eine umfassende Prüfung von Folgendem:

b)      Die eingehende Kontrolle bei der Ausreise umfasst:

i)      Überprüfung, ob der Drittstaatsangehörige über ein für den Grenzübertritt gültiges Dokument verfügt;

ii)      Überprüfung, ob das Reisedokument Fälschungs- oder Verfälschungsmerkmale aufweist;

iii)      soweit möglich Überprüfung, ob der Drittstaatsangehörige nicht als eine Gefahr für die öffentliche Ordnung, die innere Sicherheit oder die internationalen Beziehungen eines der Mitgliedstaaten angesehen wird.

c)      Zusätzlich zu der in Buchstabe b genannten Kontrolle kann die eingehende Kontrolle bei der Ausreise auch folgende Gesichtspunkte umfassen:

i)      Überprüfung, ob die Person im Besitz eines gültigen Visums ist, falls dies … vorgeschrieben ist, außer wenn sie Inhaber eines gültigen Aufenthaltstitels ist;

ii)      Überprüfung, ob die Person nicht die zulässige Höchstdauer des Aufenthalts im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten überschritten hat;

iii)      Abruf der Personen- und Sachausschreibungen im SIS und in den nationalen Datenbeständen.

…“

18.      Nach Art. 20 in Kapitel I („Abschaffung der Grenzkontrollen an den Binnengrenzen“) des Titels III des Schengener Grenzkodex dürfen „[d]ie Binnengrenzen … unabhängig von der Staatsangehörigkeit der betreffenden Personen an jeder Stelle ohne Personenkontrollen überschritten werden“.

19.      Gemäß Art. 39 Abs. 1 in Titel IV („Schlussbestimmungen“) des Schengener Grenzkodex wurden die Art. 2 bis 8 SDÜ mit Wirkung vom 13. Oktober 2006 aufgehoben. Damit wurden insbesondere die zuvor in Art. 5 Abs. 1 SDÜ geregelten Einreisevoraussetzungen durch die in Art. 5 des Schengener Grenzkodex festgelegten Einreisevoraussetzungen ersetzt.

B –    Französisches Recht

1.      Das Gesetz über die Einreise und den Aufenthalt von Ausländern und über das Asylrecht

20.      Art. L. 621‑2 des Gesetzes über die Einreise und den Aufenthalt von Ausländern und über das Asylrecht (Code de l’entrée et du séjour des étrangers et du droit d’asile) in der durch das Gesetz Nr. 2012‑1560 vom 31. Dezember 2012 über den Gewahrsam zur Überprüfung des Aufenthaltsrechts und zur Änderung der Strafvorschriften über die Beihilfe zum illegalen Aufenthalt, um davon humanitäre und uneigennützige Handlungen auszuschließen, geänderten Fassung (JORF vom 1. Januar 2013, S. 48, im Folgenden: CESEDA) sieht vor:

„Ein Ausländer, der nicht Staatsangehöriger eines Mitgliedstaats der Europäischen Union ist, wird mit Freiheitsstrafe von einem Jahr und mit einer Geldstrafe von 3 750 Euro bestraft, wenn er

1.      in das französische Hoheitsgebiet eingereist ist, ohne die Voraussetzungen gemäß Art. 5 Abs. 1 Buchst. a, b oder c des [Schengener Grenzkodex] zu erfüllen und ohne dass ihm die Einreise gemäß Art. 5 Abs. 4 Buchst. a und c des [Schengener Grenzkodex] gestattet worden ist; das Gleiche gilt, wenn der Ausländer durch eine vollziehbare Entscheidung eines anderen Vertragsstaats des [SDÜ] zur Einreiseverweigerung ausgeschrieben worden ist;

2.      oder wenn er unmittelbar aus dem Hoheitsgebiet eines Vertragsstaats [des SDÜ] in das französische Hoheitsgebiet eingereist ist, ohne die Regelungen von dessen Art. 19 Abs. 1 oder 2, 20 Abs. 1 und 21 Abs. 1 oder 2 – mit Ausnahme der in Art. 5 Abs. 1 Buchst. e des [Schengener Grenzkodex] und, wenn sich die Ausschreibung zur Einreiseverweigerung nicht aus einer von einem anderen Vertragsstaat des [SDÜ] getroffenen vollziehbaren Entscheidung ergibt, in Buchst. d dieser Bestimmung genannten Voraussetzungen – zu beachten;

Gemäß diesem Artikel darf die öffentliche Klage nur erhoben werden, wenn die Tatsachen unter den in Art. 53 Strafprozessordnung [Code de procédure pénale] genannten Umständen festgestellt wurden.“

2.      Strafprozessordnung

21.      Art. 53 Strafprozessordnung (Code de procédure pénale) in der im Ausgangsverfahren anzuwendenden Fassung bestimmt:

„Als auf frischer Tat begangen gilt ein Verbrechen oder Vergehen, das gerade verübt wird oder verübt worden ist. Als auf frischer Tat begangen gilt auch ein Verbrechen oder Vergehen, wenn dem Verdächtigen in unmittelbarem zeitlichen Zusammenhang zur Tathandlung in der Öffentlichkeit nachgesetzt wird oder er im Besitz von Gegenständen oder mit Spuren oder unter Anhaltspunkten angetroffen wird, die auf seine Beteiligung an dem Verbrechen oder Vergehen schließen lassen.

Wird ein Verbrechen oder Vergehen auf frischer Tat festgestellt, dürfen die Ermittlungen unter Leitung des Staatsanwalts unter den in diesem Kapitel festgelegten Voraussetzungen ununterbrochen acht Tage lang fortgesetzt werden.

…“

22.      Art. 62‑2 Strafprozessordnung bestimmt:

„Der Polizeigewahrsam ist eine Zwangsmaßnahme, die von einem Beamten der Kriminalpolizei unter richterlicher Aufsicht angeordnet wird und mit der eine Person, gegen die ein oder mehrere Verdachtsgründe für die Begehung oder den Versuch der Begehung eines Verbrechens oder eines mit einer Freiheitsstrafe bedrohten Vergehens vorliegen, zur Verfügung der Ermittlungspersonen gehalten wird.

…“

III – Sachverhalt, Verfahren vor dem Gerichtshof und Vorlagefragen

23.      Am 22. März 2013 wurde Frau Affum, die die ghanaische Staatsangehörigkeit besitzt, an Bord eines aus Gent (Belgien) kommenden Reisebusses mit dem Reiseziel London von französischen Polizeibeamten in Coquelles (Frankreich), wo sich die Einfahrt zum Kanaltunnel befindet, einer Kontrolle unterzogen.

24.      Nachdem sie einen belgischen Reisepass mit dem Foto und dem Namen einer anderen Person vorgezeigt hatte, wurde sie, da sie keinen anderen Ausweis oder Reiseunterlagen mit ihrem Namen mit sich führte, wegen des Verdachts der illegalen Einreise in das französische Hoheitsgebiet gemäß Art. L. 621‑2 Nr. 2 CESEDA in Polizeigewahrsam genommen.

25.      Am folgenden Tag wurde das gegen Frau Affum eingeleitete Strafverfahren vom Staatsanwalt beim Tribunal de grande instance de Boulogne-sur-Mer eingestellt. Damit endete der gegen sie angeordnete Polizeigewahrsam am selben Tag.

26.      Gleichzeitig mit dem Strafverfahren wurde jedoch vom Präfekten von Pas-de-Calais ein Verwaltungsverfahren eingeleitet, um über die etwaige Abschiebung von Frau Affum aus Frankreich zu entscheiden.

27.      Mit Bescheid vom 23. März 2013 ordnete der Präfekt die Rücküberstellung von Frau Affum an die belgischen Behörden an. Die Grundlage hierfür war eine am 16. April 1964 in Paris unterzeichnete Vereinbarung zwischen den Regierungen des Königreichs Belgien, des Großherzogtums Luxemburg und des Königreichs der Niederlande einerseits und der Regierung der Französischen Republik andererseits über die Zuständigkeit für Personen an den gemeinsamen Grenzen zwischen Frankreich und dem Hoheitsgebiet der Benelux-Staaten.

28.      Im gleichen Bescheid ordnete der Präfekt von Pas-de-Calais an, Frau Affum für die Dauer von fünf Tagen nach Beendigung des Polizeigewahrsams in eine nicht den Strafvollzugsbehörden unterstehende Verwaltungshaft zum Zweck ihrer Abschiebung zu nehmen. Gemäß diesem Bescheid wurde Frau Affum am 23. März 2013 für die Dauer von fünf Tagen in Verwaltungshaft genommen, um sie an die belgischen Behörden überstellen zu können.

29.      Am 27. März 2013 beantragte der Präfekt von Pas-de-Calais beim Haftrichter des Tribunal de grande instance de Lille (Regionalgericht Lille, Frankreich) die Verlängerung der Verwaltungshaft, um die Antwort der belgischen Behörden auf sein Rücküberstellungsgesuch abzuwarten.

30.      Hiergegen machte Frau Affum – unter Berufung insbesondere auf das Urteil Achughbabian(5) – geltend, der Antrag des Präfekten sei zurückzuweisen, weil sie rechtswidrig in Polizeigewahrsam genommen worden sei, womit nach dem innerstaatlichen Recht das gesamte Verfahren rechtswidrig und aus diesem Grund die Verlängerung der Verwaltungshaft abzulehnen und sie freizulassen sei.

31.      Mit Beschluss vom 28. März 2013 stellte der Haftrichter des Tribunal de grande instance de Lille (Regionalgericht Lille) jedoch fest, dass Frau Affum rechtmäßig in Polizeigewahrsam genommen worden sei und damit ihre Verwaltungshaft an ein rechtmäßiges Verfahren angeschlossen habe. Er gab daher dem Antrag des Präfekten von Pas-de-Calais statt und ordnete die Verlängerung der Verwaltungshaft für Frau Affum bis zu 20 Tagen ab dem Tag des Beschlusses an.

32.      Auf Berufung von Frau Affum hin bestätigte der Präsident der Cour d’appel de Douai (Berufungsgericht Douai, Frankreich) mit Beschluss vom 29. März 2013 den Beschluss des Haftrichters des Tribunal de grande instance de Lille (Regionalgericht Lille).

33.      Auf die Kassationsbeschwerde von Frau Affum gegen den letztgenannten Beschluss hin hat die Cour de cassation (Kassationsgerichtshof) entschieden, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen:

1.      Ist Art. 3 Nr. 2 der Richtlinie 2008/115/EG dahin auszulegen, dass ein Drittstaatsangehöriger illegal im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats aufhältig ist und daher gemäß Art. 2 Abs. 1 in den Anwendungsbereich dieser Richtlinie fällt, wenn sich dieser Ausländer als Fahrgast eines im Hoheitsgebiet dieses Mitgliedstaats fahrenden Busses auf der Fahrt von einem anderen zum Schengen-Raum gehörenden Mitgliedstaat in Richtung eines weiteren Mitgliedstaats nur auf der Durchreise befindet?

2.      Ist Art. 6 Abs. 3 dieser Richtlinie dahin auszulegen, dass die Richtlinie einer nationalen Regelung nicht entgegensteht, nach der die illegale Einreise eines Drittstaatsangehörigen mit einer Haftstrafe geahndet wird, wenn der betroffene Ausländer in Anwendung eines Abkommens oder einer Vereinbarung, das oder die mit einem anderen Mitgliedstaat vor dem Inkrafttreten der Richtlinie geschlossen wurde, von diesem anderen Mitgliedstaat wieder aufgenommen werden kann?

3.      In Abhängigkeit von der Antwort, die auf die vorstehende Frage gegeben wird: Ist diese Richtlinie dahin auszulegen, dass sie einer nationalen Regelung entgegensteht, nach der die illegale Einreise eines Drittstaatsangehörigen mit einer Haftstrafe geahndet wird, und zwar unter Voraussetzungen, die denen entsprechen, die vom Gerichtshof der Europäischen Union im Urteil Achughbabian (C‑329/11, EU:C:2011:807) im Bereich des illegalen Aufenthalts in Bezug auf das Fehlen einer vorherigen Verhängung von Zwangsmaßnahmen im Sinne von Art. 8 der Richtlinie gegenüber dem Betroffenen und die Dauer seiner Haft genannt worden sind?

34.      Im vorliegenden Verfahren haben Frau Affum sowie die französische, die tschechische, die griechische, die ungarische und die Schweizer Regierung sowie die Europäische Kommission Erklärungen abgegeben. In der mündlichen Verhandlung vom 10. November 2015 sind Frau Affum sowie die französische und die griechische Regierung und die Kommission angehört worden.

IV – Würdigung

35.      Mit seinen drei Fragen, die zusammen behandelt werden sollten, möchte das vorlegende Gericht wissen, ob die Richtlinie 2008/115 der Regelung eines Mitgliedstaats entgegensteht, die die illegale Einreise einer Drittstaatsangehörigen mit Freiheitsstrafe ahndet, wenn die aus einem anderen Mitgliedstaat kommende Betroffene auf der Durchreise an einer Außengrenze des erstgenannten Mitgliedstaats beim Verlassen des Schengen-Raums(6) aufgegriffen wird und aufgrund einer mit dem anderen Mitgliedstaat vor Inkrafttreten der Richtlinie 2008/115 geschlossenen Vereinbarung von diesem anderen Mitgliedstaat wieder aufgenommen werden kann.

36.      Um die gestellten Fragen sachgerecht zu beantworten, ist zunächst kurz das Regelungssystem darzustellen, das durch die Richtlinie 2008/115 und den Schengener Grenzkodex geschaffen wurde, und dabei zu klären, wo die Grenzlinie zwischen diesen beiden Rechtsakten verläuft. Sodann sollte kurz die Rechtsprechung des Gerichtshofs zum Freiheitsentzug in anderen als den von der Richtlinie 2008/115 vorgesehenen Fällen betrachtet werden, um schließlich die hier fragliche nationale Regelung näher zu prüfen.

A –    Richtlinie 2008/115 und ihr Anwendungsbereich

37.      Die Richtlinie 2008/115 soll gemäß ihrem Art. 1 die gemeinsamen Normen und Verfahren festlegen, die in den Mitgliedstaaten bei der Rückführung illegal aufhältiger Drittstaatsangehöriger im Einklang mit den Grundrechten und dem Völkerrecht anzuwenden sind. Laut ihrem vierten Erwägungsgrund soll die Richtlinie klare, transparente und faire Regeln für eine wirksame Rückkehrpolitik als notwendigen Bestandteil einer gut geregelten Migrationspolitik schaffen. Die Richtlinie 2008/115 wurde auf der Grundlage des früheren Art. 63 Abs. 1 Nr. 3 Buchst. b EG(7) im Mitentscheidungsverfahren gemäß Art. 251 EG(8) erlassen. Es handelt sich um den ersten Rechtsakt im Bereich der Einwanderung, der in diesem Verfahren erlassen wurde(9).

38.      Der in ihrem Art. 2 festgelegte persönliche Anwendungsbereich der Richtlinie 2008/115 ist sehr weit. Nach Abs. 1 dieses Artikels gilt die Richtlinie für Drittstaatsangehörige, die sich illegal im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats aufhalten. Ein illegaler Aufenthalt liegt vor, wenn sich im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats ein Drittstaatsangehöriger aufhält, der nicht oder nicht mehr die Einreisevoraussetzungen nach Art. 5 des Schengener Grenzkodex oder andere Voraussetzungen für die Einreise in einen Mitgliedstaat oder den dortigen Aufenthalt erfüllt(10).

39.      Da Art. 2 Abs. 1 der Richtlinie 2008/115 nur vom illegalen Aufenthalt spricht, trifft er keine Unterscheidung zwischen der illegalen Einreise und dem illegalen Aufenthalt.

40.      Nach Art. 2 Abs. 2 der Richtlinie 2008/115 haben die Mitgliedstaaten die Möglichkeit, die Richtlinie in bestimmten, klar umgrenzten Fällen nicht anzuwenden. So kann ein Mitgliedstaat nach Buchst. a dieser Bestimmung von der Anwendung der Richtlinie 2008/115 auf Drittstaatsangehörige absehen, die einem Einreiseverbot nach Art. 13 des Schengener Grenzkodex unterliegen oder die von den zuständigen Behörden in Verbindung mit dem illegalen Überschreiten der Außengrenze eines Mitgliedstaats aufgegriffen oder abgefangen werden und die nicht anschließend die Genehmigung oder das Recht erhalten haben, sich in diesem Mitgliedstaat aufzuhalten.

41.      Nach dem Wortlaut der gerade angeführten Bestimmung muss ein Aufgreifen in Verbindung mit dem illegalen Überschreiten der Außengrenze stattfinden, was meines Erachtens einen engen zeitlichen und räumlichen Zusammenhang zu dem Grenzübertritt voraussetzt.

42.      Die Richtlinie 2008/115 enthält selbst keine Definition der Begriffe „Binnengrenze“ oder „Außengrenze“. Da die Richtlinie indessen mehrfach auf den Schengener Grenzkodex Bezug nimmt, scheint mir auf der Hand zu liegen, dass die dort gegebene Definition anwendbar ist. Wie sich Art. 2 Nrn. 1 Buchst. a und 2 des Schengener Grenzkodex entnehmen lässt, sind „Binnengrenzen“ die gemeinsamen Landgrenzen(11) der Mitgliedstaaten und „Außengrenzen“ die Landgrenzen(12) und Seegrenzen(13) der Mitgliedstaaten, soweit sie nicht Binnengrenzen sind. Selbstverständlich fallen unter den Begriff „Mitgliedstaaten“ nur diejenigen Mitgliedstaaten der Union, die am Schengen-Besitzstand beteiligt sind, und die daran beteiligten Drittstaaten(14).

43.      Die Richtlinie 2008/115 gilt nur für diejenigen Mitgliedstaaten der Union, die zum Schengen-Raum gehören. Nach ihrem Art. 21 ersetzt die Richtlinie 2008/115 die Art. 23 und 24 SDÜ. Hinsichtlich des Vereinigten Königreichs stellt der 26. Erwägungsgrund der Richtlinie 2008/115 klar, dass es sich „nicht an der Annahme dieser Richtlinie [beteiligt], die daher für das Vereinigte Königreich in allen ihren Teilen nicht bindend oder anwendbar ist“.

B –    Schengener Grenzkodex

44.      Der Schengener Grenzkodex enthält eine Regelung für das Überschreiten der Grenzen durch Personen.

45.      Die Voraussetzungen für das Überschreiten der Außengrenzen und die Kontrollen, um ihre Einhaltung zu überprüfen, sind in Titel II des Schengener Grenzkodex geregelt(15). Diese Kontrollen bestehen zum einen aus den Überprüfungen an den von den Mitgliedstaaten bezeichneten Grenzübergangsstellen und zum anderen in der Grenzüberwachung zwischen diesen Übergangsstellen.

46.      Dagegen ist die Richtlinie 2008/115 anwendbar, sobald eine Person illegal den Schengen-Raum betreten hat und dort nicht zum Aufenthalt berechtigt ist.

47.      Der Schengener Grenzkodex stellt jetzt(16) ausdrücklich den Zusammenhang zwischen dem Kodex und der Richtlinie 2008/115 her. Denn nach Art. 12 Abs. 1 Satz 2 des Kodex sind Personen, die eine Grenze unerlaubt überschritten haben und die über kein Aufenthaltsrecht im Hoheitsgebiet des betreffenden Mitgliedstaats verfügen, aufzugreifen und Verfahren zu unterziehen, die mit der Richtlinie 2008/115 in Einklang stehen.

C –    Der Freiheitsentzug im Hinblick auf die Richtlinie 2008/115

48.      Nach dem Kapitel IV („Inhaftnahme für die Zwecke der Abschiebung“) der Richtlinie 2008/115 darf die Inhaftnahme nur als letztes Mittel, wenn sie strikt erforderlich ist, und bis zur Abschiebung angewandt werden(17). Diesen Bestimmungen liegt der Gedanke zugrunde, dass nur die Durchführung der Rückkehr‑ und Abschiebungsverfahren einen Freiheitsentzug rechtfertigt und dass, wenn diese Verfahren nicht mit der erforderlichen Sorgfalt betrieben werden, die Haft nicht länger nach dieser Bestimmung gerechtfertigt ist(18). Die Inhaftnahme für die Zwecke der Abschiebung hat keinen Strafcharakter und ist keine Strafhaft(19). Ferner ist Art. 15 Abs. 1 der Richtlinie 2008/115 eng auszulegen, da es sich bei der Haft um einen Freiheitsentzug und damit um eine Einschränkung des Grundrechts der Freiheit der Person handelt(20).

49.      Was die Inhaftnahme oder Strafhaft in anderen als den in der Richtlinie 2008/115 vorgesehenen Fällen angeht, so wird in keiner Bestimmung der Richtlinie auf die Möglichkeit eines Mitgliedstaats Bezug genommen, den Freiheitsentzug als eine strafrechtliche Sanktion in Zusammenhang mit einem illegalen Aufenthalt anzuwenden. Der Grund dafür liegt meines Erachtens auf der Hand, denn es besteht kein Raum für eine solche Sanktion, wenn das Ziel der Richtlinie 2008/115 in der raschen Rückkehr illegal aufhältiger Drittstaatsangehöriger besteht. Jede Maßnahme der Verwaltungs- oder Strafhaft, die nicht im Rahmen eines Rückkehrverfahrens ergeht, verzögert dieses letztlich.

50.      Im Fall des Urteils El Dridi(21) hatte der Gerichtshof zu beurteilen, ob die Richtlinie 2008/115 einer Regelung eines Mitgliedstaats wie der dort in Frage stehenden italienischen Regelung entgegenstand, die vorsah, dass gegen einen illegal aufhältigen Drittstaatsangehörigen allein deshalb eine Haftstrafe verhängt werden konnte, weil er entgegen einer Anordnung, das Hoheitsgebiet des betreffenden Mitgliedstaats innerhalb einer bestimmten Frist zu verlassen, ohne berechtigten Grund in dessen Hoheitsgebiet geblieben war. Der Gerichtshof stellte fest, dass die Richtlinie 2008/115, insbesondere ihre Art. 15 und 16, einer solchen Regelung tatsächlich entgegenstanden(22).

51.      In der Rechtssache, in der das Urteil Achughbabian(23) erging, hatte der Gerichtshof ein weiteres Mal darüber zu befinden, ob die Richtlinie 2008/115 einer nationalen Regelung wie der im dortigen Ausgangsverfahren fraglichen französischen Regelung(24) entgegenstand, die die Verhängung einer Freiheitsstrafe gegen einen Drittstaatsangehörigen allein wegen seiner illegalen Einreise in das französische Hoheitsgebiet oder seines illegalen Aufenthalts dort vorsah. Der Gerichtshof stellte erneut fest, dass die Richtlinie 2008/115 „der Regelung eines Mitgliedstaats, die den illegalen Aufenthalt mit strafrechtlichen Sanktionen ahndet, entgegensteht, soweit diese Regelung die Inhaftierung eines Drittstaatsangehörigen zur Strafvollstreckung zulässt, der sich zwar illegal im Hoheitsgebiet dieses Mitgliedstaats aufhält und nicht bereit ist, dieses Hoheitsgebiet freiwillig zu verlassen, gegen den aber keine Zwangsmaßnahmen im Sinne von Art. 8 dieser Richtlinie verhängt wurden und dessen Haft im Fall einer Inhaftnahme zur Vorbereitung und Durchführung seiner Abschiebung noch nicht die höchstzulässige Dauer erreicht hat“(25). In dem Ausgangsverfahren fiel die Lage von Herrn Achughbabian unter diese Fallkonstellation.

52.      Nach den Erwägungen, die der Gerichtshof in beiden Rechtssachen anstellte, drohte die Strafhaft die Erreichung des mit der Richtlinie 2008/115 verfolgten Zieles zu vereiteln und erschien geeignet, die Durchführung der in Art. 8 Abs. 1 der Richtlinie vorgesehenen Maßnahmen scheitern zu lassen und die Vollziehung der Rückkehrentscheidung zu verzögern(26).

53.      Gleichwohl fügte der Gerichtshof im Urteil Achughbabian(27) hinzu, dass die Richtlinie 2008/115 nicht einer Regelung eines Mitgliedstaats, die den illegalen Aufenthalt mit strafrechtlichen Sanktionen ahndet, entgegenstand, „soweit diese die Inhaftierung eines Drittstaatsangehörigen zur Strafvollstreckung zulässt, auf den das mit dieser Richtlinie geschaffene Rückkehrverfahren angewandt wurde und der sich ohne einen Rechtfertigungsgrund für seine Nichtrückkehr illegal in dem genannten Hoheitsgebiet aufhält“(28).

54.      Anschließend befand der Gerichtshof im Urteil Sagor(29), dass die Verhängung und Vollstreckung einer Hausarreststrafe während des Rückkehrverfahrens „die Maßnahmen, die, wie die Begleitung an die Grenze oder die Zwangsrückkehr auf dem Luftweg, der Umsetzung der Abschiebung dienen, verzögern und damit behindern“ kann. Dagegen stellte der Gerichtshof im Urteil Sagor in Bezug auf ein zu einer Geldstrafe führendes Strafverfahren fest, dass eine solche Geldstrafe nicht geeignet ist, das Rückkehrverfahren nach der Richtlinie 2008/115 zu behindern(30). Er fügte hinzu: „Die Verhängung einer Geldstrafe steht in keiner Weise dem Erlass und der Durchführung einer Rückkehrentscheidung unter voller Beachtung der in den Art. 6 bis 8 der Richtlinie 2008/115 genannten Voraussetzungen entgegen und beeinträchtigt auch nicht die in den Art. 15 und 16 dieser Richtlinie aufgeführten gemeinsamen Normen im Bereich des Freiheitsentzugs.“(31)

55.      Zuletzt wurde in der Rechtssache Celaj(32), in der die Italienische Republik eine Strafe gegen einen illegal aufhältigen Drittstaatsangehörigen verhängen wollte, auf den die gemeinsamen Vorschriften und Verfahren der Richtlinie 2008/115 angewandt worden waren, um seinen ersten illegalen Aufenthalt im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats zu beenden, und der unter Verstoß gegen ein Einreiseverbot erneut illegal in das Hoheitsgebiet dieses Staates eingereist war, vom Gerichtshof festgestellt, dass „sich die Umstände des Ausgangsverfahrens deutlich von denen der Rechtssachen, in denen die Urteile El Dridi (C‑61/11 PPU, EU:C:2011:268) und Achughbabian (C‑329/11, EU:C:2011:807) ergangen sind“, unterschieden(33) und dass die Richtlinie 2008/115 „einer Regelung eines Mitgliedstaats, die die Verhängung einer Freiheitsstrafe gegen einen illegal aufhältigen Drittstaatsangehörigen vorsieht, der nach einer im Rahmen eines früheren Rückkehrverfahrens erfolgten Rückkehr in sein Herkunftsland unter Verstoß gegen ein Einreiseverbot erneut illegal in das Hoheitsgebiet dieses Staates einreist, grundsätzlich nicht entgegensteht“(34).

56.      Zusammenfassend lässt sich damit sagen, dass in der Rechtsprechung des Gerichtshofs zwei Fallgestaltungen anerkannt sind, in denen die Richtlinie 2008/115 der Verhängung einer Freiheitsstrafe gegen einen Drittstaatsangehörigen wegen seines illegalen Aufenthalts nicht entgegensteht, nämlich dann, wenn das Rückkehrverfahren gemäß der Richtlinie 2008/115 durchgeführt worden ist und der Drittstaatsangehörige im Hoheitsgebiet des fraglichen Mitgliedstaats verweilt, obgleich kein berechtigter Grund für die Nichtrückkehr besteht (Fallkonstellation „Achughbabian“), und dann, wenn das Rückkehrverfahren durchgeführt worden ist und der Betroffene unter Verstoß gegen ein Einreiseverbot erneut in das Hoheitsgebiet des betreffenden Mitgliedstaats einreist (Fallkonstellation „Celaj“).

57.      Der Fall von Frau Affum fällt unter keine dieser beiden Konstellationen, weil gegen sie kein Rückkehrverfahren durchgeführt wurde (Fallkonstellation „Achughbabian“) und es auch keine erneute Einreise in das französische Hoheitsgebiet gegeben hat (Fallkonstellation „Celaj“).

58.      Gleichwohl sind die französischen Behörden der Auffassung, dass gegen Frau Affum eine Freiheitsstrafe wegen der illegalen Einreise nach Frankreich verhängt werden darf.

D –    Die illegale Einreise im Licht der Richtlinie 2008/115

1.      Französisches Recht

59.      Nach dem Urteil Achughbabian des Gerichtshofs(35) und dem Urteil Mallah/Frankreich des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte(36) änderte die französische Regierung durch das Gesetz Nr. 2012‑1560(37) die französischen Rechtsvorschriften über die Abschiebung illegal aufhältiger Ausländer. Durch die Gesetzesänderung wurde der Straftatbestand des illegalen Aufenthalts abgeschafft und das Verfahren der Ingewahrsamnahme von Ausländern zur Überprüfung ihres Aufenthaltsrechts eingeführt. Allerdings behielten die französischen Behörden den Straftatbestand der illegalen Einreise im Fall des illegalen Überschreitens der Außengrenzen (Art. L 621‑2 Nr. 1 CESEDA) und für Reisen eines Drittstaatsangehörigen unter Verstoß gegen die im SDÜ festgelegten Voraussetzungen für den Reiseverkehr von Ausländern (Art. L 621‑2 Nr. 2 CESEDA) bei.

60.      In der Begründung für den Gesetzesentwurf führten die französischen Behörden aus, dass „die Vorschriften über das Überschreiten der Außengrenzen und Reisen von Drittstaatsangehörigen zwischen den Vertragsstaaten … nicht in den Anwendungsbereich der Richtlinie [2008/115] fallen“(38).

61.      Dies erläuterten die französischen Behörden dahin gehend, dass diese Vorschriften sich „im Fall des Überschreitens der Außengrenzen aus … dem Schengener Grenzkodex [ergeben,] der die Vertragsstaaten zur Festlegung abschreckender Sanktionen im Fall einer festgestellten Grenzverletzung verpflichtet, d. h. bei einer Verweigerung der Einreise oder einem Aufgreifen oder Abfangen im Fall einer illegalen Grenzüberschreitung. Im Fall von Verstößen gegen die Vorschriften des [SDÜ] über den Reiseverkehr zwischen den Vertragsstaaten räumt die Richtlinie [2008/115] den Mitgliedstaaten ausdrücklich die Möglichkeit ein, von einer Abschiebung abzusehen, sich aber der Mechanismen für die Wiederaufnahme zwischen Mitgliedstaaten zu bedienen, auf welche die Richtlinie [2008/115], wie von dem Richter für vorläufigen Rechtsschutz des Conseil d’État (CE, 27. Juni 2011, Innenministerium/Lassoued, Nr. 350207) unterstrichen worden ist, nicht anwendbar ist“(39).

62.      Die französischen Behörden zogen daraus den Schluss, dass diese „Fallkonstellationen somit nicht der Auslegung durch den Gerichtshof der Europäischen Union unterliegen, auf die sich die Cour de cassation [Kassationsgerichtshof] gestützt hat, und dass die Abschaffung der Strafbestimmungen dem europäischen Recht widerspräche“(40).

2.      Zur Situation von Frau Affum

63.      Zur Rechtfertigung ihrer Regelung verweisen die französischen Behörden auf verschiedene Vorschriften der Richtlinie 2008/115 und des Schengener Grenzkodex, die ich im Folgenden erörtern werde, wobei ich dem Gerichtshof letztlich vorschlagen werde, die Anwendbarkeit der Richtlinie 2008/115 zu bestätigen. Meines Erachtens greift nämlich keine der Ausnahmen oder Beschränkungen, die diese beiden Rechtsakte vorsehen, im vorliegenden Fall ein.

a)      Zu Art. 2 Abs. 2 Buchst. a der Richtlinie 2008/115

64.      Die Französische Republik beruft sich für ihre Auffassung, dass ein Fall wie der im Ausgangsverfahren fragliche nicht in den Anwendungsbereich der Richtlinie 2008/115 falle, auf deren Art. 2 Abs. 2 Buchst. a.

65.      Insoweit ist zunächst darauf hinzuweisen, dass Art. 2 Abs. 2 Buchst. a der Richtlinie 2008/115 nur für die Außengrenzen gilt, dass aber die Grenze zwischen Belgien und Frankreich eine Binnengrenze ist und dass Frau Affum bei ihrer Ausreise aus Frankreich an der Außengrenze zwischen Frankreich und dem Vereinigten Königreich aufgegriffen wurde.

66.      In diesem Zusammenhang führt die Französische Republik aus, dass Art. 2 Abs. 2 Buchst. a der Richtlinie 2008/115 auf das rechtswidrige Überschreiten der Außengrenze eines Mitgliedstaats unabhängig davon anzuwenden sei, ob es sich um die Einreise in den Schengen-Raum oder die Ausreise aus dem Schengen-Raum handele.

67.      Soweit die Französische Republik damit geltend machen will, dass der Fall einer illegal über eine Binnengrenze in das Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats eingereisten, aber erst bei ihrer Ausreise über die Außengrenze dieses Staates aufgegriffenen Person unter Art. 2 Abs. 2 Buchst. a der Richtlinie 2008/115 falle, vermag ich ihrer Auffassung nicht zu folgen.

68.      Meiner Ansicht nach lässt sich dem Wortlaut dieser Bestimmung klar entnehmen, dass sie nur für die illegale Einreise gilt, weil andernfalls der letzte Satzteil („und die nicht anschließend die Genehmigung oder das Recht erhalten haben, sich in diesem Mitgliedstaat aufzuhalten“) sinnlos wäre(41).

69.      Im vorliegenden Fall kann sich deshalb die Französische Republik nicht auf Art. 2 Abs. 2 Buchst. a der Richtlinie 2008/115 berufen.

b)      Zu Art. 3 Nr. 2 der Richtlinie 2008/115: die bloße Durchreise als „Aufenthalt“

70.      Das vorlegende Gericht hegt offenbar Zweifel, ob die Anwesenheit eines Drittstaatsangehörigen in dem Hoheitsgebiet eines zum Schengen-Raum gehörenden Mitgliedstaats, der sich lediglich auf der Durchreise in einen anderen nicht zum Schengen-Raum gehörenden Mitgliedstaat befindet, in den Anwendungsbereich der Richtlinie 2008/115 fällt.

71.      Diese Zweifel sind unbegründet.

72.      Nach ihrem Art. 2 Abs. 1 gilt die Richtlinie 2008/115 für Drittstaatsangehörige, die sich illegal im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats aufhalten. Der „illegale Aufenthalt“ wird in Art. 3 Nr. 2 der Richtlinie definiert als „die Anwesenheit von Drittstaatsangehörigen, die nicht oder nicht mehr die Einreisevoraussetzungen nach Artikel 5 des Schengener Grenzkodex oder andere Voraussetzungen für die Einreise in einen Mitgliedstaat oder den dortigen Aufenthalt erfüllen, im Hoheitsgebiet dieses Mitgliedstaats“.

73.      Aus diesen Vorschriften folgt, dass ein Drittstaatsangehöriger, der sich an Bord eines Reisebusses befindet, ohne zur Einreise berechtigt gewesen zu sein, durchaus im Hoheitsgebiet des fraglichen Mitgliedstaats anwesend und dort illegal aufhältig ist. Für die Feststellung, dass sein Aufenthalt illegal ist, kommt es nicht darauf an, ob er sich auf der Durchreise befindet oder nicht.

c)      Zu Art. 6 Abs. 3 der Richtlinie 2008/115

74.      Gemäß Art. 6 Abs. 3 der Richtlinie 2008/115 können die Mitgliedstaaten davon absehen, eine Rückkehrentscheidung zu erlassen, wenn die betroffene Person von einem anderen Mitgliedstaat aufgrund von zum Zeitpunkt des Inkrafttretens der Richtlinie geltenden „bilateralen Abkommen oder Vereinbarungen“ wieder aufgenommen wird.

75.      Es ist darauf hinzuweisen, dass diese Bestimmung, wie sich bereits ihrem Wortlaut entnehmen lässt, dem Mitgliedstaat nur die Möglichkeit gibt, vom Erlass einer Rückkehrentscheidung abzusehen, aber anders als Art. 2 der Richtlinie 2008/115 keineswegs deren Anwendungsbereich definiert. Art. 6 Abs. 3 der Richtlinie kann deshalb, anders als die französische Regierung offenbar meint, nicht zur Unanwendbarkeit aller Vorschriften der Richtlinie 2008/115 im Ausgangsverfahren führen. Vielmehr bleibt ein Staat, der sich auf Art. 6 Abs. 3 der Richtlinie 2008/115 beruft, durch die übrigen Bestimmungen der Richtlinie gebunden und hat deren praktische Wirksamkeit in vollem Umfang zu gewährleisten. Die Rechtsprechung des Gerichtshofs zu den Bestimmungen der Richtlinie, insbesondere zum Freiheitsentzug, bleibt einschlägig.

76.      Art. 6 Abs. 3 der Richtlinie 2008/115 befreit also einen Mitgliedstaat nur von der Verpflichtung, eine Rückkehrentscheidung im Sinne von Art. 6 Abs. 1 der Richtlinie zu erlassen. Die Entscheidung für die Rücküberstellung aufgrund der Vereinbarung bildet jedoch eine der in der Richtlinie vorgesehenen Maßnahmen und zugleich einen vorbereitenden Schritt für die Rückkehr vom Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten im Sinne der Richtlinie 2008/115.

77.      Was die Auslegung des Begriffs „bilateral“ anbelangt, so sollte der Gerichtshof meines Erachtens Art. 6 Abs. 3 der Richtlinie 2008/115 dahin auslegen, dass eine Vereinbarung wie die hier fragliche(42) unter diesen Begriff fällt. Obgleich die Vereinbarung von vier Staaten geschlossen wurde, behandelt sie doch das Benelux-Hoheitsgebiet wie ein einziges Staatsgebiet. Sie lässt sich daher mit einer bilateralen Vereinbarung gleichsetzen.

78.      Eine solche Auslegung stünde meines Erachtens auch in Einklang mit dem in Art. 350 AEUV niedergelegten Grundsatz, dass die Verträge dem Bestehen und der Durchführung der regionalen Zusammenschlüsse zwischen Belgien und Luxemburg sowie zwischen Belgien, Luxemburg und den Niederlanden nicht entgegenstehen, soweit die Ziele dieser Zusammenschlüsse durch Anwendung der Verträge nicht erreicht sind.

79.      Wenn der AEU-Vertrag mittels dieser Bestimmung der besonderen Lage der Benelux-Länder bereits Rechnung trägt, sollte der Gerichtshof in seiner Auslegung von Art. 6 Abs. 3 der Richtlinie 2008/115 das Gleiche tun.

d)      Zu Art. 4 Abs. 3 des Schengener Grenzkodex

80.      Die französische Regierung stützt sich auch auf Art. 4 Abs. 3 des Schengener Grenzkodex, wonach die Mitgliedstaaten nach nationalem Recht Sanktionen für das unbefugte Überschreiten der Außengrenzen außerhalb der Grenzübergangsstellen oder der festgesetzten Verkehrsstunden vorsehen.

81.      Diese Bestimmung ist im vorliegenden Fall nicht anwendbar, weil Frau Affum keineswegs versucht hat, eine Grenze außerhalb der Grenzübergangsstellen oder der festgesetzten Verkehrsstunden zu überschreiten.

82.      Ich sehe entgegen der Auffassung der Französischen Republik keinen Grund dafür, diese Bestimmung nicht wörtlich auszulegen und die Grenzübergangsstellen einzubeziehen, weil Art. 4 des Schengener Grenzkodex gerade eine Unterscheidung zwischen Grenzüberschreitungen an den Grenzübergangsstellen und während der festgesetzten Verkehrsstunden (Abs. 1) und außerhalb dieser Übergangsstellen und Verkehrsstunden (Abs. 2) trifft. Anders formuliert, es ist für mich kein teleologischer Grund ersichtlich, der gegen eine wörtliche und systematische Auslegung von Art. 4 des Schengener Grenzkodex spräche.

83.      In diesem Zusammenhang möchte ich daran erinnern, dass eine Person, die illegal eine Grenze überschritten und im betreffenden Mitgliedstaat kein Aufenthaltsrecht hat, damit der Richtlinie 2008/115 unterliegt(43).

84.      Die Richtlinie 2008/115 ist somit auf den Fall von Frau Affum anwendbar. Wie ich bereits in Nr. 57 der vorliegenden Schlussanträge ausgeführt habe, gehört ihre Situation nicht zu den Fallkonstellationen, für die der Gerichtshof festgestellt hat, dass die Richtlinie 2008/115 der Verhängung einer Freiheitsstrafe gegen einen Drittstaatsangehörigen nicht entgegensteht. Folglich kann eine Person, die sich in der Lage von Frau Affum befindet, nicht allein deshalb der Haft unterworfen werden, weil ihr Aufenthalt im französischen Hoheitsgebiet illegal ist.

V –    Ergebnis

85.      Nach alledem schlage ich vor, die von der Cour de cassation (Kassationsgerichtshof) zur Vorabentscheidung vorgelegten Fragen wie folgt zu beantworten:

Die Richtlinie 2008/115/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 16. Dezember 2008 über gemeinsame Normen und Verfahren in den Mitgliedstaaten zur Rückführung illegal aufhältiger Drittstaatsangehöriger, insbesondere ihre Art. 6 Abs. 3, 15 und 16, ist dahin auszulegen, dass sie der Regelung eines Mitgliedstaats entgegensteht, die die illegale Einreise eines Drittstaatsangehörigen mit Freiheitsstrafe ahndet, wenn der aus einem anderen Mitgliedstaat kommende Betroffene auf der Durchreise an einer Außengrenze des erstgenannten Mitgliedstaats beim Verlassen des Schengen-Raums aufgegriffen wird und aufgrund einer mit dem anderen Mitgliedstaat vor Inkrafttreten der Richtlinie 2008/115 geschlossenen Vereinbarung von diesem anderen Mitgliedstaat wieder aufgenommen werden kann.


1 – Originalsprache: Französisch.


2 –      Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates vom 16. Dezember 2008 über gemeinsame Normen und Verfahren in den Mitgliedstaaten zur Rückführung illegal aufhältiger Drittstaatsangehöriger (ABl. L 348, S. 98).


3 – Vgl. Urteile El Dridi (C‑61/11 PPU, EU:C:2011:268), Achughbabian (C‑329/11, EU:C:2011:807) und Celaj (C‑290/14, EU:C:2015:640). Vgl. auch Urteil Sagor (C‑430/11, EU:C:2012:777), das u. a. eine Hausarreststrafe betraf.


4 –      Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates vom 15. März 2006 über einen Gemeinschaftskodex für das Überschreiten der Grenzen durch Personen (Schengener Grenzkodex) (ABl. L 105, S. 1) in der Fassung der Verordnung (EG) Nr. 265/2010 des Europäischen Parlaments und des Rates (ABl. L 85, S. 1) vom 25. März 2010 (im Folgenden: Schengener Grenzkodex).


5 –      C‑329/11, EU:C:2011:807.


6 – Auch wenn der Begriff „Schengen-Raum“ im Schengener Grenzkodex nicht verwendet wird, ist er zur Bezeichnung der unter den Kodex fallenden Mitgliedstaaten üblich geworden. In diesem Zusammenhang weise ich darauf hin, dass der Gerichtshof selbst den Ausdruck verwendet, vgl. z. B. Urteile ANAFE (C‑606/10, EU:C:2012:348, verschiedene Randnummern und Tenor), Air Baltic Corporation (C‑575/12, EU:C:2014:2155, Rn. 67) und T. (C‑373/13, EU:C:2015:413, Rn. 52).


7 – Dieser Artikel wurde durch das Inkrafttreten des Lissabonner Vertrags zu Art. 79 Abs. 2 Buchst. c AEUV.


8 – Dieses Verfahren ist anwendbar geworden durch den Beschluss 2004/927/EG des Rates vom 22. Dezember 2004 über die Anwendung des Verfahrens des Artikels 251 des Vertrags zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft auf bestimmte Bereiche, die unter Titel IV des Dritten Teils dieses Vertrags fallen (ABl. L 396, S. 45).


9 – Vgl. Baldaccini, A., „The return and removal of irregular migrants under EU law: an analysis of the Return Directive“, European Journal of Migration and Law, 2001, S. 1 bis 17, insbesondere S. 1.


10 – Vgl. Art. 3 Nr. 2 der Richtlinie 2008/115.


11 – Einschließlich der Fluss‑ und Binnenseegrenzen.


12 – Einschließlich der Fluss‑ und Binnenseegrenzen.


13 – Sowie ihre Flughäfen sowie Flussschifffahrts‑, See‑ und Binnenseehäfen.


14 – Vgl. Erwägungsgründe 21 bis 28 des Schengener Grenzkodex.


15 – Art. 4 bis 19a des Schengener Grenzkodex. Dieser Titel besteht aus fünf Kapiteln über das Überschreiten der Außengrenzen und die Einreisevoraussetzungen (Kapitel I), die Grenzkontrollen an den Außengrenzen und die Einreiseverweigerung (Kapitel II), das Personal und die finanziellen Mittel für Grenzkontrollen und Zusammenarbeit der Mitgliedstaaten (Kapitel III), die Sonderbestimmungen für Grenzübertrittskontrollen (Kapitel IV) und bestimmte Maßnahmen im Falle schwerwiegender Mängel bei den Kontrollen an den Außengrenzen (Kapitel IVa).


16 – So ist darauf hinzuweisen, dass einige Monate nach dem im Ausgangsverfahren fraglichen Zeitraum Art. 12 Abs. 1 des Schengener Grenzkodex geändert wurde, um den Regelungszusammenhang mit der Richtlinie 2008/115 klarzustellen. Vgl. Art. 1 Nr. 11 der Verordnung (EG) Nr. 610/2013 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Juni 2013 zur Änderung der Verordnung Nr. 562/2006, das Übereinkommen zur Durchführung des Übereinkommens von Schengen und die Verordnungen (EG) Nrn. 1683/95 und 539/2001 des Rates sowie die Verordnungen (EG) Nrn. 767/2008 und 810/2009 des Europäischen Parlaments und des Rates (ABl. L 182, S. 1).


17 – Art. 15 bis 18 der Richtlinie 2008/115.


18 – Vgl. näher die Nrn. 46 bis 55 meiner Stellungnahme in der Rechtssache Mahdi (C‑146/14 PPU, EU:C:2014:1936).


19 – Vgl. Nr. 47 meiner Stellungnahme in der Rechtssache Mahdi (C‑146/14 PPU, EU:C:2014:1936). Vgl. auch Nr. 35 der Stellungnahme des Generalanwalts Mazák in der Rechtssache El Dridi (C‑61/11 PPU, EU:C:2011:205), Nr. 54 der Stellungnahme des Generalanwalts Wathelet in der Rechtssache G. und R. (C‑383/13 PPU, EU:C:2013:553) und Nr. 91 der Schlussanträge des Generalanwalts Bot in den Rechtssachen Bero und Bouzalmate (C‑473/13 und C‑514/13, EU:C:2014:295).


20 – Vgl. Nr. 47 meiner Stellungnahme in der Rechtssache Mahdi (C‑146/14 PPU, EU:C:2014:1936). Zu Art. 5 Abs. 1 Buchst. f der am 4. November 1950 in Rom unterzeichneten Europäischen Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten (EMRK) hat der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) im gleichen Sinne entschieden (vgl. u. a. EGMR, Quinn/Frankreich, 22. März 1995, Serie A, Nr. 311, § 42, und EGMR, Kaya/Rumänien, 12. Oktober 2006, Nr. 33970/05, § 16).


21 – C‑61/11 PPU, EU:C:2011:268.


22 – Urteil El Dridi (C‑61/11 PPU, EU:C:2011:268, Rn. 62 und Tenor).


23 – C‑329/11, EU:C:2011:807.


24 – Der frühere Art. 621‑1 CESEDA.


25 – Urteil Achughbabian (C‑329/11, EU:C:2011:807, Rn. 50 sowie Tenor, erster Gedankenstrich).


26 – Vgl. Urteile El Dridi (C‑61/11 PPU, EU:C:2011:268, Rn. 59) und Achughbabian (C‑329/11, EU:C:2011:807, Rn. 45). Für eine Analyse der Frage, welche Konsequenzen sich aus diesen beiden Rechtssachen für den nationalen Strafgesetzgeber ergeben, vgl. Mitsilegas, V., The Criminalisation of Migration in Europe, Springer, 2015, S. 57 bis 76.


27 – C‑329/11, EU:C:2011:807.


28 – Nrn. 48 und 50 sowie Tenor, zweiter Gedankenstrich. Meines Erachtens handelt es sich bei diesem Passus, auch wenn er Teil des Tenors ist, eindeutig um ein obiter dictum, da er keinen Bezug zum Sachverhalt des Ausgangsverfahrens besaß und eine hypothetische Situation betraf.


29 – C‑430/11, EU:C:2012:777, Rn. 45.


30 – Rn. 36.


31 – Rn. 36.


32 – C‑290/14, EU:C:2015:640.


33 – Urteil Celaj (C‑290/14, EU:C:2015:640, Rn. 28).


34 – Ebd. (Rn. 33 und Tenor).


35 – C‑329/11, EU:C:2011:807.


36 – Vgl. EGMR, Mallah/Frankreich, 10. November 2011, Nr. 29681/08. In dieser Rechtssache hatte ein marokkanischer Staatsangehöriger, der wegen Beherbergung seines illegal aufhältigen Schwiegersohns mit ebenfalls marokkanischer Staatsangehörigkeit verurteilt worden war, geltend gemacht, dass seine Verurteilung angesichts der Umstände des Einzelfalls einen unverhältnismäßigen Eingriff in die Wahrnehmung des Rechts auf Schutz des Privat‑ und Familienlebens gemäß Art. 8 EMRK dargestellt habe. Nur weil der Beschwerdeführer straffrei gestellt worden war, lag nach dem Urteil des Straßburger Gerichtshofs kein Verstoß gegen Art. 8 EMRK vor. Infolgedessen erweiterte der französische Gesetzgeber die Tatbestände der Straffreiheit gemäß Art. L. 622‑4 CESEDA im Fall der Beihilfe zu rechtswidriger Einreise und rechtswidrigem Aufenthalt. Vgl. Nr. 2.2 der Studie vom 21. September 2012 über die Auswirkungen des Gesetzesentwurfs zur Änderung der Rechtsvorschriften über die Abschiebung illegal aufhältiger Ausländer, abrufbar unter http://www.senat.fr/leg/etudes-impact/pjl11-789-ei/pjl11-789-ei.html.


37 – Der Gesetzestext ist abrufbar unter http://www.legifrance.gouv.fr/eli/loi/2012/12/31/INTX1230293L/jo/texte.


38 – Gesetzesentwurf über die Ingewahrsamnahme zur Überprüfung des Aufenthaltsrechts und zur Änderung des Straftatbestands der Beihilfe zum illegalen Aufenthalt, um davon humanitäre und uneigennützige Handlungen auszuschließen, eingetragen in das Register der Präsidentschaft des Senats am 28. September 2012 und abrufbar unter http://www.senat.fr/leg/pjl11-789.pdf (S. 6).


39 – Ebd. (S. 6).


40 – Ebd. (S. 6).


41 – Führte man die Argumentation der Französischen Republik logisch zu Ende, so fiele eine illegal über eine Binnengrenze in das Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats eingereiste Person, die von dessen Behörden jedoch nicht an einer Außengrenze, sondern andernorts in seinem Hoheitsgebiet aufgegriffen würde, in den Anwendungsbereich der Richtlinie 2008/115, weil sie keine Außengrenze überschritten hätte. Es erschiene mir unstimmig, eine Person in der Lage von Frau Affum anders zu behandeln.


42 – Vereinbarung zwischen den Regierungen des Königreichs Belgien, des Großherzogtums Luxemburg und des Königreichs der Niederlande einerseits und der Regierung der Französischen Republik andererseits über die Zuständigkeit für Personen an den gemeinsamen Grenzen zwischen Frankreich und dem Hoheitsgebiet der Benelux-Staaten. Der Text der Vereinbarung ist abrufbar unter http://wetten.overheid.nl/BWBV0004480/geldigheidsdatum_06-08-2014.


43 – Vgl. auch Nr. 46 der vorliegenden Schlussanträge.